GA 167

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Gegenwärtiges und Vergangenes
im Menschengeiste

Zwölf Vorträge, gehalten in Berlin
vom 13. Februar bis 30. März 1916

GA 167

1962

Inhaltsverzeichnis


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Während der Kriegsjahre wurden von Rudolf Steiner vor jedem von ihm innerhalb der Anthroposophischen Ge­sellschaft gehaltenen Vortrag in den vom Kriege betrof­fenen Ländern die folgenden Gedenkworte gesprochen:

Wir gedenken, meine lieben Freunde, der schützenden Geister derer, die draußen stehen auf den großen Feldern der Ereignisse der Gegenwart:

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,
Eure Schwingen mögen bringen
Unserer Seelen bittende Liebe
Eurer Hut vertrauten Erdenmenschen,
Daß, mit Eurer Macht geeint,
Unsre Bitte helfend strahle
Den Seelen, die sie liebend sucht.

Und zu den schützenden Geistern derer uns wendend, die infolge dieser Leidensereignisse schon durch des Todes Pforte gegangen sind:

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,
Eure Schwingen mögen bringen
Unserer Seelen bittende Liebe
Eurer Hut vertrauten Sphärenmenschen,
Daß, mit Eurer Macht geeint,
Unsre Bitte helfend strahle
Den Seelen, die sie liebend sucht.

Und der Geist, dem wir uns zu nahen suchen durch unsere Geistes­wissenschaft seit Jahren, der Geist, der zu der Erde Heil und zu der Menschheit Freiheit und Fortschritt durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, er sei mit Euch und Euren schweren Pflichten!

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ERSTER VORTRAG Berlin, 13. Februar 1916 Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste

Zuerst wollen wir heute eine Rezitation uns anhören aus Dichtungen von Friedrich Lienhard und von Wilhelm Jordan, und dann werde ich mir gestatten, anzuschließen an diese Rezitation einige anthro­posophisch-literarische Betrachtungen über die Gegenwart und deren Aufgaben. Das soll dann den Abschluß unseres Abends bilden. Vor­ausschicken möchte ich nur ein paar Worte.

Friedrich Lienhard ist einer derjenigen Dichter der Gegenwart, von denen wir schon sagen können, daß sie mit ihrem eigenen Stre­ben dem Streben der Geisteswissenschaft in einer gewissen Bezie­hung nahe kommen. Am 4. Oktober des verflossenen Jahres 1915 beging Friedrich Lienhard seinen fünfzigsten Geburtstag. Auch wir haben dazumal von Dornach aus uns angeschlossen den zahlreichen Begrüßungen, die diesem geisterfüllten Dichter der Gegenwart von allen Seiten zugekommen sind, und ich glaube, wir haben besondere Gründe, gerade bei dem Dichter Friedrich Lienhard, der sich ja in einer gewissen Weise unserer Bewegung angeschlossen und freund­lich gezeigt hat, ein wenig hinzublicken auf den eigentlichen Inhalt und auf den Kunstgehalt seines dichterischen Wesens. Er sagt ja selber, daß er, der aus einer französisch-elsässischen Wiege stammt, sich unter manchen Schwierigkeiten hat hindurchringen müssen zu dem, was er seine Weltanschauung nennt, die er versuchte, immer mehr und mehr herauszugebären, herauszuentwickeln aus mittel-europäischem deutschem Wesen, aber so, daß in seinen Dichtungen wirklich von ihm angestrebt wird, den eigentümlichen Wellenschlag dieses mitteleuropäischen deutschen Wesens zur Wirksamkeit zu bringen. Und da muß man bei Friedrich Lienhard vor allen Dingen sehen, wie wirklich in ihm dasjenige lebt, was er als seinem Wesen so innig Verwandtes, wie ich es gerade zu charakterisieren versuchte, angestrebt hat. Es lebt in ihm vielleicht ein Element, das nur in der

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richtigen Weise zu würdigen ist von dem künstlerisch-geistigen Aus­gangspunkte der Geisteswissenschaft her. Da haben wir vor allen Dingen in Lienhards Dichtungen wunderbare Naturschilderungen, Naturlyrik, aber eine Naturlyrik ganz besonderer Art. Naturlyrik ist es aber auch bei Friedrich Lienhard, wenn er versucht, die Men­schen zum Sprechen zu bringen. Auch da ist etwas wie von der Na­tur der Menschen unmittelbar auf natürliche Weise ausgehend und den Geist im Naturdasein zeigend. Woher kommt dieses? Es kommt von etwas, das man vielleicht nur richtig bemerken kann bei Friedrich Lienhard, wenn man - und das sollte man ja bei aller Kunst, nur ist es heute schon, ich möchte sagen, ganz und gar aus dem Bewußtsein der Menschen verschwunden, die Kunst so zu be­trachten, namentlich die Dichtung - nicht bloß das Inhaltliche, das Vorstellungsmäßige seiner Kunst auf sich wirken läßt, son­dein das eigentlich Künstlerisch-Formale. Wie sich in ihm die Ge­füMe, die Vorstellungen bewegen, wie sie sich entwickeln, wie sie sich schürzen und lösen, in diesem eigentümlichen Wogen seiner in dichterischer Sprache zum Ausdruck kommenden Seelenerlebnisse merken wir etwas wie das Walten elementarischer Geistigkeit, ein Mitgehen der dichterischen Seele mit demjenigen, was nach unseren Anschauungen in der Ätherwelt draußen in der Natur elementarisch lebt hinter dem bloß sinnlichen Dasein, und was lebt in der Äther-weit, wenn sich Menschliches auf naturgemäße Weise zum Aus­drucke bringt, wie zum Beispiel in dem Ausdrucke des kindlichen Seelenlebens. Verfolgt man die Worte Friedrich Liershards, so er­scheinen sie einem förmlich so, wie wenn aus diesen Worten sich weiterbewegen würden gerade die Elementargeister, von denen wir wissen, daß sie alle Naturerscheinungen durchrieseln, durchwärmen, durchleben, durchweben. Und dieses Durchrieseln und Durchwär­men und Durchleben und Durchweben der elementarischen Wesen­heiten in bezug auf die Natur, das setzt sich gerade bei einem sol­chen Dichter, der nun wirklich versteht, mit dem Geiste der Natur zu leben, in seine Dichtung hinein fort.

Ein weiteres Element bei Friedrich Lienhard ist, daß er gerade durch sein Erfassen großer Menschheits- und Weltenzusammenhänge,

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denen er, ich möchte sagen, mit seinem Gefühle innig ver­wandt ist, ohne in irgendein engherzig Nationales zu verfallen, die treibenden, wirkenden Kräfte und Wesenheiten des Volkslebens zu erfassen sucht, und wiederum das Volksleben nicht aus der Finzel­heit der zufälligen Individuen heraus, sondern aus dem ganzen Walten und Wogen des Volksseelenprinzips heraus zu erfassen ver­sucht, und die einzelnen Gestalten hineinstellt in den großen gei­stigen Zusammenhang, in dem sie im Volksleben drinnenstehen können. Dadurch ist Friedrich Lienhard imstande, eine solche Ge­stalt, die von einer Art atavistischem Helisehertum durchgeistigt ist wie der Pfarrer Ober/in vom elsässischen Steintal, in einer auf der einen Seite wirklich ganz plastischen und auf der anderen Seite doch wiederum außerordentlich intim-seelischen Weise zu erfassen und darzustellen. Und aus diesem Impulse heraus wußte er die Götter-gestalten der Vorzeit in die Gegenwart wiederum heraufzurufen, nicht so, daß er etwa von den alten Göttersagen, von den alten Heldensagen nur das Inhaltliche nimmt, sondern indem er wirklich versucht, in der Sprache der Gegenwart die Möglichkeit zu finden, das, was als Wellenschlag dieses alte Leben durchlebt hat und bis in unsere heutige Zeit heraufschlägt, wiederum zu erwecken. Dadurch ist in gewissem Sinne Friedrich Lienhard wirklich einer der vor­nehmen Dichter der Gegenwart, weil andere Dichter der Gegen­wart so sehr gesucht haben, mit Absehen, möchte ich sagen, von allem Künstlerisch-Geistigen auf das Naturalistische und Reali­stische sich zu verlegen und dadurch etwas Neues zu schaffen; wäh­rend der wirkliche Poet nicht in diesem Sinne durch naturalistische Schrullen in unserer Gegenwart das Neue schaffen will, sondern es schaffen will dadurch, daß er den ewigen Strom der ewigen Schön­heit in einer neuen Weise erfaßt, so aber, daß die Kunst wirklich Kunst bleibt. Und wirkliche Kunst kann eben niemals ohne Geistig­keit sein.

Dadurch ist es wohl auch, daß Friedrich Lienhard näher gekom­men ist demjenigen, was er nennt «Wege nach Weimar». Er hat ja lange Zeit eine in freien Zeiträumen erscheinende Zeitschrift her­ausgegeben, «Wege nach Weimar», wo er versuchte, zu den großen

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Ideen und Kunst-Impulsen der großen Zeit von der Neige des achtzehnten und dem Beginne des neunzehnten Jahrhunderts sich hinzuwenden, um zu erkennen, was in dieser gerade heute in vieler Beziehung, wie wir in der Schlußbetrachtung vielleicht sehen wer­den, vollständig oder zum großen Teil doch vergessenen und ver­klungenen großen Periode wirklich Wert hat. Daher suchte er nun wieder seine späteren künstlerischen Perioden zu vertiefen, ich möchte sagen, zu verinnerlichen, so daß zuletzt eben so wunderbar innerliche Dichtungen herauskommen konnten wie diejenigen, die sich auf Gestalten wie etwa die Odilia beziehen und dergleichen. Mit all dem weiß er dann zu verbinden im echten, wahren Sinne die christlichen Impulse, die durch die Menschheit wallen und weben. Und merkwürdig ist es, daß er sich, nicht durch den äußeren Inhalt seines dichterischen Schaffens, sondern durch die Art und Weise, wie die elementarischen Wesen ihn tragen, bis ins Einzelne hinein nähert einem Elemente, das, wie es schien, ganz verloren gegangen war der deutschen Dichtung, daß er sich nähert - Sie wer­den es bemerken können aus der Rezitation heraus an manchen Stel­len - dem alliterierenden Kunstelemente, der Alliteration.

Diese Alliteration und dasjenige, was sie für das deutsche Wesen Verwandtes hat mit der ganzen mitteleuropäischen deutschen Volks-substanz, bringt ihn eben einem Dichter nahe, der, zum Teil durch seine Schuld, aber hauptsächlich durch die Schuld der Zeit und ihrer Abwege wenig hat verstanden werden können, und den wir Ihnen im zweiten Teil durch die Rezitation heute nahebringen wollen:

Wilhelm Jordan. Wilhelm Jordan versuchte gerade durch den Stab­reim, die Alliteration, wieder zu erneuern, wie er meint, den «alten Redestrom der rauschenden Vorzeit». Er konnte gar nicht anders, als dieses Formale der alten Dichtung wieder'um hereinzutragen in die Gegenwart, die er zu erheben versuchte über das Kleine des Alltags hinaus zu den großen bewegenden Impulsen. Und man muß sagen: Es ist förmlich ein Jammer, obwohl es nicht ganz ohne die Schuld Jordans geschehen ist, daß solch eine Dichtung wie der «Demiurg», wo versucht wird, die weltbewegenden Geist-Prinzipien mit dem Menschheitsgeschehen auf der Erde in wahren Zusammenhang

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zu bringen, so ganz vorübergehen konnte ohne eine Wirkung. Sie ist in den fünfziger Jahren, wie ich sagte, nicht ganz ohne die eigene Schuld Wilhelm Jordans, vorübergegangen. Aus dem Grunde sage ich das, weil die naturalistisch-naturwissenschaftliche Art, die Dinge anzuschauen, allerdings ja schon hineinfiel in bezug auf seine eigene Weltanschauung, und er sich dadurch vieles verdorben hat. Vieles verdorben hat ja auch in den «Nibelungen», daß da statt der früher in viel tieferer Weise angesehenen Prinzipien die naturali­stischen Prinzipien der Vererbung walten, der stoffliche Übergang der Kräfte der Vererbung von einer Generation auf die andere, daß, ich möchte sagen, statt der Seele zu sehr das Blut waltet. Dadurch hat gewiß Wilhelm Jordan seinen Tribut abgetragen an die natura­listisch-naturwissenschaftliche Auffassung der Gegenwart. Er hat aber auf der anderen Seite seinen Dichtungen dasjenige genommen, was vielleicht schon in einer früheren Zeit den Kunstbestrebungen der Menschheit die großen geistigen Impulse hätte geben können, so daß nicht alles hätte versinken müssen in dem unkünstlerischen Barbarentum, das vielfach in der späteren Zeit an die Stelle früherer geistiger Prinzipien getreten ist. Wir können da ja sehen, wie heute nur noch gespottet wird über dasjenige, was Wilhelm Jordan wollte. Aber, ich möchte sagen, an uns ist es, diese großen Impulse, wo im­mer sie aufgetreten sind, wirklich auf unsere Seele wirken zu lassen, denn es wird dennoch für diese Impulse die Zeit kommen, wo sie eine gewisse Mission im ganzen Welten-Menschheitswerden werden zu erfüllen haben.

Gewiß, der Dichter Friedrich Lienhard wird in weiten Kreisen anerkannt. Aber dasjenige, was vielleicht gerade innerhalb unserer Kreise in ihm gefunden werden kann, das sollen wir versuchen her­auszufinden, denn das wird es ja vor allen Dingen sein, was, ich glaube, seine künstlerischen Bestrebungen zusammen mit der Woge der geisteswissenschaftlichen Bestrebungen in die Zukuiift tragen wird. Und jetzt wollen wir zunächst Friedrich Lienhards Dichtungen und einiges aus der Nibelungen-Dichtung Wilhelm Jordans, der Siegfried-Sage selber, anhören.

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(Rezitation der folgenden Gedichte Friedrich Lienhards durch Frau Dr. Steiner:

«Glaube», «Morgenwind», «Waldgruß», «Das schaffende Licht», «Einsamer Fels», «Habt ihr es auch erfahren?», «All die zarten Blumenglocken». «Seelenwanderung». «Elfentanz». «Sommer-nacht». Odilienlieder: «Herbst auf Odilienberg». «St. Odilia». -Rezitation aus dem «Nibelungenlied» von Wilhelm Jordan.)

Es wird immer wiederum gut sein, dichterische Kunst gerade solcher Art auf sich wirken zu lassen. Wir haben ja in Friedrich Lienhard einen Dichter vor uns, der versucht, wirklich in die Gegen-wart noch hereinzutragen geistig-idealistische Seelenerlebnisse, die er stark genug ist, mit Naturerlebnissen zu verbinden. Und bei sol­chen Dingen spürt man noch etwas davon, daß es mehr ankommt auf das Wie in der Kunst, denn auf das Was. Wie wunderbar zieht sich hin der Zauber über die Gegend um den Odilienberg herum, und wie schön wird lyrisch unmittelbar gegenwärtig die Empfin­dung, welche diese Schutzpatronin Odilia des Klosters vom Odilien­berg ausstrahlt. Daß sie einstmals von ihrem grausamen Vater ver­folgt worden ist, geblendet worden ist, und daß sie gerade durch den Verlust des Augenlichtes die mystische Fähigkeit erlangte, Blinde zu heilen, sehend zu machen, das ist ja die Sage, um die sich alles übrige herumgliedert. Und alles dasjenige, was an wahrer, tie­fer Mystik sich um diese Sage gliedert, lyrisch verbunden mit der Natur um den elsässischen Odilienberg herum, findet sich gerade in den Ihnen rezitierten Gedichten Friedrich Lienhards. Gedichte aber von solcher Kraft und zu gleicher Zeit von solcher Intimität, von solch seelisch-geistiger Art, können Sie viele, viele bei ihm finden. Und er gibt wirklich Veranlassung, durch dasjenige, was, ich möchte sagen, elementarisch schwingt und webt mit der Form seines Dichtens, sich zu erinnern des wirklich viel verkannten Wilhelm Jordan.

Aus der kleinen Probe, die wir haben heute hören können, wer­den Sie auf der einen Seite ersehen haben, wie sehr sich dieser Dich­ter bemüht, die Gestalten, die er hinstellt vor uns, aus dem großen

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geistigen Weben des Lebens heraus zu schaffen und mit dem, was uns in der äußeren physischen Welt entgegentritt, zugleich mitleben zu lassen dasjenige, was webt und wirkt aus der wogenden Geistes­welt heraus. Gerade bei Wilhelm Jordah kann man erfahren, denke ich, wie die dichterische Seele sich verbinden kann mit einem welt­geschichtlichen Strömen, so daß in dem, was uns dichterisch-künst­lerisch entgegentritt, wirklich das Streben lebt, das als geistige Strömungen das Weltenwerden durchschwirrt und durchwirkt.

Ich habe das letzte Mal, als wir hier beisammen waren am letzten Dienstag, darauf hinweisen müssen: Was würde aus der Fort­entwickelung der Menschheit auf der Erde, wenn kein geistiger, kein spiritueller Einschlag sich hineinfinden könnte in dasjenige, was sozusagen durch das rein äußere physische Dasein veranlagt ist? Und nicht nur auf dem äußeren Gebiete des Wissens, der Wissen­schaft, des sozialen Lebens und so weiter, sondern auch auf den Gebieten der Kunst tritt uns stark entgegen, daß wir in einer kri­tischen Zeit leben, insofern als eine Krisis sich vollzieht, nicht in dem Sinne, wie das Wort «Kritik», das mit Krisis auch zusammen­hängt, in der Zwergenliteratur der Gegenwart verwendet wird. Denn wenn nicht das Lebendige der Geisteswissenschaft das menschliche Seelenleben erfaßt, muß die Kunst, die ohne Geist nicht sein kann, der Menschheit verloren gehen, muß verschwinden in der Art, wie sie noch herübeitönt von Gestalten wie Wilhelm Jordan, und wie sie festgehalten zu werden versucht wird von Gestalten wie Friedrich Lienhard. Heute sehen die Menschen noch nicht diese drohende Gefahr des künstlerischen Niederganges ein, weil in vieler Beziehung auch auf diesem Gebiete jener Rausch waltet und jenes Traumleben, von dem ich am letzten Dienstag hier gesprochen habe, obwohl man heute schon vieles sehen könnte, wenn man nur Auffas­sungs-Organe dafür hätte. Wünschen möchte man, daß immer mehr und mehr Leute gerade aus einem geisteswissenschaftlichen Empfin­den heraus einsehen würden, was es eigentlich heißt für die Gegenwart, daß eine noch vor verhältnismäßig kurzer Zeit wirklich vorhandene Kunst, die Schauspielkunst, versumpft und verdirbt in demjenigen, was der Gegensatz von allem künstlerischen Sinn ist. Der Reinhardtianismus

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ist Vorzeichen von dem, wozu Kunst verkommen wird, wenn es nichts weiter geben wird als jenes Sichabkehren von allem geistigen Leben und geistigen Empfinden, das immer mehr und mehr um sich greift. Zu den traurigsten Erscheinungen der Gegenwart ge­hört es, daß eine größere Anzahl von Menschen sich heute finden kann, die überhaupt solche Gaukelei, wie der Reinhardtianismus ist, noch als Kunst anzusprechen vermögen.

Um hier auf diesem Gebiete klar zu sehen, dazu gehört heute schon jener starke Impuls, der aus dem von der Geisteswissenschaft entflammten künstlerischen Empfinden heraus kommen kann. Denn dasjenige, was heute gerade modernes Leben auf künstlerischem Gebiete genannt wird, das ist vielfach nichts anderes, als ein wirres Taumeln durch die Welt. Wenn man nur versucht, wirklich das Leben der Gegenwart zu erfassen, kann man schon, ich möchte sa­gen, die Stelle bezeichnen, wo heute hineinplumpst das vom Mate­rialismus ganz zerfressene Leben gerade in das Sumpfgebiet der Kunst, oder, von der anderen Seite angesehen, in das Vergessen alles desjenigen, was Kunst eigentlich ist. Denn damit wirklicher künst­lerischer Sinn in der Entwickelung der Menschheit fortgepflanzt werden kann, dazu ist notwendig, daß dasjenige, was von früher gekommen ist, was zum Beispiel auch in Lienhards Dichtungen lebt und was in einer gewissen Weise eine Art von Natur-Pantheismus und Geistes-Pantheismus ist, ins Konkrete hinein sich entwickeln kann, daß die Menschen verstehen lernen die Mannigfaltigkeit des Lebens so, daß sie sehen neben dem Sinnlichen das Ätherische und das Astralische und das Geistige. Denn ohne dieses Sehen bleibt die Menschheit blind, blind gerade in bezug auf das Künstlerische. Und die Welt veranlagt sich, könnte man sagen, gerade in bezug auf die künstlerische Anschauung dazu, nur noch das ganz derbe äußere Sinnliche zu nehmen und dieses anzuschauen, wie es ist, und es un­mittelbar zu beschreiben.

Nun ist es allerdings kaum möglich, solche Beschreibungen oder solche Nachbildungen anders zu geben als dadurch, daß etwas auf­tritt, was, ich möchte sagen, Unklarheit in bezug auf die Erfassung des Lebens ist, Rausch- und Traumzustände, in denen man im

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Grunde genommen nirgends weiß, was man eigentlich vor sich hat. Und so kann man es denn erleben, daß gerade dieses unsinnige, un­klare Taumeln gegenüber den Erscheinungen des Lebens heute viel­fach feine Psychologie genannt und als feine Psychologie angesehen wird. Und das Herz tut einem so oftmals weh, wenn man sieht, daß so wenig Menschen geeignet sind, auf diesem Gebiete stark genug zu empfinden, und dagegen irgendwie sich aufzulehnen. Sehen wir uns Menschen an, wie sie uns entgegentreten dann, wenn wir sie anblicken - und der Künstler muß sie ja anblicken sehend, indem er sie hineinstellen kann in das tiefere Leben der Welt - mit den­jenigen Seelenorganen, die schon einmal die Entwickelungs­geschichte der Menschheit an den Tag gebracht hat, so brauchen wir die Möglichkeit, zu sagen: Da ist ein Mensch, der ist so und so geartet, der erlebt dies oder jenes, weil wir wissen, dieser ist mehr in dem physischen Leib steckend, ein anderer steckt mehr in dem Ich, ein anderer mehr in dem astralischen Leib. Und wir müssen ein lebendiges Gefühl davon haben, wie sich die Charaktere der Men­schen verteilen, indem der eine mehr vom Physischen, der andere mehr vom Ätherischen, mehr vom Astralischen, mehr vom Ichlichen ergriffen wird. Und wenn man das in der Gegenwart nicht kann, und will die Menschen etwa in der Dichtung künstlerisch beschrei­ben, so kommt eben das Taumeln heraus, das heute vielfach als Kunst genommen wird.

Sehen Sie, man muß schon, ich möchte sagen, an den bedeuten­deren Erscheinungen die Sache anfassen, damit ein Verständnis er­weckt werden kann von dem, was eigentlich ist. Es können einem vier Menschen entgegentreten, die, sagen wir, irgendwie durch das Karma zusammengestellt sind. Wenn vier Menschen zusammen­gestellt sind, kann man verstehen, wie sie durch das Karma mitein­ander in bestimmte Beziehungen gebracht sind, wie aber auch der Strom des Karma im Weltenlaufe verfließt und wie diese Menschen gerade in einer bestimmten Weise durch ihr Karma sich haben hin­einstellen wollen in die Welt. Man wird niemals etwas verstehen von Standpunkten, die heute möglich sind, wenn man solche kar­mischen Zusammenhänge nicht in der Welt zu sehen vermag.

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Nun, nehmen Sie einmal die vier Brüder Dmitri, Iwan, Aljoscha Karamasow und Smerdjakow in Dostojewskis «Brüder Karamasow». Sie haben in diesen vier Brüdern Karamasow, wenn Sie mit see­lischem Auge sehen können, wirklich vier Typen, die Sie nur ver­stehen können in der Art und Weise, wie sie durch das Karma zu­sammengetragen sind, so daß man weiß: Da trägt ein Strom des Karma vier Brüder in die Welt herein so, daß sie Söhne sein müs­sen eines typischen Lumpen der Gegenwart, aus einem der sumpfig­sten Milieus, der diese vier Brüder zu seinen Söhnen hat. Da wer­den sie hereingetragen, indem sie sich gerade dieses Karma aus­wählen. Da werden sie aber auch nebeneinander gestellt, so daß man sieht, wie sie sich unterscheiden. So kann man sie nur begreifen, wenn man weiß: In dem einen überwiegt das Ich, in Dmitri Karamasow; in einem zweiten überwiegt der astralische Leib, in Aljoscha Karamasow; bei dem dritten überwiegt der Ätherleib, in Iwan Karamasow; bei dem vierten, in Smerdjakow, überwiegt ganz der physische Leib. Und ein Licht von Lebensverständnis fällt auf die vier Brüder, wenn man sie von diesem Standpunkte aus betrach­ten kann. Und nun denken Sie sich, wie ein Dichter von Wilhelm Jordans Gaben, und mit einer geistigen Weltauffassung, wie es heute zeitgemäß sein müßte, solche vier Brüder nebeneinander stel­len würde: Wie es ihm gelingen würde, sie in ihren geistigen Grundlagen und Grundbedingungen zu begreifen! Dostojewski -was begreift er? Er begreift nichts anderes, als daß er diese vier Brü­der hinstellt als die Söhne eines ganz typischen versoffenen Lumpen einer gewissen versumpften Gesellschaft der Gegenwart: Den ersten Sohn, Dmitri, als den Sohn einer halb abenteuernden, halb hyste­rischen Persönlichkeit, die aber, nachdem sie zuerst durchgegangen ist mit dem versoffenen alten Karamasow, ihn verprügelt, es endlich nicht bei ihm aushält und ihm nur den Sohn zurückläßt, den älteren, Dmitri. Alles ist nur auf die Vererbung gestellt mit der versoffenen und der verprügelnden Person, alles ist, ich möchte sagen, so gestellt, daß man den Eindruck hat: Hier schildert der Dichter so wie etwa der moderne Psychiater, der nur auf das Allergröbste des Ver­erbungsprinzips sieht und keine Ahnung hat von den geistigen Bedingungen,

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und auch «erbliche Belastung» vor unsere Seele hinbrin­gen würde, dieses Tropf-Wort - ich meine nicht ein Wort, das tropft, sondern das von Tröpfen ersonnen worden ist im heutigen wissenschaftlichen Zusammenhange -. Dann haben wir die zwei nächsten Söhne: Iwan und Aljoscha. Sie sind von einer zweiten Frau, denn selbstverständlich muß die «erbliche Belastung» anders wir­ken bei diesen zwei Söhnen. Sie sind von der sogenannten Schrei­Lise, weil sie nicht halb, sondern ganz hysterisch ist und fortwäh­rend Schreikrämpfe bekommt. Während die frühere den alten Säu­fer durchgeprügelt hat, prügelt der alte Säufer jetzt die Schrei-Lise durch. Der vierte Sohn, bei dem, ich möchte sagen, überwiegt alles dasjenige, was im physischen Leib steckt, ist Smerdjakow, eine Art Gemisch von weisem, bescheidenem und idiotischem Menschen, von ganz blödsinnigem und zum Teil auch ganz klugem Menschen. Der ist nun auch der Sohn des alten Säufers, des typischen Lumpen, aber mit einer stummen Person, die herumgeht in dem Orte, ein Dorf­trottel, die die stinkende Lisaweta genannt wird und die vergewal­tigt wird von dem alten Säufer. Sie stirbt bei der Geburt. Man weiß selbstverständlich nicht, daß es sein Sohn ist. Smerdjakow bleibt dann im Hause. Und nun spielen all die Szenen, die sich abspielen sollen, sich ab zwischen diesen Persönlichkeiten. Und Dmitri wird, durch «erbliche Belastung» selbstverständlich, ein Mensch, bei dem das ganz unterbewußte Ich stürmt und flutet und ihn im Leben weitertreibt, so daß er überall aus dem Unbewußten, aus der Be­sinnungslosigkeit heraus in das Leben taumelt, und er wird uns auch so gezeichnet, daß man im Grunde genommen es nicht zu tun hat mit einer gesunden, geistigen, sondern mit einer hysterischen Kunst. Aber es ist das mit aus der naturgemäßen Entwickelung der Gegenwart heraus, jener Gegenwart, die sich nicht beeinflussen und befruchten lassen will von demjenigen, was von einer geistigen Weltauffassung kommen kann. Alles dasjenige, was nicht recht weiß, was es will, unklare Instinkte, die ebensogut zur besten Mystik sich entfalten können wie zum äußersten Verbrechertum, ja, von dem einen zu dem anderen leicht den Übergang finden aus dem Unbewußten heraus, all das gibt gewissermaßen Dostojewski in

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Dmitri Iwanowitsch Karamasow. Einen Russen will er schildern; denn immer will er wahres Russentum schildern.

Iwan, der andere Sohn, der nächste, der ist ein Westler. Westler nennt man diejenigen, welche mehr mit der Kultur des Westens bekannt geworden sind, während Dmitri nichts weiß von der Kultur des Westens, sondern ganz aus den russischen Instinkten heraus wirkt. Iwan war in Paris, hat allerlei studiert, hat die westliche Weltanschauung aufgenommen, diskutiert mit den Leuten - so will ihn uns Dostojewski zeigen - nun ganz erfüllt mit den Ideen der materialistischen Weltanschauung des Westens, aber mit der Grü­belei des Russen. Er diskutiert mit den Menschen darüber, indem sich der Nebel der Instinkte hineinmischt in allerlei Gedanken der mo­dernen geistigen Kultur. Er diskutiert: Soll man Atheist sein, soll man nicht Atheist sein, kann man einen Gott annehmen, kann man nicht einen Gott annehmen? Dann kommt er dazu: Man kann doch einen Gott annehmen! Ja, den Gott akzeptiere ich - dafür tritt er zuletzt ja ein, den Gott anzunehmen -, aber die Welt kann ich nicht akzeptieren! Wenn ich schon den Gott akzeptiere, so kann ich nicht die Welt akzeptieren, denn diese Welt, wie sie da ist, wie sie auf­tritt, die kann nicht von Gott erschaffen sein. Ich nehme den Gott an, ich nehme aber nicht die Welt an! So gehen seine Diskus­sionen.

Der dritte, Aljoscha, wird früh Klosterbruder. Es ist derjenige, in dem der astralische Leib überwiegt. Aber es wird uns auch ange­zeigt, wie in ihm allerlei Instinkte wirken, auch durch die Mystik, die sich in ihm entwickelt, und wie er im Grunde genommen durch dieselben Instinkte, durch die sein älterer Bruder, Dmitri, der nur von einer anderen Mutter ist, eine eigentlich verbrecherisch veran­lagte Natur ist, die sich hei ihm anders ausbilden, dazu kommt, Mystiker zu sein. Verbrechertum ist nur eine besondere Ausgestal­tung derselben Instinkte, die auf der anderen Seite das Sichwund-beten und das Glauben an die göttliche Liebe, die alle Welt durch­zieht, hervorrufen, denn beides kommt aus dem Niederen, aus den unteren Instinkten der Menschennatur, bildet sich nur nach ver­schiedener Weise aus.

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Es ist selbstverständlich nicht das Geringste dagegen einzuwen­den, auch solche Gestalten in der Kunst zu verwenden, denn alles, was in der Wirklichkeit ist, kann Gegenstand der Kunst werden. Aber auf das Wie kommt es an, nicht auf das Was, sie müssen dann durchdrungen sein von dem Weben und Wesen des Geistigen. Durch die eigentümlichen Verhältnisse, die ich oftmals hier beson­ders in bezug auf die russische Kultur auseinandergesetzt habe, hat sich gerade in Dostojewski dasjenige zum Ausdruck gebracht, was die Menschheitsentwickelung sein muß, wenn im russischen Leben noch Spiritualität walten wird rein durch das Fortentwickeln der natürlichen Verhältnisse, wie ich es neulich im Gegensatz stellte zu den spirituellen Verhältnissen. Dostojewski war ja vom Anfange an der inkarnierte Deutschenhasser, der es sich instinktiv zur Aufgabe gemacht hat, nur ja nichts in seine Seele hereinfließen zu lassen von westeuropäischer Kultur, der nur dabei stehen bleiben wollte, im Taumel die Weltengestalten zu erfassen, die an ihm vorüberzogen, und der sorgfältig vermied, irgend etwas Spirituelles in dem phy­sischen Menschengewoge zu schauen, das vor seiner Seele auf und ab wogte, und der, statt aus den Tiefen des Seelischen heraus die Gestalten zu fassen, sie aus den Untergi ünden der rein physischen Natur, die bei ihm selber krankhaft war, herausbrachte. Und das wirkte dann auf die Menschen, die vergessen hatten die Möglich­keit, heraufzukommen in das Geistige. Das wirkte auf die Men­schen, daß noch eine Natur ihr, ich möchte sagen, krankhaftes Bro­deln und Kochen, das in den Eingeweiden des Menschen wirkt, um­zugestalten in der Lage war in der Kunst mit Ausschluß alles Gei­stigen. Das wirkte. Sonst würde natürlich die bloße Schilderung eben eine Schilderung, eine Beschreibung sein, würde strohern und hölzern sein. Aber dadurch, daß es aus einem Unterbewußtsein, das krankhaft, das hysterisch wirkt, heraus kommt, dadurch ist es inter­essant geworden, sogar in vieler Beziehung sehr interessant, nament­lich durch jene Paradoxie, welche herauskommt, wenn man sich ohne einen Funken von spirituellem Leben, ich möchte sagen, mit Gemüt, denn das ist ja bei Dostojewski in höchstem Maße vorhan­den, überläßt dem bloß physischen Dasein der Welt.

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Und so ist denn in «Die Brüder Karamasow» hineinverwoben jene merkwürdige Episode von dem Großinquisitor, der uns vorge­stellt wird so, daß vor ihm der wiederverkörperte Christus auftritt, so daß also einem Großinquisitor - es wird das so dargestellt, daß Iwan Karamasow diese Novelle geschrieben hat, und sie wird dann eingefügt in die «Brüder Karamasow» -, dem rechten Mann des orthodoxen Christentums seiner Zeit, denn er weiß, was im Christen­tum webt und lebt für seine Zeit, der wiederverkörperte Christus gegenübertritt. Nun denken Sie sich den Mann des Christentums, den rechten Mann der Orthodoxie, dem wiederverkörperten Christus selber gegenüberstehend. Was kann er anderes tun, der Großinqui­sitor, der das «rechte» Christentum vertritt, als selbstverständlich den Christus, der wiederverkörpert auftritt, einsperren zu lassen! Das ist das erste, das er tut. Dann hat er Inquisition zu üben, er hat ihn zu verhören. Es stellt sich auch heraus, daß der Großinquisitor, der die Religion im rechten Sinne vertritt, der weiß, was dem Christentum nottut in unserer Zeit, erkennt: Es ist der Christus wiedergekommen. Da sagt er: Ja, du bist wohl der Christus - ich kann das nur ungefähr darstellen -, aber in die Angelegenheit des Christentums, die wir zu vertreten haben, hast du jetzt nicht hinein-zureden, davon verstehst du jetzt ganz und gar nichts. Dasjenige, was du geleistet hast: Hat es den Menschen irgend etwas gebracht, was sie glücklich gemacht hätte? Wir mußten erst aus dem, was du in solcher Einseitigkeit, in solch unpraktischer Art an die Menschen herangebracht hast, das Rechte machen. Würde nur dein Christen­tum unter die Menschen gekommen sein, dann würden die Men­schen nicht jenes Heil in dem Christentum gefunden haben, das wir ihnen gebracht haben. Denn man braucht, wenn man den Menschen wirklich Heil bringen will, eine Lehre, die auf den Menschen wirkt. Du hast geglaubt, daß die Lehre auch wahr sein muß. Mit solchen Dingen kann man aber den Menschen gegenüber nichts anfangen. Vor allen Dingen kommt es darauf an, daß die Menschen die Lehre glauben, daß sie ihnen so gegeben wird, daß sie gezwungen werden zu glauben. Autorität haben wir begründet.

Ja, es blieb wirklich nichts anderes übrig, als den wiederverkörperten

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Christus der Inquisition zu überliefern. Denn man kann doch in dem Christentum, das der Großinquisitor vertritt, den Christus nicht brauchen, wenn er sich unseligerweise wieder darin verkör­pern sollte, nicht wahr? Es ist eine grandiose Idee, noch grandioser ausgeführt. Aber sie ist hineingestellt in eine Dichtung, die nur eine hysterische Wiedergabe des Wirklichen ist, so daß nichts dabei her­auskommt von den großen Impulsen, die durch das Weltengesche­hen gehen, daß gar nichts anschaulich wird von irgend etwas Spiri­tuellem bei Dostojewski, sondern nur jene Äußerlichkeit des Chri­stus wiederverkörpert da auftritt und von dem Großinquisitor ge­wissermaßen zerschmettert wird.

Mit vielen anderen Dingen sind solche Dinge verwandt, und ich möchte sagen: Es gehört sich für diejenigen, die Geisteswissenschaft in ihrem Nerv verstehen wollen, diese Verwandtschaft zu fühlen, nicht allzuleicht die Dinge des Lebens zu nehmen. Nicht wahr, wozu wir es gebracht haben, das kann ja durch mancherlei charak­terisiert werden. Man braucht zum Beispel nur an zwei Bücher zu denken, die vor gar nicht allzu langer Zeit erschienen sind, wovon das eine heißt: «Jesus, eine psycho-pathologische Studie», und das andere: «Jesus Christus vom psychiatrischen Standpunkte aus be­trachtet». Da wird dasjenige, was in den Evangelien steht, so be­trachtet, daß es hingeschleppt wird vor die Aufstellungen des Psychiaters der Gegenwart und nachgesehen wird, wie man die ein­zelnen Evangelien-Stellen, namentlich die Worte des Christus Jesus selber, dadurch erklären kann, daß man eben den pathologischen Zustand dieser Persönlichkeit, die da am Ausgangspunkt der neue­ren Entwickelung gestanden hat, die krankhafte Psyche des Christus Jesus ins Auge faßt. Der Irrenarzt, der Christus als einen abnormen Menschen prüft nach den Regeln der modernen Psychiatrie - er ist schon da ! Es gibt Bücher darüber.

Mit diesen Erscheinungen sollte man doch zusammenhalten das­jenige, was einem sonst auch vor die Seele geleitet werden könnte. Wie viele Menschen gibt es demgegenüber, die den ganzen Sumpf, die ganze Verblödung einer solchen Geisteskultur wirklich fühlen, so fühlen, daß sie sie bis in ihre einzelnen Verzweigungen hinein

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verfolgen wollen? Muß man es denn nicht immer wieder und wie­derum erleben: Da ist irgendwo ein großer Psychiater, die Leute laufen ihm zu. Er schreibt epochemachende Werke über die Psychia­trie, wird als ein großer Psychiater angesehen. Schüler oder Kol­legen von ihm sind es, in gar nicht weiter Abzweigung, die eine psychopathologische Studie nicht nur über Goethe, Schiller, Nietzsche und allerlei Leute, die irgendeine Bedeutung gehabt ha­ben und zur geschichtlichen Anerkennung gekommen sind, schrei­ben, sondern auch über den Christus Jesus selber ! Und indem wir mit all der erheuchelten, ich will nicht sagen Ehrfurcht, mit all dem zwar nicht erheuchelten, aber gedankenlosen Autoritäts-Glauben die Schwelle eines Psychiaters oder irgendeines anderen naturwissen­schaftlichen Weltanschauers überschreiten, bewegen wir uns in der­selben Strömung, die, zu einem Extrem, zu einer Karikatur ausgebil­det, die Welt in die Verblödung hineinführt. Die Lebenszusammen­hänge klar sehen zu wollen, das ist ja gewiß etwas, was auf der einen Seite, gegen die Bequemlichkeiten des Lebens gehalten, gerne gemieden wird, was aber notwendig ist, angefacht zu werden.

Wir kommen wahrhaftig nicht dadurch vorwärts, daß wir uns zusammensetzen und mit einer gewissen Sensationslust oder mysti­schen Schwärmerei Geisteswissenschaft auf uns wirken lassen, sondern dadurch kommen wir vorwärts, daß diese Geisteswissen­schaft in uns lebendig wird, daß wir das Leben nach dem betrachten lernen, was sie in uns an Impulsen wirken kann. Wir sind noch nicht Geisteswissenschafter dadurch, daß wir uns jede Woche einmal das, was über Elementargeister, über Hierarchien und so weiter gesagt werden kann, wie einen kalten Schauer oder wie einen warmen Schauer - ich weiß nicht, wie das ist! - über den Rücken laufen lassen, sondern dadurch werden wir wirkliche Geisteswissenschafter, daß die Dinge in uns lebendig werden, daß wir sie in alle Einzel­heiten des Lebens hineintragen können und daß wir wirklich auch soweit kommen können, daß uns zum Beispiel vor dem Kunstsumpf der Gegenwart deshalb, weil wir Geisteswissenschafter sind, ekeln kann, wenn wir nicht etwa auf dem Standpunkt stehen, daß wir ja als Theosophen verpflichtet sind, allgemeine Menschenliebe walten

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zu lassen und wir deshalb auch das Versumpfte und Schlechte selbstverständlich nicht mit dem wahren Namen belegen dürfen.

Es ist merkwürdig, wie die Menschen ungeneigt sind in der Ge­genwart, wirklich die Augen aufzumachen. Freilich, es ist nicht im­mer die Schuld des einzelnen, sondern es ist die Schuld des ganzen geistigen Lebens der Gegenwart. Es wird dem einzelnen recht schwer gemacht, deutlich zu sehen, denn die ganze öffentliche Er­ziehung geht vielfach darauf hin, solche Dinge, wie diejenigen sind, auf die sich gerade heute an diesem herausgerissenen episodischen Abend aufmerksam machen wollte, zu übergehen. So wie man sonst sagt, man wird auf etwas gestoßen, so werden Menschen gleichsam vorbeigezogen, nicht darauf gestoßen, sondern weggezogen von den Dingen. Wir leben jetzt wirklich auch in dieser Beziehung in einer der größten Schulzeiten der Menschenentwickelung drinnen und dürfen nicht, ich möchte sagen, einfach unempindlich sein gegen­uber der Schule, die wir in dieser Beziehung durchleben. Denken Sie doch nur einmal, wie man es zustande gebracht hat, vor kurzer Zeit noch alles, ich möchte sagen, durcheinander zu genießen, ohne einzugehen auf die Art und Weise, wie sich die Menschen der heu­tigen Gegenwart gegenüberstehen. Zum Beispiel darf das Prinzip, daß keine Unterschiede existieren, ja nicht dahin führen, wie ich schon einmal oder öfter gesagt habe, alle Differenzierungen zu ver wischen, alles unklar zu machen, so wie es von der Leiterin der «Theosophical Society» geschehen ist, die sich bemüht hat, die Un­terschiede der verschiedenen Religionen möglichst auszulöschen, so daß nur noch das Hindu -Wesen etwa in besonderer Glorie prangen konnte. Aber sonst hat sie die Sache ausgelöscht nach einer Logik, die ich ja öfter verglichen habe damit, daß einer sagt: Ich muß alles dasjenige, was als Zutaten auf dem Tische steht, in gleicher Weise als Zutaten behandeln und nicht auf die Unterschiede sehen. So würde dieses Verfahren, alle Religionen gleich zu behandeln, keinen Unterschied zwischen ihnen zu sehen, ebenso sein, wie wenn einer sagte: Salz ist ist eine Speisezutat, Zucker eine Speisezutat, Pfeffer auch, denn alles ist das gleiche, alles ist Speisezutat. Man soll nur versuchen, ob es das gleiche ist: man pfeffere sich den Kaffee und

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zuckere sich die Suppe und papriziere sich einmal die Torte oder sonst etwas ! Dieselbe Logik liegt aber zugrunde auf jener Seite, es liegt zugrunde die Unfähigkeit, die konkrete Entwickelung zu sehen.

Und so werden viele Dinge eben so genommen, daß man auch schon alles tut, um, ich möchte sagen, die Menschen in einen Tau­mel, in einen Traum, in einen Rausch hineinzureiten. Man wird, wenn man solche Dinge sagt, nur allzu leicht mißverstanden. Des­halb sage ich ausdrücklich: Jeder, der mich längere Zeit gehört hat, weiß, welche Größe ich in To/stoi sehe. Aber deshalb sollte nie­mals vergessen werden, wie in Tolstoi selbstverständlich etwas lebt, was nicht grau in grau neben das Westeuropäische hingestellt wer­den darf. Ich habe früher öfter auf solche Unterschiede aufmerksam gemacht bei Vorträgen über Tolstoi. Man kann die Größe eines Men­schen wie Tolstoi deshalb doch anerkennen und braucht nicht das etwa zu tun, was nun bei Tolstoi wirklich geschehen ist. Hätte man nämlich Tolstoi einigermaßen aufmerksam gelesen in der Zeit, wo er viel gelesen worden ist, namentlich wo seine umfassenden Werke, seine ersten großen Kunstwerke gelesen worden sind, so hätte man vielleicht - vielleicht, sage ich - sich gesagt: Da haben wir einen großen Geist des Ostens, der aber voller bittersten Hasses und voller Verachtung sogar vom Deutschtum spricht. - Man hat es nicht ge­tan, wie Sie wissen, man hat das gar nicht bemerkt. Warum nicht? Weil die ersten Übersetzer Tolstois ins Deutsche diese Stellen weg­gelassen oder anders gestellt haben, so daß, bis auf die Übersetzung, die dann Raphael Löwenfe/d gemacht hat, die erst den richtigen Tolstoi gegeben hat, die aber zu spät kam, die deutsche Literatur einen gefälschten Tolstoi hatte.

Es handelt sich darum, daß man die Dinge wirklich weiß, oder aber nicht urteilt ! Aber worüber man urteilt, das sollte man wirklich kennen. Man braucht Tolstoi nicht zu überschätzen. Man kann das­jenige, was er ist, gerade daraus herausfinden, daß er erstens eine Größe, zweitens eine Natur war, die ganz aus seinem Volkstum her­aus sich gebildet hat. Aber man sollte sich ganz klar sein darüber, daß man nicht einfach dasjenige machen darf, was die Zwerg-Kritiker des verpesteten Journalismus der Gegenwart so sehr häufig

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tun, die, während sie auf der einen Seite diesen oder jenen groß nennen, meinetwillen den Goethe oder den Schiller, mit denselben Worten zum Beispiel Dostojewski groß nennen, ohne daß sie ein Gefühl da-für hervorrufen, daß gegenüber, sagen wir, dem «Wilhelm Meister» oder den «Wahlverwandtschaften» oder auch nur gegenüber sol­chen Dingen, wie sie Lienhard geschaffen hat, Dostojewski, selbst «Die Brüder Karamasow», für dasjenige, was wir als ästhetische Prinzipien haben müssen aus früherer Zeit, dennoch Hintertreppen-Literatur ist. Zum klaren, präzisen, konkreten Urteilen bringt es einen, wenn man hineinsieht in dasjenige, was ist, und wir leben heute in einer Zeit, wo wir unser Urteil schärfen müssen, wo wir hineinsehen müssen in dasjenige, was ist. Wir leben heute in einer Zeit, in der mit jedem Tage der Haß der Völker gegeneinander größer wird. Man sollte verstehen lernen, wenn man urteilen will, wie dieser Haß sich herausentwickelte aus dem, was lange, lange da war.

Das sind Dinge, die einmal ausgesprochen werden müssen, damit wirklich ein bißchen unter uns eine Empfindung entsteht dafür, welche Bedeutung das geisteswissenschaftliche Streben haben sollte. Es kann immer wieder ein bitteres Gefühl in einem hervorrufen, wenn einem jedes beliebige, manchmal törichte Wort, das da oder dort in einer Zeitung oder in einem Journal oder in einem Buche steht, gebracht und gesagt wird, wie da schon Theosophie waltet und so weiter, während es gerade darauf ankäme, allerdings ohne Fanatismus, das ganz Fundamentale, dasjenige, was Geisteswissenschaft sein will, wirklich zu fassen, um es hineinstellen zu können in die Kultur der Gegenwart, einzusehen, wie wenig eigentlich der Mensch der Gegenwart dasjenige lieben kann, was Geisteswissenschaft will, weil er auch nur die wenigen Schritte einfach nicht auf­bringen kann, die manchmal notwendig werden, um herauszufinden aus der äußersten Frivolität, die heute vielfach das geistige Kultur. leben durchzieht. In ernster Stunde auch ernste Betrachtungen anzu stellen, scheint doch vielleicht berechtigt zu sein. Denn welche Stunde der Weltgeschichte wäre geeigneter, ernste Betrachtungen anzustellen, als diese Stunde heute, von der man sagen darf, daß im

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Verlaufe der Menschheitsentwickelung sich nichts Schrecklicheres, Furchtbareres - selbstverständlich zugleich als Großes, als Notwen­diges - entwickelt hat, welche Stunde sollte geeigneter sein, ernste Töne in unserer Seele zur Wirksamkeit zu bringen, als diese gegen­wärtige Stunde ! Man braucht sich ja nur vor Augen zu stellen, daß Leute, die es wissen können, ausgerechnet haben, daß bei einem einzigen größeren Gefecht im Juni oder Juli des verflossenen Jahres im nördlichen Teile der Westfront an einem Tag so viel Munition verschossen worden ist, als im ganzen deutsch-französischen Kriege 1870/71 zusammen. Und wahrscheinlich ist bald der Zeitpunkt er­reicht - so urteilen einige Leute, die sachverständig sind -, wo in die­sen gegenwärtigen Verwickelungen der Welt so viel verschossen worden sein wird an Munition, wie in allen bisherigen Kriegen, seit mit Pulver geschossen wird, zusammen !

Es ist eine ernste Zeit, keine Zeit, die uns erlaubt, hinwegzugehen über dasjenige, was auch geistig als eine große Krise durch die gei­stige Entwickelung der Menschheit geht, so einschneidend, daß es unverzeihlich wäre, sich nicht in solch ernster Stunde die ganze Be­deutung desjenigen, was geschehen muß für die Menschheits­entwickelung, vor Augen zu stellen, wenn man durch ein Nahe­kommen in bezug auf die geisteswissenschaftlichen Lehren in det Lage ist, dies zu tun.

Ich wollte dies als eine Art anthroposophisch-literarischer Be-trachtung noch an die Rezitationen des heutigen Abends anschließen.

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ZWEITER VORTRAG Berlin, 7. März 1916 Das geistig-seelische Wesen des Menschen

Ich möchte heute, teils zurückkommend auf manches in der letzten Zeit und öfter schon Besprochene, teils manches erweiternd, zunächst einzelne Ausführungen machen über des Menschen Inneres, über des Menschen seelisch-geistiges Wesen. Sie wissen, wir spre­chen zunächst von demjenigen Gliede des inneren Menschen, das wir mit einem abstrakten Ausdrucke als den Ätherleib bezeichnen. Und während der physische Leib des Menschen für die äußeren Sinne wahrnehmbar ist, für die äußere Wissenschaft, die an den Verstand und ihre Beobachtungen gebunden ist, zugänglich ist, wis­sen wir, daß der Ätherleib ein Übersinnliches ist. Ferner sprechen wir von dem nächsten Gliede der menschlichen Wesenheit als dem sogenannten astralischen Leibe. Wir erinnern uns, wie oft wir be­tont haben, daß man ja nicht sagen kann als Mensch, das Innere des Menschen sei dem Menschen vollständig unbekannt: der Mensch nimmt ja wahr in der physischen Welt innerhalb seines leiblichen Daseins sein Denken, sein Fühlen, sein Wollen. Er erlebt es inner­lich, und er erlebt dieses Denken, Fühlen und Wollen durchstrahlt, durchleuchtet von dem Ich. Man kann sagen, dieses Denken, Fühlen und Wollen nimmt der Mensch innerlich wahr. Aber man kann doch nicht sagen - wie Sie sich allmählich zu denken angeeignet haben werden -, daß der Mensch seinen astralischen Leib wirklich wahr­nimmt. Und man kann auch nicht einmal sagen, daß er sein Ich wirklich wahrnimmt. Denn dieses Ich - wir haben darauf gerade im Verlaufe der letzten Vorträge aufmerksam gemacht -, von dem der Mensch spricht, das mit jedem Einschlafen in die Unbewußtheit zu­rückfällt, ist nur ein Bild des wahren und wirklichen Ichs. So daß also in einem gewissen Sinne schon geschlossen werden kann, daß auch mit diesem Ich, mit dem Denken, Fühlen und Wollen, in einer ahnlichen Weise nur ein Ausdruck. eine Offenbarung des eigentlichen

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Inneren des Menschen gegeben ist, wie mit dem physischen Leibe eine Offenbarung, ein Ausdruck des Geistigen gegeben ist, desssen, was wir als den Ätherleib bezeichnen. Nun, der Mensch ist selbstverständlich froh, wenn er über irgendein Wissensgebiet so eine hübsche Einteilung hat, die er so recht, man möchte sagen, in geistige Schachteln packen und aufbewahren kann. Daher sind manche so zufrieden, wenn sie nun das ganz außerordentlich phä­nomenale Wissen haben, daß der Mensch besteht aus dem phy­sischen Leib, dem Ätherleib, dem astralischen Leib, dem Ich. Aber im Grunde genommen hat man - das ist ja auch schon oftmals hier betont worden - mit diesen vier Worten eben nicht viel mehr als Worte, nicht viel mehr als Ausdrücke hat man. Und wenn man zur wirklichen Betrachtung schreitet, dann muß man in einer gewissen Weise immer überschreiten die Grenzen, die durch diese Ausdrücke so leicht festgesetzt werden.

Gewiß, wenn man so im allgemeinen spricht, kann man sagen:

Denken, Fühlen und Wollen gehen im astralischen Leibe vor sich. Aber damit ist nur in einer recht einseitigen, recht abstrakten Weise die Tatsache des Denkens erschöpft. So, wie wir als Menschen zu­nächst in der physischen Welt darinnen stehen, so ist allerdings der Impuls zu unserem Denken im astralischen Leibe, sogar im Ich, ge­geben. Aber das Denken entwickelt sich als Vorstellung, als Ge­danke nur dadurch, daß wir den beweglichen Ätherleib haben. Hier, als physische Menschen, würde unser ganzes Denken unbewußt bleiben, wenn nicht der astralische Leib seine Impulse, seine Denk-impulse in den Ätherleib hinein senden würde und der Ätherleib in seiner Beweglichkeit eben aufnehmen würde die Denkimpulse des astralischen Leibes. Und jeder Gedanke wiederum würde einfach vorübergehen, ohne daß eine Erinnerung bliebe, wenn wir nicht einen physischen Leib hätten. Man kann nicht sagen, daß der phy­sische Leib der Träger des Gedächtuisses ist; das ist schon der Ätherleib. Aber für uns Menschen im physischen Leibe würde das­jenige, was im Ätherleib vorhanden bleibt von unserem Denken, verfließen, wie die Träume verfließen, wenn es sich nicht eingraben könnte in die physische Materie des physischen Leibes. So daß unsere

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Gedanken hier im physischen Leibe sich behaupten können da­durch, daß wir eben diesen physischen Leib haben.

Sie sehen also, was für ein komplizierter Prozeß dieses Denken eigentlich schon ist. Es hat seine Impulse im astralischen Leibe, eigentlich schon im Ich. Diese Impulse setzen sich als Kräfte in den Ätherleib hinein fort, rufen da die Gedanken hervor, und die Ge­danken graben wiederum ihre Spuren in den physischen Leib ein. Und dadurch, daß sie eingegraben sind, können sie immer wiederum aus der Erinnerung während des physischen Lebens herausgeholt werden.

Nun betrachten Sie noch einmal dasjenige - wir haben ja schon von der Sache öfter hier gesprochen -, was eigentlich die Erinnerung für den Menschen hier im physischen Leibe ist. Nicht wahr, der Mensch hat Erlebnisse. Diese Erlebnisse verarbeitet er. Er geht dann von diesen Erlebnissen hinweg. Es kommt eine Zeit, wo solche Er­lebnisse sich so verhalten können zu uns Menschen, als ob wir gar nichts von ihnen wüßten, als ob sie in gar keinem Verhältnisse mehr zu uns stünden. Dann aber kommt wieder die Zeit, wo wir aus un serm Innern die Vorstellungen an solche Erlebnisse heraufholen Wir vergegenständlichen uns dann in Erinnerungsform dasjenige, was wir erlebt haben.

Nun sehen Sie, zunächst muß der Mensch mit Recht glauben:

Dieser Vorgang der Erinnerung gehört ihm, der gehört seiner Seele. Wenn wir als Mensch durch die Straßen gehen, in Gesellschaften gehen, kann uns ja keiner zunächst mit äußeren, physischen Sinnes-organen ansehen, was wir in uns für Erinnerungen bergen, das heißt was wir für Erlebnisse gehabt haben. Das tragen wir in unserer Seele. Ich möchte sagen, die Hülle des physischen Leibes, sie ist so da, daß wir in unserer Seele verhüllt, wie in dem Mantel des phy­sischen Leibes, aufbewahren unsere Erinnerungen. Sie gehören uns, und durch das ganze Leben hindurch arbeiten wir so an uns. Wir machen gewissermaßen die Außenwelt zu unserer inneren Welt. Wir tragen dann diese Außenwelt in der Form der Erinnerungen mit uns durch das Dasein. Als unser ureigenstes Eigentum tragen wir diese Erinnerungen dahin. Nun wäre es ein großer Irrtum. wenn

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man glaubte, daß dieses Tragen der Erinnerungen durch das Leben wirklich schon den ganzen Vorgang umfaßte. Das ist nicht der Fall. Es hat Darwin zum Beispiel mit Recht gefallen, einmal zu unter­suchen, ob denn solche Tiere wie die Regenwürmer nicht eine be­sondere Aufgabe haben, und er hat gefunden, daß die Regenwürmer nicht bloß da sind, um sich des Daseins zu erfreuen, sondern daß sie eine sehr bedeutende Aufgabe haben, indem sie zur Fruchtbarkeit des Bodens, den sie durchwühlen, Wesentliches beitragen. Das sind so Dinge, die die Naturwissenschaft gewiß heute zugibt, und das ist ein Boden, auf dem sich die Naturwissenschaft sicher glaubt. Die Naturwissenschaft soll dabei gar nicht getadelt werden, denn von der Naturwissenschaft ist es schön, wenn sie sich auf die einzelnen Dinge einläßt. Nur baut man auch Weltanschauungen auf solche Dinge. Da muß dann selbstverständlich der Spruch in Betracht ge­zogen werden von dem Mann, der gierig nach Schätzen gräbt und froh ist, wenn er Regenwürmer findet. Nun aber, ins Geistige ge­wandt, kann man fragen: Hat denn wirklich diese Tätigkeit des Menschen, durch die er sein ganzes Leben hindurch Erlebnisse zu Gedanken formt und in Erinnerungen bewahrt, für das gesamte Weltall gar keine Bedeutung? Ist dieser Erinnerungsvorgang wirk­lich nur ein Vorgang, der in uns sich abspielt?

Der Materialist ist ja darauf angewiesen, zu sagen: Selbstverständ­lich ist das ein Vorgang, der sich nur in uns abspielt. Mit dem Tode legen wir unsern physischen Leib ins Grab, und dann ist es mit dem, was wir als Erinnerung bewahrt haben, selbstverständlich aus wie mit einer erloschenen Sache. Wir gehen jetzt nicht auf eine solche materialistische Erwiderung ein, wir haben das öfter getan, aber wir wollen auf etwas anderes eingehen. Wir wollen die Frage auf­werfen: Ist denn dieser unser Gedanken- und Erinnerungsvorgang nicht vielleicht noch etwas ganz, ganz anderes als das, was sich da in unserem Erinnern abspielt? Und so ist es. Während wir denken, während wir uns aus den Erlebnissen Gedanken bilden und diese als Erinnerungen bewahren, während dieser Zeit beschäftigen wir uns nicht bloß mit unseren Gedanken, sondern mit unseren Gedanken beschäftigt sich die ganze Welt der Hierarchien, die wir als die

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dritte Hierarchie bezeichnen, als die Hierarchie der Angeloi, Archan­geloi, Archai. Wir denken nicht bloß für uns, wir danken und be­wahren unsere Gedanken in unserm Innern auf, damit ein Betä­tigungsfeld schaffend für Angeloi, Archangeloi, Archai. Während wir glauben, unsere Gedanken lebten nur in uns, beschäftigen sich drei geistige Hierarchien mit unseren Gedanken. Das Wenigste von dem, was wir mit unseren Gedanken vornehmen, ist dasjenige, wor­auf es ankommt bei unseren Gedanken. Auch während wir die Ge­danken vergessen haben, die wir später wiederum aus der Erinne­rung hervorrufen, sind sie in uns. Und ebenso, wie wir uns als Menschen mit unseren Maschinen auf der Erde befassen oder mit Essen und Trinken, so beschäftigen sich Angeloi, Archangeloi und Archai mit einem Gewebe, das aus unseren Gedanken geflochten, gesponnen, gebildet wird; die arbeiten fortwährend an diesen unse­ren Gedanken. Es ist also nur die uns zugewendete Seite der Gedan­kentätigkeit, von der wir wissen. Es gibt dazu eine uns abgewendete Seite, und diese uns abgewendete Seite sieht sich für das geistige Anschauen so an, daß wir sehen: Während wir da unsere Gedanken in unserem Innern haben, beschäftigen sich von außen her die ge­nannten geistigen Wesenheiten mit unseren Gedanken und weben sie, so daß wir, wenn wir diese Erkenntnis erlangen, uns sagen kön­nen: Unser Denkvorgang ist wahrhaftig nicht etwas Unnötiges in der Welt, unser Denkvorgang ist nicht etwas bloß für uns, unser Denkvorgang steht drinnen in der ganzen Weltenentwickelung und trägt bei, daß Neues immerfort einverwoben wird der Welten-entwickelung. Wenn wir nicht als einzelner geboren wären, gedacht hätten, Erinnerungen bewahrt hätten, so würde bei unserem Tode das Stück, das gewoben werden kann aus unseren Gedanken, das wir nicht selber weben, für die Weltenentwickelung verloren sein.

Und wenn wir dann durch die Pforte des Todes gehen - den elementarischen Vorgang haben wir ja öfter beschrieben -, wir wis­sen: Unsern physischen Leib legen wir ab, der wird den Elementen der Erde auf irgendeine Weise übergeben. Unser Ätherleib bleibt uns noch eine kurze Zeit. Für unser Inneres stellt er sich zunächst so dar, daß er ein großes Lebenstableau vor uns aufrollt. Alles dasjenige,

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dessen wir sonst in der Zeit uns erinnern, das wird gleich­zeitig wie in einem gewaltigen Panorama um uns herum aufgestellt in einem mächtigen Lebenstableau. Dann aber wird unser ätherisches Wesen von uns losgelöst, es wird gleichsam aus uns herausgezogen. Wer tut denn das? Ja, das tun schon die Wesenheiten der drei ge­nannten Hierarchien, und die weben es allmählich dem Welten-äther ein, so daß dieses Gewebe des Weltenäthers nach unserm Tode aus dem besteht, was wir während unseres Lebens zwischen Geburt und Tod hinzugefügt haben und was verarbeitet worden ist von den Wesen der drei nächsthöheren Hierarchien. Hinweggenom­men von uns wird also dasjenige, was wir so hinzuverwoben haben zu dem, was vor unserer Geburt noch nicht da war, und einverwoben wird es dem ganzen Weltall. Die Erkenntnis davon hat jeder Mensch, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist. Denn für den Menschen, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, tritt ja jetzt etwas ein, was wir nicht anders bezeichnen können als mit den folgenden Worten. - Sehen Sie, der Ätherleib des Men­schen ist losgelöst worden von ihm, sein ätherisches Gewebe ist dem allgemeinen Weltenäther einverwoben worden, dasjenige, was er Zeit seines Lebens in sich getragen hat, das ist jetzt draußen; das ist wichtig. Und derjenige, der solche Dinge kennt, bezeichnet das mit einem kurzen Worte, das man sich immer wieder und wieder medi­tativ vor die Seele rufen soll, denn es bezeichnet kurz einen wich­tigen und wesentlichen Vorgang. - Man kann sagen: Das Innetewird ein Äußeres, das heißt, dasjenige, was wir immer gefühlt haben als ein Inneres, als unser Gedankenleben, wird ein Äußeres, wird Außen-welt. So wahr uns hier umgeben Flüsse und Berge und Bäume und Wolken und Sterne, so wahr tritt etwas ein nach unserem Tode, was man so charakterisieren kann: Das, was Zeit unseres physischen Lebens in uns gelebt hat, ist nun ein Stück Außenwelt geworden, so daß es von uns angeschaut werden, von uns betrachtet werden kann.

Aber nun haben wir außer diesem Ätherleibe die Welt unseres astralischen Leibes. Die Welt unseres astralischen Leibes kommt uns zunächst so zum Bewußtsein, daß wir sie fühlen als Denken. Aber das Denken habe ich ja gerade charakterisiert, das sendet seine Impulse

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in den Ätherleib hinab, so daß im astralischen Leib das Den ken selber nicht bewußt werden kann. Erst das Fühlen und Wollen kann im Astralleibe bewußt werden. Unser ganzes Leben fühlen und wollen wir wiederum. Wir hegen über gewisse Erlebnisse ge­wisse Empfindungen. Das sind Vorgänge in unserem astralischen Leibe. Das ist wiederum sein eigenartiges Weben, aber jetzt nicht ein Weben in Gedanken, wie ich es vorher beschrieben habe, son­dern ein Weben in Empfindungs- und Willensimpulsen, Antrieben zum Willen. Auch an dem, was wir das ganze Leben hindurch füh­len und als Willensantriebe haben, auch daran arbeiten höhere Wesenheiten, auch das ist das Arbeitsfeld für höhere Wesenheiten. Wie an unserem Denken die Wesenheiten der dritten Hierarchie arbeiten, so arbeiten an unserem Fühlen und an unseren Willens-impulsen die Wesenheiten der zweiten Hierarchie, einschließlich sogar der Throne.

Denken Sie, wie wir in der Welt stehen, wenn wir diese Dinge wissen, wie wir uns hineinversetzt fühlen in die geistige Welt. Wir sagen uns auf der einen Seite: Du Mensch, du gehst denkend durch die Welt, aber dein Denken, indem es dir seine innere Seite zuwen­det, das ist nur die eine Seite des Denkens. Dasjenige, was du denkst, ist Stoff für die Arbeit der Angeloi, der Archangeloi, der Archai. Und indem wir fühlen und wollen, schaffen wir Stoff für die Geister der Form, die Geister der Bewegung, die Geister der Weisheit, die Throne oder Geister des Willens. Wie der Mensch die Erde umgräbt und bearbeitet und auch nicht weiß, während er die Erde bearbeitet, daß er nur die eine Seite bearbeitet, daß dann an der anderen Seite wesentliche Vorgänge sind, wie er mit dem normalen Bewußtsein das nicht weiß, so glaubt der Mensch, seine Gefühle, seine Willensimpulse seien bloß seine eigenen. Aber ein Feld sind sie für die Arbeit der genannten Wesen der höheren Hierarchie. Wir sind wahrhaftig nicht bloß als physischer Leib so da, daß dieser unser physischer Leib mit der Umgebung in Verbin­dung steht, sondern wir sind auch als seelisch-geistiges Wesen so da, daß dieses seelisch-geistige Wesen mit der Umgebung in Verbin­dung steht. Man denkt ja gewöhnlich nicht daran, wie auch unser

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physischer Leib zu der ganzen Umgebung gehört. Aber das ist leicht vorzustellen. Nicht wahr, in irgendeinem Augenblicke, wenn Sie sich selber sich körperlich vorstellen, so haben Sie nicht bloß Knochen, Blut und Muskeln und so weiter, sondern Sie haben auch einen gewissen Luftstrom in sich, den Sie eben eingeatmet haben und den Sie gleich wieder ausatmen werden. Der gehört, während Sie einge­atmet haben, zu Ihnen. Der war im vorigen Augenblicke außer Ihnen, im nächsten Augenblicke ist er wieder außer Ihnen. Denken Sie sich ohne diesen Luftstrom ! Es ist unmöglich, sich ohne ihn zu denken, er gehört zu uns dazu. Es ist schon unsinnig, auch nur den phy­sischen Leib so zu denken, als ob er nur in der Haut eingeschlossen wäre, während er ja darauf angewiesen ist, mit der ganzen Luft-umgebung zu leben. Aber ebenso, wie wir durch unseren physischen Leib mit der Luftumgebung und mit der Wärmeumgebung leben, ebenso leben wir durch unsere Gedanken mit der Umgebung der Hierarchie der dritten Ordnung, und wir leben durch unsere Gefühle und unsere Willensimpulse mit den Wesenheiten der Hierarchie der zweiten Ordnung und mit den Geistern des Willens. So stehen wir im Weltenall drinnen.

Wenden wir das wiederum an auf den Durchgang durch die Todespforte, dann können wir sagen: Wenn der Mensch durch die Todespforte durchgeht, so wissen wir, daß, wenn sein ätherischer Leib dann weggenommen ist von ihm, wenn die Einverwebung be­ginnt in den allgemeinen Weltenäther, er ja dann sein physisches Leben in einer Zeit, die dreimal so schnell verlebt wird wie das physische Leben zwischen Geburt und Tod, zurückzuleben hat, indem er die Wirkungen davon wahrnimmt. Also dasjenige, was wir in uns erlebt haben während unseres physischen Lebens, das nehmen wir dann nicht wahr; das haben wir hier im physischen Leben wahr­genommen. Wenn wir jemandem eine Beleidigung zugefügt haben:

Das Gefühl, aus dem wir die Beleidigung getan haben, das haben wir hier im physischen Leben durchlebt, das steht als Ursache da und trägt sich in das Karma ein. Was wir nicht erlebt haben hier im physischen Leben, das ist der Eindruck, den die Beleidigung auf die andere Seele gemacht hat. Wir erleben hier überhaupt nicht dasjenige,

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was unsere Taten, unsere Handlungen, unsere Gedanken für Wirkungen in der äußeren Welt machen. Hier im physischen Leben erleben wir das nicht, das erleben wir jetzt bei der Rückwärtswan­derung in der Zeit vom Tode bis zu der Geburt. Da leben wir alles, was draußen ist, durch, nicht so, wie es von uns erlebt worden ist, sondern so, wie es von der Außenwelt erlebt worden ist, mit der wir zusammen waren. Wirklich alles dasjenige, was die Menschen emp­funden haben durch unsere Gedanken, durch unsere Worte, wir er­leben es durch. Und das ist deshalb, weil jetzt das Äußere ein Inne­res werden muß. Mit unseren Gedanken, haben wir sagen können, ist es so, daß das Innere ein Äußeres wird. Bei diesem Leben jetzt ist es so, daß das Äußere, die Wirkungen unserer Gedanken, unserer Taten im Leben, ein Inneres wird, das heißt ein innerlich Erlebtes, ein vom Geistmenschen nach dem Tode Erlebtes. Denn er muß sich ja jetzt in die Welt einleben, in der er unbewußt während der Zeit seines Lebens lebt, indem er einen astralischen Leib hat und die Geister der zweiten Hierarchie an seinem astralischen Leibe arbei­ten, er muß sich jetzt in die Welt einleben, in der es eben so zugeht, daß sein astralischer Leib allmählich sich auflöst in dem Äußeren, aber er das Äußere jetzt innerlich durchlebt, richtig innerlich durch-lebt. Er muß lernen, zwischen dem Tode und einer neuen Geburt in der Sphäre zu arbeiten, in der die Geister der zweiten Hierarchie arbeiten, in der sie dasjenige vorbereiten, was ihn dann wiederum zu einer neuen Inkarnation führen kann. Und dann, wissen wir ja, wird der astralische Leib nach einiger Zeit eben so, daß er sich verflüch­tigt in die äußere Welt und der Mensch mit seinem eigentlichen Inneren in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt weiterlebt.

Nun, wenn wir verstehen wollen einiges von diesem Leben zwi­schen dem Tod und einer neuen Geburt, so müssen wir immer viele Gesichtspunkte geltend machen. Das ist ja überhaupt unser Ziel nicht einseitig zu sein, sondern viele Gesichtspunkte geltend zu ma­chen, so daß allmählich sich ein umfassendes Verständnis dieser Vorgänge eröffnen kann. Fassen Sie also ins Auge: So, wie der Mensch durch seine Geburt eintritt in die Naturvorgänge, die um ihn herum vorgehen im Mineralreich, Pflanzen-, Tierreich, so tritt er

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in die Welt ein, die um ihn vorgeht durch die Wesenheiten der ge­nannten Hierarchien. Er ist gewissermaßen eingefaltet in deren Tätigkeit, und dasjenige, was er ihnen mitgebracht hat, das weben sie zusammen, so daß es die Grundlage werden kann zu seiner nächsten Inkarnation.

Sehen Sie, auf diesem Gebiete ist es, ich möchte sagen, besonders schwierig, der Gegenwart richtige Begriffe zu geben, aus Gründen, die ja auch schon öfter dargelegt worden sind. Die Gegenwart arbei­tet gerade mit den verkehrtesten Begriffen auf diesem Gebiete. Wenn ein Mensch durch die Geburt ins physische Dasein tritt, so tritt er ja mit gewissen Eigenschaften in dieses physische Dasein. Die Gegenwart bestrebt sich, bloß von Vererbung zu sprechen, und meint die physische Vererbung, und man spricht so von dieser phy­sischen Vererbung, daß man sagt: Ein Mensch zeigt diese oder jene Eigenschaften, man muß also diese oder jene Eigenschaften bei den Vorfahren suchen. Es gibt zum Beispiel heute ein sehr fleißig gear­beitetes Buch über Goethe, worinnen Goethes Eigenschaften so dar­gestellt werden, daß, soweit man nur hinaufgehen kann, man das eine, was er hatte, sucht bei diesen Vorfahren, das andere bei jenen Vorfahren, bei einer Ur-Urgroßmutter das, bei einem Ur-Urgroß-vater jenes, und so habe sich alles vererbt. - Ich habe schon öfter gesagt: Eine Weisheit ist das, die man bildlich veranschaulichen kann dadurch, daß man zeigt, wie billig sie eben zu haben ist. Denn es ist nicht gescheiter, zu sagen, daß das Kind die Eigenschaften der Eltern hat, als zu sagen, daß ein Mensch naß ist, wenn er ins Wasser gefallen ist und herausgezogen wird. Er hat das Wasser selbstver­ständlich an sich, wenn er herausgezogen wird. So hat er die Eigen­schaften seiner Vorfahren an sich, weil er durch sie seine Seele durchgeleitet hat. Es ist keine größere Weisheit darinnen. Und so auf Ursachen zurückzuschließen, das für logisch zu erklären, ist nun schließlich das Allerunlogischste, das man nur irgendwie machen kann: Man will beweisen, daß sich die seelisch-geistigen Eigenschaf­ten vererben, indem man zeigt, ein Genie wie Goethe habe die glei­chen Eigenschaften, wie seine Vorfahren sie gehabt haben. Aber, wie gesagt, das ist nicht gescheiter als die Behauptung, daß ein

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Mensch naß ist, wenn er ins Wasser gefallen ist. Beweisen, daß das Genie und die genialischen Eigenschaften mit der Vererbung etwas zu tun haben, würde man, wenn man die Nachkommen des Genies auf­weisen und an ihnen zeigen würde, wie sich die Eigenschaften des Genies auf die Nachkommen vererbt haben. Das würde ein Beweis sein. Das wird man aber wohl bleiben lassen. Man wird zum Bei­spiel nicht gerade darauf ausgehen, zu zeigen, wie sich in Goethes Sohn die genialischen Eigenschaften seines Vaters vererbt haben, nicht wahr? Gewiß, manchmal kann es ja vorkommen, daß man wie mit Fingern auf solche Dinge hindeutet. Es gibt da in der euro­päischen Welt gegenwärtig einen Staatsmann, der der Sohn eines Vaters ist, der auch ein Staatsmann war. Da kann man sagen, da haben sich die genialischen Eigenschaften des Staatsmannes vom Vater auf den Sohn vererbt. Aber es könnte die Lösung auch dar­innen bestehen, daß sie alle beide keine Genies waren !

Der Sache selbst liegt ein viel, viel tieferer Vorgang zugrunde. Sehen Sie, das wollen die Menschen ja durchaus nicht anerkennen in unserer Zeit, daß dasjenige, was äußerlich geschieht, eben nur die Außenseite zeigt von Vorgängen, die zugleich innerlich sind, von Vorgängen, die aus dem Geistigen herausfließen. Und was gesagt werden soll, machen wir uns einmal durch folgenden hypothetischen Vergleich anschaulich. Nehmen wir an, es gäbe Wesen, welche zwar einen gewissen Verstand hätten, aber keine Anlagen, die Men­schen zu sehen. Das ist selbstverständlich durchaus eine Hypothese, aber Sie können ja einmal annehmen, daß es Wesen gäbe, die alles sehen, nur nicht Menschen. Solche Wesen sähen zum Beispiel Uhren. Also denken Sie sich einmal ein Wesen, das keinen Men­schen sieht und die Tätigkeit der Menschen nicht sieht, das würde durch Berlin gehen und sehen, wie überall Uhren entstehen würden. Das Wesen müßte sich selbstverständlich sagen: Die Uhren ent­stehen ganz von selber. - Nicht gescheiter, als ein solches Wesen, das schließen würde, die Uhren entstehen von selber, ist der Mensch, der sagt: Man braucht ja nicht weiter zu erklären, warum Menschen physisch in die Welt hereinkommen, das geschieht ganz von selber im Laufe der Fortpflanzung, im Laufe der Generationen. - So kann

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nur gedacht werden, weil die Menschen nicht sehen, daß das, was hier in der physischen Welt geschieht, nur der äußere Ausdruck ist für eine Tätigkeit, die fortwährend aus der geistigen Welt herunter­fließt, so wie die Tätigkeit der Uhrmacher in die Uhren hineinfließt. Wenn es zum Beispiel eigens eine Wissenschaft gäbe vielleicht der Maulwürfe, so könnten diese schon zu der Anschauung kommen, daß die Uhren von selber entstünden, wenn die Maulwürfe so intel­ligent wären, die Uhren als so etwas anzusehen, was durch In telligenz geschaffen ist.

Dasjenige aber, was sich hier auf der Erde vollzieht, wovon die Menschen in ihrer Torheit glauben, es geschähe ganz von selbst, es sei nur ein äußerlicher physischer Vorgang, das wird dirigiert, ge­rade so wie die Uhrmachertätigkeit eine dirigierende ist, aus der gei­stigen Welt. Und wirklich, von dem Moment an, den ich im vierten Mysteriendrama genannt habe die Mitternachtsstunde des Daseins, von dem Moment an, der mitten drinnen eigentlich schon liegt zwi­schen dem Tod und einer neuen Geburt, von da ab beginnt bereits die Tätigkeit, von der geistigen Welt gewissermaßen sich herabzunei gen in die physische Welt, um nach Jahrhunderten den Menschen ins physische Dasein wieder zu geleiten. Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geht, ist zunächst die Tätigkeit, die in der gei­stigen Welt ausgeübt wird, ein Verarbeiten desjenigen, was im letz ten Leben hier vom Menschen erlebt, erarbeitet worden ist. Das ge­schieht so in der ersten Hälfte. Aber von der Hälfte des Lebens zwischen dem Tod und einer neuen Geburt an beginnt schon die Vorbereitung für die nächste Inkarnation. Und nun ist es wirklich so, daß man sich vorstellen kann: Derjenige, der geboren wird, hat Eltern, die Eltern haben wieder Eltern, diese Eltern haben wieder Eltern. Denken Sie sich, wie das durch die Breite hinaufgeht, wenn Sie durch dreißig Generationen gehen. Aber wenn Sie so durch dreißig Generationen hindurchgehen würden, so würden Sie finden, daß gewissermaßen in vielen Leuten schon die Tendenzen liegen, die zuletzt dazu führen, daß der Mann A und die Frau B zusammen­gebracht werden, die dann einem Menschen das Dasein geben. Und wenn nicht das Ganze so stattgefunden hätte durch dreißig Generationen

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hindurch, wenn nicht da die Leute immer so geheiratet hät­ten, daß zuletzt der A und die B zusammengekommen wären, so würde eben nicht jene Zweiheit sich ausgebildet haben, die dann der Mensch aufsuchen kann, der hinuntersteigt zu einer physischen Inkarnation. An diesem ganzen Zusammenwirken vieler Menschen, die zuletzt in den zweien ausgipfeln, da arbeitet schon die geistige Welt mit nach dem, was die einzelne Individualität des Menschen ist. Wenn wir also sehen, daß der Sohn die Eigenschaft seines Vaters, seiner Mutter hat, dann wiederum die Mutter und der Vater auf Eigenschaften zurückführen von Großvater und Großmutter, Urgroßvater, Urgroßmutter und so weiter, so ist das deshalb, weil sich zu dem Ur-Ur-Urgroßvater und der Ur-Ur-Urgroßmutter, die dreißig Generationen nach aufwärts, etwa schon niedergeneigt hat diejenige Individualität, die dann später, nach Jahrhunderten, gebo­ren werden will und bestimmt hat den Plan, nach dem durch Gene-rationen hindurch die Menschen sich finden. Das wirkt alles schon mit. Und daß da vererbte Ähnlichkeiten sind, das rührt davon her, daß durch dreißig Generationen schon die Kraft herunterwirkt durch die geistige Welt, die zuletzt in einem bestimmten Menschen zum Vorschein kommen will; die wirkt schon in Vater, Mutter, Groß­vater, Großmutter, Urgroßvater, Urgroßmutter. Da wirkt sie schon immer und gibt einem zuletzt die Eigenschaften, die zum Vorschein kommen sollen. Nicht die physische Strömung macht die Vererbung, sondern der physischen Strömung wird die Vererbung auf diese Weise eingefügt. Gerade das Umgekehrte ist wahr von dem, was in bezug auf die physische Vererbung von der äußeren, sogenannten naturwissen­schaftlichen Weltanschauung behauptet wird. Damit zuletzt Goethe zum Vorschein gekommen ist durch den Johann Kaspar Goethe und die Frau Rat Aja, wurden die Menschen immer schon von den Wesenheiten der zweiten Hierarchie durch dreißig Generationen so zusammengeführt, daß das zuletzt zu Goethe führen konnte. Das gilt natürlich nicht nur für das Genie, das gilt für jeden einzelnen. Sie können sagen: Das ist schwer vorzustellen, und Sie können auch fragen, wie verträgt sich das mit der menschlichen Freiheit, wenn da schon dreißig Generationen, bevor wir herunterkommen,

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durchaus bestimmt werden, wie wir dann sein sollen? Ja, aber für unsern Vater war es ebenso und für die Großväter ebenso ! Und wenn das jemandem zu kompliziert ist zu denken, dann soll er nur sich noch dazudenken, daß ihm dieses Denken eben für das normale Bewußtsein des Erdendaseins erspart geblieben ist, denn es ist nicht ihm übertragen, sondern in Gemeinsamkeit mit den Geistern der Form, mit den Geistern der Bewegung und so weiter wird dieses be-wirkt, so daß die Freiheit gar nicht beeinträchtigt wird. Da gehört natürlich schon jene höhere Weisheit dazu, die diesen Hierarchien entspricht. Aber die Sache ist so.

Und so wird zusammengearbeitet dasjenige, was wir als Gedan­ken dem Weltenäther übergeben können, mit dem, was wir in un­serem Gefühls-, in unserem Willensieben ausleben während unseres physischen Daseins. Wirklich, Geisteswissenschaft soll nicht bloß eine Summe von Wissen in uns anregen, sondern sie soll vor allen Dingen eine gewisse Gemütsstimmung hervorzubringen vermögen. Ich habe versucht, diese Gemütsstimmung in den ersten Partien des zweiten Mysteriums anzudeuten, in der Begegnung zwischen Capesius und Benediktus, wie wirklich zu dem Ziele, daß der Mensch hier als ganzes Menschenwesen auf der Erde leben kann, Götter und Götter, Geister und Geister zusammenwirken, daß der Mensch für Götter und Götter, Geister und Geister ein Ziel ist. Dieses Gefühl, ich möchte sagen der Dankbarkeit dem geistigen Universum gegenüber, dieses Gefühl, sich drinnen zu wissen im geistigen Universum, das muß uns auch durch Geisteswissenschaft in unsere Seele hineinfließen. Es muß uns so natürlich werden, wie dem Men­schen natürlich ist, sich in Zusammenhang mit der physischen Welt zu wissen. Darauf achtet er ja gewöhnlich nicht. Aber heute ist die Wissenschaft so weit, daß jeder das Bewußtsein davon hat, daß er die Luft braucht, also daß er nicht bloß für sich leben kann, sondern daß er ein Glied in der ganzen Umgebung ist. Aber wenn er Hunger hat oder Durst hat, dann achtet er schon darauf, daß die Außenwelt seinem Dasein in physischer Weise nötig ist, daß er im Grunde ge­nommen in einem universellen Vorgange drinnen steht in der Außenwelt. So aber steht auch der Mensch in einem universellen

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Vorgange in der geistigen Welt drinnen, und indem er zu denken vermag, steht er mit Angeloi, Archangeloi, Archai, indem er zu füh-len und zu wollen versteht, mit der nächsthöheren Hierarchie in einem geistigen Zusammenhange. Wahrhaftig, so wie die Luft, wie die Natur in seinen physischen Leib hereinstreicht, so wirken in sein Geistiges und in seine Seele hinein die Tätigkeiten der genannten Hierarchien.

Die theoretischen Einwände, die von seiten unserer materialisti­stischen Gegenwart kommen, wir haben sie ja oftmals besprochen. Diese theoretischen Einwände, die sind eben durch Erkenntnis-betrachtungen und dergleichen aus dem Felde zu schlagen. Aber dann kommen ja die Materialisten sehr häufig noch mit der Praxis und sagen: Ja, mag es selbst richtig sein, daß es solch eine geistige Welt gibt, was hilft es uns aber, von dieser geistigen Welt etwas zu wissen, auch wenn du schon sagst, daß das Denken, Fühlen und Wollen mit den höheren Hierarchien in Verbindung steht? Um zu denken, brauchen wir ja nichts zu wissen von diesen Hierarchien. Wir denken ja schon in der Welt, ohne daß wir etwas davon wissen. Der Mensch atmet ja auch, Gott sei Dank, denn wenn er hätte war­ten müssen, bis er den Vorgang des Atmens theoretisch ganz genau kennen gelernt hätte, könnte er heute noch immer nicht atmen, denn das, was er heute physikalisch, physiologisch weiß vom Atmungs­prozeß, würde gar nicht ausreichen, um den Atmungsvorgang zu bewirken. Aber auch ohne daß man die «verschrobene Seite» hat -werden die Leute sagen -, denken kann man schon, ohne von irgend­welchen Hierarchien, die da mitarbeiten, etwas zu wissen.

Wir aber stellen die Gegenfrage: Kann man wirklich denken, ohne daß man das hat? - Gegenwärtig, sehen Sie, arbeiten die Men­schen eben noch mit den Erbgütern der alten Zeit, sie arbeiten wirk­lich mit dem, was sie geerbt haben, und damit haben sie mancherlei noch erfinden können, sogar so komplizierte Maschinen, wie man sie gegenwärtig zum Menschentöten verwendet und so weiter. Aber das alles ist Erbgut noch aus einer früheren Zeit. Schon daß es Erb gut ist, wollen die Leute natürlich nicht leicht zugeben, denn man­cher Mensch - es ist ja ganz merkwürdig in dieser Beziehung -,

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der behauptet, daß man es so herrlich weit gebracht habe, meint das im Grunde genommen doch nur deshalb, weil man eingesehen habe, daß alles Denken in der früheren Zeit kindisch war und die Men­schen jetzt sich bewußt geworden seien, wie man nüchtern, nicht mehr kindisch denkt. Man könnte heute wirklich schon rein äußer­lich, ich möchte sagen, sich überzeugen davon, daß dies ein Unsinn ist, und daß die Menschen dieses Denken, das sie jetzt haben, erst seit ein paar Jahrhunderten haben.

Wir waren da neulich in Hamburg, haben ein Bild aus dem drei-zehnten, vierzehnten Jahrhundert gesehen von dem Meister Bertram. Über dieses Bild möchte ich Ihnen das Folgende erzählen. Gehen wir zurück zu der biblischen Erzählung vom Sündenfall, die wir in der Geisteswissenschaft nennen die luziferische Versuchung. Wenn heute ein Maler der aufgeklärten Zeit den Sündenfall malt, so wird er Adam und Eva malen zu beiden Seiten des Baumes, und dann eine Schlange an den Baum malen, eine Schlange selbstverständlich. Je nachdem er Impressionist oder Kubist oder Expressionist oder irgend ein anderer «Ish> ist, wird er sie mehr oder weniger scheuß­lich malen - schön malen, meine ich ! Aber er wird eine Schlange so malen, wie eine Schlange ist, die im Grase kriecht. Nun ja, das ist Realismus. Ist es denn wirklich Realismus? Es ist nicht eigentlich Realismus; denn wie soll man denn als realistischer Mensch voraus­setzen, daß diese Schlange, die da im Grase herumkriecht, es fertig gebracht habe, die Eva, mag sie noch so einfältig gewesen sein -was sie gar nicht gewesen sein soll -, zu verführen? Ich denke, es gibt keine so einfältige Frau, daß sie sich von einer bloß im Grase schleichenden Schlange verführen lassen würde. Nicht wahr, das geht doch nicht ! Also naturalistisch ist die Sache nicht gerade. Wir wissen aus unserer Geisteswissenschaft, daß Luzifer ein Wesen ist, das auf der Mondenentwickelung stehen geblieben ist. Luzifer kann also selbstverständlich, da während der Mondenentwickelung noch nicht so gesehen worden ist wie hier während der Erdenentwicke­lung, nicht mit physischem Auge gesehen werden. Das kann keine Schlange sein, die mit physischem Auge gesehen wird. Er muß inner­lich gesehen werden, Luzifer.

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Sehen Sie, wenn wir den Menschen genauer studieren - Sie kön­nen es an jedem Skelett -, so gliedert sich deutlich schon das Skelett aus zwei Teilen: aus dem Schädel mit dem daran anhängenden Rückgrat - natürlich ist das nicht Skelett, es ist das Hirn darinnen, und das Rückenmark im Rückgrat -, und daran ist wie angehängt das andere des Menschen. Es ist ja wirklich kaum anders zu nennen als angehängt. Das ist aus dem Grunde - wir werden auch darüber einmal ausführlicher sprechen -, weil das, was wir als Haupt an uns tragen, wirklich ein sehr kompliziertes Gebilde ist. Das ist eine rich­tige kleine Weltkugel. Da muß man auch sagen: Gott sei Dank, daß der Mensch durch seine Weisheit nichts beizutragen hat zu der Ge­burt, und daß dieses Haupt zustande kommen kann. Denn das wurde schön ausschauen, wenn er durch seine jetzige Anatomie oder Physiologie irgend etwas dazu beitragen sollte, daß dieser Wunder-bau des menschlichen Hauptes zustande komme. Das kommt auf ganz andere Weise zustande, es kommt dadurch zustande, daß wäh­rend der Zeit vom Tode bis zu einer neuen Geburt wie in einer ge­waltigen Sphäre, die wir vergleichen können mit unserer blauen Himmelssphäre, das, was in unserem Karma geschrieben ist, verwo­ben wird und eine ganze Anordnung getroffen wird, die dann, in­dem es gegen die Inkarnation zu geht, immer kleiner und kleiner wird und sich dann mit dem, was von der Mutter kommt, vereinigt. Aus dem ganzen Weltall heraus wird gewoben durch unzählige Wesen vieler Hierarchien das, was dann unser Haupt wird, was eine Weisheit von ungeheuerster Größe und ungeheuerstem Umfang in sich schließt, eine Weisheit, die aufgebaut ist auf all den Erfahrun­gen, die durch Saturn, Sonne und Mond gewonnen worden ist. Und das, was daran hängt, das ist Erdenerzeugnis. Unser Haupt ist eigentlich Erbstück von Saturn, Sonne und Mond. Die Erde mit ihren Kräften hat nur das zustande bringen können, was daran hängt. Der andere Mensch, nicht das Haupt mit dem Rückenmark, sondern was daran hängt, das ist eigentlich der Erdenmensch.

Wie wird man denn nun, wenn man, innerlich geschaut, den Luzifer darstellen will, also eigentlich ein Mondenwesen darstellen müssen? Man wird ein menschliches Haupt darzustellen haben und

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etwas wie schlangenförmig daran hängend: das noch nicht ver­knöcherte Rückgrat. So stellt jener Meister Bertram aus dem drei­zehnten, vierzehnten Jahrhundert den Luzifer dar auf dem Baum zwischen Adam und Eva. Im Hamburger Museum können Sie das Bild so dargestellt sehen. Würden die Menschen heute denken kön­nen, so würden sie sich sagen: Der Maler hat das gemalt, also war dazumal noch lebendig das Wissen von der geistigen Welt. Bis zu dem Wissen von der Gestalt des Luzifer war lebendig das Wissen von der geistigen Welt.

So kurz ist es her, daß das, was wir altererbtes, atavistisches Hell-sehen nennen, verloren gegangen ist für die Menschen. Aber das Denken, das ist ja nicht sehr verbreitet heute. Autorität gilt ja aller­dings heute als etwas, was nichts ist, Autoritätsgefühl darf heute der freie Mensch nicht haben. Heute denkt man über alles nach, heute hat jeder seine eigenen Meinungen. Meist bedeutet allerdings die eigene Meinung haben nichts weiter, als daß man vergessen hat, in welcher Broschüre oder gar in welcher Zeitung man die betref­fende Meinung gelesen hat, nicht wahr? Das hat man vergessen, und dann ist es eine eigene Meinung geworden, wenn man das ver­gessen hat. Würde man aber denken, würde man die Dinge zusam­menhalten, dann würde man aus einer solchen Tatsache, daß ein Maler des dreizehnten, vierzehnten Jahrhunderts den Luzifer richtig malt, wissen, was die Menschen vor wenigen Jahrhunderten noch gewußt haben, und wie sie sich wiederum zu diesem Wissen hin-durchringen müssen.

Ich möchte noch von einer anderen Seite das Thema betrachten, damit wir sehen, wie es mit der Behauptung der materialistisch ge­sinnten Menschheit sich verhält, daß man das alles nicht braucht, was da hereinkommt aus der geistigen Welt und sich unseres Den­kens und Fühlens so bemächtigt, wie die Luft unseres Atmens, wie die Nahrung unseres Hungers und Durstes. Ja, wenn man durchaus diese Behauptung aufrecht erhalten will, daß man das alles nicht braucht, dann könnte man sagen: Gerade unter dem Einflusse dieser Anschauungen sind ja gewisse materialistische Lehren heraufgezo­gen, die ganz unwiderleglich sind. Öfter schon habe ich den bedeutenden

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Kriminal-Anthropologen Benedikt angeführt. Er war der erste, welcher Verbrechergehirne untersucht hat - nach dem Tode selbstverständlich -, der Verbrechergehirne sezierte im Hinblick dar­auf, ob ein Zusammenhang besteht zwischen dem Bau des Gehirnes und den verbrecherischen Eigenschaften. Benedikt hat an den Ver­brechergehirnen etwas sehr Wichtiges gefunden, er hat gefunden, daß sie alle eine gemeinschaftliche Eigenschaft haben, nämlich einen zu kurzen Hinterhauptslappen, der das Kleinhirn nicht vollstän­dig bedeckt. Also stellen Sie sich vor, daß die gemeinsame Eigen-schaft der Verbrechergehirne ein zu kurzer Hinterhauptslappen ist -wie ihn die Affen auch haben -, der das Kleinhirn nicht bedeckt. Das ist aber eine Eigenschaft, die ganz selbstverständlich eine Eigen­schaft des physischen Leibes ist. Man muß daraus notwendigerweise zu der Anschauung kommen: Es gibt zweierlei Menschen durch die Geburt. Die einen haben einen richtigen Hinterhauptslappen, der das Kleinhirn bedeckt, die anderen haben einen zu kurzen Hinter-hauptslappen. Diejenigen, die einen richtigen Hinterhauptslappen haben, werden keine Verbrecher; diejenigen, die einen zu kurzen Hinterhauptslappen haben, müssen Verbrecher werden, können gar nicht anders, als Verbrecher werden.

Wird dieser Erkenntnis gegenüber, gegen die gar nichts einzuwen­den ist, denn sie ist absolut richtig, vom Standpunkt der materiali­stischen Weltanschauung, nicht all unser Reden von Moral eine Farce, ein Unsinn? Können wir Menschen noch bestrafen, wenn wir uns sagen müssen: Die können, weil sie einen zu kurzen Hinter­hauptslappen haben, nicht anders als Verbrecher werden? Sie sehen, wohin der Materialismus nach und nach ausarten muß. Er muß auch alles Geistige im sozialen, ethischen, im juristischen Leben aus-löschen, oder er wird selbstverständlich in einer fortwährenden Lüge arbeiten müssen. Denn gegen die Tatsache, die ich angeführt habe ist nichts einzuwenden - so ist sie! Und für denjenigen, der eben nicht eine geistige Weltanschauung zugibt, gibt es eben nichts als diese Tatsache.

Nehmen wir jetzt dasjenige, was wir zu sagen haben. Gewiß, die Menschen werden so geboren, daß es solche gibt mit richtigen

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Hinterhauptslappen und solche mit zu kurzen Hinterhauptslappen. Aber es ist ein Ätherleib da, der in ganz anderer Weise ausgebildet werden kann und beweglicher ist als der physische Leib. Für den Hinterhauptslappen des physischen Leibes ist der Hinterhauptslap­pen des Ätherleibes da. Die Menschen der Zukunft werden lernen müssen zu unterscheiden zwischen Kindern, die einen zu kurzen Hinterhauptslappen und einen langen Hinterhauptslappen haben, und danach werden sie zu erziehen haben als Lehrer oder Erzieher. Sie werden wissen müssen, in welchen Eigenschaften ein zu kurzer Hinterhauptslappen in frühestem Kindesalter sich äußert. Diese Kinder wird man so zu erziehen haben, daß auf sie gewirkt wird so, daß der Ätherlappen entsprechenderweise stark sich ausbildet, daß ein Gegengewicht gebildet ist. Dann wird man dadurch, daß der Ätherlappen sich stark ausbildet, den Schaden verhindern, den der physische Lappen anrichten kann, wenn er zu kurz ist.

Wir sind eben noch nicht in das Zeitalter eingetreten, in welchem das alte Erbgut schon ganz verglommen ist; aber die Zeit wird kommen. Und würde Geisteswissenschaft nicht in die Gemüter ein­dringen können, so würde es eben unbedingt dahin kommen, daß der Materialismus auch alle Moral, alle Ethik, alle Juristerei ergrei­fen müßte, daß das Geistige überhaupt ausgelöscht werden müßte. Denn das würde allein konsequent sein. Zu dem, was kommen muß, kann man aber nur kommen, wenn man sich bewußt wird, daß, ebenso wie man die Luft einatmet, man auch braucht die Mitar­beiterschaft der geistigen Hierarchien bei demjenigen, was man den­ken, was man fühlen will. Aber da kommen natürlich unsere Zeit­genossen und sagen: Ja, wir können doch ganz gut denken, wir kön­nen ja vorzüglich denken, und wir glauben nicht, daß diese Hier­archien da so in uns wirtschaften ! Wie sollten wir nicht gut denken können? - Ein Naturforscher der Gegenwart, der ein sehr guter Naturforscher ist, der aber die Schwachheit hat, allerlei philosophisches Zeug auch noch nebenbei zu schreiben, der begeht diese eigentüm­lich unbewußte Tat, daß er einen seiner Vorträge damit schließt, wie man es «so herrlich weit gebracht» hat und so weiter, und gar nicht nachschaut in Goethes Faust, wer das sagt. Die Menschen

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haben eben das Bewußtsein: Sie können recht, recht gut denken, sind nicht angewiesen darauf, ihr Denken befruchten zu lassen aus der geistigen Welt.

Man müßte eigentlich viel reden, wenn man gründlich über dieses Kapitel reden wollte. Aber lassen Sie mich von vielen nur ein klei­nes, ganz kleines Beispielchen anführen. Ich habe neulich in dem öffentlichen Vortrage aufmerksam gemacht auf einen vergessenen

Denker: auf Karl Christian Planck. Ich will durchaus nicht in dogmatischer Weise alles verteidigen, was Karl Christian Plank ge­schrieben hat. Ich habe aber aufmerksam darauf gemacht, wie er wirklich aus einem tieferen geistigen Bewußtsein heraus gearbeitet hat, und wie er eine gewisse geistgemäße Weltanschauung doch zu­stande gebracht hat. 1880 ist er gestorben. Kein Mensch hat sich im Grunde genommen um seine Bücher viel gekümmert. 1912 ist noch erschienen «Das Testament eines Deutschen» von Karl Christian Planck, ein wunderbares Buch. Es ist also, da er 1880 gestorben ist, vor 1880 geschrieben. Dazumal wurde es in der ersten Auflage 1881 von Köstlin herausgegeben. Jetzt ist es wiederum 1912 herausgege­ben worden. Aber die Leute haben sich nicht viel darum gekümmert und man kann ja auf solche Erscheinungen, ich sagte schon, in irgendeiner Form aufmerksam machen. Ich habe schon darauf auf­merksam gemacht in der ersten Auflage der «Rätsel der Philo­sophie», in «Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert», -ich habe auf Karl Christian Planck also schon 1900 hingewiesen. Aber es nützt das nicht leicht etwas, auf eine geistgemäße Welt­anschauung heute hinzuweisen, denn zunächst haben die Leute so die Meinung: Eine geistgemäße Weltanschauung - was kaufen wir uns denn dafür eigentlich? - Aber die andere Frage ist doch die: Lebt denn nicht in einer solchen geistgemäßen Weltanschauung doch eben etwas von jenen spirituellen Kräften, die das Denken befruch­ten? - Ja, da kommen natürlich die materialistisch denkenden Men schen und sagen: Das sieht man ja an all den Idealisten und Spiri­tualisten und Menschen, die so in der geistigen Welt leben, man sieht es ja an denen, sie sind unpraktische Leute, sie wissen gar nichts von der Wirklichkeit, und würde man sich im praktischen

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Leben auf diese Leute einlassen, dann könnte dieses praktische Leben nicht weitergehen, zum praktischen Leben gehören praktische Menschen. - Die so reden, haben alles von der praktischen Weis­heit mit Löffeln gegessen, und daß sie das von der praktischen Weisheit mit Löffeln gegessen haben, das rührt nach ihrer eigenen Anschauung namentlich davon her, daß sie nicht hören auf diese verblendeten, träumerischen, phantastischen Idealisten! Nun, Planck war wirklich ein Idealist, war wirklich ein Mensch, der in einer gei­stigen Welt gelebt hat und der eigentlich etwas zustande bringen wollte, was aus dem Geistigen heraus in die Welt eingreift. Wir könnten viele Gebiete anführen, aber wie gesagt, ein Beispielchen möchte ich Ihnen nur gerade von diesem Karl Christian Planck an­führen. Ich habe es gerade hier in Berlin in dem öffentlichen Vor-trage nicht erwähnt, man kann nicht immer alles erwähnen, an ande­ren Orten aber habe ich es auch im öffentlichen Vortrage erwähnt. Man konnte doch immer wieder und wiederum von Zeitungsdiplo­maten, Zeitungspolitikern, vielleicht sogar von sogenannten wirk­lichen Diplomaten, wirklichen Politikern hören: Wenn man auf diese Idealisten und ihr Wissen von der Welt gar in bezug auf das äußere politische Leben etwas geben würde, was für ein Jammer, was für ein Schreckliches würde das sein ! - Da will ich Ihnen einmal eine Stelle aus Plancks «Testament eines Deutschen», 1880 geschrieben, vor­lesen, wo er spricht von dem jetzigen Krieg - ja, von dem jetzigen Krieg! Und da sagt er folgendes:

«Keine politische Klugheit, keine Friedensliebe von seiten Deutschlands vermag innerhalb der jetzigen bloß nationalen Ord­nung diesen feindlichen Zusammenstoß zu verhindern. Denn mäch­tiger als alle Klugheit ist die Natur der Verhältnisse; und schon jetzt tritt ungeachtet der befreundeten Haltung Deutschlands und Österreichs die feindliche Stimmung des russischen Ostens nur um so deutlicher hervor, deshalb, weil man ihm nicht in allem die freie Hand lassen konnte, sondern notwendig ein bestimmtes Ziel setzen mußte. Und kommt es dann einst zum Kampfe, so wird derselbe, so sehr wir ihn auch zum Besten Europas auszufechten haben, dieses doch nicht an unserer Seite finden, sondern wie im Osten, so werden

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wir zugleich auch im Westen und im Süden uns verteidigen müssen; nach allen Seiten wird die feindlich nationale Eifersucht sich gegen das neue, in ihre Mitte gesetzte Reich erheben.»

Nun frage ich Sie, ob irgend jemand von den «praktischen» Leu­ten 1880 die Situation von 1914, 1915, 1916 so prägnant geschildert hat? Wie viele von diesen praktischen Leuten haben - ja, wie lange denn ! - keine Ahnung davon haben wollen, daß es in bezug auf den Süden zum Beispiel auch so gehen könne? Dieser unpraktische, zu den verschimpften und unpraktischen Leuten gehörende Idealist hat 1880 Worte niedergeschrieben, die genau decken dasjenige, was heute geschieht. Man müßte einen Willen haben, hinzuhorchen auf solche Tatsachen. Dann würde man einsehen, daß allerdings driunen­stecken in der geistigen Welt und wissen, daß es eine geistige Welt gibt - wie es eine Luft gibt für den physischen Leib -, etwas bedeu­tet, was das Denken geeignet macht, die Wirklichkeit richtig zu be­urteilen.

Sie werden vielleicht verstehen, nachdem ich Ihnen dieses klar gemacht habe an einem Beispielchen, daß der Geistesforscher heute mit Recht sagen kann, wenn man es ihm auch noch nicht glaubt:

Heute können die Leute mit dem alten Erbgut des Denkens noch Maschinen erfinden, aber es wird keine fünfzig Jahre dauern, da werden die Leute nichts mehr erfinden, wenn sie sich weigern, die geistigen Einflüsse auf ihr Denken anzunehmen. Und alles wird ab­sterben, was etwas hineinstellen will in die physische Welt, was mcht aus der geistigen Welt herausstammt. Heute können noch Maschinen erfunden werden, weil noch ein altes Erbgut da ist. Das­jenige, was auf anderen Gebieten vielfach geschieht, das zeigt ja doch wohl schon, in welcher Weise das geistige Vermögen wirklich abnimmt, aus der geistigen Welt der physischen Welt etwas einzu­verleiben, denn auf vielen Gebieten nennt man heute «nichts kön­nen» aus diesem Grunde schon ein «höheres Können». Kein ordent­liches Gesicht mehr malen können, sondern irgendwie Striche zu­sammenzumachen und allerlei Zeug darauf zu schmieren, das hätte der Maler noch vor einiger Zeit genannt - selbstverständlich, der wirkliche Maler tut es auch noch hente - eine Schmiererei. Aber

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heute gibt es schon Schulen, die nennen solche Schmiererei die «höhere Kunst», und die wirkliche Kunst ist etwas, was vorbei ist, was nicht mehr da sein soll. Auf allen Gebieten geht es so, auf allen, allen Gebieten.

Das ist es, das man einsehen muß: Die Zeit verlangt von uns, daß wir uns befruchten lassen aus der geistigen Welt heraus. Und nur die Befruchtung wird möglich sein, die eben von dem Ergreifen der geistigen Tatsachen, wie sie Geisteswissenschaft gibt, kommen kann. Und auch die großen Weltenaufgaben werden nur gelöst werden, wenn solche Befruchtung eintreten kann gerade auf diesem Gebiete. Man macht ja heute wirklich die grenzenlos traurigsten Beobachtun-gen. Immer wieder und wiederum muß man sehen, wie gerade unsere Zeit im Grunde genommen alles Zusammenhanges mit der geistigen Welt bar ist. Wir leben in einer Zeit, die entgegenleben soll - das ist ja oft betont worden - einer Tatsache, die man wie eine zweite Erscheinung des Christus auf Erden bezeichnen kann:

Die ätherische Christus-Wesenheit, jene zweite Erscheinung des Christus auf Erden. Aber einer Vorbereitung bedarf es dazu, damit dieses Ereignis nicht vorbeigehe oder damit es nicht verhöhnt, ver­spottet werde. Und auch dasjenige, was wir jetzt durchmachen, in der richtigen Weise kann es nur durchgemacht werden, wenn ein Bewußtsein vorhanden ist, daß das Furchtbare, das um uns geschieht, wie das gottgesandte Zeichen dafür ist, daß eine Vertiefung der Men­schenseele eintreten soll. Das Furchtbarste wäre es, wenn über diese Ereignisse hinaus, welche die Verhältnisse so durcheinander rütteln, das grundmaterialistische Menschendenken sich so erhalten könnte, wie es oftmals den Anschein hat. Das furchtbarste wäre die­ses. Und diejenigen, die zur Geisteswissenschaft gehören, müssen das als eine Grundwahrheit in ihre Seele so geschrieben haben, daß sie wirklich stark genug sind, all dem, was auf einen einstürmt von der heutigen Welt noch als Gegnerschaft der Geisteswissen­schaft, gegen eine geistige Auffassung des Daseins, begegnen zu können. Man wird ihm nur begegnen können, wenn man immer wieder und wiederum auffrischt den Gedanken an die Notwendig­keit einer geistigen Auffassung der Welt.

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Es ist so schwierig, solche Dinge in heutigen weiteren Kreisen verständlich zu machen, weil - auf gewissen Gebieten - die Men­schen geradezu vom verkehrten Denken richtig besessen sind. Als ich in einer Stadt neulich einmal davon sprach, wie ein verklungener Ton da ist in dem Geistesleben, als ich den Vortrag hielt, den ich auch hier gehalten habe über den verklungenen Ton im Geistesleben Mitteleuropas, da kamen zwei Menschen zu mir nach dem Vortrage. Die Menschen erklärten mir erstens ihre Verwunderung, daß man in der jetzigen Zeit über die Verhältnisse so spricht. Gerade von dem, was sie Theosophie nennen, hätten sie das nicht erwartet, daß man so spricht; sie hätten sich die Theosophie anders gedacht, denn sie wären Pazifisten. Das ist ja ganz schön, nicht wahr, Pazifist zu sein, nur muß man sich klar sein, daß seit dem Entstehen des Pazifis­mus die größten, die blutigsten Kriege der Welt geführt werden, eine Tatsache, die ich schon hervorgehoben habe vor einem Jahr­zehnt in den Vorträgen des Architektenhauses. Aber ich wollte doch auf eines aufmerksam machen, was einem leicht durchschaubar scheint. Ich sagte: Aber kommen Ihnen nicht alle diese Verhältnisse, ich meine nicht nur die äußeren Kriegsverhältnisse, sondern dieses An-die-Oberfläche-Tragen einer so furchtbaren Verlogenheit, wie sie in den gegensätzlichen Stimmen der Völker zum Vorschein kommt, kommt Ihnen denn das nicht vor wie ein Ad-absurdum­Führen desjenigen, was sich als sogenannte Kultur bisher entwickelt hat? Ist das nicht wie ein Ad-absurdum-Führen? - Ja, sagte der eine Herr, ja, das ist eben jetzt eine Krankheit, die muß geheilt werden. -Man kann ihm selbstverständlich Recht geben: Gut, es ist eine Krankheit. Aber der Mann leckt sich die Finger ab - verzeihen Sie den trivialen Ausdruck -, den richtigen Gedanken zu haben: Es ist eine Krankheit ! Er hat aber keine Ahnung davon, daß man von einem solchen richtigen Gedanken nichts hat, daß es nicht darauf ankommt, daß man irgendwie richtige Gedanken hinpfahlen kann, sondern daß man den richtigen Gedanken, auf den es wirklich an­kommt, in einem gewissen Zusammenhange einsieht. Es fiel zum Beispiel diesem Manne gar nicht ein, daß es ja ganz richtig sein kann: Das ist eine Krankheit. Aber was ist denn eine Krankheit,

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warum kommt sie denn? - Weil vorher die Verhältnisse nicht ordentlich sind ! Die Krankheit ist ja schon das Aufbäumen der Natur, um den Menschen gesund zu machen. Dasjenige, was die unnatürlichen Verhältnisse sind, geht ja der Krankheit voran. Die Krankheit ist ja schon ein Versuch, diese ungesunden Verhältnisse herauszubringen. Die Krankheit ist, ich möchte sagen, dasjenige, was sich gegen die vor der Krankheit vorliegende Unnatur wehrt, und dieser Prozeß des Sich-Wehrens, das ist die Krankheit. Also indem er das ausspricht: das ist eine Krankheit -, weist er ja darauf hin, daß die Krankheit notwendig war, weil die unnatürlichen Ver­hältnisse da waren, und im weitesten Umfange ist dasjenige, was diese unnatürlichen Verhältnisse sind, der alle Kreise beherrschende Materialismus. Natürlich muß man dann den Mate­rialismus im weiteren Sinne fassen. Da muß man den Materialismus so fassen, daß man einsieht, daß er zur Unfruchtbarkeit des Denkens führt, daß er führt zum Zertreten, zum Niederdrücken befähigter Leute, die etwas wissen von der Lebenspraxis, durch die alles nieder­drückende Macht der Unfähigen, welche sagen, sie wissen das Prak­tische. Selbstverständlich wissen sie es, aber wie?

Ins Fühlen, ins Gemüt müssen befruchtend hineinwirken die geisteswissenschaftlichen Wahrheiten. Und es muß in unserer Zeit eine Anzahl von Menschen geben, welche aus innerlicher Überzeu­gung treu halten können zu dem, was als Notwendigkeit für die Weltenentwickelung aus der Geisteswissenschaft folgt. Dann wird das werden, was werden soll, dann wird der Christus, wenn er in einer neuen Form sich offenbaren will, diejenigen finden, welche er braucht. Und das muß sein. Wenn er erscheint in seiner ätherischen Gestalt dem oder jenem, dann muß nicht eine Zeit sein, in der dieses Erscheinen des Christus als ein Wahnsinn aufgefaßt wird, sondern aufgefaßt wird als dasjenige, was berufen ist, der Menschheit einen Ruck zu geben nach vorwärts, einen Ruck, der vor allen Dingen darinnen besteht, das Materialistische mit seinen Folgen in gründ­licher Weise zu überwinden. Und dieses Jahrhundert wird nicht vergehen dürfen, ohne daß die menschlichen Anschauungen eine ganz andere Gestalt annehmen.

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Und wie die Feuerzeichen für dieses Ziel der Menschheit müssen die bedeutsamen, blutigen Ereignisse sein, die wir jetzt um uns herum erleben. Dann werden nicht umsonst die Opfer geflossen sein, die geflossen sind von seiten derjenigen, die durch die Todespforte oder durch das Erlebnis der blutigen Verwundung gegangen sind. Dann wird alles dasjenige, was jetzt um uns herum vorgeht, beitragen können zur Erhebung der Menschheit. Und das muß sein. Deshalb müssen wir immer wieder und wieder an der oft hier ausgesprochenen Wahrheit festhalten:

Aus dem Mut der Kämpfer,
Aus dem Blut der Schlachten,
Aus dem Leid Verlassener,
Aus des Volkes Opfertaten
Wird erwachsen Geistesfrucht -
Lenken Seelen geistbewußt
Ihren Sinn ins Geisterreich.

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DRITTER VORTRAG Berlin, 28. März 1916 Streiflichter auf die tieferen Impulse der Geschichte

Es ist mir heute auferlegt, einiges Geschichtliche zu besprechen von einem gewissen geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus. Ich werde Sie dabei zu bitten haben, da ja über alle diese Dinge nur skiz­zenhafte Schilderungen gegeben werden können, im Auge zu haben, daß selbstverständlich, wenn gewisse, sagen wir, aus den Bewegun­gen des Geistes heraus fließende Schilderungen gegeben werden und so gegeben werden müssen, wie sie hier gegeben werden, ja nur Lichter geworfen werden können auf dieses oder jenes Ge­schichtliche, daß nicht in demselben Sinne über Ursachen und Wir­kungen gleich unmittelbar gesprochen werden kann, wie man das in der äußeren Geschichte gewohnt ist. Wir müssen uns ja durch unsere Geisteswissenschaft schon bekannt gemacht haben mit der Idee, daß hinter allem, was in der Welt geschieht, geistige Kräfte stehen, geistige Absichten, geistige Ziele.

Wenn man so die Geschichte äußerlich betrachtet, so bietet sie ja selbstverständlich gewissermaßen nur den äußeren geschichtlichen Mechanismus für dasjenige, was als geistige Absichten und geistige Ziele in ihr webt und lebt. Der geisteswissenschaftlich geschulte Blick sieht dann mehr unmittelbar die geistigen Strömungen, die geistigen Prozesse, die dahinter stehen. Aber man muß dafür auch in dem, was so geschildert wird, eben nicht gleich etwas sehen, wovon man sagen kann: der, der die Dinge auseinandergesetzt hat, wolle etwa die historischen Ereignisse ganz unmittelbar aus dem, was er geschildert hat, ableiten. Das ist nicht der Fall, sondern es sollen, wie gesagt, nur einige Streiflichter geworfen werden auf die tieferen Kräfte, die man ja weder sieht, wenn man nur ganz äußerlich die materiell historischen Tatsachen schildert, noch auch, wenn man solche Tatsachen schildert, wie ich sie heute schil­dern werde. Aber wenn man dann beides zusammenfügt, so

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bekommt man doch ein Bild von dem, was eigentlich in der Welt geschieht.

Anknüpfen muß ich dabei an eine Persönlichkeit, deren Name Ihnen ja allen bekannt ist, an die Persönlichkeit der H.P. Blavatsky. Sie wissen alle, diese H.P. Blavatsky, die als eine besonders psy-chisch veranlagte Persönlichkeit gelebt hat in der Zeit, in der im äußeren Leben gerade die Hochflut des Materialismus war, steht in einer ganz eigentümlichen Weise in dieser geistigen Bewegung der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts darinnen. Mit ihr ist, wie gesagt, eine im eminentesten Sinne psychische Persönlichkeit hineingestellt in das ganze sonstige materielle Getriebe, von dem ja alles, was man als Wissenschaft ansieht, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mehr oder weniger abhängig war. Nun war H.P. Blavatsky nicht eine Persönlichkeit, die man etwa im gewöhnlichen Sinne als ein Medium bezeichnen konnte, sondern schon eine im allertiefsten Sinne sehr, sehr merkwürdige psychische Persönlichkeit. Man muß, wenn man sie ganz verstehen, wenn man sie wenigstens bis zu einem hohen Grade verstehen will, dann schon darauf sehen, aus welchem Milieu sie hervorgegangen ist. Sie ist aus dem russischen Milieu hervorgegangen, aus der russischen Art und Weise, wie da Geistiges und Physisches in einem Leibe zusammen­wirken kann, der nun eben nicht normal, sondern ganz abnorm ist. Und dabei muß man dann Rücksicht darauf nehmen, inwiefern ver­möge des Volkseigentümlichen das russische Volk abweicht von den mittleren und westlichen Völkern Europas. Die mittleren und west­lichen Völker Europas sind ja die Fortsetzer und in gewissem Sinne auch die schöpferischen Neugestalter der Kultur, die hervorgegan-gen ist aus dem vierten nachatlantischen, dem griechisch-lateinischen Kulturzeitraum. Was da gelebt hat in diesem griechisch-lateinischen Kulturzeitraurn, wird durch Mittel- und Westeuropa fortgesetzt. Das kann nur fortgesetzt werden, konnte nur fortgesetzt werden da­durch, daß in diesem West- und Mitteleuropa ganz besonders die physischen Leiber sich ausbildeten zu besonderen Instrumenten auch für geistiges Wirken, für Denken, Fühlen und Wollen. Was Den­ken, Fühlen und Wollen zustande bringen konnten durch das Instrument

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des physischen Leibes, das sollte in West- und Mitteleuropa vorzugsweise herauskommen. Anders in Osteuropa bei den slawi­schen Völkern und insbesondere beim russischen Volk. Man kann sagen: in der Weise den physischen Leib durchzumechanisieren, wie das in West- und Mitteleuropa der Fall ist, das kann überhaupt beim russischen Volk, insoferne dieses Volk in seinem Volkstume drinnen bleibt, nicht stattfinden. Man kann mit westeuropäischer Wissen­schaft überhaupt das russische Volk nicht verstehen, wenn man es wirklich verstehen will. Man kann es nur verstehen, wenn man weiß: es gibt einen Ätherleib. Denn das Charakteristische gerade des russischen Volkstums besteht darinnen, daß die wichtigste Be­tätigung des Lebens nicht so in den physischen Leib hineingeht, wie in West- und Mitteleuropa, sondern mehr im Ätherleib sich abspielt und gar nicht so sehr den physischen Leib durchdringt. Es hat im mssischen Volkstum der Atherleib eine viel, viel größere Bedeutung, als er jetzt noch hat für das Volkstum West- und Mitteleuropas und auch für das amerikanische Volkstum; für dieses letztere ganz be­sonders. Daher kann innerhalb des russischen Volkstums - des Volkstums, nicht der regierenden Kreise-, niemals sich in demselben Grade ein unmittelbar starkes Ich ausbilden, wie das in West- und Mitteleuropa bei den Menschen der Fall ist, sondern das Ich wird immer mit einer gewissen Traum-Umflorung da sein, wird immer etwas von Träumerischem haben. Denn so wie das Ich jetzt noch im fünften nachatlantischen Zeitraum in den Menschen lebt, so ist es bedingt durch die geschilderte besondere Ausbildung des physischen Leibes. Während dieses fünften nachatlantischen Zeitraums soll das russische Volkstum gar nicht soweit kommen, das Ich als solches unmittelbar auszubilden. Es soll gar nicht mit dem, was im Äther-leibe da lebt und webt, sich hineinprägen in den physischen Leib. Natürlich, die Worte retouchieren immer ein bißchen, weil ja unsere Worte noch nicht für Geistiges geprägt sind. Wenn man sagt:

traumhaft, so kann natürlich jemand kommen, der materialistisch denkt, und kann anführen, daß die Leute gar nicht träumen und so weiter. Aber das sind ja alles äußerliche Einwände, die mit dem Werdegang, wie er sich nun wirklich abspielt, gar nichts zu tun haben.

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Daher kann man sagen, daß dasjenige, was in diesem russischen Volkstum als Volkstum veranlagt ist, gegenwärtig überhaupt noch nicht zur äußeren Offenbarung kommen kann, daß diesem rus­sischen Volkstum vorläufig von außen aufgeprägt ist dasjenige, was seine Eigenschaften zuweilen in ganz entgegengesetzter Weise als sie sind, zur Tat werden läßt, zur Ausbildung bringt. Aus diesem russischen Volkstum ist zum großen Teil hervorgewachsen diese H.P. Blavatsky. Daraus wird es verständlich, daß bei ihr in einem ungeheuren Maße der Ätherleib in seiner Tätigkeit alle physische Tätigkeit, insofern sie Erkenntnistätigkeit ist, überwog. Wir haben daher im wesentlichen in H.P. Blavatsky eine Persönlichkeit, die in ihrem Ätherleibe vieles, unendlich vieles erleben kann. Das ist natür­lich etwas ganz anderes, als was man durch Denken und Erkennen mit Hilfe des Gehirns erleben kann. Sie kann also, ich möchte sagen, einfach dadurch, daß sie herausgewachsen ist aus dem russischen Volkstum, in ihrem Ätherleibe Unendliches erleben. Aber es ist damit verknüpft, daß ihr die Eigenschaften fehlten - und die fehl­ten ihr ja tatsächlich -, die der Westeuropäer schon einmal nicht entbehren will, wenn er von den geistigen Welten irgend etwas geoffenbart haben soll. Es fehlte Blavatsky alle Möglichkeit, logisch zu denken, ihre Erkenntnisse logisch zu gruppieren, irgendwie zwei Dinge so nacheinander zu sagen, daß das eine aus dem andern folgte; so daß man bei dem, was sie durch ihre inneren Schauungen im Ätherleibe zustande brachte, wenn man sie übersetzen will in das, was man ja selbstverständlich hat als west- und mitteleuro­päischer Mensch, immer das Gefühlt hat, daß einem eigentlich ein Mühlrad im Kopfe herumgeht. Man muß schon selber abgeneigt sein einem gewissen ernsten Denken, wenn man nicht wahrhaben will, daß einem bei dem, was Blavatsky hervorgebracht hat, ein Mühlrad im Kopfe herumgehe. Aber das hindert nicht, daß das­jenige, was sich bei ihr durchdrängte durch den Ätherleib, was bei ihr durch ihre äthei-ische Erkenntnisfähigkeit in ungeordneter Weise auftrat, selbstverständlich bedeutsame Offenbarungen enthalten kann aus der geistigen Welt. Nur muß man Kritik haben, man muß die Möglichkeit haben, die Dinge so aufzunehmen, wie sie schon

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einmal sind, nämlich so, daß man sie nicht liest wie etwa ein wis­senschaftliches oder sonst irgendein Buch, das in unserem heutigen Geistesleben einen normalen Platz hat.

So war also gerade in der Zeit, in der eigentlich die Menschheit, ich möchte sagen, durch den höchstgespannten Materialismus gehen sollte, eine solche Persönlichkeit vorhanden. Da sind wir einfach vor eine Tatsache gestellt: Eine Persönlichkeit ist vorhanden, die hervorgegangen ist aus osteuropäischem Volkstum, die aber auch in ihrer Vererbungsströmung, in ihrem Blut doch noch, ich möchte sagen, einen Stich von Mitteleuropäertum hatte - in ihrer Abstam­mung ist ja das sehr leicht nachzuweisen. Also es war schon das vor­handen, aber überflutet vom osteuropäischen Element, was in Mittel­europa führt zum logischen Wesen, und was namentlich zur Willensinitiative führt, die ja der Russe als Angehöriger seines Volkes gar nicht hat. - Nun, was ist geschehen? Wenn wir so die zwei äußersten Pole, möchte ich sagen, zusammenfassen, so können wir sagen: Das, was zuletzt geschehen ist - nicht wahr, wir haben ja lauter englische Bücher von Blavatsky -, ist, daß dasjenige, was vermöge ihres Wurzelns im Russentum aus dem Ätherleibe der Blavatsky herauskommen konnte, eingefaßt worden ist von eng­lischem Wesen, vom Engländertum, und aus englischer Verarbei­tung in den Büchern der Blavatsky erscheint. So liegt es vor. Das Wichtige ist nur alles dasjenige, was dazwischen geschehen ist.

Um nun zu verstehen, was dazwischen geschehen ist, muß man sich klar sein darüber, daß im Westen Europas, namentlich aus­gehend von britischem Wesen, ein weitgehendes Arbeiten in okkul­ter Wissenschaft immer vorhanden war. Soweit eigentlich von eng­lischer Geschichte gesprochen werden kann: ein weitgehendes Arbei­ten in Okkultismus war immer vorhanden. Mitteleuropa hat eigent­lich wirklich durch die ganze Entwickelung seiner geistigen Kultur keinen rechten Begriff davon, wie einschneidend okkultes Wesen und okkultes Arbeiten von den britischen Landesteilen immer aus­gegangen ist und sich verbreitet hat über Westeuropa, auch über Südeuropa und so weiter. Nun muß man, wenn man verstehen will, wie die Dinge eigentlich liegen, sich diesen, namentlich britisch gefärbten

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Okkultismus ein wenig ansehen. Also dieser britisch ge­färbte Okkultismus ist durchaus vorhanden. Dasjenige, was die Leute äußerlich wissen von allerlei Hochgrad-Orden schottischer Maurerei und so weiter, das sind eigentlich nur die Außenseiten, die der Welt gezeigt werden. Aber hinter diesen Außenseiten stehen nun wirklich umfassend arbeitende okkulte Schulen, und diese okkulten Schulen haben in einem viel höheren Maße, als das in Mitteleuropa der Fall ist, die alten okkulten Traditionen und alten okkulten Strömungen in sich aufgenommen. In Mitteleuropa - das haben Sie ja schon aus meinen verschiedenen öffentlichen Vorträgen gesehen - strebt man mehr danach und mußte mehr danach streben, aus der eigenen Geistigkeit heraus aufzusteigen zu einem spirituel­len Erkennen, zu einem Erkennen der spirituellen Welten. Da hat man sich weniger angelehnt an das von anderen Seiten, namentlich von älteren okkulten Schulen Überkommene. Wir können die Jahr­hunderte zurückgehen, namentlich bis zum Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, da finden wir namentlich über England, Schottland und Irland - über Irland weniger, aber über Schottland - ausgebrei­tet solche okkulten Gemeinschaften, die in sich fortgepflanzt haben dasjenige, was okkultes Wissen in den ältesten Zeiten war, das sie aber in einer gewissen Weise umgestaltet haben.

Will man den Grund zu dieser Umgestaltung so recht einsehen, so muß man wissen, daß der vierte nachatlantische Zeitraum, der also das Griechentum, das Römertum und so weiter umfaßte und bis zum Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts eigentlich gedauert hat, in sich zu verarbeiten hatte auf rein menschliche Weise das, was in früheren Zeiträumen als geistige Offenbarung da war: Was der Mensch in Offenbarungen empfangen hat, das sollte da geistig verarbeitet werden in diesem vierten Zeitraum. Dann kam der fünfte nachatlantische Zeitraum, der genau eben mit dem Beginne des fünfzehnten Jahrhunderts beginnt. Da sollte der Mensch mehr seine Blicke auf die Außenwelt richten, mehr auf dem physischen Plane leben, weniger neue Begriffe ausarbeiten. Alle Begriffe, die wir heute in der Welt haben, sind ja Begriffe aus dem vierten nach-atlantischen Zeitraum, die sind ja alle herübergekommen. Neue

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Begriffe sind seit dem fünfzehnten Jahrhundert überhaupt nicht gebildet worden. Kein einziger wirklich neuer Begriff ist gebildet worden; es sind nur die alten Begriffe angewendet worden in neuer Art auf die Vorgänge. Der Darwinismus hat nicht etwa einen neuen Entwickelungsbegriff heraufgebracht, er ist nur angewandt worden auf gewisse Vorgänge. Also kein einziger neuer Begriff ist entstan­den seit dem Beginne des fünfzehnten Jahrhunderts, die sind alle im vierten nachatlantischen Zeitraume entstanden. Der fünfte nach-atlantische Zeitraum sollte den Blick auf die äußere physische Welt, auf den physischen Plan richten. Für diese Aufgabe war aber beson­ders vorbereitet das britische Volk. Und gerade durch die Art und Weise, wie sich seine Eigentümlichkeit verhältnismäßig spät heraus­gebildet hat auf den Britischen Inseln, war das britische Volk zu dieser Aufgabe besonders geeignet.

Im Beginne des fünfzehnten Jahrhunderts drohte da etwas. Es drohte da, daß eine Art von Konfusion entstehen sollte. Das rein physische Streben des Britentums drohte konfundiert zu werden mit einem viel spirituelleren, mit einem von uralten Zeiten herein be­fruchteten spirituellen Leben. Es war das in der Zeit, als Landesteile des französischen Reiches noch hinübergehörten zur englischen Herr­schaft, wo also die englische Herrschaft noch herüberging über den Kanal in französische Landesteile herein. Daß da eine wirkliche Scheidung eintrat, das wurde aus der geistigen Welt heraus mit-bewirkt durch das Erscheinen der Jeanne d'Arc, der Jungfrau von Orleans, die gerade deshalb, weil sie gewissermaßen aus der gei­stigen Welt heraus Ordnung zu schaffen hatte im Beginne des fünfzehnten Jahrhunderts, ja auch im Beginne des fünfzehnten Jahr­hunderts erschien. Und wirklich, das ganze äußere Wesen Europas hängt ab, wie ich schon einmal hier geschildert habe, von diesem Auftreten der Jungfrau von Orleans. Damals wurde die Scheidung zwischen französischem Wesen und britischem Wesen genau voll­zogen. Vorher war es ja so, daß vielfach die unter den sagenhaften, aber eigentlich okkult gemeinten Hengist und Horsa von Mittel­europa nach den Britischen Inseln hinüberwandernden Angeln und Sachsen eigentlich beherrscht wurden von normannisch-romanischem,

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namentlich romanischem Element und eine untergeordnete Schichte bildeten. Gerade dasjenige britische Wesen, das heute tonangebend ist, tonangebend geworden ist namentlich seit dem siebzehnten Jahrhundert, das bildete eine so starke Unterschicht, daß, als das französische Element da noch herrschend war, als gewissermaßen der französische Geist noch hinüberwirkte auf die britische Insel, es da eine Aristokratie dort gab, die im tiefsten Sinne alles das­jenige verachtete, was nur von Angeln und Sachsen abstammte. Es war zum Beispiel ein ganz gebräuchlicher Ausdruck, namentlich im zehnten, elften, zwölften Jahrhundert, daß, wenn ein Mensch aus dieser Oberschicht, die damals noch im gegenüberliegenden Frank­reich lebte, in der französisch-normannisches Blut lebte, fluchen wollte, er sagte: Gott verdamm mich zu einem Engländer! Das war ein Fluch, den man oftmals hören konnte. Also man wollte, wenn man ein angesehener Mensch sein wollte, nur ja kein Engländer sein auf der britischen Insel. Das änderte sich erst gründlich, nachdem, wie gesagt, jene Scheidung sich vollzogen hatte und das Engländer­tum nun heraufkam. Nun spielten sich ja die verschiedensten Vor­gänge ab - es würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen, wollte ich sie schildern -, hinter denen tiefgehende geistige Kräfte walten:

die Kriege der Weißen und der Roten Rose. Aber wichtig ist, daß im Beginne des siebzehnten Jahrhunderts, als schon Shakespeare seine Dramen geschaffen hatte, die ja, insoferne sie Königs-Dramen sind, insbesondere die Rosen-Kriege behandeln - in den Shakespeare-Dramen lebt ja der ganze Kampf der Roten und Wei­ßen Rose -, daß Ende des sechzehnten und im Beginne des siebzehn­ten Jahrhunderts eine Seele in einem physischen Leib sich im bri­tischen Reich inkarnierte, die äußerlich nicht sehr Bedeutsames wirkte, die aber weithin ungeheuer anregend wirkte. Besonders an­regend konnte diese Seele wirken, die sich in einem britischen Leibe inkarnierte, in dem im Grunde genommen wenig britisches Blut war, sondern mehr französisches und schottisches Blut durcheinander-wirkte. Und von dieser Seele ging eigentlich dasjenige aus, was den Anstoß gegeben hat sowohl zu dem äußeren britischen Geistesleben, wie auch zu dem okkulten britischen Geistesleben. Und so bildete

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sich, natürlich mit verschiedenen Zwischenvorgängen, die zu schil­dern jetzt zu weit führen würde, dieses okkulte britische Geistes­leben aus. Nun sagte ich Ihnen, dieses Geistesleben setzte fort die okkulten Strömungen des vierten nachatlantischen Zeitraums. Man wußte da ungeheuer viel, weil hier gerade der Boden dafür war, daß die Körper am meisten Bedeutung hatten, daß der Ätherleib am wenigsten tätig war und daß der physische Leib als ein Instrument angesehen wurde für alles geistige Leben. Gerade da­durch gab es da keine Möglichkeit, in diesen okkulten Schulen selber irgendwie viel zu erfahren aus der geistigen Welt. Aber man be­wahrte in den okkulten Schulen die alten Traditionen, man bewahrte dasjenige, was überliefert war durch die alten hellseherischen Beob­achter und suchte es mit den Begriffen zu durchdringen. Und so entstand da eine okkulte Wissenschaft, welche eigentlich nur arbei­tete mit den Erfahrungen der im vierten und sogar noch im dritten nachatlantischen Zeitraum vorhandenen Hellseher, aber dieses, was da durch Hellseher zustande gekommen war, durcharbeitete mit rein physischen Begriffen, niit dem Begriffsmaterial, das man hat, wenn man eben nur durch den physischen Leib denkt. So entstand eine eigentümliche okkulte Wissenschaft, die aber wirklich sich über alle Gebiete des Lebens erstreckt.

Es ist nun interessant, vor allen Dingen gewisse Kapitel dieser okkulten Wissenschaft - wie gesagt, ich erzähle Ihnen lauter Tat­sachen - ein wenig näher sich anzusehen. Und das ist dasjenige, was gelehrt wurde über das Schicksal der europäischen Völker. Das bildete sogar ein wesentliches Kapitel in diesen okkulten Schulen. Ich will Ihnen versuchen zu charakterisieren, was da gelehrt wurde über das Schicksal der europäischen Völker. Da wurde gesagt: Es war ein vierter nachatlantischer Zeitraum da - das hatte man aus der Tradition, aus der Überlieferung -, dieser vierte nachatlantische Zeitraum strotzte von geistigem Leben, er hatte hervorgebracht die Begriffswelt für die Menschen, die Anschauungen über soziale Ein­richtungen, alles mögliche hatte er hervorgebracht, er strotzte von geistigem Leben. Er hatte sich ausgebildet im Süden Europas auf der griechischen Halbinsel, auf der italischen Halbinsel, strahlte

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von da aus. Die Völker Mitteleuropas, Westeuropas, die waren in der Zeit, als die Blüte des vierten nachatlantischen Zeitraumes schon da war, noch in ihrer Kindheit, Säuglinge gewissermaßen der Menschheit in geistiger Beziehung. - Ich erzähle nur, was da gelehrt wird. - Also die mittel- und westeuropäischen Völker waren Säug­linge in bezug auf das geistige Leben, Säuglinge gegenüber dem, was ausstrahlen konnte von den Kulturergebnissen des vierten nach-atlantischen Zeitraums. Und nach und nach haben sich diese mittel-und westeuropäischen Völker aus dem Säuglingstum herausgearbei­tet, sind gewissermaßen bis in die Zeit der Renaissance und der Reformation herein reifer und reifer geworden; womit nicht eigent­lich die deutsche Reformation gemeint war, sondern namentlich die englische Reformation unter Jakob I. und so weiter. Sie haben sich also losgemacht, diese mittel- und westeuropäischen Völker. Und nun entstand ein ganz bestimmtes Dogma, ein Dogma innerhalb dieser okkulten Schulen, an dem mit eiserner Gläubigkeit festgehal­ten wird. Das ist das Dogma, daß abzulösen hat im fünften nach-atlantischen Zeitraum die angelsächsische Kultur die griechisch-lateinische Kultur. Also das wurde immer wieder und wiederum eingeschärft: Es gibt einen vierten nachatlantischen Zeitraum und einen fünften nachatlantischen Zeitraum. Tonangebend für den vierten nachatlantischen Zeitraum ist das griechisch-lateinische We­sen; tonangebend für den fünften nachatlantischen Zeitraum muß dasjenige sein, was aus der Natur des Angelsachsentums fließt. Das Angelsachsentum muß geistig regieren den fünften nachatlantischen Zeitraum. Und alles, was gedacht wird in bezug auf Menschheits­entwickelung, müsse so gedacht werden, daß dieses Dogma sich verwirklichen könne. Im Osten Europas - so wird in diesen Schulen gelehrt - leben die Menschen heute in denselben Zuständen, in denen die mittel- und westeuropäischen Völker, die dann gipfeln im Angelsachsentum, lebten, als sie das griechisch-lateinische Wesen von den Römern überliefert erhielten. Im Osten von Europa leben die slawischen Völker heute im Säuglingsalter, und jeder, der zu diesen Schulen gehört, sieht dieses osteuropäische Wesen und Volks­tum an als im Säuglingsalter lebend und betrachtet nun dasjenige,

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was künftig geschehen muß, so, daß nunmehr diese osteuropäischen Völker sich in einer ähnlichen Weise aus dem Säuglingsalter heraus-arbeiten müssen zu einem späteren Lebensalter wie früher die mittel-und westeuropäischen. Aber - und das sind sogar die Worte, die man in jenen Schulen sagt, die ich Ihnen jetzt erzählen darf - ge­rade so, wie die Römer die Amme waren in geistiger Beziehung von West- und Mitteleuropa, so muß das Angelsachsentum die Amme sein für das osteuropäische Wesen, muß dieses osteuropäische Wesen aus dem Säuglingstum in das spätere geistige Lebensalter hinüber-führen. Man schildert dann im einzelnen, wie sich, ähnlich wie sich differenziert haben die germanischen Völker in gotische und so weiter, die slawischen Völker sich differenzieren. Man schildert, indem man nun aus dem Vorhandensein der inneren Kräfte auf gewisse Zukunftsgestaltungen hinweist, wie in Rußland selber es ganz besonders bezeugt würde, daß da das Volk im Säuglingsalter lebt, weil eine Anzahl eigentlich sich nur örtlich fühlender Gemein­den, genau wie es einmal in Mittel- und Westeuropa war, da seien, die nur künstlich zusammengehalten werden durch ein Staatsband; wie anderseits ein Volk, das nur durch seine Religion zusammen­gehalten wird, die Polen, dazu berufen wäre - wie gesagt, ich er­zähle nur Tatsachen, wie es wirklich gelehrt wird in diesen Schu­len __ zuletzt doch wieder, trotz ihrer Bestrebungen, in das russische Wesen eingefügt zu werden. Man schwört in diesen Schulen ge­radezu darauf, daß das ganze Polentum wiederum in das russische Wesen eingeschoben werden muß. Man sagt zum Beispiel - wie­derum geradezu wörtlich -: Da bildeten sich im Anschluß an das untere Donautal einzelne slawische Völkerschaften in abgeschlosse­nen Reichen. Über dieses Entstehen von slawischen Völkerschaften in abgeschlossenen Reichen wurde immer wieder, wie es eben beim Lehren geschieht, in diesen Schulen gesagt: Es bildeten sich solche unabhängige slawische Volksstaaten, die werden aber nur dauern bis zum nächsten großen europäischen Kriege, der da kommen wird. - Das heißt, man lehrte überall den großen europäischen Krieg, der alles durcheinander bringen wird. Nur so lange würde die Unabhängigkeit dieser slawischen Staaten dauern. Und man

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stellt dann die Sache so dar, als ob sich finden werde ein in der Gegenwart noch nicht Vorhandenes - Sie müssen bedenken, daß ich von Lehren rede, die durch die Jahrhunderte schon gegeben wur­den, also von einer vergangenen Gegenwart aus rede ich für die Zukunft, die aber heute die Leute zum Teil eingetreten finden -, und daß in der Zukunft sich finden müsse nach und nach eine ganz an­dere Art des Zusammenhaltens dieser aus dem Säuglings- in das Jugendalter tretenden osteuropäischen Völker.

Das waren also Lehren, die immer gegeben worden sind, die im­mer da waren, und Lehren, die nun wirklich nicht bloß als Theorie genommen wurden, sondern so eingebläut wurden denjenigen, die zu den betreffenden Schulen gehört haben, daß zahlreiche Menschen sich fanden, die das äußere Leben so zu gestalten versuchten, so zu beeinflussen versuchten, daß verschiedentlich im Sinne dieser Lehren sich auch wirklich die Tatsachen gestalten. Und da wäre es nun interessant, historische Tatsachen anzuführen, die zeigen würden, wie die Tatsachen im Zusammenhange geschaffen werden. Da ha­ben die Menschen in der Regel überhaupt keinen Begriff davon, daß Dinge, die nebeneinander auftreten, eigentlich zusammen ge­dacht sind und gewissermaßen zusammen veranstaltet sind. In sol­chen weitumfassenden und in tonangebende Kreise hinaufreichen­den okkulten Verbrüderungen wie diejenigen im Britischen Reiche, von denen ich spreche, und die gewissermaßen ihre Anhängsel haben in ganz Westeuropa und auch in Italien, weiß man, was der eine zu tun hat, was der andere zu tun hat, und wie man wirkt im Leben. Da weiß man ganz gut, was es bedeutet - ich will Ihnen einen kon­kreten Fall erwähnen -, wenn man auf der einen Seite versucht, daß Staatsmänner Englands nach und nach befreundet werden mit gewissen Staatsmännern eines kleineren Donaustaates, der ein Teil Österreichs ist. Man weiß ganz gut, was das bedeutet, wenn man die Sache so arrangiert, daß da gewissermaßen ein freundschaftliches Verhältnis sich herausbildet und ein gewisser Glaube an die Sicher­heit gewisser Einrichtungen im Britischen Reich gerade in einem Donaustaat sich bildet und daß sich so sehr die Ansicht festsetzt, daß das gute Einrichtungen sind. Aber das macht man nicht bloß

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für sich; sondern daneben macht man das andere, daß man zum Bei­spiel ein wirksames Buch erscheinen läßt, in dem man ganz beson­ders schimpft über das Volk, das in diesem Staate lebt, so daß man das, was man auf der einen Seite hinstellt, auf der anderen Seite aus den Angeln hebt. So etwas hat eine Bedeutung, wenn es metho­disch gemacht wird, daß man auf der einen Seite Freundschaft züch­tet, die eine gewisse volkstümliche Bedeutung gewinnen kann, auf der anderen Seite die Schattenseiten des betreffenden Volkes beson­ders hervorhebt. Es ist das, Sie können sagen, ein teuflisches Begin­nen; aber ahrimanische Kräfte walten ja in diesem ganzen Vor­gehen. So wird es eben gemacht, mit allen diesen Dingen, die schein­bar nebeneinander einhergehen. Ein Mitglied einer solchen Verbrü­derung schreibt ein Buch, das wirksam ist, das eine fürchterliche Be­wegung hervorruft, und ein anderer bemüht sich, einen Kreis zu gewinnen, in dem er Freundschaft züchtet. So wird zwischen den Zeilen des Lebens gewirkt. Man weiß dann gar nicht, wenn man so ahnungslos das äußere Leben betrachtet, wie die Menschen wirken, die im Zusammenhange mit gerade so gearteten Verbrüderungen sind, die darauf ausgehen, ein gewisses Volkstum, wie in diesem Fall das Britentum, zum herrschenden, zum tonangebenden zu machen.

Nun denken Sie sich einmal hineingestellt in diese okkulte Ver­brüderungswirtschaft eine Persönlichkeit wie die Blavatsky. Die­jenigen, die solchen okkulten Verbrüderungen angehören und das ganze Wesen des Okkultismus kannten aus den Überlieferungen, wenn auch nicht aus irgend einer fruchtbaren Intuition heraus, er­fahren von dem Dasein einer solchen Persönlichkeit. Den ganz ge­scheiten Leuten, die nichts wissen vom Okkultismus, denen ist natürlich die Blavatsky eine Persönlichkeit, die ein wenig barock, ein wenig abnorm ist. Aber das ist sie nicht für die Okkultisten, wenn es auch Okkultisten der ahrimanischen Linie sind, wie die­jenigen, von denen ich gesprochen habe. Das ist sie für solche Leute nicht. Die wissen: Wenn in einer Zeit, die so geartet ist, eine solche Wesenheit auftritt, so tritt sie heraus aus allen Entwickelungskräf­ten des Menschentums; da bedeutet das etwas, daß hineingesetzt

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wird in die Zeit eine Persönlichkeit, bei der der Ätherleib in der geschilderten Weise tätig sein kann. Nun ist es aber eine ganz eigen­tümliche Zeit, in der das alles geschieht und sich abspielt. Sehen Sie, es ist doch eine Zeit, in der man mit dem denkbar größten Miß­trauen denjenigen entgegenkommt, die da über die geistige Welt so einfach sprechen. Leuten, die sich, wie es bei uns aus den oft ge­schilderten Gründen geschehen soll, einfach hinstellen und über die geistige Welt sprechen, mit Gründen sprechen über die geistige Welt, wird man in unserer Zeit, selbstverständlich wiederum aus vielen angeführten Gründen, nicht so ohne weiteres glauben. Aber so ganz im Sinne des bloßen, ehrlichen Wahrheitsstrebens zu wir­ken, das lag ja nicht im Interesse der britischen, vom Britentum sich ausbreitenden okkulten Verbrüderungen. In ihrem Sinne lag es vor allen Dingen, daß der Welt mitgeteilt werden sollten geistige Wahr­heiten, also Wahrheiten, die aus der geistigen Welt heraus kamen, aber in einer viel handgreiflicheren Weise. Diese Wahrheiten soll­ten aber günstig sein den Theorien, die dort wie ein Dogma vom herrschenden Angelsachsentum der fünften nachatlantischen Zeit gelehrt wurden.

Und so entstand in den sechziger und Anfang der siebziger Jahre die Tendenz bei diesen okkulten Verbrüderungen des Westens, die Blavatsky dazu zu benützen, vor die Welt geistige Wahrheiten hinzustellen, aber solche geistigen Wahrheiten, von denen man sagen konnte: Seht ihr, die kommen nicht aus einem ganz gewöhnlichen menschlichen Gehirn heraus, sondern die kommen heraus aus einem Ätherleib, und noch dazu als reines Zukunftselement aus einem Ätherleib, der innerhalb derjenigen Volksmasse sich gebildet hat, die ja die Grundlage enthält für die sechste nachatlantische Zeit. Aber weil dieses Zukunftselement eben in der fünften nachatlan-tischen Zeit sich noch nicht vollständig selber in der Hand hat, so dachte man, kann man nun die ganze Sache so einrichten, daß man die Blavatsky, die ja nicht ein gewöhnliches Medium, sondern das ist, was ich geschildert habe, die aber dennoch durch die gewöhn­lichen medialen Kräfte zu beeinflussen ist, so beeinflusse, daß aus ihr nicht dasjenige herauskam, was heraus kam, wenn sie sich ganz

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selbst überlassen war, sondern dasjenige, wovon die britischen Ver­brüderungen wollen, daß es herauskommen soll. Dann treten nicht sie, diese britischen Verbrüderungen, vor die Welt und kündigen einfach an, das Britentum soll herrschen, sondern dann zeigen sie:

Seht ihr, da hat sich eine Persönlichkeit in die Welt hereingestellt, wir tun nichts dazu, aus ihrem eigenen Ätherleibe heraus bringt sie als Imagination eine neue Wissenschaft, ganz neue Begriffe. - Aber diese neuen Begriffe sollten durch den Einfluß, den diese okkulten Verbrüderungen hatten, genau so formuliert werden, so gestaltet werden, daß sie dazu führten, im Angelsachsentum das maßgebende Element der fünften nachatlantischen Zeit zu zeigen. Das entstand nun als Ziel. Und man glaubte nach seinem Dogma, daß man da ganz richtig verfährt; denn man nahm ja eine Russin, eine russische Seele, behandelte sie wie einen Säugling und benahm sich gegen sie wie eine Amme mit dem westeuropäischen Okkultismus. Es lag also der ganze Vorgang ganz im Dogma drinnen. Die Absicht war also, vor die Welt hinzustellen eine neue okkulte Wissenschaft, die aber den westlichen Brüderschaften geeignet erschien für dasjenige, was sie als ihre Spezialzwecke wollten.

Die ganze Sache wäre gut gegangen, wenn die Blavatsky eine bloße Russin gewesen wäre und daher alles mit ihr hätte gemacht werden können, was eventuell mit einer bloßen Russin hätte ge­macht werden können. Aber ich sagte, es war ein gewisser Stich von mitteleuropäischem Wesen in ihr. Sie war doch eine viel zu selb-ständige Natur. Und so kam es denn - ich kann jetzt nicht im ein­zelnen die verschiedenen Winkelzüge aufzeigen, die man machte, um das zu erreichen, was ich schildere, das würde viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen -, daß sie diese verschiedenen Winkelzüge immer und immer durchkreuzte. Darauf wäre sie nicht eingegangen, denn natürlich kamen ihr alle die Dinge zum Bewußtsein, die in ihrem Ä therleibe lebten, es wäre ihr nicht eingefallen, etwa nach London zu gehen in irgendeine okkulte Brüderschaft und sich da als ein höheres Medium ausbilden zu lassen. Dann wäre ja alles gut gegangen, selbstverständlich im Sinne der okkulten Brüder­schaften; aber darauf würde sie nie eingegangen sein.

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Nachdem sie nun zunächst eine ganz ordentliche, schöne Leitung gehabt hat und vieles in ihr sich entwickelt hat, was auf sehr gutem Wege war, wurde die ganze Sache so gelenkt, daß sie eintrat in einen Hochgrad-Orden in Paris, der aber abhängig war von britisch­okkultistischen Strömungen. Da sollte sie präpariert werden, so daß aus ihrer Seele dasjenige herauskam, was man wollte. Aber es war eben der Stich in ihr, von dem ich gesprochen habe. Und dadurch durchkreuzte sie jetzt, nachdem sie schon früher einiges durchkreuzt hatte, die Absichten, die man mit ihr gehabt hat. Sie stellte Bedin­gungen in diesem Orden, die ganz und gar nicht erfüllt werden kön­nen, die unmöglich zu erfüllen sind in einem Orden, der nicht unge­heuren Sturm hervorrufen will. Und die Folge davon war, daß, als kaum die Prozedur begonnen hatte, sie wieder ausgeschlossen wor­den ist. Aber sie hat immerhin - denn sie hatte doch ihren eigenen Kopf bis zu einem gewissen Grade - einiges Bedeutsame auf­genommen gerade von den mancherlei Geheimnissen, die auf die geschilderte Weise in solchen okkulten Orden eben vorhanden sind.

Dann war in ihr das entstanden, was ich nennen möchte: sie hat Geschmack bekommen an der ganzen Rolle. Sie bekam doch in ge­wissem Sinne Geschmack daran, nun eine ganz allererste okkulte Rolle zu spielen. Aber sie wollte nicht bloß ein höheres Medium sein, sie wollte die ganze Sache selber dirigieren. Und da kam es dann dazu, daß sie in einen amerikanischen Orden eintrat. Man kann wirklich gar nicht einmal erzählen, was sie alles anstellen wollte und zum Teil schon inauguriert hatte in diesem amerikanischen okkulten Orden. Nun war sie da drinnen, hat unzählige Geheim­nisse erfahren, von denen man bis dahin niemand anderem als dem, der hochgraduiert war, Mitteilungen gemacht hat. Man hatte ja eine bestimmte Absicht, und unter dieser Absicht arbeitete man noch immer. Das alles führte dazu, daß sie nun aber auch in ihr Bewußt­sein herein eine Unsumme von Wissen bekommen hatte. Denken Sie, jetzt hatte man eine ganz neue Situation geschaffen! Jetzt gab es eine Persönlichkeit, die unendlich viel von dem wußte, was man als das okkulte Wissen geheimer Orden bis dahin ganz gut verwahrt hatte. Das war eine ganz neue Situation. Solch eine Situation war im

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Grunde genommen noch nicht da! Nun machte sie aber in Amerika etwas, was unmöglich machte, daß sie in dem Orden drinnen geblie­ben wäre oder weiter gewirkt hätte, denn sie zeigte sogleich, daß sie dieses okkulte Wissen, das sie erlangt hatte, in einer Weise an­wenden wollte, womit sich die Orden nicht einverstanden erklären konnten. Es war ganz unmöglich, sich damit einverstanden zu er­klären, es wäre eine heillose Verwirrung herausgekommen, wenn man sie nun hätte weiter machen lassen, wie man im Deutschen sagt.

Da griff man zu einem Mittel, welches wirklich sehr, sehr selten angewendet wird, und das ein sehr bedenkliches Mittel ist. Man griff zu dem Mittel, die gute, arme Blavatsky - die also, wie Sie sehen, ein Spielball der verschiedensten Mächte war, die auf sie ein-wirkten-, wie man sagt, in okkulte Gefangenschaft zu setzen. Diese okkulte Gefangenschaft besteht darinnen - man erreicht das durch gewisse Mittel zeremonieller Magie -, daß man bewirkt, daß alles dasjenige, was die betreffende Seele entwickelt, nur bis zu einer gewissen Sphäre geht und dann zurückgeworfen wird. So daß der Betreffende alles dasjenige, was er in sich entwickelt, nur selber sieht, daß er es nicht irgendwie der Außenwelt mitzuteilen vermag, daß er es ganz nur in sich selber verarbeiten kann. Es ist das eine sehr eigentümliche Sache, aber es wurde beschlossen, das über Blavatsky zu verhängen, um sie unschädlich zu machen, so daß sie nicht der Welt alle möglichen Dinge mitteile, sondern es sollte ihr ganzes Streben zurückgeworfen werden. Rückwerfen des Strebens oder okkulte Gefangenschaft nennt man das. 1879, auf einer von Okkultisten der verschiedensten Länder besuchten okkultistischen Versammlung wurde dies beschlossen und über die Blavatsky ver­hängt. Und so lebte jetzt eine größere Anzahl von Jahren Blavatsky wirklich in okkulter Gefangenschaft. Wie die äußeren Lebensverhält­nisse in der Zeit liefen, die da nebenher gingen, das ist nicht not­wendig zu erzählen, denn derjenige, der die Sache äußerlich betrach­tet, braucht ja von alledem, was ich jetzt erzähle, überhaupt gar nichts zu sehen.

Nun handelte es sich für gewisse, jetzt indische Okkultisten, dar­um, sie aus dieser okkulten Gefangenschaft zu befreien. Und jetzt

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beginnt eigentlich die Zeit, wo Blavatsky erst ins indische Fahrwas­ser gekommen ist. Alles das, was ich Ihnen bisher erzählt habe, ist eigentlich Vorgeschichte der Blavatsky. Die Entwickelung davon, von den Zeiten an, von denen die Leute wissen, die beginnt eigent­lich erst jetzt. Und alles, was die Blavatsky schwer Begreifliches an sich hat, hängt mit dem, was ich geschildert habe, zusammen. Ge­wisse indische Okkultisten, die nun wiederum ihrerseits das Be­streben hatten, sie vor dem britischen Wesen zu retten, wendeten nun ihrerseits gewisse Mittel an, um die okkulte Gefangenschaft aufzulösen. Das wurde sogar durchaus im Einklange mit denjenigen gemacht, die früher die okkulte Gefangenschaft über die Blavatsky verhängt hatten. Und für die Blavatsky war die Folge davon, daß gewissermaßen in ihre Seele jetzt alles hereinströmte, was nur mit indischem Okkultismus zusammenhing. Ich muß immer wieder be­tonen: Man hat es wirklich mit sich offenbarenden Geheimnissen der geistigen Welt zu tun, die nur, ich möchte sagen, in allerlei verzerrten Bildern und Karikaturen zum Vorschein kommen, die man aber nicht so ansprechen darf, als ob nicht große okkulte Ge­heimnisse durch sie zutage treten. Selbstverständlich kamen jetzt mit den ungeheuren Kräften, die in der Blavatsky walteten schon durch ihre Anlagen und dann durch alles das, was sie noch durchgemacht hatte, die indischen okkulten Wahrheiten in einem ganz besonderen Maße durch sie zum Vorschein.

So haben wir in der Blavatsky den konkreten Fall, daß, als eine solche Seele erscheint, wie die Blavatsky es ist, britisches, das Angel­sachsentum zum herrschenden Element machen wollendes Wesen, britischer Okkultismus sich bemüht, mit dem, was er heute noch als einen Säugling ansieht, weiter zu kommen. Alles das geht darauf aus, Mitteleuropa vollständig zu übersehen, Mitteleuropa gar nicht zu beachten, über Mitteleuropa hinwegzugehen. Man redet wirklich so, wie ich es Ihnen erzählt habe, und betrachtet diese Strömung, die ich so oft als die mitteleuropäische Strömung geschildert habe, als etwas, was gewissermaßen bei der ganzen Prozedur überrannt werden muß. So kam ein selbstverständlich in vieler Beziehung an­fechtbares okkultes Wissen, das, ich möchte sagen, kaleidoskopartig

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in allen möglichen Farben schillerte, durch die Blavatsky zum Vor-schein. Und immer wirkten in diesen Okkultismen - wie Sie ja meiner ganzen Schilderung entnehmen können - politische Inten­tionen, politische Absichten herein. Denn sowohl die Bedingung, die von Blavatskyin Paris gestellt worden war, war in einer politischen Absicht gestellt, wie namentlich auch dasjenige, was sie in Amerika anzetteln wollte, durchaus in politischer Absicht war. Soll ich die beiden Absichten, die Blavatsky in Paris und in Amerika gehabt hat, ein wenig charakterisieren, so muß ich sagen: Es war die innere Opposition ihres Russentums gegen ein Abhängigmachen des Rus­sentums von dem westeuropäischen und amerikanischen Wesen. Da­her stellte sie auch in Paris eine Bedingung, die nicht erfüllt wer­den kann und eine politische Umwälzung oder Umgestaltung in Frankreich bedingt hätte. In Amerika stellte sie die Bedingung nicht selber, sondern da ließ sie sich ein mit jemandem, der gewisser­maßen in Politik groß geworden war, mit Olcott, um allerlei poli­tische Machinationen zu bewirken, aber mit Hilfe des überall vor-geschobenen Okkultismus. Alle diese Dinge gingen dahin, das aus­zuführen, was unter der Leitung des maskierten, ursprünglichen Leiters der Blavatsky - über diese Leiter ist ja überhaupt sehr schwer zu sprechen - anders angestrebt wurde. Der ursprüngliche Leiter wollte durchaus Blavatsky in ein richtiges Fahrwasser brin­gen; dann aber wurde er abgelöst durch einen Leiter, der alles eher war als dasjenige, was die Blavatsky einen Mahatma nannte, alles andere eher.

Und so entstand durch die verschiedensten Kräfte, die da zusam­menwirkten, ein verworrenes, aber unzählige große, gewaltige Wahr­heiten enthaltendes Schriftmaterial durch die Blavatsky in ihrer «Secret Doctrine». Es war dieses Schriftenmaterial auch geeignet, in Mitteleuropa sehr viel zu wirken. Nun sehen Sie - Sie können das ja auch zum Beispiel aus einem sehr bedeutsamen Roman von George Sand ersehen -, in Westeuropa spielen geheime Gesellschaf­ten, von Okkultismus durchdrungene Verbrüderungen, in poli­tischen Bewegungen eine große, wenn auch meistens äußerlich nicht wahrnehmbare und ersichtliche unterirdische Rolle. Ich habe am

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Ende des öffentlichen Vortrags am Freitag solche Dinge angedeutet, die gegenwärtig wirken. Da spielen politische Konspirationen und alles mögliche eine bedeutende Rolle. Denn es ist tatsächlich so, wie ich diese Dinge am letzten Freitag im öffentlichen Vortrag er­zählt habe, daß man durchaus nachweisen kann in okkulte Unter­gründe, in okkulte Unterströmungen hineinspielende Konspiratio­nen, und daß mit solchen die Ermordung des Jaurés und all die an-deren Dinge zusammenhängen, von denen ich am Freitag noch ge­sprochen habe, auch die Ermordung des Franz Ferdinand und so weiter. In diesen ganzen Kranz von Verschwörungen, von denen die Außenwelt zumeist wenig weiß, der in London beginnt, sich um Westeuropa herüberspinnt, nach Südeuropa geht, in die Balkan-länder hineingeht und sich in Petersburg schließt, in diesen ganzen Kranz spielen lauter solche Dinge durchaus hinein. Wie gesagt, diese Dinge müssen als nicht so historisch angesehen werden, wie sonst historische Tatsachen, sondern als Licht verbreitend, Licht auf manches werfend angesehen werden.

Vor allen Dingen ist dies festzuhalten, daß durch eine solche Seele, wie die Blavatsky-Seele ist, hindurchspielen diejenigen Kräfte, die in der geistigen Welt wirken und sich in der physischen Welt nur offenbaren, und daß bei einer solchen Seele ganz besonders zu beobachten ist, wie sie mitgenommen wird von einem, ich möchte sagen, unter dem Niveau, das den physischen Plan bedeutet, Spie­[enden, wie sie von einer solchen Strömung mitgerissen wird und zeigt, welche Kräfte im historischen Werden drinnen sind. Daß man nach und nach solche Dinge wird kennen lernen müssen, das geht Ihnen ja aus vielen Auseinandersetzungen, die hier gepflogen wor­den sind, gewiß hervor. Und ich habe heute gerade diese Ausein­andersetzungen geben müssen aus dem Grunde, weil aus ihnen er­sichtlich werden kann, wieviel man nicht sieht von den Ereignissen der Welt und ihren bestimmenden Ursachen, wenn man nur das­jenige sehen will, was heute gemeiniglich gesehen wird. Es gibt schon ganz andere Strömungen, die unter der Oberfläche der ge­wöhnlichen Tatsachen sich abspielen, und man ist gewissermaßen blind, wenn man mit seinem Blick nur an der Oberfläche der Tatsachen

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schweift. Daher wird es immer wieder und wiederum kom­men, daß man über gewisse Dinge überrascht und erstaunt sein muß, die sich in einer gewissen Zeit zutragen, und nicht erstaunt und überrascht zu sein brauchte in demselben Grade, wenn man eingehen würde auf die tieferen Strömungen, tieferen Kräfte. Aber leider liegt ja heute die Sache zumeist so, daß auf der einen Seite die­jenigen Menschen stehen, die sich nur um den äußeren Verlauf der Tatsachen kümmern und nicht berücksichtigen, daß dieser äußere Verlauf der Tatsachen nicht bloß gerade fortläuft als eine Strö­mung, sondern immer von unten herauf durch Strudel ergriffen wird, die aus der Tiefe kommen. Und auf der anderen Seite stehen Menschen, die ja allerdings sich interessieren für allerlei Okkultes, aber nur vom sensationellen Standpunkte aus, weil das interessant ist, wenn man da oder dort irgend etwas von Okkultismus hört. Daß dasjenige, was man gerade auf okkultem Felde vernehmen kann, unendlich aufklärend wirken kann, wenn man begreifen will, was in der äußeren Welt geschieht, dafür haben heute die wenigsten Menschen noch ein Organ. Und so gibt es natürlich Leute auf der einen Seite, die das Leben der Blavatsky außerordentlich interessiert, auf der anderen Seite gibt es Leute, die dieses Leben gar nicht inter­essiert, sondern die sich nur für die äußeren Tatsachen interessieren, die auf dem physischen Plane geschehen. Aber wenn man sie, wie ich heute nur andeuten konnte, im Zusammenhange betrachtet, dann geht einem gewöhnlich manches auf, und das ist wichtig. Und die­ser Zeit müssen wir entgegenleben, wo wirklich immer mehr und mehr Menschen da sind, die in die tieferen Strömungen des Daseins hineinblicken wollen, die den guten Willen haben, in diese tieferen Strömungen des Daseins hineinzublicken.

Und gerade innerhalb unserer Bewegung ist es so notwendig, daß diese Dinge ein wenig richtig gesehen werden, auf die ich jetzt hin-gedeutet habe. Denn sehen Sie, gleich nach Ausbruch des Krieges schimpfte, wie ich schon einmal erwähnt habe - verzeihen Sie den Ausdruck -, die Schülerin der Blavatsky, Mrs. Annie Besant, in ihren englischen Zeitschriften in unerhörter Weise über dasjenige, was innerhalb unserer anthroposophischen Bewegung lebt. Sie

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schimpfte vor allen Dingen in einer solchen Weise, daß man sah :

Auf jener Seite konnte man sich gar nicht vorstellen, daß Politik nicht hineinspielt in dasjenige, was bei uns ehrlicher, rein nach Wahrheit suchender Okkultismus sein soll, in den das Politische unmittelbar nicht hineinspielen kann. Nur so weit kann das mit Politik zusammenhängen, als Wahrheit überhaupt in die Politik hineinkommen kann, aber nicht in dem Sinne, wie ich das ange­deutet habe bei den westeuropäischen Verbrüderungen. Unsere Be­wegung konnte ja im Grunde genommen nur die Aufgabe haben, loszureißen diejenigen, die loszureißen sind, von dem Einfluß dieser westeuropäischen Verbrüderungen. Aber man kann sich auf jener Seite nicht vorstellen, daß irgend etwas geschehen kann ohne in ge­wissem Sinne unlautere politische Beweggründe. So wurde die Albernheit erzählt, daß ich von 1909 ab eigentlich die Absicht gehabt hätte, Präsident der ganzen Theosophical Society zu werden, nach Indien zu gehen, um von dort aus die politischen Kreise zu beeinflussen und zu wirken. Nun, nicht wahr, auf der einen Seite die Berlin-Bagdad-Bahn, und auf der anderen Seite die Anthropo­sophie! Ich erzähle Ihnen kein Märchen, es wird da mit der Pose des größten Zornes auseinandergesetzt, wie alle die Beamten aus der dort sehr ausgebreiteten theosophischen Bewegung hätten gewonnen werden sollen, um die Sache allmählich ins politische Fahrwasser hinüberzutragen und für den Pangermanismus zu wirken, das heißt England von Indien aus anzugreifen. Der Satz steht sogar in den Aufsätzen von Mrs. Besant; jetzt wiederholt sie die ganze Sache in einer noch wüsteren Weise.

Diese Dinge zeigen Ihnen auf der einen Seite, wie man dort gar nicht anders denken kann, wie aber allmählich der Sinn für Wahr­heit, für reines, bloß objektives, ehrliches Wahrheitsstreben abhan­den kommen muß. Solche Dinge, wie Mrs. Besant jetzt sagt, man muß sie objektive Unwahrheiten nennen. Ich bin aber wirklich heute sogar schon genötigt, nicht bei dem Ausdruck «objektive Unwahr­heit» zu bleiben; denn angesichts der Ihnen ja so gut bekannten un-sinnigen Jesuiten-Beschuldigung braucht ja schon der Ausdruck «objektive Unwahrheit» nicht mehr gebraucht zu werden. Aber es

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kommt ja heute das andere dazu: 1909 in Budapest hatte ich Mrs. Besant etwas ganz Bestimmtes zu sagen. Dazumal war es ja auch, daß man mit mir hat einen Kompromiß schließen wollen, denn es ging damals die Absicht, diesen Alcyone zum Träger des Christus zu ernennen. Man wollte mit mir einen Kompromiß schließen, man wollte mich zum wiederverkörperten Johannes ernennen, den Evangelisten, und man würde mich dann dort anerkannt haben. Das würde Dogma geworden sein dort, wenn ich auf alle diese verschie­denen Schwindeleien eingegangen wäre. Aber gegen all das, was dazumal im Werden war, bildete sich dort eine, ich möchte sagen, inter­nationale Gesellschaft der ehrlichen Leute. Unter anderem war auch Mr. Keightley dabei, der früher immer Mrs. Besant auf die wissen­schaftlichen Fehler hin ihre Bücher ausgebessert hat. Diese inter­nationale Gesellschaft stellte mir von Indien aus den Antrag, ihr Präsident zu werden. Und ich sagte 1909 in Budapest zu Mrs. Besant: Es ist gar keine Rede davon, daß ich jemals in einer okkul­ten Bewegung irgend etwas anderes sein will, als im Zusammen-hange mit der deutschen Kultur - nur mit der deutschen Kultur, innerhalb Mitteleuropa. - Das sagte ich Mrs. Besant 1909. Trotz­dem schrieb sie nach dem Ausbruch des Krieges die Dinge, die ich Ihnen gesagt habe. Da hat man es nicht mehr mit einer objektiven Unwahrheit, sondern mit einer ganz bewußten Lüge zu tun, denn es ist ja ausdrücklich erklärt worden, um was es sich handelt. Also man hat es mit einer ganz bewußten Lüge zu tun, nicht mit einer objektiven Unwahrheit.

Das ist ungefähr der Weg, zu dem man geführt wird, wenn man gerade auf dem Gebiet der geistigen Wahrheiten sich nicht eben auf den reinen Boden der Wahrheit stellt, auf den Boden der ehrlichen unverbrüchlichen Wahrheit. Aber daß diese Dinge sich so entwickeln mußten, ja, sehen Sie, es liegt eigentlich alles schon in der Art und Weise, wie bei uns die durch die Notwendig­keit der Menschheitsentwickelung in der Gegenwart gegebenen okkultistischen Strömungen hereintreten mußten in die Welt. In dieser Notwendigkeit, in der Erkenntnis dieser Notwendigkeit, liegt eigentlich schon alles. Als Mrs. Besant zuerst in Deutschland erschien,

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um in Hamburg einen Vortrag zu halten, da sprach sie auch in einem kleineren Kreise. Es war der Anfang desjenigen, was von jener Seite hat geschehen sollen. Ich stellte dazumal an Mrs. Besant - und daß ich solche Dinge wohl im Gedächmisse behalte, das wird vielleicht zuweilen Leuten recht unangenehm sein - die Frage: Wie ist es denn nun mit jenem mächtigen deutschen Okkul­tismus, der sich besonders um die Wende des 18. und 19. Jahrhun­derts so intensiv mit der deutschen Kultur verbindet? - Da antwor­tete mir Mrs. Besant - wie gesagt, es war bei ihrem allerersten Be­such, an dem ersten Orte in Deutschland -: Ach, was da in Deutschland hervorgetreten ist, das ist ein mißlungener Versuch im Okkultismus, das ist in anderen Formen hervorgetreten. Und weil das mißlungen ist, mußte das in England in die Hand genommen werden, und von England aus nun Europa der Okkultismus gebracht werden. - Sie sehen, wie so in diese Dinge auf Schleichwegen Poli­tik doch wohl hineinspielt, und wie man solche Dinge doch berück­sichtigen muß.

Das, was ich Ihnen heute gesagt habe, soll eine Art von Einlei­tung sein zu Auseinandersetzungen, die allerdings nicht ganz auf demselben Boden stehen sollen, die uns in Wichtiges hineinführen sollen, das geschichtlich ebenso wichtig ist, wie die okkultistische Erkenntnis des einzelnen Menschen, und wovon wir dann das nächste Mal weiter hören werden.

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VIERTER VORTRAG Berlin, 4. April 1916 Zeichen, Griff und Wort

Ich möchte heute etwas mehr auf die okkulten Seiten derjenigen Betrachtungen übergehen, die wir heute vor acht Tagen hier ge­pflogen haben. Wir haben ja zunächst gesehen, daß doch immerhin bedeutsam für das menschliche Leben angesehen werden können gewisse okkulte Strömungen, die sich in okkulten Verbrüderungen zum Ausdruck bringen. Und Sie werden aus den mehr äußerlich ge­haltenen Auseinandersetzungen der letzten Stunde ersehen haben, daß in einer ganz bestimmten Färbung im Westen Europas, nament­lich in britischen Ländern, solche okkulten Brüderschaften gebraucht werden, um gewisse äußere Ziele zu erreichen. Es ist nun schon einmal notwendig, daß derjenige, der gewissermaßen nicht blind sich hineinstellt in eine geisteswissenschaftliche Bewegung der Gegenwart, solche Dinge mit einer gewissen Objektivität und mit einem gewissen Überblick über die Sachlage zu beurteilen vermag. Daher möchte ich heute davon sprechen, wie zunächst das Wirken solcher okkulten Brüderschaften überhaupt zu denken ist, damit wir daraus sehen können, in welcher Weise sie für gewisse andere Zwecke und Ziele ein Instrument werden können.

Es ist im Grunde genommen dasjenige, was da als okkulte Brüderschaften gemeint ist, eine recht komplizierte Sache. Aber diese kom­plizierte Sache baut sich überall auf einem Unterbau auf, der Men­schen heranzieht in einer gewissen Richtung dadurch, daß er sie in einer Art von Kultus vereinigt, daß er ihnen gewisse Symbole über­liefert, daß er sie gewissermaßen in einem Dienst vereinigt, der in gewissen Symbolen zum Ausdruck kommt. Es gibt heute sehr viele Menschen, welche von vornherein aus einem leichtgeschürzten, man könnte sogar sagen vermeintlichen Wissen und aus einer vermeint­lichen höheren Weltanschauung heraus über alle solche Verbrü­derungen lachen und höhnen, die auf einer gewissen Symbolik sich

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aufbauen. Die Kurzsichtigkeit in allen Dingen dieser Art ist ja in unserer Gegenwart eine außerordentlich große, und man könnte denjenigen, die leichtherzig absprechen über die Bedeutung von ge-wissen Zeremonien und symbolischen Dingen, die mit gewissen ok­kulten Brüderschaften verbunden sind, einfach erwidern, daß Leute, die ja schließlich vielleicht auch nicht gerade unbedeutender waren, als sie selbst es sind, diese Monisten und sonstigen sehr aufgeklärten Lacher und Kritiker, Leute wie zum Beispiel Goethe sehr viel gegeben haben auf ein gewisses Darinnengelebthaben in solchen zeremoniel­len symbolischen Zusammenhängen. Goethe hat wohl gewußt und es immer wieder und wiederum auf die eine oder andere Art zum Ausdrucke gebracht, was ihm geworden ist dadurch, daß er im Laufe seines Lebens nicht eine Schulerziehung, sondern eine spätere Erzie­hung hat durchmachen können, welche verbunden war mit gewissen Ordenszusammenhängen, zunächst mit den Ordeuszusammenhän-gen einer Freimaurerei, in der ja Goethe war, die vielleicht weniger be­deutenden Leuten als Goethe auch weniger gegeben hat, die aber Goethe außerordentlich viel hat geben können. Also solche Sachen könnte man immerhin denjenigen einwenden, die aus einem leicht­geschürzten sogenannten monistischen Welterkennen heraus lachen und höhnen über derlei Dinge. Aber man muß, will man das Wesen von diesen Dingen einsehen, tiefer in sie hineinblicken können.

Wir wissen ja, daß wir heute im fünften nachatlantischen Zeit­raum leben. Seit dem Beginne des fünfzehnten Jahrhunderts leben wir im fünften nachatlantischen Zeitraum. Ihm ging der vierte nach-atlantische Zeitraum voran, der etwa um das Jahr 747 vor Christi Geburt beginnt, und der im Beginne des fünfzehnten Jahrhunderts eigentlich erst endet. Die Menschen, die heute ganz klug, ganz ge­scheit sind - und das sind ja, nicht wahr, fast alle! - die denken sich: Nun ja, das wird ja nicht so sehr verschieden sein, was man in der Menschenseele erleben kann seit dem fünfzehnten Jahrhundert, von dem, was die Menschenseele erlebt hat in den vorhergehenden zwei Jahrtausenden bis zurück zum Jahr 747 vor Christi Geburt. Aber an ganz äußeren Dingen kann man schon, wenn man will, zei­gen, wie grundverschieden die Entwickelung der Menschenseele in

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dem vierten nachatlantischen Zeitraum, also jenem dem unsrigen vorangegangenen nachatlantischen Zeitraum, war. In diesem Zeit­raum - natürlich nach und nach recht stark abnehmend gegen das fünfzehnte nachchristliche Jahrhundert zu -, vom achten vor-christlichen Jahrhundert also bis zum vierzehnten nachchrist­lichen Jahrhundert, da waren die Menschen so geartet, daß ihr Ätherleib viel, viel empfänglicher war, als in der Zeit seit dem vier­zehnten Jahrhundert. Er konnte viel mehr das wahrnehmen, was um ihn herum ist. Und wenn der Ätherleib wahrnimmt, dann nimmt er die elementarische Welt wahr, dann nimmt er nicht nur so wahr, wie der physische Leib Mineralien, Pflanzen, Tiere, Wasser, Luft und so weiter wahrnimmt, sondern dann nimmt er wirklich das­jenige wahr, was als elementarisches Wesen in Pflanzen, Tieren, in Min&alien lebt. Wenn die Leute in diesen Jahrhunderten noch spra­chen von Kobolden oder gnomenhaften Wesen, die sie in Gebirgen wahrnahmen, die ihnen aus den Klüften der Bergwerke entgegen-kamen, so sagt der heutige Mensch: Nun ja, das sind dichterische Darstellungen. - Für die Leute in den angedeuteten Jahrhunderten waren das nicht dichterische Darstellungen. Diese Leute hatten rich­tig noch etwas gewußt von dem Vorhandensein einer elementa­rischen Welt hinter der physischen Welt.

Ich möchte, weil das vielleicht nicht alle, die hier sitzen, gehört haben, doch noch einmal aufmerksam darauf machen, daß man heute sogar durch äußerliche Dokumente beweisen kann, daß die Leute bis vor verhältnismäßig recht kurzer Zeit von der elementa­rischen Welt etwas gewußt haben. Das kann man durch äußerliche Dokumente beweisen, und ich will dieses eine Dokument - ich glaube, ich habe es auch hier schon erwähnt, aber ich will es noch einmal kurz erwähnen - noch einmal vorbringen, das Sie im Ham­burger Museum finden können, ein Bild im Hamburger Museum Das Bild stellt dar den Sündenfall, also jenes Ereignis, von dem wir im Beginne des Alten Testaments lesen. Wenn heute ein Maler den Sündenfall darstellt, nun, nicht wahr, er stellt ihn so dar, daß er den Baum des Paradieses aufgerichtet zeigt, links und rechts Adam und Eva, mehr oder weniger schön, oder meistens ja scheußlich, nicht

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wahr, und in der Mitte die Schlange, eine richtige Schlange. Aber ist das in Wirklichkeit realistisch, meine lieben Freunde? Kann man das realistisch nennen? Nicht wahr, wenn auch selbstverständlich Eva noch nicht so gescheit und so klug war, wie die heutigen Frauen es sind, so kann man aber selbst der Eva nicht etwa zumuten, daß sie sich von einer richtigen Schlange, die am Boden kriecht, hat ver­führen lassen zu dem Ungeheuren, zu dem sie sich hat verführen lassen. Also realistisch kann das nicht gerade sein.

Aber nun wissen wir ja, daß der Verführer Luzifer war. Luzifer ist kein Wesen, das man mit heutigen physischen Augen sehen kann, sondern Luzifer muß man sehen mit dem erweckten ätherischen Leibe, mit dem erweckten Hellsehen. Da stellt er sich dann dar als dasjenige Wesen, das während der Mondeneutwickelung zurück­geblieben ist. Von der Mondenentwickelung haben wir empfangen im wesentlichen schon unseren physischen Leib, so wie wir ihn heute haben, nur war er dazumal noch nicht physisch sichtbar, sondern ätherisch. Der heutige Mensch ist in bezug auf den Kopf ein Ab­druck dessen, was auf dem Monde auch schon als Kopf vorhanden war. Aber der übrige Leib des Menschen, der daran hängt, war noch nicht in der heutigen Gestalt, sondern nur in schlangenförmiger Fortsetzung vorhanden: in dem, was wir heute als Rückenmark ha­ben. So daß, wenn man Luzifer darstellen würde, wie er von der Mondenentwickelung zurückgeblieben ist, man ihn darstellen müßte mit einem menschlichen Kopf und mit daran hängendem Rücken­mark, also in Schlangenform.

Genau so hat der Maler, der Meister Bertram, aus dem dreizehn­ten, vierzehnten Jahrhundert, auf dem Bilde in Hamburg den Luzifer dargestellt; nicht so, wie es der heutige Maler macht, son­dern so, wie es sein muß im richtigen Sinne der Geisteswissenschaft. Sie können es im Hamburger Museum im Bilde sehen und können sich überzeugen, daß im dreizehnten, vierzehnten Jahrhundert ein Maler noch so gemalt hat, wie die Dinge wirklich sind. Nur sind die Leute heute zu gescheit dazu, um das Sprechende dieser Dokumente wirklich einsehen zu können. Aber dies ist ein Dokument, welches uns zeigt, daß die Menschen wirklich das Elementarische noch gekannt

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haben bis in die Zeit herein, von der wir immer sprechen und die sich da erweist als diejenige, in der die Menschen noch in die elementarische Welt haben hineinsehen können.

In dieser Zeit, in dem vierten nachatlantischen Zeitraum, sind nun jene Symbole entstanden, welche die Grundlagen bilden für die be­treffenden okkulten Brüderschaften. Die Grundlage bilden gewisse Symbole deshalb, weil sie etwas waren für den vierten nachatlan-tischen Zeitraum, das man lebendig empfunden hat, das man leben­dig an sich selber hat wissen können. Ich will Ihnen in der Goethe­schen Übertragung den Gedanken der Symbolik etwas klarer ma­chen. Goethe versuchte in seiner Art, die Symbolik für das äußere Leben fruchtbar zu machen, indem er sich sagte: Man kann dadurch, daß man in die Symbolik sich einlebt, viel haben, man kann wirklich dadurch seinen inneren Menschen weiterbringen. - Daher will er -Sie können das in seinem «Wilhelm Meister» nachlesen -, daß die Erziehung so geleitet werde, daß der Mensch in einer gewissen Sym­bolik aufwachse. Goethe will, daß der Mensch etwas lerne, was eigentlich alle Menschen lernen sollten statt manchen Firlefanzes, den sie in den heutigen Gymnasien lernen, er will, daß die Men­schen in einer gewissen Symbolik aufwachsen. Er will, daß sie da vor allen Dingen in den Symbolen das lernen, was er nennt die «vier Ehrfurchten» des Menschen : die Ehrfurcht vor der geistigen Welt; die Ehrfurcht vor der physischen Welt; die Ehrfurcht vor jeg­licher Seele; und die Ehrfurcht, die dann erst sich aufbauen kann auf diesen drei Ehrfurchten: vor sich selber. Die letztere würden ja die meisten heutigen aufgeklärten Menschen zur Not gleich von Anfang an verstehen, nicht wahr; aber nach Goethes Anschauung soll diese Ehrfurcht, welche diejenige ist, die, ich möchte sagen, mit den größten Gefahren verknüpft ist, erst auf Grundlage der drei anderen Ehrfurchten sich aufbauen.

Wie will Goethe, daß zunächst die Ehrfurcht vor dem Geistigen, das oben ist, in den Menschen sich einwächst? Er will, daß die Men­schen eine gewisse Gebärde lernen: gekreuzte Arme über der Brust, den Blick nach oben gewendet. Und in dieser Stellung sollen sie sich aneignen Ehrfurcht vor dem, was als Geistiges auf den Menschen

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Einfluß haben könne. In einem gewissen noch sehr jugendlichen Lebensalter soll man, so meint Goethe, diese Gebärde verbinden mit dem Aneignen des Gefühies, der Ehrfurcht vor dem, was oben ist. Warum hat das eine gewisse Bedeutung? Das hat eine gewisse Bedeutung, weil, wenn der Mensch wirklich Ehrfurcht vor dem Gei­stigen empfindet, er gar nicht anders kann, als dieses Gefühl der Ehrfurcht vor dem Geistigen bekunden. Und wenn er selbst seine Hände hinten auf dem Rücken zusammenlegte als physische Hände, es würden die Ätherhände sich vorne kreuzen, und sein Blick, wenn er ihn auch noch so sehr nach abwärts wendete als physischen Blick, sein Blick würde sich mit den Ätheraugen nach oben wenden. Dies ist die natürliche Gebärde für Ätheraugen: nach oben gewendet, und für Ätherhände: nach vorne sich kreuzend, die der Ätherleib wirklich ausführt, wenn diese Ehrfurcht vor dem Geistigen vorhan­den ist; es geht gar nicht anders, das ist eine Selbstverständlichkeit, daß der Ätherleib diese Gebärde annimmt. Im vierten nachatlan-tischen Zeitraum wußten dies die Leute, weil sie die Bewegungen des Ätherleibes an sich verspürten, und wenn man ihnen sagte, sie sollten das machen, dann sagte man ihnen nichts anderes, als: sie sollen rege machen in sich ein wenig die physische Gebärde, damit sie fühlen, wahrnehmen können die Äthergebärde.

So wollte Goethe ein Hineinwachsen in das geistige Leben. Er wußte, daß das eine Bedeutung hat: Diejenigen Gebärden, die mit den unmittelbaren Äußerungen der Seele verbunden sind, wirklich durchzuleben. Ebenso wollte er, daß der Mensch, wenn er die Ehr­furcht vor dem Leiblichen, vor allem Irdischen sich aneignet, die Hände hinten am Rücken kreuzt und den Blick nach unten wendet. Das sollte er sich an zweiter Stelle aneignen. Zum dritten verhält sich die Sache so: Die ausgebreiteten Hände mit dem nach links und rechts gewendeten Blicke sollten ihm die Ehrfurcht vor jeder gleichgearteten Seele beibringen. Und dann kann er sich dasjenige aneignen, was Ehrfurcht vor der eigenen Seele sein kann.

Dieses unmittelbare Wissen davon, daß diese Gebärden, wenn sie richtig sind, nicht etwas Willkürliches sind, sondern daß sie zusam­menhängen mit der geistigen Organisation des Menschen, ist seit

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dem vierzehnten Jahrhundert den Menschen weitgehend verloren gegangen. Was folgt daraus? Daraus folgt, daß man vorher den Menschen, denen man derartige und auch kompliziertere Gebärden beibrachte, nur das beibrachte, was sie leicht zu innerem Leben er­wecken konnten. Nachher, also in unserer fünften nachatlantischen Zeit, handelt es sich darum, daß man solche einfachen Gebärden, wie sie Goethe will, gerade jugendlicheren Personen sehr gut bei­bringen könnte, wenn man den entsprechenden Unterricht gibt. Und das will auch Goethe.

Aber die kompliziertere Gebärdensprache in «Zeichen, Griff und Wort», wie sie verbreitet ist innerhalb der geheimen Verbrüderun­gen, die konnte man seit dem vierzehnten, fünfzehnten Jahrhundert nicht mehr den Menschen so beibringen, daß sie noch etwas von der Realität spürten. Also es entwickeln sich fort die Verbrüderungen, wie sie in der vierten nachatlantischen Zeit bestanden haben, in denen man in drei aufeinanderfolgenden Graden unter anderen symbolischen Dingen den Leuten Zeichen, Griff und Wort bei-brachte. Die setzten sich fort. Aber sie setzten sich fort unter anders gearteten Seelen in den letzten Jahrhunderten. Man brachte auch da - bleiben wir bei diesem Elementarsten stehen - Zeichen, Griff und Wort bei. Aber die Leute konnten nichts mehr verbinden mit Zeichen, Griff und Wort, weil sie nicht mehr sich vergegenwärtigen konnten das Entsprechende im Ätherleib, das der Seele des Men­schen angemessen ist. Es war etwas Äußerliches; denn in dem vier­ten nachatlantischen Zeitraum war im wesentlichen im Menschen entwickelt die Gemüts- oder Verstandesseele. Jetzt begann die Be­wußtseinsseele den Menschen zu ergreifen, das heißt der Mensch begann, auf seinen an das physische Gehirn gebundenen Verstand angewiesen zu sein. Dasjenige, was man nennen kann: Sensitivität des Ätherleibes, trat zurück. Was aber tritt jetzt auf? Ich bitte Sie ganz genau sich anzuhören, was jetzt auftreten muß.

Denken Sie sich also: Es wird fortgesetzt die okkulte Verbrüde­rung in diesen fünften nachatlantischen Zeitraum herein. Man be­gründet weiter oder setzt fort okkulte Verbrüderungen, in die man Menschen aufnimmt, die man bekannt macht mit den entsprechenden

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Symbolen. Diese Menschen lernen also gewisse Zeichen dadurch, daß sie ihren Leib in eine gewisse Stellung bringen, was ein Zeichen bedeutet. Sie lernen gewisse Griffe dadurch, daß sie die Hand des anderen in einer gewissen Weise ergreifen, die nicht die gewöhn­liche ist. Sie lernen gewisse Worte aussprechen, welche eine ganz bestimmte Regsamkeit des Ätherleibes bedeuten, und anderes. Ich will nur dieses Elementare erwähnen. Also Menschen lernen Zei­chen, Griff und Wort seit dem fünfzehnten, sechzehnten Jahrhun­dert. Sie sind jetzt so geartet, daß ihre Bewußtseinsseele wirkt. In die wirkt aber Zeichen, Griff und Wort nicht herein, für die bleibt es ein äußerliches Zeichen, etwas ganz Äußerliches. Aber glauben Sie nun nicht, daß die Dinge, die Zeichen, Griff und Wort sind, wenn sie dem Menschen überliefert werden, nicht wirken auf den Äther­leib des Menschen! Sie wirken. Der Mensch nimmt auf mit Zeichen, Griff und Wort dasjenige, was einmal mit Zeichen, Griff und Wort verbunden ist. Man unterrichtet also eine Anzahl von Menschen in Zeichen, Griff und Wort, bringt ihrem Unterbewußten dadurch etwas bei, was sie nicht im Bewußtsein haben. Das dürfte man selbstverständlich überhaupt nicht machen, was ich jetzt beschrieben habe, sondern man müßte auf dem Wege vorgehen, der geboten ist durch die Entwickelung des Menschen. Und der besteht darin, daß man durch den Verstand des Menschen geht, so daß man also dasjenige, was der Verstand begreifen kann, was der Verstand erlernen kann, zuerst an den Menschen heranbringt: und das ist der Inhalt der Gei­steswissenschaft. Dieser Inhalt der Geisteswissenschaft muß zuerst begriffen werden. An den muß man zuerst sich heranmachen. Man muß also zuerst irgendwie drinnenstehen in der geisteswissenschaft­lichen Bewegung, und erst nach einiger Zeit, nachdem man in der geisteswissenschaftlichen Bewegung drinnengestanden hat, kann man dazu geführt werden, Zeichen, Griff und Wort zu empfangen. Denn man ist dann vorbereitet, etwas Bekanntes darin zu sehen, was man wenigstens verstanden hat. Das wird in den okkulten Verbrü-derungen in der Regel nicht gemacht. In den okkulten Verbrüderun-gen werden die Leute einfach, ohne vorher irgendwie Geisteswissen­schaft oder Okkultismus gelernt zu haben, aufgenommen in den

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ersten Grad. Es wird ihnen Zeichen, Griff und Wort und noch man­ches andere an Symbolen überliefert, und man wirkt, weil sie vorher nicht etwas gelernt haben von der geistigen Welt, auf ihr Unter­bewußtes, auf dasjenige, was nicht mit ihrem Bewußtsein zusammen­hängt.

Was ist die Folge davon? Die Folge davon ist, daß man, wenn man will, die Leute zu gefügigen Werkzeugen für allerlei Pläne machen kann, ganz selbstverständlich. Denn wenn Sie den Ätherleib bearbeiten, ohne daß der Mensch es weiß, so schalten Sie dieselben Kräfte, die er sonst in seinem Verstande hätte, aus, wenn Sie nicht dann dem Verstande etwas geben, was heute Geisteswissenschaft sein muß. Die schalten Sie aus, und Sie machen dann solche Brüder­schaften zu einem Werkzeug für diejenigen, die ihre Pläne, ihre Ziele verfolgen wollen. Sie können dann solche Brüderschaften gleichzeitig irgendwie dazu verwenden, irgendwelche politischen Ziele zu verfolgen, oder Sie können das Dogma aufstellen, «Alcyone» sei der äußere physische Träger des Christus Jesus. Und diejenigen, die also präpariert sind, werden sich zu Instrumenten machen, um das in die Welt hinauszutragen. Man braucht dann nur in der ent­sprechenden Weise unehrlich und unrechtschaffen zu sein, dann kann man alles mögliche auf diesem Wege erreichen dadurch, daß man sich zunächst Instrumente schafft.

Und nun - nicht wahr, die Dinge folgen ja alle aus der wirk­lichen Erkenntnis -, wer das weiß, wie sich der fünfte nachatlan-tische Zeitraum vom vierten nachatlantischen Zeitraum unterschei­det - und das wird bei uns immer wieder und wiederum gesagt -, der weiß eben, warum es so sein muß, daß zuerst Bekanntschaft mit der Geisteswissenschaft vorhanden sein muß und dann erst Einfüh­rung in die Symbolik gegeben werden kann. Da, wo es wirklich ehr­lich gemeint wird mit einer geisteswissenschaftlichen Bewegung, wird selbstverständlich dieser Gang eingehalten. Denn derjenige, der auch nur dasjenige kennen gelernt hat, was zum Beispiel in mei­ner «Theosophie» oder in der «Geheimwissenschaft» steht und ver­sucht hat, es zu begreifen, der wird niemals einen Schaden durch irgendwelche Überlieferung von Symbolen nehmen können.

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Nun sehen wir aber gerade in ausgesprochenstem Maße, daß in britischen Ländern der Symbolik gar nicht ein Unterricht vorangeht, der sie in irgendeiner Weise erklären würde. Erklären heißt nicht, daß man sagt: Dieses Symbol bedeutet das, und dieses Symbol be­deutet das, denn da kann man jedem jedes Zeug vormachen, sondern der Unterricht müßte so geartet sein, daß man zunächst aus dem Gang der Erden- und Menschheitsentwickelung die Geheimnisse enthüllt und dann daraus die Symbolik entstehen läßt. So ist das dort nicht, sondern da werden die Symbole einfach geboten, ja, sie werden nicht nur einfach geboten auf diese Weise, sondern es wer­den sogar die Symbole noch auf andere Weise geboten, indem man in der Literatur auch nicht so vorgeht, wie unsere Geisteswissen­schaft zum Beispiel vorgeht, sondern indem man in der Literatur so vorgeht, daß man eigentlich alles symbolisch gibt.

In vieler Beziehung ist schon der ungeheuerste Unfug mit dieser okkulten Literatur geschehen in Frankreich durch Eliphas Levi' des­sen Bücher «Dogma und Ritual der höheren Magie», dessen «Schlüssel der höheren Magie» ja gewiß große Wahrheiten neben sehr gefährlichen Irrtümern enthalten, die aber so geartet sind, daß alles nicht mit dem Verstande so zu verfolgen ist, wie bei unserer Geisteswissenschaft, sondern in einer symbolischen Art aufgenom­men werden muß. Lesen Sie Eliphas Levi! Jetzt können Sie ihn lesen ganz ohne Gefahr, selbstverständlich, weil Sie genügend vorbereitet sind. Lesen Sie von Eliphas Levi «Dogma und Ritual der höheren Magie», dann werden Sie sehen, wie dort die ganze Methode der Symbolik anders ist. Ja, meine lieben Freunde, wenn man so wie Fliphas Levi in seinem «Dogma und Ritual der höheren Magie» die Menschen unterrichtet in lauter Symbolen, dann hat man sie im Grunde genommen, wenn man das will, zu allem, wozu man sie braucht, wozu man sie brauchen will.

Noch schlimmer ist die Sache nach Eliphas Levi geworden durch den Dr. Encausse, durch Papus, der einen so verheerenden, verhäng­nisvollen Einfluß gewonnen hat auf den Petersburger Hof, wo er sich immer wieder und wieder aufgehalten hat, um dort seit Jahr-zehnten eine sehr verhängnisvolle politische Rolle zu spielen. Da

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finden Sie bei Papus - so nennt er sich - geradezu in einer verhäng­nisvoll gefährlichen Art gewisse okkulte Geheimnisse an die Menschheit herangebracht, so daß diejenigen, die Papus auf sich wirken lassen, mit einem eisernen Fanatismus, sobald sie einmal über die Elemente hinausgekommen sind, festhalten an dem, was ihnen Papus gibt. Es handelt sich nicht darum, Papus zu widerlegen, denn, ich möchte sagen, so paradox es klingt: das ist das Schlimmste, daß sehr viele, sehr richtige Dinge gerade in Papus stehen. Aber die Art und Weise, wie sie den Menschen gegeben werden, das ist das unge­heuer Gefährliche: schwachen Menschen einträufeln dasjenige in die Seele, was in Papus' Büchern steht, das heißt, sie dazu präparieren, ihren Verstand zu einem vollständigen Schläfer zu machen und sie zu allem zu gebrauchen, wozu man sie gebrauchen will. Solche Men­schen haben aber in der Gegenwart einen gewissen Einfluß. Wer mehr herumgekommen ist und Gelegenheit hat, solche Dinge zu kennen, der weiß, daß Papus überall einen großen Einfluß hat. Ich konnte diesen Einfluß verfolgen durch Böhmen hindurch, durch Österreich hindurch. In Deutschland ist sein Einfluß ein viel gerin­gerer, aber sein Einfluß war auch bis zu einem gewissen Zeitpunkte durchaus vorhanden. Aber insbesondere hat er einen ungeheuren Einfluß in Rußland. Es wird noch dazu dieser Einfluß von Papus erreicht durch eine gewisse Unehrlichkeit, die mit der ganzen Sache verbunden ist.

Sehen Sie, die Lehre des Jakob Böhme, von der wir ja oftmals ge­sprochen haben, wurde im achtzehnten Jahrhundert durch den soge­nannten «Unbekannten Philosophen», durch Saint-Martin, nach Frankreich verpflanzt, und dort von Saint-Martin in einer sehr, sehr anmutenden Sprache wiedergegeben, so daß, als rückübersetzt wur­den ins Deutsche die Werke von Saint-Martin, diese selbstverständlich viel lesbarer waren für die Menschen, als die Werke von Jakob Böhme, die ja bekanntlich sehr schwer lesbar sind.

Für mich knüpft sich noch eine ganz niedliche Erinnerung ge­rade an die Übersetzung der Werke von Saint-Martin, dem «Unbe­kannten Philosophen», an. Das Buch von Saint-Martin, «Des erreurs et de la vérité», dieses Buch über Irrtum und Wahrheit, das ist sehr

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schön ins Deutsche übersetzt von einem liebenswürdigen deutschen Dichter, der allgemein bekannt ist. Und insofern ist mir das gerade nicht uninteressant, denn es wird demnächst eine kleine Broschüre erscheinen von mir: «Die Aufgabe der Geisteswissenschaft und deren Bau in Dornach», wo ich versuche, gewisse landläufige Irr­tümer, die über die Geisteswissenschaft verbreitet sind, einmal kurz und populär zu widerlegen. Der Aufsatz, der in nächster Zeit er­scheinen wird, ist hervorgegangen aus einem Vortrage, den ich in der Schweiz gehalten habe, weil dort, in Dornach selber, ein beson­ders gescheiter evangelischer Pfarrer alles mögliche vorgebracht hat. Doch wollte ich schließlich nicht einzig und allein mit einem sol­chen Pfarrer mich beschäftigen. Aber dieses, was er vorgebracht hat, das ist gewissermaßen typisch. Die Leute bringen alle möglichen Dinge vor, und da konnte ich, ohne daß ich auf den Pfarrer gerade hingewiesen habe, diese landläufigen Irrtümer über unsere Geistes­wissenschaft widerlegen, namentlich auch über den Dornacher Bau. In einem Vortrage, den dieser Pfarrer gehalten hat, hat er auch an­geführt ein Gedicht - ich habe schon einmal hier davon gespro­chen - von Matthias Claudius. Dieses Gedicht führte er an, offen­bar mit starkem Pathos, indem er eine Strophe daraus zitierte, um zu zeigen, wie wenig die Menschen eigentlich von so etwas sprechen sollten, wie einer geheimen Wissenschaft, denn nicht einmal den Mond könnte man begreifen. Man braucht aber in diesem selben Gedicht von Matthias Claudius nur fortzulesen, so ist es die nächste Strophe, die beweist, daß das genaue Gegenteil von dem, was der Pfarrer da meint, von Matthias Claudius gemeint wird. Aber das Interessante ist, daß der Übersetzer von Saint-Martins Buch «Irrtum Lind Wahrheit» gerade der Matthias Claudius ist, daß der gerade den Saint-Martin übersetzte. Also, Sie können sich denken aus sol­chen Dingen, meine lieben Freunde, mit welchen Leuten man es zu tun hat, die einem heute entgegentreten angeblich mit dem, was sie «gute Gründe» nennen, und mit welchen Gründen man es da eigent-lich zu tun hat. Das Kapitel, mit welchen Leuten man es zu tun hat heute, das könnte ja in sehr ausführlicher Weise dargestellt wer­den. Es ist eigentlich bedauerlich, wenn man Zeit verlieren muß, um

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diejenigen Menschen, die in einer solchen Art der Sache entgegen­treten, zu widerlegen.

Aber da erfährt man ja manchmal noch viel Kurioseres. Eines möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, das mir, seit wir uns das letzte Mal hier gesprochen haben, entgegengetreten ist, weil es doch allzu interessant ist. Sie wissen ja alle - ich habe es ja das letzte Mal auch wiederum erwähnt -, daß ich nicht mitmachen konnte und durfte, aus reinem Wahrheitssinn heraus, dasjenige, was Mrs. Besant, die Präsidentin der Theosophical Society, mit ihren Leuten machte, von denen sie sich einen großen Teil auf die Weise zubereitet hatte, wie ich es Ihnen geschildert habe. Da konnte ich nicht mitgehen. Ich mußte wirklich im Namen der Wahrheit gegen diese frivole Chri­stus-Auffassung mit dem Alcyone-Knaben mich wenden, mußte mich um so mehr dagegen wenden, als ich sah, wie selbst gelehrte Leute überall gerade auf das Büchelchen, das von Alcvone herrüh­ren soll - ich glaube «Zu den Füßen des Meisters» heißt es -, her­eingefallen sind und das als eine der größten Erscheinungen der Gegenwart hingestellt haben. Aber es wurde ja in jenen Kreisen so-gar etwas davon gefühlt, daß es sich bei mir darum handelte, etwas zu unternehmen im Dienste der Wahrheit. Es wurde gefühlt. Aber man sagte sich auf jener anderen Seite: Ja, Wahrheit, - ist denn Wahrheit wirklich so, daß man Mrs. Besant entgegentreten soll, weil sie flunkert? Und sehen Sie, da finde ich in einer Broschüre von unserem Mitglied E. von Gumppenberg, die auch in der näch-sten Zeit erscheinen wird, einen Ausspruch, ein Urteil über mich angeführt. Es ist wörtlich angeführt, dieses Urteil über mich. Frau von Gumppenberg knüpft an einen anderen Ausspruch an, und sagt dann: Es erinnert dieser andere Ausspruch an ein anderes Urteil über Dr. Steiner, das einmal von einer Engländerin abgegeben wurde. Es heißt da: Der gute Dr. Steiner, er ist eben ein Philosoph. Und das mag der Grund sein, warum er es mit der Wahrheit so ge­nau nimmt. Was macht es denn, wenn Frau Besant flunkert? Flun­kern wir denn nicht alle? Sehen Sie, das ist ja doch nicht anders möglich. Wie kämen wir durchs Leben mit strikter Wahrheit? Wir können doch nicht lauter Philosophen sein. Lassen wir also die anderen

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flunkern! Wir machen uns nur boses Blut, wenn wir uns da­gegen stellen.

Meine lieben Freunde! Ich kann nicht anders, als denjenigen, der ein Straßenräuber ist, für einen anständigeren Menschen zu halten, als denjenigen, der ein solches Urteil über die Wahrheit fällt. Das ist meine ganz aufrichtige Meinung und Empfindung, wenn auch derjenige, der ein solches Urteil über die Wahrheit fällt, in noch so schönen seidenen Kleidern daherrauscht - und die wird die betref­fende Dame schon angehabt haben! Aber man sieht aus solchen Dingen, wie gefährlich es heute ist, es mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen, insbesondere dann, wenn es sich um Dinge handelt, die der unmittelbar sinnlichen Wahrnehmung entzogen sind.

Nun sagte ich: eine Heuchelei geschieht auch mit der Verbrei­tung der Geistesströmung, die von Encausse, von Papus, ausgeht; denn die Leute nennen sich «Martinisten». Man muß den ehrlichen «Unbekannten Philosophen» wahrhaftig in Schutz nehmen mit sei­nem ehrlichen Wahrheitstreben und mit demjenigen, was er ver­suchte, im Dienste des achtzehnten Jahrhunderts so zu tun, wie es notwendig war im Dienste des achtzehnten Jahrhunderts, gegen die Inanspruchnahme seines Namens durch die Papusianer von heute.

Nun ist es sehr wichtig, zu wissen, daß auf der Grundlage von drei Graden sich jede okkulte Verbrüderung aufbaut. Im ersten Grade kommen, wenn die Symbolik in der richtigen Weise ge­braucht wird, und unter richtig verstehe ich selbstverständlich das­jenige, was ich eben angedeutet habe für unseren fünften nach-atlantischen Zeitraum, die Seelen so weit, daß sie ein genaues inneres Erlebnis davon haben, daß es ein Wissen gibt in Unabhängigkeit von dem gewöhnlichen physisch-sinnlichen Wissen. Und sie müssen im ersten Grade eine gewisse Summe von solchem, vom physischen unabhängigen Wissen haben. Ungefähr dasjenige müßte jeder wis­sen, der im ersten Grade ist heute innerhalb des fünften nachatlan-tischen Zeitraumes, was ungefähr in meiner «Geheimwissenschaft» steht. Wissen müßte jeder - das heißt innerlich lebendig wissen -, der im zweiten Grade ist, dasjenige, was in dem Buche steht: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» Und wer in dem

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dritten Grade ist und die bedeutungsvollen Symbole: Zeichen, Griff und Wort schon des dritten Grades empfängt, der weiß, was es heißt: außerhalb seines Leibes leben. - Das wäre die Regel, das wäre dasjenige, was erreicht werden soll.

Das ist tatsächlich bis ins achte, neunte Jahrhundert in gewissen Gegenden Europas innerhalb dieser Grade erreicht worden. So zum Beispiel ist in Irland im hohen Grade bis ins achte, neunte, zehnte Jahrhundert von einzelnen Persönlichkeiten, von einer größeren Anzahl von Persönlichkeiten dies, was ich eben beschrieben habe, voll erreicht worden, aber auch in anderen Gegenden Europas, nur nicht in so großer Anzahl wie gerade bei manchen Menschen in Irland. Man hat nun gewisse Dinge vermieden, einfach aus Unvermö­gen, das ist: hinzuarbeiten auf eine wirkliche Geisteswissenschaft. Diese wirkliche Geisteswissenschaft tritt uns ja eigentlich aus vielen Gründen erst jetzt entgegen. Aber okkulte Verbrüderungen, wie gesagt, hat es immer gegeben, und sie arbeiten aus der bloßen Sym­bolik heraus. Besonders bedeutungsvoll ist das, wenn aus der bloßen Symbolik heraus gearbeitet wird in einer Volksgemeinschaft, die in der Tat noch nicht bis zu ihrer vollen Reife gediehen ist. Daher tra­ten diese Übelstände sogleich auf, als unter der Kaiserin Katharina, nachdem der Voltairianismus etwas von einem Schlag erfahren hatte, und unter ihrem Nachfolger in Rußland, Paul, und Späteren, der Versuch gemacht wurde, gewisse geheime Verbrüderungen vom Westen nach Rußland hinein zu verpflanzen. Dieser Versuch wurde aber in ausgiebigstem Maße gemacht. Und das, was dazumal ge­schehen ist unter dem Einflusse der vom Westen nach Rußland ver­pflanzten okkulten Verbrüderungen, das hat einen großen Einfluß gewonnen auf die ganze geistige Entwickelung Rußlands seither, einen viel größeren Einfluß, als man irgendwie glauben kann. Selbst­verständlich, solcher Einfluß gruppiert sich nach der verschieden­sten Richtung hin : der Literat verarbeitet diesen Einfluß in Roma­nen, der politische Schriftsteller in Politik. Aber durch gewisse Ka­näle, die immer vorhanden sind, wird solcher Einfluß immer bedeut­sam für die nachfolgende Entwickelung. Und alles eigentlich, was bedeutend ist im geistigen Leben Rußlands bis zu Tolstoi, führt im

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Grunde genommen zurück auf dasjenige, was in der Zeit, von der ich eben gesprochen habe, durch Verpflanzung von gewissen okkul­ten Verbrüderungen nach Rußland hinein vom Westen Europas aus geschehen ist.

Nun sagte ich Ihnen: es ist ein gewisser Unterbau vorhanden. Der Unterbau ist eben der, der die okkulten Verbrüderungen durch diese drei Grade heraufleitet. Gewiß. Dann aber gibt es Leute, die kom. men zu sogenannten Hochgraden, zu höheren Graden. Nun, das ist freilich ein Gebiet, wo ungeheuer viel Eitelkeit unterläuft, denn es gibt Verbrüderungen, in denen man es bis zu neunzig oder über neunzig Graden bringen kann. Nun denken Sie sich einmal, was das heißt: man trägt einen so hohen Ordensgrad an sich! Dreiund­dreißig Grade hat ja, einfach durch einen Fehler, der aus einer gro­tesken Unkenntnis entspringt, das sogenannte schottische Hochgrad­system, das sich aufbaut auf den drei Graden, die in solcher Weise verlaufen, wie ich es geschildert habe. Also da hat man die drei Grade, die ja, wie Sie sehen, ihre tiefe Bedeutung haben. Aber nach diesen drei Graden folgen noch dreißig andere. Nun können Sie sich denken, wenn man schon im dritten Grade die Fähigkeit er­langt, außer seinem Leibe sich zu erleben, was man für ein hohes Wesen ist, wenn man noch dreißig Grade danach durchmacht. Aber es beruht auf einem grotesken Erkenntnisfehler. Es wird nämlich in okkulten Wissenschaften anders als im Dezimalsystem gelesen:

es wird so gelesen, daß man nicht nach dem Dezimalsystem, sondern nach dem betreffenden System der Zahlen rechnet, die gerade in Betracht kommen. Also wenn man schreibt: 33. Grad, so bedeutet das in Wirklichkeit nach dem System der Zahlen, die in Betracht kommen: 3 mal 3 = 9. Das hat eine große Rolle gespielt bei der Blavatsky. Sie finden in Blavatskys «Geheimlehre» eine lange De­batte über die Zahl 777. Da haben die Leute alles mögliche phan­tasiert, was diese Zahl 777 bedeutet. In Wirklichkeit ist es 343, näm­lich 7 mal 7 mal 7. Man schreibt im Okkultismus so, daß man die Zahlen, die da stehen, miteinander multiplizieren muß. Wenn man also die wirkliche Zahl haben will, muß man 777 folgendermaßen lesen: 7 mal 7 = 49 mal 7 = 343. Dementsprechend ist 33 = 9

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= 3 mal 3. Nur weil die Leute nicht lesen können, lesen sie 33 statt 9.

Nun ja, aber wir wollen von diesen Eitelkeiten absehen. Es sind ja noch immer sechs Grade, die sich auf diesen drei Graden auf­bauen, als berechtigte Grade zu zählen. Und die geben dann, wenn sie durchgemacht werden, schon sehr Bedeutsames. Aber sie können im Grunde genommen in der Gegenwart gar nicht voll durch­gemacht werden. Es ist rein unmöglich. Sie können gar nicht voll durchgemacht werden, weil die Menschheit im fünften nachatlan-tischen Zeitraum noch nicht so weit ist, daß all das wirklich durch­gemacht werden kann, was da durchzumachen ist. Denn es ist noch nicht so viel von den geistigen Welten an - ich will nicht sagen Erkenntnis, aber an Betätigung der Erkenntnis - herausgekommen. Das wird erst herauskommen. Es kommt ja nach und nach erst heraus. Denken Sie, wir stehen jetzt seit dem Jahre 1413 etwa im fünften nachatlantischen Zeitraum. Der wird lang sein, ungefähr 2160 Jahre. Er ist also abgelaufen im Jahre 3573. Also wir stehen ja erst im Anfange. Im Laufe dieses fünften nachatlantischen Zeit­raums wird viel, viel geschehen. Und im Sinne dessen, was da ge­schieht, muß das auch vor sich gehen, was durch die Entwickelung der Geisteswissenschaft geschieht. Das kann aber nur nach und nach alles sich offenbaren. Gewiß, die großen Linien können wir heute ziehen. Über viele Einzelheiten wissen wir auch zu berichten. Aber vieles, vieles wird erst kommen, wenn an dem Widerstande es sich stärken, kräftigen muß. Und dieser Widerstand wird immer größer und größer werden.

Wir leben ja heute - Sie können das aus Dingen, die ich in diesen Vorträgen erzählt habe, ersehen, und werden es aus manchen an­deren Dingen noch ersehen, die ich Ihnen ja auch anführen kann -, wir leben heute noch in verhältnismäßig idealistischen, in spirituel­len Zeiten gegenüber dem, was da kommen wird. Wir leben am Ende des zweiten nachchristlichen Jahrtausends. Es wird nicht lange dauern nach dem Jahre 2000, da wird die Menschheit Sonderbares zu erleben haben, Dinge, die sich heute nur langsam vorbereiten. Die Dinge gehen ja so, daß gewissermaßen die zwei Pole, die der

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künftigen Entwickelung entgegeneilen, von Osten und von Westen her sich vorbereiten. Immer mehr und mehr wird sich in den mehr östlichen Gegenden ausbilden - aber aus dem Volkstume heraus, selbstverständlich nicht aus jenen Kreisen heraus, die heute das mißleitete osteuropäische Volk führen -, wovon man sagen muß:

Es wird eine ganz andere Art von Denken geben über die Menschen. Man wird dazu kommen in verhältnismäßig gar nicht zu ferner Zeit. Man wird dazu kommen, den aufwachsenden Menschen ganz anders anzusehen, als man ihn heute geneigt ist anzusehen. Man wird ver­suchen, wenn ein Kind geboren wird, zu sagen: Was könnte in die­sem Kinde zutage treten? Man hat es mit einem verborgenen Geist-wesen zu tun, das in diesem Kinde sich nach und nach entwickelt. Man wird das Kind enträtseln wollen. Man wird zunächst eine Art von Kultus verbinden mit dem Aufwachsen eines Kindes. Das berei­tet sich im Osten vor. Es wird selbstverständlich übergreifen nach Europa herein. Die Folge davon wird sein, daß eine ungeheure Hochachtung sich entwickeln wird vor dem, was man Genialität nennt, ein Suchen nach der Genialität. Daß dann alle die pädago­gischen Zöpfe ausgestorben sein müssen, wenn ein Zeitalter nach dieser Richtung anrückt, jene pädagogischen Zöpfe, die heute die tonangebenden sind, das ist ja selbstverständlich, nicht wahr? Die­ses Zeitalter kommt von jener Seite her. Aber es wird der geringere Teil der Menschheit sein.

Der größere Teil der Menschheit wird seinen Einfluß von Amerika, von dem Westen herüber haben, und der geht einer ande­ren Entwickelung entgegen. Der geht jener Entwickelung entgegen, die heute sich erst in den idealistischen Spuren, gegenüber dem, was da kommt, in sympathischen Anfängen zeigt. Man kann sagen: Die Gegenwart hat es noch recht gut gegenüber dem, was da kommen wird, wenn die westliche Entwickelung immer mehr und mehr ihre Blüten treibt. Es wird gar nicht lange dauern, wenn man das Jahr 2000 geschrieben haben wird, da wird nicht ein direktes, aber eine Art von Verbot für alles Denken von Amerika ausgehen, ein Gesetz, welches den Zweck haben wird, alles individuelle Denken zu unter­drücken. Auf der einen Seite ist ein Anfang dazu gegeben in dem,

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was heute die rein materialistische Medizin macht, wo ja auch nicht mehr die Seele wirken darf, wo nur auf Grundlage des äußeren Experiments der Mensch wie eine Maschine behandelt wird.

Aber, meine lieben Freunde, man darf mich ja nicht mißverste­hen, denn auf diesem Gebiet wird ungeheuer viel gesündigt gerade heute noch von sogenannter spiritueller Seite her. Man kann es zum Beispiel erleben, daß Leute zu einem kommen, die sagen: Ja, ich habe nun alles mögliche durchgemacht in der Medizin, ich bin nicht geheilt worden. Da bin ich zu einem gegangen, der hat mich ganz spirituell behandelt. - Nun, was hat denn der mit Ihnen ge­macht? - Er hat mir gesagt, in meinem Leib sind böse Geister, und ich müsse diese bösen Geister zunächst herausbeten. - Ich mußte sagen, weil es ja eigentlich der Grund war, warum der Betreffende zu mir gekommen ist: Und hat Ihnen das geholfen? - Nein, es ist viel schlechter geworden, viel, viel schlechter. - Nun, sagte ich, ich bitte Sie, nun denken Sie sich einmal, in welche Lage Sie da ge­bracht worden sind. Glauben Sie nicht, daß Ihnen der Mann etwas Unrichtiges gesagt hat. Es ist ganz richtig, daß in Ihnen irgend welche geistige Wesen waren, die das verursacht haben, was in Ihnen ist. Aber gerade weil Ihnen der Mann etwas Richtiges gesagt hat, etwas, was Sie gerade als etwas Richtiges anerkennen mußten, ge­rade deshalb mußte Ihnen der Mann so schaden. Denn denken Sie sich einmal : Ein nichtsnutziger Schusterbub richtet eine Maschine zu Grunde. Dieser Schusterbub ist die wirkliche Ursache, daß die Maschine nicht geht. Das ist die reale Ursache. Na, wie werde ich die Maschine wiederum zum Gehen bringen? Nach der Methode Ihres spirituellen Arztes müßte ich nun den Schusterbuben nehmen, ordentlich durchhauen und dann meinen, wenn der jetzt davonläuft, so wird die Sache in Ordnung sein. Selbstverständlich: denn er hat Ihnen ja gesagt, sobald die bösen Geister weg sind, ist Ihre Ma­schine in Ordnung. Aber gerade so wenig, wie die Maschine da­durch in Ordnung ist, daß der Bub davonläuft, sondern wie die jetzt kuriert werden muß mit ganz anderen Mitteln, die mit dem Maschi­nellen zusammenhängen, so ist es auch bei Ihnen. Ob Sie die Geister wegbringen oder nicht, das ist schließlich für Ihr Gesundwerden

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von so geringer Bedeutung, als wenn ich nun den Schusterbuben durchhaue, so daß er nun davonläuft, oder als ob ich ihn sogar zu­schauen lasse. Ich könnte ihn sogar zuschauen lassen - ich würde doch die Maschine wieder in Ordnung bringen.

Also es wird schon von der andern Seite sehr viel gesündigt, denn sehr gut denken kann man heute nicht. Man sagt immer nur aut -aut: entweder - oder, aber darum handelt es sich nicht, sondern darum, daß man die Dinge wirklich einsieht. Man muß eben wissen, daß in allem Materiellen Geistiges ist und daß durch die Erkenntnis des Geistes auch nur allein das Materielle geheilt werden kann. Aber das soll ausgeschaltet werden, das Geistige, von der ganzen Welt. Das ist einer der Anfänge.

Einer der anderen Anfänge: Wir haben ja heute schon Maschinen zum Addieren, Subtrahieren: nicht wahr, das ist sehr bequem, da braucht man nicht mehr zu rechnen. Und so wird man es auch machen mit allem. Das wird nicht lange dauern, ein paar Jahr-hunderte - dann ist alles fertig; dann braucht man nicht mehr zu denken, nicht mehr zu überlegen, sondern man schiebt. Zum Bei­spiel da steht: «330 Ballen Baumwolle Liverpool», so überlegt man heute sich da noch etwas, nicht wahr? Aber dann schiebt man bloß, und die Geschichte ist ausgemacht. Und damit nicht gestört wird das feste Gefüge des sozialen Zusammenhangs der Zukunft, werden Gesetze erlassen werden, auf denen nicht direkt stehen wird: Das Denken ist verboten, aber die die Wirkung haben werden, daß alles individuelle Denken ausgeschaltet wird. Das ist der andere Pol, dem wir entgegen arbeiten. Dagegen ist das Leben heute immerhin nicht gar so unangenehm. Denn wenn man nicht über eine gewisse Grenze hinausgeht, so darf man ja heute noch denken, nicht wahr? Aller­dings eine gewisse Grenze überschreiten darf man ja nicht, aber immerhin, innerhalb gewisser Grenzen darf man noch denken. Aber das, was ich geschildert habe, das steckt in der Entwickelung des Westens, und das wird kommen durch die Entwickelung des Westens.

Also in diese ganze Entwickelung muß sich auch die geistes­wissenschaftliche Entwickelung hineinstellen. Das muß sie klar und objektiv durchschauen. Sie muß sich klar sein, daß das, was heute

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wie ein Paradoxon erscheint, geschehen wird: ungefähr im Jahre 2200 und einigen Jahren wird eine Unterdrückung des Denkens in größtem Maßstabe auf der Welt losgehen, in weitestem Umfange. Und in diese Perspektive hinein muß gearbeitet werden durch Gei­steswissenschaft. Es muß soviel gefunden werden - und es wird ge­funden werden -, daß ein entsprechendes Gegengewicht gegen diese Tendenzen da sein kann in der Weltenentwickelung.

Also wir sind da, sagte ich, erst im Anfange, und es wird immer mehr und mehr kommen. Gewiß, bis zu einem gewissen Grade aber nur, können heute die sechs höheren Grade eben wirklich durch-gearbeitet werden. Nun, statt dessen aber kann man ein ganz ande­res Spiel treiben. Statt dessen kann man das Spiel treiben, daß man Leute die drei ersten Grade bloß symbolisch durchmachen läßt. Und es gibt ja heute in der Tat Bruderschaften, in denen nicht mehr gegeben wird als Symbole. Ja, die Leute sind sogar stolz darauf, daß nicht mehr gegeben wird als Symbole. Sie werden aufgenommen in den ersten Grad, befördert in den zweiten Grad, in den dritten Grad, und sie lernen eigentlich nur die Symbolik, ohne irgend etwas Geisteswissenschaftliches in sich aufzunehmen. Und oftmals, wenn man Leute fragt, ob sie denn nun wirklich so zufrieden sind damit, daß sie gewisse Zeremonien und Handgriffe lernen, Zeichen lernen, daß sie sehen, daß gewisse symbolische Handlungen um sie herum im Tempelraum vollbracht werden, dann sagen sogar viele: Ach ja, wir sind gerade damit zufrieden, dann braucht man sich nichts Be­sonderes bei den Sachen zu denken, dann kann jeder die Auslegung haben, welche er will. - Aber der astralische Leib, er wirkt in den Ätherleib hinein ein wirkliches Wissen, und sie erzeugen also Leute auf diese Weise, die in ihrem Ätherleib ein umfassendes Wissen haben. Und gehen Sie heute die - verzeihen Sie den Ausdruck, aber man muß ja manchmal treffende Ausdrücke gebrauchen - bornier-testen Freimaureronkels durch, dann werden Sie sehen, daß diese in ihrem Ätherleib - nicht in ihrem physischen Leib, in ihrem bewuß­ten Wissen, sondern in ihrem Ätherleib - ein ungeheures Wissen haben, besonders wenn sie es bis zum dritten Grad gebracht haben. Ein ungeheures unterbewußtes Wissen haben sie. Dieses Wissen,

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das durch Symbolik eben überliefert werden kann, das kann nun ver­wendet werden in der angedeuteten Weise redlich und unredlich. Und sehen Sie, nun gibt es ja die verschiedensten okkulten Verbin­dungen, wiederum, ich möchte sagen, in zwei Polen. Der eine Pol, der trägt einen weltlich-christlichen Charakter, der andere Pol trägt einen kirchlich-christlichen Charakter. Ebenso wie man die Frei­maurer zu rechnen hat zu dem weltlich-christlichen Charakter der symbolischen Verbrüderungen, hat man die Jesuiten zu rechnen zu der kirchlich-symbolischen Verbindung. Denn der Jesuit wird ebenso durch drei Grade durchgeführt, ebenso mit einer Symbolik versehen, und er lernt gerade durch diese Symbolik jenes ungeheuer Wirk­same in seiner Sprache. Daher sind jesuitische Kanzelredner so un­geheuer wirksam, weil sie wissen, wie man eine Rede aufbaut, damit man wirken kann gerade auf die ungebildete Masse, wie man hinter­einander gewisse Steigerungen macht. Es ist manchmal so, daß es dem gebildeten Menschen ungemein trivial vorkommt, aber es ist ungeheuer wirksam. So zum Beispiel wollte ich einmal sehen, okkult ansehen die Wirkung, die sich zuträgt bei einer wirksamen Jesuiten­Predigt. Ich hörte mir an - es ist jetzt schon viele Jahre her - den Pater Klinkowström, einen der wirksamsten Jesuiten-Prediger, der vor einer versammelten Menge - selbstverständlich lauter ungebil­deten Menschen - die Notwendigkeit der österlichen Beichte dar­legen wollte. Nun, sehen Sie, ungefähr in der folgenden Weise legte er die Notwendigkeit der österlichen Beichte dar. Er wollte diesen ungebildeten Menschen klar beweisen, so daß man es wußte

- sie verstehen es nicht, aber sie sehen es ein als etwas Selbstver­ständliches -, daß nicht der Papst durch seine Willkür die österliche Beichte eingesetzt hat, sondern daß sie von höheren, göttlichen Mächten eingesetzt wurde. Und da sagte er:

Meine lieben Christen! Denkt euch einmal, ihr seht eine Kanone. An der Kanone einen Kanonier - der hält die Zündschnur - und denjenigen, der befiehlt. Also es soll geschossen werden. Denkt euch, liebe Christen, es soll geschossen werden! Was geschieht, wenn geschossen werden soll? Erwartungsvoll steht der Kanonier vor seiner Kanone. Auf was wartet er? Auf das: Feuer! Er wartet

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auf das Kommando: Feuer! In seiner Seele lebt das. Er weiß ganz genau: Das muß kommen. Und dann wird es kommen: Feuer! Er schießt los. Die Kanone donnert hinaus. Stellt euch diese Dinge, liebe Christen, ganz genau vor. Denkt euch die Kanone als die Ver­einigung der Gebräuche über die österliche Beichte. Einmal waren die Gesetze, die Gebote über diese österliche Beichte nicht gegeben. Aber die Kanone stand da. Sie sollten gegeben werden. Der Papst stand da als der Kanonier mit der Zündschnur. Vom Himmel aus, geliebte Christen, kommandierte man : Feuer! Der Papst hörte es -Zündschnur! Die Kanone wurde losgeschossen! Die österliche Beichte war da! - Ist nicht ein vollständiger Vergleich zu ziehen zwischen dieser Kanone und dem Geben des Gebotes über die öster­liche Beichte? Und da gibt es Ungläubige! Ungläubige gibt es, ge­liebte Christen, welche behaupten, der Papst habe die österliche Beichte erfunden! Ihr braucht euch nur zu erinnern an die Kanone. Auf das Kommando: Feuer! wird sie losgeschossen. Werdet Ihr jemals sagen, dieser Kanonier, der auf das Kommando «Feuer» die Kanone losschießt, habe das Pulver erfunden? Ebensowenig, geliebte Christen, könnt ihr sagen, der Papst habe die österliche Beichte er­funden. Nicht der Papst hat die österliche Beichte erfunden, nicht der Kanonier hat das Pulver erfunden!

Alle waren überzeugt. Die ganze Kirche war überzeugt. Das ist ungeheuer geschickt gemacht, ungeheuer geschickt gemacht in Bil­dern. Diese Leute gehen auch ihre drei Grade durch in ihrer Art. Und nun gibt es auch wiederum von dieser Sorte natürlich die ver­schiedensten Schattierungen, so wie auf der anderen Seite nicht alle okkulten Verbrüderungen maurerische Verbrüderungen sind. Es gibt ja sogar in Deutschland hier die Illuminaten und dergleichen.

Aber nun gehen sowohl auf der einen wie auf der anderen Seite über die drei unteren Grade die drei anderen hinaus. Es sind die drei oberen. Die die höheren Grade haben, und diejenigen, die die Inhaber der besonders hohen Grade sind bei gewissen Bruderschaf­ten - selbstverständlich nicht bei allen, nur bei gewissen Bruder­schaften -, die bilden eine Art Gemeinschaft, so daß es zum Beispiel durchaus möglich ist, daß ein Oberer einer Jesuitengemeinde zu

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einer solchen Gesellschaft dazugehört. Die Jesuiten bekämpfen selbstverständlich aufs wütendste die freimaurerischen Gemeinden, die freimaurerischen Gemeinden bekämpfen aufs wütendste die Jesuiten-Gemeinden; aber Obere der Freimaurer und Obere der Jesuiten-Gemeinde gehören den höheren Graden einer besonderen Bruderschaft an, bilden einen Staat im Staat, der die anderen um­faßt. Denken Sie sich, was man in der Welt wirken kann, wenn man so wirken kann, daß man auf der einen Seite zum Beispiel der Obere einer freimaurerischen Gemeinde ist, die also als Instrument dient, um zu wirken, und man sich verständigen kann mit dem Oberen einer Jesuiten-Gemeinschaft, um eine einheitliche Handlung vorzu­nehmen, die nur vorgenommen werden kann, wenn man einen sol­chen Apparat zur Verfügung hat: Auf der einen Seite läßt man los die Brüder Freimaurer, die durch alle Kanäle irgend etwas furcht­bar stark vertreten. Das muß vertreten werden. Wenn man aber nur auf der einen Seite die Stiere losläßt, dann, nicht wahr, wird es nichts. Man muß auf der anderen Seite die Sache bekämpfen lassen mit demselben Feuer, mit demselben Enthusiasmus. Denken Sie, was man wirken kann, wenn man einen solchen Apparat zur Ver-fügung hat! In einer besonders wirksamen Weise zum Beispiel ist gewirkt worden mit einem solchen Apparat, der zu gleicher Zeit Jesuiten und Freimaurerisches in Bewegung setzte, ohne daß man auf der Jesuitenseite und ohne daß man auf der freimaurerischen Seite etwas wußte davon, in einem gewissen Lande, das ja so etwa im Nordwesten von Europa liegt, zwischen Holland und Frankreich. Da waren besonders starke Wirkungen ausgegangen - nicht in der allerletzten Zeit, aber lange Zeit hindurch -, die sich sowohl der einen wie der anderen Strömung bedienten und die gar mancherlei wirken konnten.

Die Zeit ist vorgerückt. Ich werde heute über acht Tage Sie in noch konkretere Gebiete auf diesem Feld hinunterführen, meine lieben Freunde. Ich mußte heute auch die abstrakteren Seiten der Sache ins Auge fassen. Den ganzen Aufbau mußten wir haben, weil man ja doch dann nur verstehen kann, was in der äußeren Welt auf diesem Gebiete in dieser Weise wirken kann.

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FÜNFTER VORTRAG Berlin, 11. April 1916 Die Uroffenbarung der Menschheit

In der schweren Zeit, in der wir leben, und deren Schwierigkeiten täglich neu und vergrößert fühlbar werden, ziemt es sich wohl, ge­rade solche Betrachtungen hier in unserem Kreise anzustellen, welche geeignet sind, uns bekannt zu machen mit den großen ge­schichtlichen Menschheitszielen und Menschheitsimpulsen. Dabei liegt der Gedanke zugrunde, daß es gerade tief, tief nötig ist in unserer Zeit, sich an das Große, Bedeutungsvolle, das sich aus der geistigen Welt uns offenbaren kann, zu wenden, weil dasjenige, was wir jetzt durchleben, ganz gewiß Zeiten heraufbringen wird, in denen man gar sehr bedürftig sein wird desjenigen, was der Men­schenseele Stärkung und Kraft und Trost und Hoffnung und Zuver­sicht aus den geistigen Welten heraus bringen kann. Wir müssen diesen Gedanken um so mehr hegen, als wir zugleich in einer Zeit leben, in der richtige geistige Vertiefung, das heißt Vertiefung in das wahre Geistesleben, das der Mensch braucht, wiederum für die Menschheit unendlich schwierig ist, unermeßlichen Hindernissen eigentlich begegnet. Es sind Hindernisse, für die in einem ge­wissen höheren Sinne der Mensch der Gegenwart eigentlich gar nichts kann, die sich ihm auftürmen einfach aus den Bedingungen und Entwickelungsimpulsen der Gegenwart heraus, die ihn zurück-halten vor einem wahren Ergreifen des geistigen Lebens, wie es eben so nötig wird, nötiger, möchte man sagen, in unserer Gegen­wart von Woche zu Woche, und besonders nötig sein wird in der Zeit, die auf die unsrige nahe folgt, und die in vielen Beziehungen keineswegs leichter sein wird als diejenige unserer unmittelbaren Tage.

Nun habe ich versucht, Betrachtungen anzustellen vor Ihnen in den vorangehenden Stunden über den Zusammenhang gewisser, in einzelnen geistigen Gemeinschaften gepflogener Erkenntnisse und

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Verrichtungen mit dem allgemeinen Entwickelungsgange der Menschheit. Heute möchte ich diese Betrachtungen in einer gewis­sen Beziehung vertiefen, obwohl dasjenige, was ich zu sagen habe, ganz unabhängig sein wird von dem, was gesagt worden ist und ohne das auch verstanden werden kann. Nur darauf möchte ich noch einmal aufmerksam machen, daß ich ja ausgeführt habe, wie gewissermaßen über die ganze gegenwärtige gebildete Welt, auch uber die ungebildete, ja, vielleicht sogar noch mehr, wenn auch in anderem Sinne, gewisse Menschengemeinschaften verbreitet sind, welche okkultes Wissen pflegen und welche auch okkultes Wissen, wie ich ja gezeigt habe, dazu verwenden, um es in einer gewissen Weise einfließen zu lassen in dasjenige, was sie tun und wodurch sie versuchen, den Entwickelungsgang der Menschheit in ihrer Art im Rechten oder im Nicht-Rechten zu beeinflussen. Nun ist eines bemerkbar in einem großen Teile solcher geistigen Gemeinschaften, namentlich derjenigen, die diese geistigen Gemeinschaften herauf-entwickelt haben bis in unsere Zeit und dasjenige, was in unserer Zeit als eine besondere Notwendigkeit neu hereintreten muß in sol­chen Gemeinschaften, noch nicht verstehen, die also zwar die alten Traditionen haben, die alten Überlieferungen, aber noch nicht ver­stehen, was hineinkommen muß durch dasjenige, was sich jetzt offenbart aus der geistigen Welt heraus. Bei diesen geistigen Ge­meinschaften also, die noch nicht auf der vollen Höhe der Zeit stehen können, ist gewissermaßen eine gemeinsame Formel da, die eine große Reihe dieser Gemeinschaften beherrscht. Und diese For­mel ist die, durch die sie sprechen von der schöpferischen Gewalt, welche die Welten durchpulst und durchzieht. Wenn sie ihren Sinn richten wollen auf diese schöpferischen Gewalten, die die Welt durchpulsen und durchziehen, auf das Göttlich-Geistige also, was die Welt durchpulst und durchzieht, so sprechen diese Gemein­schaften von dem «erhabenen Baumeister der Welt». Das ist eine vielgebrauchte Formel: von dem erhabenen Baumeister der Welt.

Für denjenigen, der aus der Geisteswissenschaft heraus den Gang der Menschheitsentwickelung kennt, beweist die Tatsache, daß gesprochen wird, sagen wir zum Beispiel in gewissen maurerischen

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Gemeinschaften, aber auch in anderen, von dem erhabe­nen Baumeister der Welten, das uralte Bestehen solcher Gemein­schaften und ihr Zurückgehen auf uralte Einrichtungen. Es beweist, daß alles dasjenige, was historisch mit einem gewissen Rechte gesagt werden kann über ein späteres Entstehen solcher Gemeinschaften, unrichtig ist, daß in Wahrheit solche Gemeinschaften doch weit, weit zurückgehen, wenn sie auch früher andere Formen gehabt ha­ben, und zwar in ununterbrochener Folge zu uralten Gemeinschaf­ten, die da im vierten nachatlantischen Zeitraum bei den Griechen, bei den Römern, aber auch bei den alten Ä gyptern bestanden haben, ja, wir könnten noch weiter zurückgehen. Und von diesen Gemein­schaften uralter Zeiten leiten sich dann auch die gegenwärtigen Gemeinschaften her, die solcher Art sind, wie ich es beschrieben habe, nur daß diese gegenwärtigen gleichsam nicht in einem so un­mittelbaren Verkehr ihrer Vorsteher stehen mit der geistigen Welt, wie die früheren Gemeinschaften, sondern dasjenige, was sie als Wissen haben, mehr als überliefertes Wissen bewahren.

Wenn man verstehen will, was die Formel von dem erhabenen Baumeister der Welten bedeutet, oder vielmehr warum gerade die Formel von dem erhabenen Baumeister der Welten, dem großen Architekten des Universums, angewendet wird, dann muß man an verschiedenes erinnern, was gegenwärtig eigentlich durchaus schon gewußt werden könnte, aber durchaus noch nicht in das allgemeine Bewußtsein der Menschheit, auch der gelehrten Menschheit, einge­drungen ist. In einzelnen Schriften aufgeklärterer Theologiekundiger oder Altertumskundiger finden Sie heute nämlich schon den Begriff der Ur-Offenbarung. Was nennen die Leute Ur-Offenbarung?

Dieser Begriff der Ur-Offenbarung tritt in solchen &hriften auf, die heute durchaus schon in der wissenschaftlichen Welt einen ge­wissen Wert haben, die nicht so als verrücktes Zeug angesehen wer­den wie unsere Schriften. Also es tritt der Begriff der Ur-Offen­barung immerhin schon in denjenigen Schriften auf, die wenigstens bis zu einem gewissen Grade ernst genommen werden in dem Um­fang der vier Fakultäten. Nun, dieser Begriff der Ur-Offenbarung, der kann einem besonders klar werden, wenn man versucht, sich bekannt

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zu machen mit alten Religionsschriften. Man braucht eigent­lich nur zurückzugehen bis zu den Schriften des Gotama Buddha. Da findet man, wenn man zu diesen Schriften, zu älteren Religions­urkunden überhaupt zurückgeht, wenn man nur unbefangen genug ist, wenn man nicht so töricht ist, wie zum Beispiel der Schreiber uber gewisse ägvptische Zustände, der im letzten «Zeitgeist» ge­schrieben hat - wenn man also einigermaßen unbefangen ist, so merkt man in den alten religiösen Schriften, daß die Leute, die mit dem Zustandekommen dieser Schriften etwas zu tun gehabt haben, vor Jahrtausenden ein Wissen gehabt haben, das verloren gegangen ist für die Menschheit, das allmählich, ich möchte sagen, versickert ist unter dem zunehmenden Materialismus. Wie gesagt, Sie brau­chen nur mit Unbefangenheit die Schriften, die Ihnen erreichbar sind von dem Gotama Buddha, zu lesen, so werden Sie sehen: Was da gesagt wird, ist auf Grundlage eines großen Wissens, das aber schon für ihn überliefert sein muß, das auf viel, viel ältere Zeiten zurückgeht, auf ein Ur-Wissen, aufgebaut. Nun, auf diejenige Art und Weise, wie die Menschen jetzt ihr Wissen bekommen in den vier Fakultäten, konnte selbstverständlich dieses Wissen nicht er­reicht werden. Das, glaube ich, wird auch ein unbefangener Be­trachter der gegenwärtigen Gelehrsamkeit nicht gerade in Abrede stellen. Und ein Befangener erst recht nicht, denn ein Befangener lehnt all dieses Wissen ab und betrachtet es als törichtes Zeug. Nicht wahr, historisch betrachtet er es und läßt Bücher, die sich historisch darüber ergehen, ja gewiß gelten, wenn sie Belegstellen haben, Anführungen machen können. Aber das Wissen selber, das läßt er nicht gelten. Also kann er auch durchaus nicht zugeben, daß man auf dem gegenwärtigen natürlichen Wege zu solchem Wissen kommen könne, denn er läßt es ja nicht gelten, nicht wahr?

Also auf ein Ur-Wissen werden wir da zurückgeführt. Wir müs­sen danach annehmen - und jeder Unbefangene muß das nach den alten Religionsurkunden annehmen -, daß man zurückgehen kann von jetzt in die Zeiten der Menschheitsentwickelung und daß man da kommt, von der jetzigen Zeit, in der wir es auf allen Gebieten so herrlich weit gebracht haben, bis zu dem furchtbaren gegenwärtigen

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Morden sogar gebracht haben, nicht wahr, zurückgehend durch die früheren Jahrhunderte, auf dasjenige, was die Leute früher gewußt haben, was für unsere Zeit, die es so herrlich weit gebracht hat, so ein verwirrtes Zeug ist, wie wir es bei Jakob Böhme, Parace/sus und so weiter finden. Und dann kommt man zurück auf die Zeit, wo die Leute in Retorten alchimistisches Zeug getrieben haben, und dann immer weiter und weiter, wo sie, selbst wenn sie gelehrt waren, nach den Vorstellungen der Gegenwart nun einmal «abergläubisch» waren, und dann geht es immer weiter zurück. Aber wir sagen, wenn der Unbefangene nun die Jahrhunderte durch das Römertum, Griechentum, Ägyptertum zurückgeht, so kommt er zurück zu einer Menschheit, die einmal ein Wissen gehabt hat, das ausgebreitet war uber die Welt auf eine Weise, wie es der gegenwärtige Mensch nicht erringen kann. Eine Vorstellung ist ja natürlich für diesen gegenwärtigen Menschen schwer zu gewinnen, denn er versetzt in die Zeit, von der wir da sprechen, den Menschen, der eigentlich erst noch ein Affe war, Pithecanthropus erectus, den Affenmenschen. Aber trotz all dieser Theorien von dem Affenmenschen muß der Unbefangene, wie gesagt, aus wirklichen Urkunden selbst heute an-nehmen, daß da ursprünglich ein Wissen war, welches der Mensch eben mit seiner gegenwärtigen Gescheitheit nicht erreichen kann, das unendlich tief ist und das sich über die geistigen Welten in einem hervorragenden Maße so erstreckt, daß in diesem Wissen ent­halten ist nicht nur ein Bewußtsein davon, daß man hinaufsteigen kann in geistige Welten, sondern daß man in diesen geistigen Wel­ten andere Wesen findet, die nicht im Fleisch verkörpert sind, Wesen, die wir heute zusammenfassen, wenn wir von den höheren Hierarchien der Angeloi, Archangeloi und so weiter sprechen. Wir finden sogar in diesen uralten Religionsschriften, daß die Leute von diesen höheren Geistwesen wie von Wesen sprechen, mit denen sie verkehrt haben. Wie gesagt, das läßt sich aus den Schriften selber nachweisen.

Was liegt dieser Tatsache eigentlich zugrunde? Nun kann man ja von einem gewissen Gesichtspunkte einer Initiiertenstufe un­mittelbar hinter dieses Geheimnis, das hiermit angedeutet ist, kommen.

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Aber man kann schon, ich möchte sagen, von einem gewissen niedrigeren Initiations-Standpunkte, von dem ganz gewöhnlichen leicht zu erreichenden Initiations-Standpunkte, durch einen Analo­gieschluß zu dem kommen, was eigentlich diesem Geheimnis zugrunde liegt. Wir wissen ja, daß um uns herum sich in der Welt nicht bloß dasjenige ausbreitet, wovon die heutige Sinnes-Wissen­schaft spricht, sondern daß dieser Natur, von der wir heute spre­chen, zugrunde liegt die sogenannte elementarische Welt, zugrunde liegt die Welt, für die wir nur Bezeichnungen haben, wenn wir auf die alte Mythologie zurückgehen, in den verschiedenen Elementar-wesen, die zugrunde liegen dem mineralischen Reich als Gnomen, dem wässerigen, pflanzlichen Reich als Undinen, dem luftförmig belebten Reiche als Sylphen, und dem ganzen Irdischen als Sala­man derwesen.

Man muß sich schon, wenn man nicht gerade in dieser erleuch­teten Gesellschaft ist, sogar heute schämen, von diesen Dingen im Ernste zu sprechen; aber wir sind ja unter uns und können davon spre­chen. Es liegen also dieser Welt, der Natur, die uns umgibt, elemen­tarische Wesenheiten zugrunde. Nun darf man sich nicht vorstellen, daß diese elementarischen Wesenheiten nur dazu da sind, um sich von den Menschen erkennen zu lassen, die hellsichtig werden, und daß sie sich im übrigen nur auf die faule Haut zu legen brauchen und nichts zu tun haben. Das darf man sich natürlich nicht vorstellen, sondern diese Wesenheiten haben ihre gute Aufgabe in der Welt, diese Wesenheiten haben sehr viel zu tun. Sie haben zu tun in der Art, von der man allerdings meint in der äußeren materialistischen

Wissenschaft: es macht sich alles von selbst. Aber es macht sich nicht von selbst! Derjenige, dessen Augen geöffnet sind für diese elementarische Welt, der sieht, wie diese elementarischen Wesen im Grunde genommen wirklich im Verlaufe des Jahres eine Art Jahreskursus durchzunehmen haben: wie in anderer Weise gewirkt wird von den geistigen Welten herunter auf diese Wesen im Früh­ling, im Sommer, im Herbst, im Winter, das heißt wie sie hier auf der Erde um uns herum ein elementarisches Reich ausbreiten, das in der angedeuteten Weise dem Naturreich zugrunde liegt, und wie

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sich herunterströmend ergießt, man kann nicht sagen ein Unterricht, aber etwas, was an Kräften sich ergießt, damit diese Wesen im Frühling die Macht bekommen, aus der Erde die Pflanzendecke her­auszuformen. Es tragen herunter die Kräfte der Geister der Form gewisse Geisteswesenheiten, die sie diesen elementarischen Wesen­heiten mitteilen, so daß eine neue Formenwelt im Frühling heraus-sprießt. Indem es dem Sommer zugeht, bekommen sie gleichsam einen späteren Kursus, so daß sie dasjenige wieder bewirken kön­nen, was gegen den Sommer zu sich vollzieht. Und so vollzieht sich im Jahreslauf eine Wechselwirkung zwischen den Geistern der höheren Hierarchien und den elementarischen Wesen, die weben und leben in der Natur, die uns umgibt. Das heißt, wir haben es fortwährend zu tun mit einem Auf- und Abschweben, mit einem Auf- und Abströmen von Geistwesenheiten der höheren Hierar­chien, deren Zöglinge, deren Schüler die Wesenheiten sind, welche die belebenden Kräfte wieder abzugeben haben für alles dasjenige, was im Jahreslauf sprießt und sproßt. Denn alles dasjenige, was im Jahreslauf sprießt und sproßt, was entsteht und vergeht, alles das ist nicht bloß herausgewachsen aus unserer Erde, sondern steht in unmittelbarer Wechselwirkung mit dem Himmlisch-Geistigen. Und diejenigen Menschen, die glauben, daß die Pflanzen, daß die Tiere, die da aufleben in jedem Frühling, so aus den Kräften der Erde nur herauswachsen, diese Menschen sind zu vergleichen, sagen wir, mit Würmern, die unter der Erdendecke immerfort hinkriechen und niemals an die Oberfläche der Erde kommen, und die glauben wür­den, indem sie von Pflanzenwurzel zu Pflanzenwurzel kriechen: Es gibt nur Pflanzenwurzeln, und dasjenige, was da oberhalb der Erde ist, in das sie niemals einen Blick tun, das werden sie selbstverständ­lich ableugnen. Und wenn dann doch einmal ein Wurm kommt und ein Loch sich bohrt und heraufkommt und sieht, daß da oben Blät­ter und Blüten sind, daß von den Wurzeln etwas heraufreicht in das Licht der Sonne, und er wiederum zurückkommt und den Würmern, die unten kriechen und nur die Pflanzenwurzeln kennen, erzählt davon, dann werden sie sagen: Du bist ein ganz verrückter Wurm, du bist ein ganz verdrehter Wurruzwickel, das gibt es ja alles nicht,

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wovon du uns da erzählst! - Ja, wir haben dies vielleicht unter den Würmern nicht, die Würmer sind vermutlich gescheiter; aber unter den Menschen haben wir das allerdings.

Also wie gesagt, dasjenige, was sprießt und sproßt im Jahreslauf, das steht in unmittelbarer Wechselwirkung mit den Wesen, die ihre Kräfte auf- und abströmen lassen und sie ergießen in diese elemen­tarische Welt. So aber, meine lieben Freunde, wie heute Sylphen und Gnomen und Undinen und Salamander ihre Einflüsse erhalten von diesen Wesen der höheren Hierarchien, die auf- und niederstei­gen, je nach dem Jahreslauf, so bekam der Mensch, als er noch nicht so dicht mit seinem physischen Leibe verwachsen war, in alten Zei­ten den Unterricht von den auf- und abschwebenden Geistern der höheren Hierarchien. Und all die Sagen und Mythen, die geblieben sind und die uns sagen, daß in alten Zeiten der Mensch den Unter­richt solcher Wesen genossen hat, die selber herunterstiegen aus der geistigen Welt, diese Mythen beruhen durchaus auf Wahrheit. Der Mensch befand sich selber unter denjenigen Geistern, unter denen sich heute nur Gnomen, Sylphen, Undinen und so weiter befinden. Und während diese Geister diejenigen Kräfte empfangen, durch die sie die Formen, die im Jahreslauf aus der Erde auf- und absprießen, entwickeln, bekam der Mensch in alten Zeiten von den auf- und ab-schwebenden Wesen der höheren Hierarchien seinen Unterricht. Und dasjenige, was er da bekam in uralten Zeiten, das ist das, dessen letzter Rest geblieben ist in solchen Schriften, die uns heute noch aufbewahrt sind, und aus denen ein Unbefangener nachweisen kann - wie gesagt, aus äußeren Schriften -, daß solch eine Ur­Offenbarung stattgefunden hat.

Also eine solche Ur-Offenbarung hat stattgefunden. Und in den­jenigen Zeiten, die vorangehen dem achten vorchristlichen Jahr­hundert, sind die letzten Reste dieser Ur-Offenbarung zu der Menschheit heruntergeflossen. Geradezu können wir das Jahr 747 angeben, in dem gewissermaßen der Mensch durch die weitere Fntwickelung seiner physischen Natur ausgeschlossen worden ist von der unmittelbaren Teilnahme - selbstverständlich geschieht ja das alles nach und nach - an solchem Unterricht, wie ich ihn jetzt

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angedeutet habe. Alles dasjenige, was alte Wissenschaft war, ist auf diese Weise durch den unmittelbaren Unterricht der geistigen Wesenheiten in die Menschen hineingeflossen. Und die uralten Wissenschaften, die überliefert sind und die heute nicht mehr ver­standen werden, sind auf diese Weise den Menschen zugekommen. Die letzte Wissenschaft nun, die auf diese Weise den Menschen zugekommen ist, müssen wir einmal ins Auge fassen. Was hat denn der Mensch im Laufe der Zeit, von der ersten Zeit an in der alten Atlantis, wo solche Ur-Offenbarung heruntergeflossen ist, erfah­ren? Er hat erfahren den Zusammenhang, in dem er selbst als Mensch steht mit den geistigen Welten. Denn der Mensch ist ein Mikrokosmos, und in ihm spielen alle die Kräfte und Vorgänge im Kleinen sich ab, die sonst sich in der großen Welt abspielen. Das Letzte, was der Mensch auf diese Weise gelernt hat, was von außen ihm zugeflossen ist, das ist die Geometrie und Arithmetik. Und der­jenige, der heute noch Geometrie und Arithmetik im wahren Sinne des Wortes auf sich wirken läßt, wird noch etwas verspüren davon, daß darin etwas anderes an ihn herankommt als anderes Wissen. Anderes Wissen sammelt man so aus der Erfahrung zusammen. Aber Geometrie und Arithmetik ist etwas, worinnen man spürt, daß es wahr ist abgesehen von der äußeren Erfahrung, abgesehen von aller Sinneserfahrung. Kein Mensch kann dadurch, daß er es sich aufzeichnet und in der Sinneserfahrung ein Dreieck vorstellt, bewei­sen, indem er abmißt die Winkel, daß dieselben hundertachtzig Grad sind. Da kann er höchstens darauf kommen; aber beweisen kann er es sich nur durch das innere Gedankenerlebnis. Und ebenso kann sich kein Mensch beweisen, daß drei mal drei neun ist, bloß durch äußeres Zählen, sondern nur durch innere Vorstellung. Man braucht da keine Erbsen oder Bohnen zu haben, auch nicht die Fin­ger, sondern man braucht es sich nur innerlich vorzustellen, und man wird innerlich zu der Wahrheit kommen: drei mal drei ist neun.

Im weiteren Umfange aber liegt dem, was da als Geometrie und Arithmetik gedacht wird, zugrunde alles dasjenige, was in den For­men der Baukunst zum Ausdruck kommt. Schon in den Zeiten der

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Ägypter wurde angeschlossen an noch Älteres, an ein Urwissen, darin geoffenbart wurde die Geometrie und Arithmetik. In den griechisch-lateinischen Zeiten wurde dann dasjenige, was altes Wis­sen war, in den Mysterien den Menschen so vermittelt, daß man ihnen sagte: Wenn du dich recht in dich vertiefst, dann bringst du das aus dir heraus, was in früheren Zeiten, in denen du auf der Erde gelebt hast, von den Geistern der höheren Hierarchien geoffen­bart worden war. - In den ägyptischen Mysterien brauchte man das nicht zu tun, da kamen die hohen Wesen noch selber herab. In der griechisch-lateinischen Zeit versammelte der Meister seine Schüler, indem er ihnen sagte: Ihr wart da in früheren Inkarnationen, da gingt ihr durch eine Menschenentwickelung hindurch, woran teil­nahmen die Geister der höheren Hierarchien. Das hat sich in euren Seelen festgesetzt - holt es herauf! - So ließ der Meister der grie­chischen, der römischen Mysterien noch dasjenige heraufholen, was auf diese Weise in der Menschenseele war. Denn alles ist in der Menschenseele zu finden, weil in der Ur-Offenbarung alles durch die Geister in die Menschen heruntergeströmt ist. Was wir heute aus uns herausbringen, wirklich aus uns herausbringen, das haben wir ja schon einmal durchlaufen im Unterricht von den höheren Hierarchien aus.

Dann kam das Jahr 1413/14. Und da kann sich der Mensch nicht mehr dessen bewußt werden - denn da besonders beginnt das mate­rialistische Zeitalter -, was in ihm aus früherem spirituellem Unter­richt eigentlich enthalten ist. Von da ab deckt die dichte Vereini­gung der Seele mit dem physischen Leibe dieses, was da in unseren Seelen ist, zu. Aber in der ganzen Zeit von 747 vor Christus bis 1413 war das möglich, daß das heraufgeholt wurde aus der Seele, was in früheren Zeiten auf die angedeutete Weise eingeströmt ist. Den­ken Sie, wie solch ein Mensch, insbesondere in der alten Griechen-zeit, nun eigentlich empfunden haben muß. Gerade in der alten Griechenzeit hat er so empfunden, wie ich Ihnen jetzt andeute. Er hat sich gesagt: Geometrie, wie sie sich in den Formen eines Bau­werkes zum Ausdruck bringt, ist früher heruntergeflossen durch göttlich-geistigen Unterricht aus der Außenwelt. Es hat sich dargestellt.

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Der Mensch war eingesäumt von Formen. Jetzt, wenn der Mensch ein Dreieck zeichnen will, nimmt er die Kreide und zeichnet sich das auf. Das brauchte der alte Grieche noch nicht, sondern der brauchte sich nur auf sich zu besinnen, dann konnte er noch gleich­sam hellsehend, ätherisch-hellsichtig, das Dreieck vor sich sehen. Also er konnte dasjenige, was Geometrie war, noch hellsichtig vor sich hinzeichnen. So war es ja auch in der Urzeit mit der Schrift, aber in einer älteren Urzeit. Da brauchte man nicht bloß auf Papy. rus zu schreiben, sondern man schrieb auch vor sich hin, hellsichtig schrieb man vor sich hin. Aber wie gesagt, dasjenige, was in die Formen der Baukunst einfloß, setzte der Mensch rings um sich herum, so daß er also so unterrichtet wurde in einer gewissen Zeit der griechischen Mysterien, daß ihm gesagt wurde: Jetzt besinne dich ganz deutlich auf dich! Wenn du dich auf den göttlichen Men­schen, der in dir lebt, besinnst, wenn du also nicht deinen vorüber­gehenden Erdenmenschen nur ins Auge faßt, sondern wenn du dich auf den göttlichen Menschen in dir besinnst, dann wird sich um dich herum ein Bauwerk aufbauen, das aus den Formen der Geometrie zusammengefügt ist; du bist mitten darinnen.

Wie die Spinne ihr Spinnennefz um sich herum spinnt, so spann ätherisch um sich herum solch ein Schüler der griechischen Myste­rien; er spann sich noch das Ganze geometrisch, und in das stellte sich ihm dann das andere Menschenwissen hinein. Das brauchte er dann nur um sich herum äußerlich herzustellen: dann hatte er den griechischen Tempel. Der griechische Tempel ist nichts anderes, als die Ausfüllung mit physischer Materie desjenigen, was auf diese Weise sich in geometrischen Formen hellsichtig um den Menschen hinstellt. Der griechische Tempel gibt nur die Steine hinein in das, was sich so hinstellt. Daher hat der Grieche auch immer die Tendenz, in den Tempel eine Götterfigur hineinzustellen, wie er sich eigent­lich seinen eigenen göttlichen Menschen da drinnen denken muß. So baut er in den Zeiten, in denen die Tempel wirklich gebaut wer­den, nicht einfach einen Tempel hin, sondern innen das Götterbild, die Pallas Athene oder irgendeinen anderen Gott, weil das zusam­mengehört, weil das gleichsam dasjenige ist, was um sich herum

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das Bauwerk errichtet: Der Mikrokosmos mit dem zusammen, was aus dem Makrokosmos heraus sich offenbart, aber jetzt natürlich von innen heraus sich offenbaren muß aus dem angedeuteten Grunde. Also Sie sehen hier den Zusammenhang des Bauens des Tempels mit einem ursprünglichen Hellsehen.

Daher fühlten diejenigen, die in dieser Zeit bauten, in der Bau­kunst doch etwas Göttliches, etwas, was mit allen inneren Offen­barungen des Menschen im höchsten Maße zusammenhängt. Sie fühlten, daß man nicht so wie heute baut, wo man auf der Hoch­schule allerlei lernt und dann baut. Deshalb finden ja die Leute so unnatürlich, daß wir aus unserer eigenen Geisteswissenschaft heraus den Dornacher Bau bauen wollen. Sie fänden es natürlich, wenn ihn ein gewöhnlicher Baumeister baute, und von dem gewöhnlichen Baumeister würden sie nicht verlangen, daß er irgendein Sterbens­wörtchen wüßte von unserer Geisteswissenschaft. Denn heute weiß man nicht, daß dasjenige, dem der Bau dient, in der ganzen Umge­bung, in dem ganzen Bauwerke sich zum Ausdruck bringen muß. Aber in der Zeit, in der der Mensch den Bau empfunden hat wie die Offenbarung der Geister der Form, da war es so. Daher die eigen­tümliche Art, in der noch Vitruvius, der große Baumeister aus dem Zeitalter des Augustus, von dem Baumeister spricht. Da spricht er von den moralischen Eigenschaften, die der Baumeister haben muß, von seinem Sinn für den göttlichen Sinn des Universums. Und dann möchte ich Ihnen eine merkwürdige Stelle aus Vitruv vorlesen, die Ihnen zeigen soll, was Vitruv verlangt von dem Baumeister. Der sagt von dem Baumeister: «Er muß daher nicht allein Naturgaben, sondern auch Lernbegierde besitzen; denn weder Genie ohne wissen­schaftliche Bildung, noch wissenschaftliche Bildung ohne Genie kann einen vollkommenen Künstler machen. Er muß fertig im Schreiben, erfahren im Zeichnen, der Geometrie kundig, in der Optik nicht unwissend, in der Arithmetik unterrichtet sein; er muß viele Geschichten wissen, die Philosophie fleißig gehört haben, Musik verstehen, von Medizin Kenntnis haben, mit der Rechts-gelehrsamkeit bekannt sein und mit der Sternkunde samt dem Him­melslaufe sich vertraut gemacht haben.»

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Warum muß der Baumeister nach Vitruvs Anschauung dies alles kennen? Aus dem Grunde, weil die Formen des Baues die Offen­barungen sind der höheren Hierarchien - dessen war man sich be­wußt -, weil man in denjenigen, die schufen, die Wesenheiten der höheren Hierarchien eigentlich sah. Das ist das ungeheuer Bedeut­same. Und welches Gefühl hatte solch ein Baumeiser? Nicht wahr, der heutige Baumeister würde ein sonderbares Gesicht machen, wenn man von ihm verlangen würde, er solle nicht nur dasjenige wissen, was man heute an den technischen Hochschulen lernt, son­dern er solle auch noch Medizin, Philosophie, sogar Sternkunde und den Himmelslauf kennen, er solle also in einer gewissen Weise in den Geisteswissenschaften ein Eingeweihter sein. Weshalb war das so? Es war so, weil Vitruv selber noch das Folgende empfand:

Wenn ich baue, sagte er sich, da darf nicht dieser endliche Mensch bauen, sondern da muß dieser endliche Mensch zum Werkzeug werden für ein Wesen höherer Hierarchien, das durch ihn wirkt.

Aber diese Möglichkeit, in Zusammenhang zu kommen mit den höheren Hierarchien, so daß, wenn Stein auf Stein gefügt wird im Bauwerk, nicht dieser endliche Mensch schafft, sondern die Geister der höheren Hierarchien schaffen, diese Möglichkeit bekam man nur in den geheimen Mysterienstätten. Da mußte man eingeweiht werden in den Zusammenhang des Göttlichen und des Mensch­lichen. Man mußte Medizin aus dem Grunde kennen, weil man die Formen so fügen mußte, daß sie wirklich waren wie ein Abdruck des menschlichen Wesens selber, vergleichbar in gewissem Sinne wie das Schneckenhaus ein Abdruck der Schnecke ist, wie das aus ihrem Wesen heraus, das in sie gelegt ist, aus dem Makrokosmos heraus gebaut wird. So fühlte sich der Mensch, daß in ihm wirkte dieses göttlich-geistige Wesen, und daß es seine Hände führt, daß es sei­nen Geist führt und in die Formen der Baukunst hineinwirkt.

Weil die Formen der Baukunst das Letzte waren, was geoffenbart worden ist, geht deshalb alles dasjenige, was in solchen okkulten Gesellschaften lebt und in deren Anhängseln, von denen ich das letzte Mal gesprochen habe, von der wirklichen Baukunst und von der Stimmung, die der Baukünstler in der wirklichen Baukunst

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hatte, aus. Vor allen Dingen lebt in diesen okkulten Gesellschaften, wenn auch im Zerrbild, in der Karikatur, daß derjenige, der ein­tritt, auf den Weg sich begibt in die geistigen Welten hinein: Erster Grad. Der da hineintritt, begibt sich auf den Weg in die geistige Welt. Zweiter Grad: Fr stellt mit denjenigen, die mit ihm zusammen in den okkulten Gemeinschaften sind, solche Beziehungen her, die nicht bloß von äußeren sozialen Verhältnissen herrühren, nicht durch sie bestimmt sind, sondern die von Seele zu Seele gehen. Fr wird Geselle, Genosse im zweiten Grad. Und endlich lernt er fühlen, was es heißt: Hier stehe ich als Mensch und fühle mich als Mensch wie die Umhüllung desjenigen, was in mir als der Geistesmensch lebt, mit dem die Wesen der höheren Hierarchien sprechen, zu dem sie sich hinunterneigen, der kein Wort sprechen darf, das nicht inspi­riert ist von diesen Geistern der höheren Hierarchien. - Wenn auch wenig Bewußtsein davon vorhanden ist bei denjenigen, die als im dritten Grade in solchen okkulten Verbrüderungen sind und die sich dann die Meister nennen, die Meister des dritten Grades, -aber diese Tatsache liegt zugrunde. Und weil die Offenbarungen nicht mehr stattfinden, weil die Dinge nicht so intensiv wirkend gelassen werden heute, weil kein unmittelbarer Zusammenhang mit der geistigen Welt ist, nimmt man die Überlieferungen, nimmt dasjenige, was überliefert worden ist, breitet dann das Geheimnis darüber, läßt andere nicht teilnehmen, damit andere das nicht wis­sen. Aber es wird in solchen Gemeinschaften von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Generation zu Generation das Urwissen fort-bewahrt, allerdings oftmals in jenen Unfug verkehrt, in jener schlechten Weise für das Menschheitswissen angewendet, wie ich das auch das letzte Mal angeführt habe.

Die vierte nachatlantische Periode bis in das fünfzehnte Jahrhun­dert, bis zum Jahre 1413 ungefähr, ist geradezu dazu da, um lang­sam absickern zu lassen den unmittelbaren Zusammenhang mit der geistigen Welt. Das Merkwürdige ist, daß feinere, sensitivere Gei­ster gerade in der Zeit, wo so die Jahre vorbei waren, in denen das abgesickert ist, was früher Zusammenhang mit der geistigen Welt war. das durchaus fühlten. Die ganze Zeit hindurch - ich habe das

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schon angedeutet - vom Jahre 747 vor Christus bis zum Jahre 1413 ungefähr nach Christus war ja ein gewisser Zusammenhang mit der geistigen Welt da. Man konnte ihn wenigstens aus dem Inneren heraus beleben in diesen Jahren, wenigstens aus der Erinnerung heraus beleben. Das hörte eben mit dem vierzehnten Jahrhundert auf. Und über das vierzehnte Jahrhundert hinaus fühlten sensitive Geister noch, daß gewissermaßen der Geist noch hereinspielt. Die Leute, die heute Geschichte lernen, die lernen Geschichte ja so -ich habe das oft angedeutet -, wie wenn es immer so gewesen wäre mit den Menschen, wie in der Zeit von heute, wo wir es so herrlich weit gebracht. Aber so war es nicht immer! Wer zum Beispiel be­greifen will das fünfzehnte, sechzehnte, siebzehnte Jahrhundert, der muß sich eine Ahnung davon verschaffen, daß das doch Zeiten waren, in denen gewissermaßen der Hauch des geistigen Lebens noch über die Erde hinzog. In älteren Zeiten fühlte ja der Mensch, wenn er das, was in seiner Umgebung war, ins seelische Auge faßte, nicht bloß: da draußen sind Pflanzen, da sind Wolken, stürmt der Wind, sind Blitze, sondern da fühlte er sich umgeben von den elementarischen Wesen, da fühlte er das ebenso da, wie Pflanzen und Tiere. Aber das versickerte, das verschwand - natürlich nicht auf einmal -, so daß wir uns die Zeiten schon vom vierzehnten, fünf­zehnten, sechzehnten, auch noch vom siebzehnten Jahrhundert so vorzustellen haben, daß empfänglichere Naturen wußten: um uns herum webt und lebt der Geist.

Nun, dasjenige, was hereinspielte aus der geistigen Welt, wurde dazumal noch nicht so genommen wie heute. Heute sagt man, wenn irgend jemand die geistige Welt hereinspielen hat: Hysterie, hyste­risch! - Selbstverständlich, hysterisch, aber das will ja nichts besa­gen. Es kann ja hysterisch sein; deshalb kann ja trotzdem die gei­stige Welt hereinspielen. Diese beiden Dinge haben miteinander gar nichts zu tun. Man begnügt sich nur heute mit der materiali­stischen Auslegung. Aber in den damaligen Zeiten wußte man noch etwas von den Tatsachen, da nahm man nicht als bloße Krankheits-erscheinungen - was sie ja auch daneben noch sein können in unse­rem materialistischen Sinne - dasjenige, was sich hereinlebte aus der

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geistigen Welt in die Welt des Menschen. Wir begreifen gewisse Dinge durchaus nicht, wenn man dieses nicht ins Auge faßt.

Ich will Sie auf eine Tatsache aufmerksam machen. Der heutige Historiker redet zum Beispiel über die Zeit des Savonaro/a im fünf-zehnten Jahrhundert so, daß er wirklich über das damalige Florenz redet, wie man über eine heutige Stadt redet, nicht wahr, so wie man erzählen würde, wie heute die Leute meinetwillen vor den Butterläden sich ansammeln und dort in einer gewissen Stimmung sind. So redet man über das damalige Florenz. Man bedenkt nicht, daß man sich da erst in die Stimmung der damaligen Zeit versetzen muß, in jene Stimmung, wo man das Geistige noch etwas miterlebte. Was war es denn, was in einer gewissen Woche in Florenz jeden, jedermann, den man auf der Straße sehen kann, mit gedrücktem Leibe, mit trübem Auge, wie unter einer schweren Last dahinwan­dein ließ? Das war es, daß Savonarola am letzten Sonntag gesagt hatte: Wenn die Moral so fortgehen werde, wie sie war, dann werde hereinbrechen die Sintflut. Und geschlossen hatte er mit den Wor­ten: Ecce ego aducam aquas super terram - Ich sage euch, die Was­ser werden über die Erde fließen! - Und diese Worte waren belebt von Geist, und der Geist strömte aus. Und unter diesem geistigen Einflusse standen eine Woche lang die Bewohner von Florenz und wandelten so, wie ich es geschildert habe. Einer der Zeitgenossen des Savonarola war Pico deila Mirandola, der Graf Mirandola, der am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts gelebt hat und ganz darin­nen war in der Stimmung, die dazumal in Florenz lebte. Sie sehen, wir sind in dem Jahrhundert, wo der vierte nachatlantische Zeit­raum in den fünften nachatlantischen Zeitraum übergeht. Pico von Mirandola ist einer derjenigen Geister, die zu den empfänglichen gehörten, die fühlten, der Geist verschwindet aus unserer Umge­bung, und der zu gleicher Zeit eine innigste Sehnsucht bekam, die-sen Geist noch zu fühlen, ihn hereinzubekommen. Ja, es war eine ganze Anzahl von Menschen dazumal in Florenz, in dieser Zeit, welche in dieser Stimmung lebten. Sie fühlten: für das normale menschliche Leben verweht der Geist; aber wir müssen ihn herein-bekommen. Neuplatoniker nannten sich dazumal diese Renaissance-Menschen.

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Und derjenige konnte nicht in ihre Akademie eintreten, der nicht wenigstens ein Erlebnis hatte, durch das er Zusammen­hänge seiner Seele, Kräfte bewiesen hätte, welche zeigten, daß er noch eine unmittelbare Anschauung gehabt habe von dem Geiste, der um uns herum wirkt und ist. Das war noch im fünfzehnten Jahrhundert. In die Akademie von Florenz, die den Neuplatonismus, die Wiederauflebung Platos, pflegte, durfte man gar nicht eintre­ten, wenn man sich nicht bemühte, ein Erlebnis zuerst gehabt zu haben, durch das man unmittelbar wußte: der Geist lebt sich herein in das Sinnenleben. Und Pico hatte solcher Augenblicke mehrere. Und daher verstand er die Worte Savonarolas, die, wenn auch in einer eigenartigen Weise, durchtränkt waren von solchen geistigen Strömungen. Dieser Pico verstand in seiner Art den Savonarola. Pico von Mirandola war nur zu eitel dazu, um auf dasjenige einzu­gehen, was Savonarola für ihn wollte. Der wollte ihn eigentlich zu seinem Genossen machen. Aber Pico von Mirandola konnte das nicht mit seiner Eitelkeit in Vereinbarung bringen. Als Pico von Mirandola, noch als verhältnismäßig junger Mensch, dem Tode nahe war, da hatte er wiederum solch ein Erlebnis. Und dieses Er­lebnis prägte sich ihm so aus: Indem er sein Ende herankommen fühlte - er war noch ganz jung -, sah er in die geistige Welt hin­ein. Die Formen, in denen sich dann die Wesen der geistigen Welt ausprägen, richten sich ja nach dem Subjektiven des Menschen. Was sich dem Pico aus der geistigen Welt offenbarte, kleidete sich ihm in das Bild der Madonna. Kurz, die Madonna erschien ihm, so können wir sagen, und sie sagte: Ich werde dich noch nicht völlig dem Tode überliefern. - Mirandola verstand das nicht einmal gleich. Er glaubte, er könne als physischer Mensch weiterleben. Dennoch starb er, und Savonarola hielt selber die Leichenrede. Und es ist bedeut­sam, uns in die ganze Stimmung hinein zu versetzen, die den Über­gang bildete zwischen dem vierten und dem fünften nachatlan­tischen Zeitraum. Es ist vielleicht gut, einmal die Worte, die Savonarola am Grabe des Pico von Mirandola gesprochen hat, sich ins Gedächtnis zu rufen, denn man sieht in diesen Worten, wie dazumal ernst genommen wurde die Tatsache, daß solch ein Mensch

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wie Pico von Mirandola eine solche Beziehung zur geistigen Welt hatte, daß sich ihm noch vor dem Tode in einer solchen Weise die geistige Welt zeigte in einem Bilde. Savonarola sagte dazumal an dem Grabe des Pico von Mirandola - es ist dies zugleich ein Zeichen dafür, daß dazumal Leichenreden nicht bloß zur Schmeichelei ge­halten worden sind -:

«Keiner ist unter euch, der Giovanni Pico nicht gekannt hätte. Mit großen Wohltaten und hohen Gunsterweisungen hat Gott ihn überhäuft. Mannigfaltig war sein Wissen, und sein Geist ragte em­por über die Sterblichen. Auch für die Kirche bedeutet sein Tod einen schweren Verlust. Wäre seine Lebenszeit nicht so kurz gewe­sen, so hätte er, nach meiner festen Überzeugung, alle Gelehrten der letzten achthundert Jahre in den Schatten gestellt. Eine göttliche Stimme in seinem Herzen rief ihm zu, die Weihen zu nehmen. Bis­weilen war er willens, dem Rufe Folge zu leisten. Aber er verschob Immer wieder den Eintritt in das Kloster, sei es aus Undankbarkeit gegen Gott, sei es, weil &e Sinnlichkeit ihn zurückhielt, oder weil er bei der Zartheit seines Körpers vor den Anstrengungen des Mönchslebens zurückschreckte, oder endlich, weil er durch seine wissenschaftlichen Arbeiten schon an sich der Religion förderlich sein zu können glaubte. Deshalb drohte ich ihm seit zwei Jahren mit der Geißel Gottes, und ich bekenne, daß ich den Höchsten an­flehte, den Säumigen ein wenig zu züchtigen. Aber selbst ihm gegen­über zeigte sich Gott in seiner Nachsicht. Zwar ist des Toten Seele noch nicht eingegangen zur himmlischen Seligkeit im Schoße des Vaters, doch ist sie auch nicht zu den Martern der Hölle auf ewig verdammt, denn sie empfängt eine bestimmte Zeit lang ihre Sühne im Feuer des Purgatoriums. Was ich euch über Picos Tod verkün­dete, das wird nicht durch das ihm gewordene Versprechen der heiligen Jungfrau widerlegt. Zuerst hielt ich dieses Versprechen überhaupt für die Vorspiegelung eines Dämons» - Savonarola spricht also von dem letzten Gesichte des Pico von Mirandola -, «dann wurde mir jedoch klar, daß der Sterbende in der Sinnesver­wirrung der letzten Stunde unter jener Verheißung den ersten Tod, die Madonna aber den ewigen gemeint habe.» Das heißt, die

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Madonna hat ihm gesagt: er werde nicht auf immer in Strafe ge­nommen werden, sondern nur kurze Zeit nach seinem Tode - so meint Savonarola.

Die Stimmung, in der dazumal bei solchen Gelegenheiten von geistigen Erscheinungen gesprochen worden ist, diese Stimmung wollte ich nur charakterisieren. Und man darf sie mit diesem Bei­spiel charakterisieren, denn Savonarola ist kein Mensch, der sich bloß aus Heuchelei, weil er Priester war, zu geistigen Erscheinungen bekannt haben würde. Savonarola war ein Mensch von der Art, daß man ihm zumuten mußte: In jeder Lage und in jeder Stellung, in der er war, folgte er nur der Stimme dessen, wovon er sich persön­lich überzeugt hatte. Er sprach nicht nur, um der Kirche zu gefal­len, der er ja auch wirklich nicht gefiel und die ihn entsprechend behandelt hat, sondern er sprach, indem er von den geistigen Wel­ten sprach, von dem, wovon er wußte aus seiner eigenen Erfahrung. Denn dasjenige, was Pico wußte von der geistigen Welt aus seiner unmittelbaren Erfahrung, wurde natürlich weit übertroffen durch die unmittelbaren Offenbarungen, die Savonarola selber von der geistigen Welt hatte.

Ich wollte Ihnen damit nur charakterisieren, wie sehr wir die Stimmung gegenüber der geistigen Welt ins Auge fassen müssen, wenn wir verstehen wollen, wie dieser rasche, plötzliche Übergang ist vom vierzehnten ins fünfzehnte Jahrhundert. Wie eine Sehnsucht spricht uns das an, was wir gehört haben: zurück in die Zeit, wo man leichter noch empfangen hat die Eindrücke der geistigen Welt! Aber diese Menschen, sie waren jetzt vereinzelt. Sie mußten beson­dere asketische Übungen machen, um das, was sie ersehnten, wenig­stens in gewissen Augenblicken des Lebens, vielleicht sogar auf eine verzerrte Art, zu bekommen. Es ist wirklich nicht so, wie sich die heutige Gelehrsamkeit das vorstellt, daß alles sich so langsam und allmählich entwickele. Die Natur macht keine Sprünge, sagt man. Es ist das Blödeste, was man sagen kann. Sprünge macht sie aller­dings nicht, aber fortwährend Übergänge, starke Übergänge. Das Blumenblatt verwandelt sich nicht allmählich in ein bissel weniger Blumenblatt, und wieder ein bissel weniger Blumenblatt in das Blütenblatt,

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sondern das grüne Pflanzenblatt schließt ab mit dem Kelch­blatt, und das farbige Blumenblatt ist da. Unsinn, zu sagen, die Na­hir mache keine Sprünge! Aber solche Worte werden als Trivial­worte immer wieder und wiederum fortgepflanzt.

Die nächste Aufgabe, die nun da war, die war diese: nunmehr zu appellieren an diejenigen Kräfte, welche an die Stelle der alten Auf-fassungskraft des Geistigen treten mußten. Und da kam es, daß es gewöhnlich zwei Wege waren. Der eine Weg war einfach der der Fortpflanzung durch Tradition. Man war zufrieden, man pflanzte das, was die Alten gesehen haben, was die Alten geoffenbart haben, durch Tradition fort. Dadurch entstanden viele geheime Gesell­schaften. Aber es gab auch Leute, die bemühten sich, mit der neuen Seelenkraft, die heraufgekommen war, zu rechnen. Sie versuchten, dasjenige, was früher in ganz anderer Form, in Form des Bildes, in Form der unmittelbaren Anschauung da war, zu übersetzen in die Form der Verstandeskraft, die an den physischen Leib gebunden ist, diese Verstandeskraft, die wir jetzt haben als normale Menschen-kraft im fünften nachatlantischen Zeitalter. Einer derjenigen, der sich nun bemühte, heraufzubekommen in das richtige Zeitverhältnis das ehemalige Bauprinzip, das uns natürlich in ganz anderer Weise in Bildern und Symbolen obliegt, das ist der große Amos Comenius. Ich glaube, die Leute wissen schon heute nicht mehr viel von Amos Comenius, dem eigentlichen Begründer des ganzen modernen Schul­wesens, dem Begründer der Fibel, dem Manne, der, im sechzehnten Jahrhundert lebend, eigentlich dasjenige bewirkt hat, was heute den ganzen Kinderunterricht ausmacht. Vielleicht ist es doch nicht un­interessant, in dieser Beziehung einiges vorzulesen, weil heute so wenig vorhanden ist von dem, was man nennen kann ein Bewußt-sein von Amos Comenius. Unter den mancherlei Büchern, die ich nicht etwa alle gut nennen will, unter den Sammelwerken, die jetzt erscheinen, ist auch das Buch: «Comenius und die Böhmischen Brüder» von Friedrich Eckstein. Friedrich Eckstein ist einer von den­jenigen, die mit mir vereinigt waren am Ende der achtziger Jahre in Wien zu einer kleineren theosophischen Gemeinschaft. Er ist dann seine eigenen Wege gegangen. Ich habe lange nichts von ihm gehört,

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und jetzt ist dieses Bücheichen über Amos Comenius von ihm erschie­nen, das sehr verdienstvoll zusammengestellt ist. Eckstein sagt über den sogenannten «Orbis pictus», «daß dessen primitive Abbildungen, wenn auch in modern verstümmelten und abgeschwächten Aus­gaben, uns alle in unserer Jugend erfreut haben. In den 150 Holz-schnitten der Originalausgabe mit ihrem kurzen deutschen und latei­nischen Text, ganz im Sinne jenes Zugleich von Real- und Sprach­unterricht, wurden dem Geiste des Kindes die Hauptbegriffe des Lebens, beginnend mit Gott, der Welt, dem Himmel und den Ele­menten, den Pflanzen, Früchten, Tieren, dem menschlichen Körper und seinen Gliedern, bis zu den einzelnen Tätigkeiten und Hand­werken, mit ergreifender, zum Herzen dringender Einfalt und Klar­heit in Wort und Bild vorgeführt, und man versteht sogleich, wie dieses Buch auf die Kinder vieler Generationen den tiefsten Ein­druck machen mußte. Herder und Goethe haben es in ihrer Kind­heit über alles geliebt und daraus zweifellos Impulse für das Leben erhalten. , berichtet Goethe im ersten Buch von , - des Amos Comenius kam uns kein Buch dieser Art in die Hände>.»

Und die ganze Art, Kinderbücher, das heißt Schulkinderbücher zu machen, fußte auf dem Amos Comenius. Aber dieser Amos Comenius war ein Mann - er ist in Mähren geboren -, der im Ver­laufe seines Lebens in Zusammenhang gekommen ist mit den zahl­reichen über ganz Europa ausgegossenen geheimen Brüderschaften, wie die sind, von denen ich Ihnen erzählt habe; denn die waren ja überall zu finden. Und mit allen ist er in reale Beziehung getreten, auf alle versuchte er zu wirken. Und wie er zu wirken wußte, das zeigt besonders schön dasjenige, was er in seiner «Pansophie» sagt.

Also da haben wir in Amos Comenius im sechzehnten, sieb-zehnten Jahrhundert, im Anfange unseres Zeitraums, einen Men­schen, der wußte: Jetzt ist Umschwung, es kommt ein anderes Zeit­alter herauf. Man muß in die Form des äußeren Verstandes umsetzen

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dasjenige, was früher war. Man darf es nicht in Form einer bloßen Tradition behalten. Die Tradition ging auf das Letzte aus, was geoffenbart war, auf den Tempelbau. Ob man nun den grie­chischen Tempel oder den salomonischen Tempel nahm, darauf kommt es nicht an. Auf den Tempelbau, auf die Bilder des Tempel-baues ging es hinaus, und von den Bildern des Tempelbaues wurde alles genommen, symbolisch, imaginativ.

Amos Comenius stellte sich zur Aufgabe, in seiner «Pansophie» alles umzusetzen in die Art und Weise, wie die Seele wirkt im fünf­ten nachatlantischen Zeitraum. Er sagt:

«Möge nun dieser oder jener Name gefallen, wir zogen den der Pansophie vor, weil wir alle Menschen anregen wollten, alles zu er­kennen und überhaupt weise zu sein, mit der Wahrheit der Dinge den Geist zu erfüllen und nicht mit dem Rauch von Meinungen. Man könnte sie auch die Wissenschaft vom Besten, vom Auserwähl­ten, oder sogar die Wissenschaft vom Nichtswissen nennen, wenn man sich an Sokrates oder an den Apostel erinnern möchte. Warum aber soll der Tempel der Pansophie errichtet werden nach den Ideen, Richtmaßen und Gesetzen des höchsten Baumeisters selbst?>)

Hier knüpft Amos Comenius an den «erhabenen Baumeister der Welten» an. Diesen «erhabenen Baumeister der Welten», ihn ruft man an, weil man weiß, was Baukunst, die wirkliche Baukunst in alten Zeiten war. Es ist ganz wörtlich zu nehmen, aber geistig-wörtlich. Aber Amos Comenius versucht das nun in die Sprache des fünften nachatlantischen Zeitraumes umzusetzen. Hören Sie, wie er es umsetzt:

«Warum aber soll der Tempel der Pansophie errichtet werden nach den Ideen, Richtmaßen und Gesetzen des höchsten Baumei­sters selbst? Weil wir dem Urbilde des Ganzen nach Maß, Zahl, Lage und Zweck der Teile so folgen, wie es die Weisheit Gottes selbst vorgezeichnet, und zwar zuerst bei Moses in der Errichtung der Stiftshütte, dann bei Salomo in Erbauung des Tempels und end­lich bei Ezechiel in der Wiederherstellung des Tempels.» - Er könnte ebensogut den griechischen Tempel anführen. - «Wenn wir den Weisheitstempel aufrichten wollen, so müssen wir uns stets

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daran erinnern, daß der zu bauende Tempel groß, herrlich und prei­senswert war durch alle Lande, weil unser Gott über alle Götter ist. Die würdigen und tüchtigen Bauleute müssen daher herbeigeru­fen werden, wo sie nur zu finden sind, damit sie das Nötige finden und schaffen helfen. Der Tempel Salomos wurde auf Gottes Befehl auf dem Berge Moriah gebaut; Moriah heißt Gesicht Gottes.» -Ebenso wie herausgebaut worden ist der Mensch aus dem Schoße der Gottheit! Sie haben ja gesehen: Vitruv hat verlangt, daß der Baumeister alle Weisheit über den Menschen in seinem Geiste hat. -«Die Grundlage des Weisheitstempels wird also ein Gesicht von Gott sein» - so soll durch das neuere Wissen auch geoffenbart wer­den das Gesicht Gottes, das heißt die Offenbarung Gottes -, «das heißt, es soll durch alles Sichtbare hindurch der unsichtbare Stuhl-meister der Welt mit seiner Allmacht, Weisheit und Güte von dem Geiste des Menschen erkannt und geschaut werden. Die Baustoffe des Salomonischen Tempels waren Steine, Holz, Metalle, und zwar kostbare Steine, Marmor und Edelsteine, und saftige und wohlrie­chende Hölzer, Tannen und Zedern, und reinstes Metall, Probegold. Zum Weisheitstempel liefern drei Wälder das Bauholz» - jetzt übersetzt er -, «der der Sinne, der Vernunft und der göttlichen Offenbarung; der erste liefert das Begreifliche, der zweite das Le­bendige und der dritte das Unvergängliche.» - Früher hatte man es in den Bildern von Stein und Holz, das eingelegte Gold. Das über­setzt er in die Sprache des fünften nachatlantischen Zeitraumes:

Das erste liefert das Begreifliche - die Sinne; die Vernunft liefert das Lebendige; die Offenbarung liefert das Unvergängliche. Da haben Sie die Übersetzung. - «Aus den Steinen», sagt er weiter, «wurden Wände, aus dem Holz Täfelwerk, und aus dem Golde wurden Bleche zum Überziehen des Täfelwerks und des Marmor-pflasters, dann die heiligen Gefäße und Gerätschaften. So werden die Wände des Weisheitstempels aus dem, dessen Wahrheit bis zur sinnlichen Gewißheit sich erhebt», - also das, was die Sinne liefern, bildet die Wände unseres Weisheitstempels - «das Täfelwerk lie­fern die Vernunftschlüsse, die hinzukommen» - das Holz - «und das Gold daran kommt aus der Harmonie des Erkannten mit der

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Offenbarung. Der Salomonische Tempel entstand aus vollkommen behauenen Steinen, und während des Baus hörte man keinen Ham­mer, kein Beil, kein Eisenzeug. So soll bei dem Bau des Weisheits­tempels kein Zank und Streit sein, sondern alles im Quadrat bear­beitet sein, so daß es nur der Zusammensetzung bedarf; die Weis­heit muß schon vorher erörtert, in allen Dingen herausgearbei­tet sein.»

Kein Zank und Streit beim Suchen nach der Weisheit! Deshalb, meine lieben Freunde, ist das, was in unserer Gesellschaft wiederum gesucht werden soll: die geistige Weisheit, auch davon abhängig, daß unter den Mitgliedern nicht Zank und Streit herrscht. Zarrk und Streit ist ja, wenn unser Ziel erreicht werden soll, aus unsern Reihen ausgeschlossen. Sie wissen ja, besonders die letzten Zeiten haben gezeigt, wie stark diese goldene Regel befolgt wird. - Amos Comenius sagt weiter:

«Die Teile des Salomonischen Tempels waren im schönsten und vollkommensten Verhältnisse nach Zahl und Maß, und ein Engel mit einer Meßschnur usw. machte dem Ezechiel den Riß.» - Da haben Sie wieder die Hindeutung auf den Angelos. - «So soll auch im Weisheitstempel alles wohl bemessen sein, damit der Geist vor allem Abirren bewahrt werde. Im Salomonischen Tempel gab es Zieraten, Bildhauerei, getriebene Arbeiten, Cherubim, Palmen und Blumen. Im Weisheits tempel soll Schönheit, die schöne Darstellung, der Schmuck sein. Alles im Umfange des Salomonischen Tempels Eingeschlossene war heilig. So soll es auch mit dem Weisheitstempel sein; sein Inhalt soll rein und heilig, den höchsten Zwecken gewid­met sein. Was aber Gott einst den Erbauern des Jerusalemischen Tempels verhieß, seine Gegenwart, seine Hilfe, seinen Segen, das können die Errichter des Weisheitstempels auch erwarten; denn er sagt: Ich liebe, die mich lieben usw. und fülle ihre Schätze. End­lich, als bei jenem Salomonischen Tempel der Grund zu den Mauern gelegt wurde, standen die Leviten und Priester in ihrem Schmuck und lobten mit Zimbeln und Pfeifen gemeinschaftlich mit dem Volke den Herrn.»

So geht es auch, wie Sie wissen, in unserer Zeit! Hier wird ge­sucht

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die geistige Weisheit, wie sie sich offenbart durch die gei­stigen Welten, und die Pfarrer aller Konfessionen stehen draußen, wie Sie wissen, und loben dasjenige, was gefunden wird, mit Zim­beIn und mit Pfeifen gemeinschaftlich mit dem Volke des Herrn. Das haben Sie ja wohl schon gesehen, wie das geschieht bei diesen Pfarrern und Gelehrten der gegenwärtigen Zeit!

«So sollten bei der Errichtung des Weisheitstempels auch alle gottinnigen Leute zusammentreten und den Namen des Herrn prei­sen von nun an bis in Ewigkeit, vom Aufgange der Sonne bis zu ihrem Niedergange. Wir wünschen eine Schule der Weisheit, uni­versaler Weisheit, eine pansophische oder Allweisheitsschule, das heißt eine Werkstatt, wo alle zur Ausbildung zugelassen, in allem für das Leben - das gegenwärtige und zukünftige - Nötigen Übung erlangen, und zwar ganz vollständig. Und dies auf so sicherem Wege, daß niemand dort gefunden wird, der durchaus nichts von den Dingen wüßte, durchaus nichts verstände, keine wahre und notwendige Anwendung zu machen imstande wäre.»

Man kann sagen: Was Goethe in «Wilhelm Meister», namentlich in den «Wanderjahren» darstellt, was er aus dem Menschen ma­chen will, ist eine Fortsetzung desjenigen, was Amos Comenius ge­wollt hat. Und wiederum, ohne daß wir unbescheiden zu sein brau­chen, sondern nur indem wir in objektiver Weise blicken auf das­jenige, was Ziel unseres Strebens sein soll: wir können sehen, wie schon im sechzehnten, siebzehnten Jahrhundert der Anfang gemacht wird und wie wir nur die Aufgabe haben, uns in rechter Weise hineinzustellen in den Entwickelungsgang der Menschheit. Dann wird es schon ganz richtig sein, was wir wollen; nicht was aus sub­jektiver Willkür heraus entsteht, sondern was durch den Entwicke­lungsgang der Menschheit notwendig geworden ist.

Den Glauben kann man haben - und ich habe das öfter aus­gesprochen -: die heutige Naturwissenschaft arbeitet von der einen Seite her, und die Geisteswissenschaft arbeitet von der anderen Seite, und sie müssen sich in der Mitte treffen zur Gesamtwahrheit. Natur­wissenschaft und Geisteswissenschaft widersprechen sich nicht. Wie diejenigen, die einen Tunnel bauen, gewissermaßen von der einen

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und von der anderen Seite arbeiten können und sich in der Mitte richtig treffen, wenn alles in der richtigen Weise geometrisch ange­ordnet ist, wenn das Nivellement und alles stimmt, so müssen sich die heutige Naturwissenschaft, wenn sie ehrlich und rechtschaffen zu Werke geht, und die Geisteswissenschaft, wenn sie ehrlich und rechtschaffen zu Werke geht, treffen. Und sie können sich treffen, sie werden sich wirklich treffen. Auch dafür haben wir heute schon Beweise, und dafür möchte ich zum Schlusse noch einiges anführen. Ich könnte viele Beweise anführen, aber zum Schlusse möchte ich nur erwähnen:

Es ist in den letzten Tagen ein Buch erschienen von Karl Ludwig Schleich, ein Buch, das aus der Naturwissenschaft heraus arbeitet. «Vom Schaltwerk der Gedanken» heißt es. Ein außerordentlich interessantes Buch, ein Buch eines ehrlichen Naturforschers und Arztes, der aus demjenigen heraus arbeiten will, was ihm die ganze Breite der Sinneswissenschaft gibt. In diesem Buch ist auch ein höchst merkwürdiges Kapitel, das geradezu berufen ist, Epoche zu machen in unserer Zeit, weil es wirklich so dasteht, daß man sagen kann: das arbeitet von der einen Seite her und muß zusammentref­fen mit demjenigen, was von der anderen Seite her die Geisteswis­senschaft gibt. Dieses Kapitel heißt: «Die Hysterie - ein meta­physisches Problem.» Da werden allerdings merkwürdige hyste­rische Krankheitsfälle aufgezählt. Ich will Ihnen ein paar nur vorlesen:

«Eine hysterische junge Dame sitzt auf ihrem Diwan. Ein Ventila­tor, elektrisch bewegt, steht in der einen Ecke des Zimmers auf einem Tischchen. Bei einem Krankenbesuch sagt, furchtbar er­schreckend, die junge Dame echt hysterisch: - Also ein Ventila­tor! - Während ich sie zu beruhigen suchte, daß ja selbst das ein reparabler, nicht tödlicher Schaden sei, schwoll wäh­rend meines Zuredens und während dauernder Wehklagen das un­tere Augenlid der Ärmsten zu einer wirklich hühnereigroßen Geschwulst

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(Ödem) an, mit teigiger Konsistenz und deutlich entzünd­licher Rötung von großer Schmerzhaftigkeit.»

Also die Einbildung, daß da eine große Biene ist, während nur ein Ventilator summt, hat genügt, eine wirkliche Geschwulst am Unterlid, die so groß ist, daß man sagen kann hühnereigroß, zu er­zeugen! Andere Dinge eignen sich hier vielleicht weniger zum Vor­lesen. Aber einen interessanten Fall möchte ich vorlesen, der doch ganz bedeutsam ist, einen «Fall aus der jüngsten Vergangenheit unserer Lazarett-Erfahrungen»:

«Ein Unteroffizier, schwarz wie ein Italiener mit dunklen bren­nenden Augen und schwer zähmbarem, wildem Temperament kam zu uns mit beiderseits durchschossenen Oberarmkugeln und mit schweren Gelenkeiterungen rechts und links. Es gelang, ihn der Heilung nahezuführen, das heißt das Fieber war fort, an den Ober­arruknochenstümpfen schon so weit Beweglichkeit, daß er wieder Mundharmonika spielen konnte, diese Lieblingsharfe unserer Armee. Da wurde ein Soldat ihm vis-a-vis ins Bett gebracht, mit Hirnschuß, fiebernd, halb bewußtlos, mit zeitweisen Krämpfen. Bei der Besprechung der Indikation zur Operation fiel in demselben Saale das unvorsichtige Wort: Nun, es war nicht Tetanus (Wundstarrkrampf), ein Stück Schädel-knochen wurde entfernt und der Patient geheilt, aber, inzwischen, am dritten Tage nach der Einlieferung des Kopfschusses bekam un­ser Unteroffizier mit den fast verheilten Oberarmschüssen den er­sten Wundstarrkrampf (tetanischen Anfall).» - Also bloß dadurch, daß er das Wort «Tetanus» gehört hatte und wußte, daß das Wund­starrkrampf ist! - «Und das vier Monate nach seiner Einlieferung.» -Also jede Infektion vollständig ausgeschlossen, der andere hatte noch gar nicht Wundstarrkrampf gehabt! - «Mle Symptome waren vorhanden, nur Fieber fehlte. Wir spritzten ihm Antitoxin ins Rückenmark, ohne Erfolg. Mich machte der Anblick des Patienten stutzig. Wir machten die übliche, absolut zuverlässige Probe der Impfung am Kaninchen mit dem Blutwasser des Rückenmarks-kanals. Die Probe verlief negativ. Es waren auch keine Tetanus­bazillen zu finden. Nach einigen Tagen dann Heilung durch kategorische

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Erklärung: Also der Fall war ein hysterischer Tetanus.»

Also er hatte nichts von Tetanus in Wirklichkeit, physisch hatte er nichts von Tetanus an sich. Und nun sagt Professor Schleich weiter:

«Und nun noch einige Erfahrungen, welche beweisen, daß bis zum letzten, schwersten Prozeß, einer aktiven Hemmung des Lebens, die Hysterie führen kann. Es gibt Fälle von hysterischem Scheintod, die gleichfalls Arndt erwähnt, und so weiter... Scheintote durch Hysterie sind von anderen Autoren sicher beobachtet. Ich kenne sie nicht aus eigener Anschauung.»

Ich betone ausdrücklich, daß alle die Fälle, die hier aufgezählt werden, der Geisteswissenschaft sehr gut bekannt sind, für die Geisteswissenschaft durchaus nicht irgendwie etwas Besonderes darstellen. Aber den heutigen Mediziner überraschen sie dann doch. Aber nun ein ganz besonderer Fall:

«Ein sehr vermögender Kaufmann, der sein Büro persönlich lei­tete, kam eines Tages zu mir und bat mich flehend, ihm den Arm abzunehmen, denn er habe sich mit der Feder in den Finger gesto­chen, und er wüßte, daß er nun an Blutvergiftung sterben müßte. Ich hätte gelacht, wenn nicht die angstverzerrten Züge des Mannes jeden Spott erstickt hätten. Er sei schon bei mehreren ersten Chirur­gen, auch bei von Bergmann gewesen, sie alle hätten sich geweigert, ihn zu amputieren. Ich solle mich seiner erbarmen, und ihm den Oberarm, wo es schon überall zucke und muckere, abnehmen. Auch ich mußte natürlich ihn unter allen möglichen Trostversuchen nach Hause gehen lassen. Ich habe ihn an demselben Abend besucht. Keine Temperatursteigerung, keine Spur Schwellung oder Entzün­dung an der übrigens gereinigten, verbundenen und von mir sogar ausgesaugten kleinen Wunde. Aber ungeheure Aufregung. Am näch­sten Morgen war der Mann eine Leiche. Mein Freund Langerhans hat die Obduktion gemacht. Keine Infektion. Keine Toxine im Blut. Überhaupt keine Todesursache. Meine Diagnose: Tod aus Hysterie.»

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Also Sie sehen: Man kann, wie Schleich voll zugibt, durch den Gedanken nicht nur sich eine Augenlidgeschwulst und so weiter zu­ziehen, sondern man kann sich töten. Das ist die Macht des Gedan­kens. Das bringt den modernen Arzt, der ehrlich ist mit seiner Wis­senschaft, wie in diesem Fall, dazu, zu sagen: Im ersteren Fall, dem der Gewebe-Produktion durch den hysterischen Impuls, liegt das metaphysische Problem der Inkarnation vor. Also der moderne Arzt spricht von Inkarnation: der Gedanke inkarniert, verfleischt sich, wie sich die Seele verfleischt, wenn sie aus den geistigen Welten heruntersteigt und den ganzen Organismus anfacht. Also der Arzt ist sehr weit von der anderen Seite im Entgegenkommen. Und im zweiten, dem des mediumistischen Schauens: eine Art Hellsehen von Krankheitsmöglichkeiten. Von Heilsehen und Inkarnation muß der ehrliche moderne Naturforscher sprechen, wenn er nachdenken will über dasjenige, was ihm einfach die Erfahrung liefert.

Sie sehen, es ist nicht aus der Luft gegriffen, wenn gesagt wird, wir wollen nichts Willkürliches, sondern Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft müssen von zwei Seiten aus arbeiten. Im Worte werden sie sich begegnen. Das ist nicht aus einer Willkür, nicht aus einer fanatischen Agitationssucht heraus gesprochen, sondern das ist aus der Erkenntnis der Zeitbedingungen heraus gesprochen. Nur wird selbstverständlich eine Untersuchung nötig, man wird leicht erkennen: Der gewöhnliche Gedanke kann natürlich nicht eine An-schwellung erzeugen. Versuchen Sie es nur, denken Sie noch so sehr, Sie werden eine Geschwulst bekommen: Sie werden schon nicht diese Geschwulst bekommen. Gott sei Dank, möchte ich sagen, der gewöhnliche Gedanke kann das nicht, der gewöhnliche Gedanke tötet Sie auch nicht, da können Sie ganz getrost sein. Dahinter stecken überall Mysterien. Aber vor allen Dingen steckt eines da-hinter: Solange man bei dem gewöhnlichen Ich bleibt und dem In­halte der Gedanken, kommt man nicht zurecht. Was ist bei der hysterischen Dame geschehen, die die Anschwellung des Unterlids bekommen hatte? Der Gedanke, der sich ihr bildlich gestaltet hat an der Ventilation, er ist zur Imagination geworden und hinunter-gerollt zum astralischen Leib. Da kann er dann durch den Ätherleib

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und in den physischen Leib hinein sich inkarnieren. Darüber muß man sich klar sein: Wenn man beim Ich stehen bleibt und dem astra­lischen Leibe, und nicht den Ätherleib und physischen Leib dazu hat, kann man das alles nicht erklären. Der Ich-Gedanke tötete auch diesen Kaufmann nicht, sondern da war, was in diesem Ich-Gedan­ken lebte, hinuntergedrungen in den astralischen Leib, und der steht mit den Entstehungs- und Vergehungskräften in unmittelbarem Zu­sammenhang. Man wird also eben erst dasjenige finden müssen, was die Geisteswissenschaft von der anderen Seite der Naturwissen­schaft zuträgt. Leider reden wir vielfach in den Worten noch anein­der vorbei. In den Tatsachen treffen wir uns schon, aber in den Worten reden wir vielfach aneinander vorbei, und es wäre gut, wenn das auch einmal aufhören würde.Und wahrhaftig, nicht um dieses ausgezeichnete Buch zu kritisieren, das wirklich Epoche ma­chen kann auch von diesem Gesichtspunkte aus, den ich angedeutet habe, sondern um zu zeigen, wie man aneinander vorbeiredet durch die Zeitverhältnisse, möchte ich dieses zeigen. Gerade bei einem durch und durch ehrlichen Forscher ist es vielleicht besser, dieses zu zeigen, als bei jemandem, bei dem diese Ehrlichkeit nicht über allen Zweifel erhaben ist. Sehen Sie, Schleich redet in diesem Buche auch, und zwar in demjenigen Kapitel, das dem andern vorangeht, über den «Mythos vom Stoffwechsel im Gehirn». Der Mythos vom Stoffwechsel im Gehirn ist ihm schon bloß ein Mythos. Das ist sehr schön, das ist epochemachend. Aber nun sagt er: Goethe habe schon gewußt, daß der Schädel, die Schädelknochen, umgewandelte Wir­belknochen sind. Das ist ja natürlich sehr weit bekannt. Nun kommt er darauf, daß man damit aber sich nicht beguügen muß, daß man nicht dabei stehen bleiben muß. Das ist sehr schön von Schleich, daß er darauf kommt, daß man damit sich nicht begnügen muß, sondern:

der ganze Schädel selber ist umgewandeltes Ganglion, umgewan­delte Rückenmarksteile. Und nun sagt er, Goethe war doch wirk­lich in seiner Art ein Seher, und meint, Goethe hätte vielleicht auch auf diese Idee schon kommen können, daß nicht nur die Knochen umgewandelt sind aus den Rückenwirbelknochen, sondern daß auch das ganze Gehirn umgewandelt ist. Sehr schön schließt Schleich

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dieses Kapitel über den Mythos vom Stoffwechsel im Gehirn, indem er sagt:

«Wenn Goethe, dieser Seher und Prophet, so vieles Zusammen-hängende der Gottnatur bemerkte und bewies, daß der Schädel mit allen seinen Schalen nichts ist als ein plattenförmig aufgerollter Halswirbel, weil alle Bestandteile des Letzteren an der beinernen Hülle des Gehirns nachweisbar sind, so sollte mich wundernehmen, ob er nicht auch den Gedanken, den wir eben aussprachen, von dem Auftürmen des Gehirns aus den Elementen des Rückenmarks> gleich uns im Labyrinth seiner Gedanken gewälzt hat. Es würde mich nicht überraschen, wenn darüber noch einmal irgendein Goethesches Zettelchen gefunden würde. Denn wozu sollte der Wirbel sich mit Schwanenf lügeln emporgewölbt haben, wenn er nicht etwas zu empfangen, zu bedecken, zu schützen gehabt hätte:

den emporsteigenden Kuppelbau des Zentralorgans?»

Also 1916 sagt Schleich, es wird ihn gar nicht wundern, wenn von Goethe ein Zettel gefunden würde, worauf das steht, daß er das gefunden hat. 1892 habe ich diesen Zettel bereits gefunden im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv, und habe auch wiederholt diesen ganzen Gedanken, den Schleich heute wiedergibt, mit diesem Fund aus dem Goethe- und Schiller-Archiv zusammen veröffentlicht. Also dasjenige, was Schleich meint, daß einmal solch ein Zettel gefun­den werden könnte, das ist 1892 geschehen und ist bekannt. Sie sehen, wir reden aneinander vorbei. Man kann es objektiv nachwei­sen, daß wir aneinander vorbeireden, weil leider die Einrichtungen des heutigen Literaturbetriebes nicht so sind, daß man wirklich, ich möchte sagen, wie selbstverständlich hingetrieben wird zur Ver­ständigung. Hier haben wir ein eklatantes Beispiel, wo aus dem besten Willen heraus und auch mit dem nötigen Genie jemand darauf kommt: es könnte dies ja da sein. Es ist da seit mehr als zwanzig Jahren! Aber heute spricht er davon so, daß er sich nicht wundern würde, wenn es einmal gefunden würde. Sehr interessant, sehen Sie, für die ganze Art und Weise, wie das Zusammenwirken gegenwärtig ist zwischen dem, was Wissenschaft treibt. An solchen Dingen ist außerordentlich viel besonders dann zu lérnen, wenn

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man gerade sicher sein kann, daß nicht ein Funke böser Wille da-hinter ist, sondern daß die Sache absolut mit ehrlichen Dingen zu­geht. Aber Sie sehen daraus zugleich, wie dasjenige, was geschieht von seiten der Geisteswissenschaft, wahrhaftig nicht auf Willkür beruht, sondern wie es darauf beruht, daß erkannt wird eine innere Notwendigkeit des Geistesganges der Menschheit. Und dieser Geistesgang der Menschheit, er zeigt uns schon wirklich, daß eine gewisse Summe von geistigen Erkenntnissen in die Mensch­heit einströmen und zum Heile der Menschheit gestaltet werden müsse.

Die Zeit ist auch in dieser Beziehung für vieles reif, und es darf nicht übersehen werden, heute, in der Zeit, wo das Blut eine solche Morgenröte für eine neuere Zeit bildet, wo so viele Seelen zu uns sprechen, die durch des Todes Pforte als Opfer der Zeit gegangen sind, daß die geistige Welt pocht an den Toren, die von der Geistes­welt in unsere Welt hereinführen. Es darf nicht übersehen werden, es darf der Ruf nach Geistigem heute nicht überhört werden. Denn der Geist kommt schon. Er kündet sich in der verschiedensten Weise an. Er muß nur in die richtigen Bahnen geleitet werden. Und da muß man allerdings sagen: Da wird demjenigen, was auf diesen richtigen Bahnen schreiten will, nicht immer auch in der entspre­chend richtigen Weise begegnet. Wenn wie bei uns versucht wird, in einer wirklich von Wissenschaftlichkeit getragenen Art, die gei­stige Welt hereinzubringen, dann findet das wahrhaftig nicht die Zimbeln und Pfeifen der heutigen Priester und Leviten, sondern es findet allerlei Gegnerschaft, Gegnerschaft zuweilen durchaus nicht einwandfreier Art. Man muß nur die ganze Bedeutsamkeit, die hin­ter dieser Tatsache liegt, ins Auge fassen. Da hat man auf der einen Seite den Versuch, in einer von Wissenschaftlichkeit getragenen Art die Offenbarungen der geistigen Welt der Menschheit zu eröff­nen. Da kommen dann allerlei Leute, die in solcher Weise diesen Versuchen begegnen, wie immer ihnen begegnet wird von den­jenigen, die Sie schon kennen, bis zu solchen Leuten herab, die wahr­haftig mit den Mienen von ganz gescheiten, wie etwa Tkassi'o von Scheffer oder ähnliche, alles dasjenige, was von unserer Seite gerade

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kommt, mit ihrem leeren Wortgerede bedenken. Aber auf der an­deren Seite sehen wir, wie, ich möchte sagen, gewaltsam hereingeris­sen werden gewisse Wahrheiten der geistigen Welt in die Kanäle, durch die sie heute kommen können. Nicht nur, daß jetzt zum Bei­spiel überall aufgeführt wird das bedeutsame «Traumspiel» von Strindberg, in dem gesehen werden kann ein solches Hereinbrechen der geistigen Welt, ein Hereinbrechen, an dem viel erkannt werden kann, wir haben auch andere, nicht so schöne, nicht so bedeutsame Arten des Hereinbrechens der geistigen Welt in unsere physische Welt. Da haben Sie heute einen Schriftsteller, der in weiteren Krei­sen wirken kann, auf der einen Seite, weil er wirklich den Leuten interessant sein kann, weil sich ihm bis zu ganz außerordentlichen Weiten gewisse Zugänge zur geistigen Welt öffnen. Es strömt vieles in ihn ein, es wird in ihm nur alles verzerrt, karikiert, aber dadurch vielleicht gerade interessant für sehr viele Leute der Gegenwart. Und dadurch hat er die Möglichkeit, auf diese Leute zu wirken, denn er schildert geradezu futuristisch, nicht als Maler, sondern als Schriftsteller. Wenn Sie den «Golem» von Gustav Meyrink lesen, so haben Sie darin etwas, von dem man nur sagen kann: Gewaltsam bricht herein ein Strom des geistigen Lebens, aber verzerrt, karikiert, in Formen, wo es mehr schaden als nützen kann für denjenigen, der nicht fest steht. Aber es kommt als Zeitphänomen hinzu. Es bricht herein ein Strom von geistiger Welt, der fortlebt in der kleinen, ausgezeichneten Erzählung «Der Kardinal Napellus». Gerade in diesem «Kardinal Napellus» finden Sie gewisse Erkenntnisse, die der Mann hat von dem eigentümlichen Spielen der Akasha-Chronik und so weiter, in einer wunderbaren Weise. Das ist sogar ohne all die wüste, wilde Futuristik geschildert, die in dem «Golem» zutage tritt. Da finden Sie wirklich - und solche Erscheinungen könnte man viele und viele in der gegenwärtigen Zeit aufzählen -, die geistige Welt will herein. Und es gehört einfach zu dem Ernst, zu dem wir heute aufgefordert werden, daß man Verständnis gewinnt auch für diese Seite des Ernstes, der da führt zu einem Öffnen unserer Seele, unseres Herzens, unseres Kopfes gegenüber den Strömungen der geistigen Welt.

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Dann kann sich in dem Sinne, wie ich das öfter gesagt habe, das erfüllen, was sich erfüllen muß insbesondere durch geisteswissen­schaftliche Bestrebungen gegenüber den großen, schweren Tat­sachen unserer Zeit:

Aus dem Mut der Kämpfer,
Aus dem Blut der Schlachten,
Aus dem Leid Verlassener,
Aus des Volkes Opfertaten
Wird erwachsen Geistesfrucht -
Lenken Seelen geistbewußt
Ihren Sinn ins Geisterreich.

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SECHSTER VORTRAG Berlin, 18. April 1916 Osterbetrachtung

Eine Osterbetrachtung anzustellen in dem Sinne, wie man das tun könnte in anderen Zeiten, das scheint wohl in dieser schweren Zeit nicht so ohne weiteres möglich. Dennoch sei heute auf einiges hin­gewiesen, was im Zusammenhange mit dem herannahenden Feste in unsere Gedanken hereinkommen kann. Wir haben ja von dem, was im Grunde genommen gar sehr mit dem Osterfeste oder auch mit dem Kultus des Osterfestes zusammenhängt, manches gerade in den verflossenen Vorträgen gesprochen, trotzdem wir gar nicht hingewiesen haben auf die Beziehung zum Osterfest. Wir haben davon gesprochen, wie die Kultur der Menschheit, die Kulturentwickelung der Menschheit, insoferne sie geistig ist, durchsetzt wird von dem, was wir nannten allerlei Brüderschaften, welche ihren Zusammenhalt in symbolischen Handlungen zum Ausdruck bringen, die ent­nommen sind gewissen imaginativen Vorstellungen. Das bedeut­samste Symbolum solcher Verbrüderungen ist ja dasjenige, das zu­sammenhängt mit dem Todes- und dem Auferstehungsgedanken. Immer wieder und wiederum zeigt es sich, daß solche Verbrüderungen den Gedanken des menschlichen Todes und den Auferstehungsgedanken so zusammenbringen, daß aus beiden zusammen der Unsterblichkeitsgedanke hervorgeht. Die Dinge, die dabei zu be­sprechen sind, gelten vielen als Geheimnisse der entsprechenden Brüderschaften; allein es gibt eine so reiche Literatur über diese Dinge, in der so ausführlich alles dasjenige, was der Kultus dieser Brüderschaften, wenigstens an Bildern, enthält, dargestellt wird, daß man sehr weitgehend heute sprechen kann über dasjenige, was die symbolischen Vorstellungen dieser Brüderschaften sind, ohne irgendwie einem Geheimnisse dieser Brüderschaften nahezutreten. Man kann wirklich die Dinge, die da zu besprechen sind, in unzäh­ligen Büchern lesen.

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Als ein Mittelpunkts-Symbolum, könnte man sagen, wird gezeigt, wie durch irgendwelche Umstände, durch irgendwelche Tatsachen ein Mensch zum Tode geführt wird, ein Mensch stirbt und begraben wird. Bei den meisten dieser Verbrüderungen wird diejenige menschliche Persönlichkeit, an die man dieses Symbolum anknüpft, als diejenige des Hieram genommen, so daß man dasjenige, was mit diesem Symbolum zusammenhängt, auch die Hieram-Legende nennt. Anknüpfend also an den Namen Hieram, des Baumeisters des Königs Salomo, der nach der Legende mit dem König Salomo zu­sammen den Salomonischen Tempel gebaut haben soll und dann durch gewisse feindliche, ihm untergebene Leute getötet worden ist, wird symbolisch sein Tod, sein Sterben gezeigt. Es wird gezeigt, wie er begraben wird, und die Darstellung wird gebracht bis zu einer gewissen Auferstehung aus dem Grabe, einem Hervorgehen des Hieram aus dem Grabe. Man will durch dieses Symbolum in einer umfassenderen, oder, ich möchte sagen, in einer eindringlicheren Weise den Unsterblichkeitsgedanken zur Seele tragen, als dies durch Theorien möglich ist. Man will in einem die unbewußten Kräfte des Menschen ergreifenden Symbolum oder in einer Imagina­tion zeigen, wie das Durchgehen durch den Tod und die Wiederauferstehung ist.

Nun, wenn man bedenkt, daß also vorgeführt wird in dem Tem­pel dieser Brüderschaften, in den Logen dieser Brüderschaften das Sterben, das Auferstehen des Hieram, so haben wir ja da schon den Zusammenhang mit dem Ostergedanken. Sie wissen ja, daß im katholischen Kultus auch eine solche symbolische Darstellung statt­findet, daß die Festlichkeiten des Gründonnerstags vorübergehen, daß der Karfreitag dann die Festlichkeit in sich schließt, symbolisch den Christus Jesus in das Grab zu legen. Dann hat man es mit dein im Grabe liegenden Christus Jesus durch den Karfreitag, den Kar-samstag hindurch zu tun, bis nach den neueren Gewohnheiten am Karsamstag abends die Auferstehung gefeiert wird, das heißt, der Christus wiederum dem Grab entnommen und im Umgange als der auferstandene Christus gefeiert wird. Wenn man die Handlung, die sich da im Kultus, namentlich im katholischen Kultus abspielt, ins

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Auge faßt, so hat man es ja zunächst als mit einer symbolischen Handlung auch wirklich mit nichts anderem zu tun, als mit dem­jenigen, was in okkulten Brüderschaften die Grablegung und die Wiederauferstehung des Hieram zu bedeuten hat. Sie sehen also, der Ostergedanke steht in einer gewissen Beziehung in dem Mittel­punkte dieser okkulten Verbrüderungen. Der Sinn, der mit dieser Zeremonie verbunden wird, ist der, daß der Mensch durch das An-blicken dieser symbolischen Handlung tiefer in seine Seele eingehe, daß er gewissermaßen die in seiner Seele befindlichen tieferen Kräfte aufruft, die im gewöhnlichen Bewußtsein nicht vorhanden sind. Nicht wahr, eine solche symbolische Handlung würde ja keine Bedeutung haben, wenn man nicht voraussetzen könnte, daß tief unten, wohin das Bewußtsein nicht reicht, in der menschlichen Seele Kräfte sitzen. Solche Kräfte muß ja annehmen, wer es ernst nimmt mit demjenigen in der menschlichen Leistungsfähigkeit, das nicht aus dem gewöhnlichen Bewußtsein stammen kann, wer es zum Bei­spiel nur ernst nimmt mit der Kunst. Wir sprechen in der Kunst davon, daß dasjenige, was den Künstler bekräftigt, Kunstwerke her­vorzubringen oder sie zu reproduzieren, auch nicht aus den gewöhn­lich bewußten Kräften der Seele stammen kann, sondern daß es aus dem Unterbewußten hinaufbrodelt und erst in das Bewußte hinein-kommt. Daher ist es ja beim Künstler so, daß für ihn eher störend ist alles dasjenige, was Regeln sind, nach denen er sich richten soll. Er kann sich nicht nach Regeln richten. Er muß sich richten nach dem, was elementar in seiner Seele beflügelt die Kräfte, die er braucht. Er kann sogar vielleicht erst hinterher sich einlassen auf eine gewisse Erklärung desjenigen, was dem zugrunde liegt, was in seiner Seele schafft.

So müssen wir annehmen, daß in der Seele viele andere verbor­gene Kräfte walten, die in das Bewußtsein nicht heraufspielen. Wir sprechen davon, wie wir das jetzt oftmals getan haben, daß das astralische Leben des Menschen ein viel, viel breiteres, viel weiteres ist, als das bewußte Ichleben des Menschen, und daß aus dem astra­len Leben des Menschen diese Kräfte heraufspielen in das bewußte Ich-Erleben, daß sie also da unten vorhanden sind. Es gibt in unserer

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Zeit schon sehr viele Menschen, welche sich nach und nach so an­gepaßt haben an das äußere rein materielle Leben und in diesem äußeren rein materiellen Leben ihr ganzes Heil suchen, daß sie auch im Seelenleben im Grunde genommen nur dasjenige noch in der Gewohnheit haben, was mit dem äußeren materiellen Leben zusam­menhängt. Und das ist das Bewußte. Denn unser jetziges bewußtes Erdenleben soll sich unter dem Einfluß des Materiellen ausbilden und ist an das materielle Leben gebunden. Ich habe es deshalb oft betont, daß dasjenige, was in unserem Bewußtsein leben will unter dem Einflusse der äußeren Umgebung, nicht durch die Todespforte geht, sondern, nachdem der Mensch durch die Todespforte gegan­gen ist, nur in der Erinnerung des anderen Ichs weiterleben kann, das dann aufglänzt, wenn der Mensch durch die Todespforte gegan­gen ist. Also da unten in den unterbewußten Tiefen, da waltet sonst ein Leben, wenn der Mensch sich nicht so erzogen hat für das bloß äußere materielle Leben, wie das bei vielen Menschen der Gegen­wart schon der Fall ist. Und man kann ja den Unterschied sehr wohl bemerken. Menschen, welche sich nur für das äußere materielle Leben erzogen haben, werden, wenn man ihnen ein solches Sym­bolum vorführt, wie das Sterben und Auferstehen des Hieram, sogar vielleicht lachen darüber, es komisch finden, so daß es ihnen als eine überflüssige Sache erscheint. Diejenigen aber, die mit den un­terbewußten Seelenkräften, mit denen, die wir als waltend im Astra­lischen finden, etwas empfinden, werden im tiefsten Sinn ergriffen von dem Symbolum und rufen aus ihrer Seele herauf diejenigen Fähigkeiten, die verstehen können die Unsterblichkeit, während die gewöhnlichen, an das physische Leben gebundenen Kräfte diese Unsterblichkeit nicht verstehen können.

Nun hat sich bei dem Osterfest noch etwas erhalten von dem, was im Urbewußtsein der Menschheit überhaupt mit dem Festesgedan­ken verbunden war. Wir haben auch das schon öfter besprochen. Wann halten wir denn heute noch das Osterfest? Die materialistisch gesinnten Menschen haben ja schon vielfach dasjenige, was mit dem Osterfest in bezug auf seine Festsetzung verbunden ist, überwinden wollen. Denn diese materialistisch gesinnten Menschen finden, daß

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das unbequem ist, wenn man ein solches Fest einmal Anfang April oder Ende April, Ende März und so weiter feiern soll, und es soll nach diesen Menschen der Gegenwart ein für allemal festgesetzt werden, daß etwa der erste Sonntag im April der Ostersonntag sei, damit man endlich weiß, wie man die Kontobücher in entsprechen­der Weise einzurichten hat, und nicht einmal diese Daten in den Kontobüchem überspringen muß, weil das Osterfest Ende März liegt, oder andere Daten in den Kontobüchern überspringen muß, weil das Osterfest zu einer anderen Zeit fällt. Die materialistische Gesinnung hängt nämlich durchaus mit den Kontobüchern zusam­men, das dürfen wir nicht vergessen, wobei nicht so sehr etwas gegen die Kontobücher gesagt sein soll, aber selbstverständlich sehr viel gegen die materialistische Gesinnung. Denn es kann etwas an sich sehr gut sein, aber dasjenige, was mit ihm zusammenhängt, braucht nicht immer sich danach richten zu müssen.

Nun ist ja vorläufig noch - es wird schon anders werden - das Bewußtsein vorhanden, daß das Osterfest eben nicht auf den ersten Sonntag des April fallen soll, sondern es ist das Bewußtsein vorhan­den, daß das Osterfest eingerichtet wird nach gewissen kosmischen Voraussetzungen, nach der gegenseitigen Stellung von Sonne und Mond. Sie fühlen es ja, wenn Sie jetzt bei einem klaren Himmel abends gehen,was es bedeutet für das menschliche Gemüt, daß Voll­mond vom Himmel herunterglänzt. An dem Sonntage nach dem er­sten Frühlingsvollmond, das heißt nach jenem Vollmonde, der nach dem Frühlingsanfang, nach dem 21. März fällt, wird das Osterfest gefeiert. Also die Festsetzung des Zeitpunktes für das Osterfest hängt ab von den Verhältnissen der Sonnen- und Mondenstellung. Das heißt, hier auf der Erde wird ein Fest begangen, das abhängig gemacht wird von kosmischen Zusammenhängen.

Was erklärt eigentlich die menschliche Seele, indem sie eine solche Festsetzung des Osterfestes vornimmt? Sie erklärt implicite damit: hier auf dieser Erde soll nicht alles nach bloß irdischen Ver­hältnissen geregelt sein, sondern es soll wenigstens dasjenige, was die Seele am tiefsten berührt, sich richten auch nach außerirdischen Verhältnissen. Hinschauen soll der Mensch auf das Symbolum der

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Unsterblichkeit: Grablegung und Auferstehung. Der Gedanke der Unsterblichkeit des Lebendigen, des Durchgehens der Seele durch die Todespforte, das soll dem Menschen im Bilde vorgeführt wer­den, sei es im Kultusbilde, wie im katholischen Kultus, sei es mehr im Gedanken, wie in anderen Konfessionen - darauf kommt es ja für die heutige Zeit schon weniger an. Aber indem der Mensch die­ses Bild von der Grablegung und Auferstehung in seiner Seele wal­ten läßt, soll dieses Bild so walten, daß, wenn die Seele dieses Bild in sich hat, die Zeit ist, in welcher Sonne und Mond in der entspre­chenden Konstellation gestanden haben, wie es eben aus der Kalendereinteilung ja immer ersichtlich ist. Ein Protest der mensch­lichen Seele, daß der Hinblick auf ein so wichtiges Symbolum sich nicht bloß unter irdischen Umständen vollziehen soll! Eine Aner­kennung, daß dieser Hinblick auf dieses Symbolum gebunden sein soll an kosmische, an außerirdische Verhältnisse !

Liegt diesem Gedanken, so dürfen wir fragen, eine Wirklichkeit zugrunde? Wir sind nur zu wenig geneigt, durch die Verführungen und Versuchungen der materialistischen Zeit heute, überhaupt den Gedanken der wahren Wirklichkeit zu fassen. Die Menschen wer­den sich heute ja, je materialistischer sie sind, desto mehr dem Wahne hingeben, daß sie die wahre Wirklichkeit ins Auge fassen. Warum sind denn die Menschen solche Materialisten? Aus dem Grunde sind sie es, weil sie dasjenige, was nicht materiell ist, nicht Wirklichkeit nennen. Gerade aus dem Wahn heraus, daß sie die Wirklichkeit erfassen, sind die Leute heute materialistisch gesinnt. Gewiß, und dennoch, im Grunde betrachtet, in Wahrheit betrachtet, muß man sagen, daß durch nichts der Mensch so sehr von der Wirk­lichkeit wirklich abgelenkt wird, als durch den Materialismus. Ein einfacher Gedanke kann uns das klar machen. Sie sitzen jetzt alle hier und hören dasjenige an, was ich spreche. Nun, dasjenige, was ich jetzt eben gesprochen habe, ist ja noch nicht so arg wie manches, was ich in anderen Vorträgen gesprochen habe, ich meine arg für den materialistisch Denkenden. Denken Sie sich nun Sie alle ersetzt durch recht materialistische Denker, sagen wir zum Beispiel aus dem Monistenbund. Würde nicht, ganz real betrachtet, in diesem Saale

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etwas ganz anderes vorgehen durch Menschenseelen, wenn hier lauter Monistenbündler jetzt zuhörten statt Ihrer? Warum denn? Wenn Sie auf die Realitäten schauen, auf dasjenige, was in den Seelen lebt, müssen Sie doch zugeben: Ganz anderes würde vorge­hen, wenn hier lauter Monistenbündler säßen. Warum denn? Nun, Sie werden ja zugeben, rein abstrakt-hypothetisch, nicht in Wirklichkeit, könnte man ja auch sagen: es hätte Sie Ihr Karma führen können, statt hierher, in irgend einen Monistenbund. Es hat Sie nicht dahin geführt, deshalb ist das Ganze selbstverständlich hypothetisch und eine unwirkliche Annahme. Aber man könnte sie in abstracto doch machen, diese Annahme. Dann würde es aber doch wirklich nicht zu viel gesagt sein, wenn behauptet wird, es hörte in Ihren Leibern etwas ganz anderes zu, als jetzt zuhört, da Sie schon anderes aus unserer Geisteswissenschaft aufgenommen haben. Wahrhaftig, dasjenige, was wir im Laufe des Lebens ent­wickeln, das hört mit zu, das klingt immer mit an. Und man darf sagen, mit vielen oder den meisten von Ihnen hört dasjenige mit zu, was in Ihrer Seele sich eingelebt hat im Verlaufe der Zeit, die Sie mit der Strömung der Geisteswissenschaft verlebt haben. Der Mensch wird durch dasjenige, was er lebt, was er erlebt, fortwäh­rend etwas anderes. So in abstracto von dem Menschen im allgemei­nen zu sprechen, ist eine Unwirklichkeit. Es ist gar kein Wirklich­keitsgedanke, von dem Menschen im allgemeinen zu sprechen. So-bald man auf die Realitäten geht, kommt man darauf, wie unwirk­lich man eigentlich ist, wenn man dasjenige nur betrachtet, was heute der Mensch so vielfach im Auge hat, wenn er vom Menschen spricht: wenn er als Anthropologe spricht, nicht als Anthro­posoph.

Nun sehen Sie, das ist leicht für Sie zu übersehen und zu beuftei­len, was, man möchte sagen, an Ihrer Seele geprägt hat das Geistes-wissenschaftliche. Aber an dieser Seele prägt viel mehr, viel, viel anderes prägt an dieser Seele. An den Menschenseelen prägt wahr­haftig vieles, und Sie brauchen nur zu bedenken, daß eben ein Unter-bewußtes, ein Astrales, mit der Menschenseele verbunden ist, und Sie werden sich sagen: Was nun von der Welt draußen hineinspielt in

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die Menschenseele, ohne daß man es weiß, weil es unterbewußt bleibt, ist vielleicht das weitaus Bedeutungsvollste, Kräftigste. Manchmal las­sen die Menschen so etwas anklingen von einem leisen Bewußtsein, manchmal auch von einem unendlich liebenswürdigen Bewußtsein davon, daß in ihreUnterseelemancheshereinspielt, das sogar nichtein­mal irdisch ist. Wer kennt sie nicht, die liebenswurdigen, schönen Dich­tungen, die Liebesdichtungen, die anknüpfen an den Mondenschein und die ein leis-liebenswürdiges Bewußtsein davon verraten, daß die Unterseele, die unbewußte Seele wohl in einem Zusammenhange steht mit dem Nichtirdischen, das vom Mondenlichte, im Monden-lichte erglänzt. Versuchen Sie einmal, mit Ihrer Seele sich zu ver­gegenwärtigen, wieviel in der Lyrik enthalten ist von den im Mon­denschein spazierengehenden Liebesleuten und wie da leise-liebens­würdig anklingt das feine Weben des silbernen Mondenscheins. Und niemand wird behaupten wollen, daß die Menschenseele anzuge­ben wisse mit ihrem doch nun gewiß in bezug auf solche Sachen groben Oberbewußtsein, was eigentlich durchwebt und durchwallt diese Menschenseele vom Mondenschein herein. Ein ganz grobkiot­ziger Materialist wird natürlich sagen: Na, der Mond hat mit die­sen Liebesgefühlen nichts zu tun. - Aber auf solch grobklotzige Ein­wände wollen wir uns heute nicht weiter einlassen, sondern wollen da doch mehr vertrauen auf das leise-liebenswürdige Ins-Bewußt-sein-herauf-Walten derjenigen, die als Liebeslyriker gesungen und gesagt haben. Da ist also, ich möchte sagen, so etwas wie ein Strahl des Hereinleuchtens in das Bewußtsein davon, daß wirklich Kos­misches, Außerirdisches mit dem unterbewußten Weben und Wal­ten der Menschenseele zu tun hat. Und wenn Sie sich erinnern an das am Donnerstag Gesagte und wiederum am Sonnabend öffent­lich Gesagte von dem Walten und Weben des Volksseelenelements in das menschliche Seelenleben, dann werden Sie sich ja sagen müssen, daß dieses Volksseelenelement auch viel mehr im Unterbewußtsein waltet als im Bewußtsein. Denn dasjenige, was oftmals über das Walten des Volksseelenelements aus dem Unterbewußten in das be­wußte Leben heraufsteigt und in Begriffe gebracht wird, - na, das ist auch danach !

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Wahrhaftig, in dem, was in den Tiefen unserer Seelen waltet und was nur leise anklingend in das Bewußtsein heraufsteigt, ist gerade dasjenige, was da im astralischen Leibe waltet und webt, das Wich­tige, das, was nicht irdisch ist. Und derjenige, dessen Seele geöffnet wird für die Eindrücke der geistigen Welt, der weiß: Unsere Erde ist nicht nur dadurch etwas anderes im Frühling und im Herbste, daß im Frühling die Vegetation herausschießt und im Herbste geern­tet wird, sondern der Erdenfleck, der überleuchtet wird vom Mon denlichte, ist etwas anderes als die Erde, wenn sie nicht überleuchtet wird vom Mondenlicht. Wir müssen uns vorstellen, daß ja nicht bloß da oben im Himmelsraum schwebt die silberne Kugel oder die silberne Sichel, sondern daß ein Lichtgewebe um uns ist, das geistig ist, in dem wir selber mit unseren Seelen leben und weben und schwimmen, wie wir mit unserem Körper im Wasser schwimmen, wenn wir das tun. Und anders wird immer dasjenige, was da in der Erde oder um die Erde webt und lebt, je nachdem der Mond in die­sem oder jenem Verhältnisse zur Sonne ist.

Diese Sonne steht nach dem 21. März in einem ganz anderen Verhältnisse zur Erde als vor dem 21. März. Und dasjenige, was uns als Sonnenlicht vom Monde auf die Erde zurückgestrahlt wird, ist daher nach dem 21. März etwas ganz anderes als dasjenige, was vor­her zurückgestrahlt wird. Der erste Vollmond nach Frühlingsbeginn, der die erste Stärke der wiedererstandenen, der wieder auferstande­nen Sonne uns zurückgibt, ist etwas anderes, als jeder andere Voll­mond. Unser Astralisches also wäre nicht dasselbe, wenn es, sagen wir, im Dezember auf das Symbolum der Grablegung und Auf­erstehung hinblicken würde, als wenn es in der Woche nach Früh­lings-Vollmond hinblickt: etwas ganz anderes ist unsere Seele in dieser Zeit. Wenn unsere Seele im Kleinen schon etwas anderes ist dadurch, daß wir etwas Geisteswissenschaft aufgenommen haben und nicht Monistenbündler sind, so ist unsere Seele dann etwas wesentlich anderes im Mondenlichte nach der Frühling-Sonnen-wende, als, sagen wir, nach der Winter-Sonnenwende. Unsere Seele kann daher etwas anderes erleben zu dieser Zeit, als zu einer an­deren Zeit. O meine lieben Freunde, wenn der Mensch nur bedenken

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möchte, was er eigentlich ist, womit er eigentlich zusammen­hängt! Der Mensch würde dann mit einer ungeheuren Pietät von dem Göttlichen in sich selber sprechen. Und das Sprechen von dem Göttlichen in sich selber würde ihn gerade nicht hochmütig, sondern recht bescheiden machen, da dann über ihn kommen würde der Ge­danke: Was, was ist eigentlich in der Welt alles notwendig, damit dieses Wesen, als das er selber sich erscheint, in der Welt dasteht.

Wenn Geisteswissenschaft heute auftritt, so ist es neben vielen anderen Gründen auch aus diesem heraus, daß der Gesichtskreis der Menschen wieder erweitert werde, der so eingeschränkt worden ist unter der materialistischen Entwickelung. Erweitert wird wirklich das Denken, das Empfinden, das Wollen, das Fühlen der Seele, wenn man die Gedanken der Geisteswissenschaft in wirklichem, echtem Sinne aufnimmt. Man macht sich heute nur viel zu wenig klar, daß die materialistische Entwickelung wirklich nicht bloß das­jenige gebracht hat, was man den Materialismus nennt, sondern daß diese materialistische Entwickelung noch ganz anderes gebracht hat, gebracht hat vor allen Dingen, ich möchte sagen, die Verkürzung des Gedankenlebens. Die Gedanken sind alle klein geworden; sie müssen wieder groß werden. Es muß wiederum die Möglichkeit ent­stehen unter den Menschen, die Dinge in großen Zusammenhängen zu sehen. Ich möchte, daß man fühlt, daß bei alledem, was zusam­menhängt zum Beispiel mit denjenigen Künsten, wo der Mensch selber mit als Material wirkt - und das ist ja schließlich der Fall fast bei allen Künsten -, zu einem tieferen Verständnisse wirklich führen kann ein solcher Gedanke, wie er aus der Geisteswissenschaft heraus am letzten Sonnabend klar gemacht worden ist. Denken Sie sich einmal, wenn dem Menschen wiederum klar werden kann, wie er eigentlich aus zwei Gliedern besteht: aus dem Haupte, das auf einer viel späteren Entwickelungsstufe steht, das gewissermaßen schon mehr verhärtet ist als der übrige Organismus, der auf einer weniger weitgehenden Entwickelungsstufe steht. Denken Sie, was daraus alles hervorgeht für das Zusammenwirken dieses außer dem Haupte befindlichen menschlichen Organismus mit dem Organismus des Hauptes selber. Wenn wir eine Hand bewegen, führen wir eben

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eine Bewegung aus. Ja, diesen Händen liegt der Ätherleib zugrunde, der führt diese Bewegung mit aus. Was geschieht, wenn ich Hand­bewegungen mache? Ich habe es hier schon einmal auseinander­gesetzt: Die Hände, die physischen Hände und die Ätherhände, führen die gleichen Bewegungen aus. Wenn ich denke, so führen der linke und der rechte Hirnlappen als Ätherkopf auch Bewegun­gen aus, die ganz ähnlich sind den Handbewegungen. Aber das Phy­sische wird gefesselt, ist in der festen Hirnschale eingeschlossen, ist ein gefesselter Prometheus. Und darauf beruht das Denken. Würde nicht durch äußere Fesselung, sondern durch organische Fesselung der Mensch schon jetzt so sein, wie er sein wird, wenn die Erde ein­mal zugrunde gegangen und der Jupiter da sein wird, wo seine Arme ebenso gefesselt sein werden wie jetzt sein Hirnlappen ist, so wurde auch von der Bewegung der Hände das zurückbleiben, was Denken ist.

Aber ich will an einem viel konkreteren Beispiel Ihnen zeigen, was Ihnen gerade vielleicht aus unserer Zeitgeschichte heraus einiges klar machen kann: wie bei den besten Menschen unseres Zeitalters die Gedanken kurz gemacht worden sind, so daß man wirklich mit dem Gedanken im Raum und in der Zeit nur mehr Kurzes über­sieht, während dasjenige, was wir vor allem brauchen, ist, daß die Gedanken wiederum groß werden, daß sie wiederum vieles über­schauen können. Ich will es Ihnen an einem Beispiel klar machen

Sehen Sie, vor seinem Selbstbewußtsein war Eduard von Hartmann, der Philosoph des Unbewußten, gar kein materialistischer Denker, er hielt sich durchaus nicht für einen Materialisten. Aber darauf kommt es weniger an, sondern darauf kommt es an, ob unsere Denk-gewohnheiten materialistisch sind. Man kann eine ganz idealistische Philosophie begründen, und kann dennoch ganz materialistische Denkgewohnheiten haben, und diese Denkgewohnheiten bewirken dann, ob man kurztragende oder weittragende Gedanken hat. Nun, Eduard von Hartmann hat unter anderem, nämlich unter vielem verdienstlichen Philosophischen, auch mancherlei Politisches geschrie­ben, und ich darf Eduard von Hartmann hier anführen, weil er als politischer Schriftsteller - er wurde wirklich zu seiner Zeit als politischer

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Schriftsteller sehr geschätzt - im eminentesten Sinne das war, was man nennen muß einen allerbesten deutschen, ja preußischen Patrioten. Das war Eduard von Hartmann. Niemand wird zweifeln können, daß Eduard von Hartmann dieses war, der zum Beispiel gewisse Briefe, die ja auch veröffentlicht sind, von ihm liest, worin er schreibt von dem Jahre 1866: Und wenn der Dänische Krieg und dasjenige, was darauf folgt, zunächst unglücklich verlaufen müßte, -ich glaube, daß Preußen die Vorherrschaft bekommen muß inner­halb Deutschlands, einfach weil es eine Notwendigkeit ist der Ideen-Entwickelung. - Also, ich meine, man kann Eduard von Hartmann in dem Sinne als einen allerinnerlichst gesinnten Patrioten nennen. Nun hat er so in den achtziger Jahren, 1889, über die allgemeine europäische Weltlage sehr schöne Aufsätze geschrieben. Sie wurden dazumal viel gelesen und unterlagen ja selbstverständlich dem &hicksal, dem heute alles, was geschrieben wird, unterliegt, ob es gut ist, ob schlecht: Die Dinge werden gelesen und vergessen. Heute werden diese Dinge, glaube ich, schon nicht mehr viel gelesen, die Eduard von Hartmann vor mehr als dreißig Jahren geschrieben hat. Er ging als Politiker nicht von abstrakten Ideen aus - das hat man auch anerkannt bei ihm -, nicht von allerlei Idealismen, sondern er war - Sie können das in unzähligen Rezensionen, die über seine politischen Bücher erschienen sind dazumal, lesen - im eminentesten Sinne das, was man realpolitisch nennt, das heißt ein Mensch, der mit den realen Verhältnissen gerechnet hat. Nun selbstverständlich, so weittragend waren Eduard von Hartmanns Gedanken, daß er sich vorgestellt hat die Konstellation der verschiedenen Großmächte Europas: Deutschlands, Österreichs, Italiens, Frankreichs, Englands, Rußlands, das alles, dazwischen die verschiedenen kleineren neu­tralen Staaten, und er hat nichts unterlassen, um genaue Studien hinter sich zu haben, wenn er einen Aufsatz geschrieben hat über die verschiedenen politischen Interessen dieser einzelnen Staaten. Nun hat er sich eine Idee gemacht in einem bemerkenswerten Auf­satz, der aus dem Jahre 1888 stammt - 1889 ist er schon in Buch­form erschienen -, hat sich Vorstellungen gemacht, wie die für Europa beste politische Konstellation sein müßte. Ich setzte voraus,

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daß er ein guter, nicht nur deutscher, sondern sogar preußischer Patriot war, also selbstverständlich vom Standpunkte des preußischen Patrioten aus gesprochen hatte. Da hat er denn als das Beste für Deutschland und Europa hinzustellen versucht an Bündnissen, die sich entwickeln müßten, und das Heil von Deutschland und von Europa, mit einem möglichst mächtigen Deutschland darinnen, hat er gesehen in der Entstehung eines Bündnisses: Schweiz, Belgien, Holland unter englischer Führung als ein gemeinsamer Neutralitätsbund, der am allersichersten dasjenige hervorbringen müßte, was gerade ein deutsch-preußischer Patriot ersehnen und erhoffen kann - 1889!

Die Schweiz, Belgien, Holland, vereinigt unter englischer Füh­rung ! Nun bitte ich Sie, die Sache doch mit vollem Ernste anzu­sehen und dasjenige damit zu vergleichen, was die Leute heute schon sagen müssen, nachdem nur das eine, ich möchte sagen, halb zustande gekommen war vor diesen kriegerischen Ereignissen: Bel­gien unter Englands Führung! Eduard von Hartmann ersehnte Belgien und die Schweiz und Holland unter englischer Führung! Es ist interessant, an einem solchen konkreten Beispiel zu sehen -und wenn man die Gebiete des Lebens nehmen würde, so würde man unzählige Beispiele für diese und ähnliche Verhältnisse aufzäh­len können -, wie gescheite Menschen vor dreißig Jahren gedacht haben und sich zu fragen: was denken gescheite Menschen heute? Sie sind ja alle gescheit, die Menschen, selbstverständlich ! Aber wieviel umfaßt denn solch ein gescheiter Gedanke? Wie lange ist er richtig? Und kommt es nicht bei einem Gedanken doch darauf an, daß man mit dem Gedanken in der Realität, in der Wirklichkeit drinnen steht, daß der Gedanke wirklich so ist, daß er unser Han­deln, unser ganzes Sein in der Welt tragen kann? Sie merken, was ich sagen will: Die ganze Entwickelung, die man als Zeitalter des Materialismus schildern kann, die bringt den Menschen kurze Ge-danken, Gedanken, die, wenn sie sich auf Zeitverhältnisse beziehen, vielleicht kaum für zwei, drei Jahrzehnte irgendwie gültig sind. Man darf diese Methode der kurzen Gedanken nur nicht anwenden, wenn die Menschen genötigt sind, längere Zeiträume ins Auge zu fassen. Solche politischen Urteile, wie die von Eduard von Hartmann, braucht

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man ja nach dreißig Jahren vielleicht nicht mehr anzuschauen, wenn man ein Buch über Eduard von Hartmann schreibt, nicht wahr? Denn es werden heute schon ziemlich viele Bücher geschrieben, ohne daß man alles dasjenige zu Rate zieht, was man zu Rate ziehen sollte.

Nun aber, auf einem anderen Gebiete sind die Menschen sehr ge­nötigt, auf eine längere Dauer der Urteile zu achten. Das ist zum Beispiel bei den Heilmitteln. Bei den Heilmitteln geht es nicht so leicht wie bei den politischen Beurteilungen der Lage. Und den­noch: Der medizinisch gut durchgebildete Philosoph Lotze hat mit vollem Rechte ausgesprochen, daß die Begeisterung, die für ein Heilmittel sich geltend macht, in der Regel fünf Jahre dauert, wenn dieses Heilmittel in der heutigen Zeit gefunden wird, und daß dann nicht nur die Begeisterung schwindet, sondern auch sehr bald jener ungeheure Kultus, der mit dem betreffenden Heilmittel getrieben wird. Das merken die Menschen schon etwas mehr als bei poli­tischen Beurteilungen. Und Gustav Theodor Fechner, der ein geist-reicher Mann war, hat in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eine recht interessante Abhandlung geschrieben. Dazu­mal war nämlich auch gerade ein neues Heilmittel aufgekommen, das Jod, Jodin, wie man sagte, und man hat allmählich angefangen, unzählige Krankheiten aufzuzählen, die durch Jodin geheilt werden können. Da hat denn Gustav Theodor Fechner eine nette Abhand­lung geschrieben, in der er nach allen Regeln der Wissenschaft zu beweisen versuchte, daß der Mond aus Jodin bestehe, daß man also nur eine Methode brauche, das Mondenlicht einzufangen, dann würde man dieses Allheilmittel in einer wunderbaren Weise überall verwerten können. Gustav Theodor Fechner war, wie Sie wissen, später der Begründer einer naturwissenschaftlich gedachten Ästhe­tik, war der Begründer der Psychophysik, war überhaupt ein aus­gezeichneter Physiker. Also wir dürfen ihn nicht unter die vertrak­ten Theosophen rechnen, nicht wahr? Fechner wird ja sogar von Leuten, die mit anderthalb Füßen in den Monistenbünden darinnen stehen, ernst genommen; die mit beiden Füßen darinnen stehen, nehmen ihn schon nicht mehr ernst. Überall zeigt sich eben eine gewisse

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Kürze des Urteils, ein gewisses Leben in Begriffen, die nicht weittragend sind.

Insbesondere ist das der Fall, wenn man die Wissenschaft im heutigen Sinne mit derselben Methode heraufgehoben findet von dem, was eigentliche Naturwissenschaft ist, in das Geisteswissen­schafdiche, das heißt in das, was man heute geisteswissenschaftlich nennt. Ja, da ist es ganz trostlos, und das einzige Mittel für die Menschen, diese Trostlosigkeit nicht zu bemerken, besteht darin, daß sie immer nur den einen Schriftsteller kennen lernen oder ein paar, die im gleichen Sinne schreiben und gar nicht das Riesenchaos wahrnehmen, das zum Beispiel entsteht, wenn man für dasselbe Ge­biet ein paar Schriftsteller, Forscher, wie sie sich auch nennen, ins Auge faßt. Wenn Sie für dasjenige Gebiet, was man Völkerpsycho­Iogie oder Rassenpsychologie nennt, die hervorragendsten Schrift­steller wirklich einmal nehmen und nebeneinander lesen, da werden Sie - verzeihen Sie den harten Ausdruck - Augen machen, unge­heure Augen machen ! So zum Beispiel kann man finden, daß die Menschen, indem sie eben die Denkweise, die heute gültig ist, auf die verschiedenen Völker Europas anwenden, indem sie rein wissen­schaftlich - selbstverständlich «objektiv» - die Bevölkerung Mittel-europas schildern, sie schildern als abstammend von den Germanen. Nun schildern sie die Germanen als mit allen möglichen Eigenschaf­ten ausgestattet. Dann schildert, sagen wir, ein Franzose die Fran­zosen. Man hat ihm weisgemacht, daß diese zum Teil von den alten Kelten abstammen; da schildert er die Kelten. Und dann ver­gleicht man und findet, daß derjenige, der Mitteleuropa und in Mitteleuropa die Germanen beschreibt, dieselben Eigenschaften den Germanen zuschreibt, die der Franzose den alten Kelten zuschreibt. Das einzige, was die Leute nicht wissen, das ist, daß innerhalb Mitteleuropas viel mehr Keltentum lebt als innerhalb Westeuropas im Franzosentum, viel mehr Keltenelement. Das wissen nur die Menschen nicht.

Ja, man trifft noch viel gelungenere Einzelheiten. Da könnte ich Ihnen einen heute vielgenannten Völkerbeschreiber anführen. Nicht wahr, die Leute führen ja auch Beispiele einzelner Menschen an,

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insoferne sie aus diesem oder jenem Volkstume stammen. Da kommt zum Beispiel ein solcher Volksbeschreiber auf Byron zu sprechen. Er lieht Byron, das sieht man, aber nicht um etwas anderem willen als darum, weil er Byron ansieht und sagt: So wie Byton ist, sieht man, daß er eigentlich gar kein Engländer war, sondern eigentlich ein Deutscher. - Es steht ernsthaft in einem Buch über Volks-psychologie! Ein ganzer Deutscher ist Byron ! Ein anderer, der wahr­scheinlich Byron nicht so gern hat, schaut sich auch den Byron an, ist auch Volksseelen-Beobachter, von Beruf sogar, nennt sich sol­cher. Der findet: Byron ist so abstoßend, weil er ein Kelte ist. Es ist ein ganzer Kelte !

Ich könnte Ihnen unzählige solche Beispiele anführen, wo die Begriffe wirklich zeigen, wie wenig tragend sie sind. Wirklich, man kann sehen, wie wenig tragend die Begriffe sind, die an der heu­tigen sogenannten sicheren naturwissenschaftlichen Methode ge­wonnen werden, wenn sie heraufgetragen werden ins geistige Leben. Und denken Sie nur einmal, wie notwendig es dann ist, daß auf diesem Gebiete einmal der Geist einschlägt. Aber wie lange wird es dauern, bis man eine Seelenwissenschaft hat von der Art, wie ich versuchte, sie dem Ideale nach am letzten Donnerstag zu schildern. Und dennoch: nur eine solche Seelenwissenschaft kann verständlich machen, was eigentlich in Europa waltet, und kann auch die Ver­ständigung bringen, die notwendig ist, wenn die Kultur Europas weitergehen soll.

Es ist ja vieles in den letzten Kriegsmonaten geschrieben worden. Nun, ich weiß nicht, ob das Lesen die richtige Verwendung ist für alles dasjenige, was da geschrieben worden ist; aber unter dem mancherlei Guten, das ja auch geschrieben worden ist, dem relativ Guten, sind die Bücher des Schweden Kjellen. Da finden Sie ein ganz gutes Urteil im Zusammenhang mit dem, was gegenwärtig geschieht, ein allgemeineres Urteil, das dahin geht, daß man etwa dahin zusammenfassen kann: Wir haben es nach und nach in der Menschheitsentwickelung zu einer ungeheuer intensiven materiellen Kultur gebracht. Die lebt sich überall aus. Und nun wahrhaftig, der Geisteswissenschafter hat, wie ich oftmals sagte, keine irgendwie

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geartete Notwendigkeit, dieses Große der äußeren materiellen Kul­tur nicht anzuerkennen und zu betonen. Aber wenn man damit ver­gleicht dasjenige, was die Menschen an geistigen Werten hervor­gebracht haben, so muß man sagen: Mit diesen geistigen Werten diese intensive materielle Kultur irgendwie zu bezwingen, zu be­herrschen, ist ganz unmöglich. Und das ist das größte Leid unserer Zeit: die Unfähigkeit der Beherrschung desjenigen, was die mate­rielle Kultur heraufgebracht hat, durch geistige Werte. Da muß Geisteswissenschaft die notwendigen Empfindungen und Gefühle wirklich erzeugen, die dahin gehen, daß man einsieht: Gegen die großen geistigen Gesetze der Weltenordnung läßt sich nicht sün­digen ! Die waltende Wahrheit fordert ihre Rechte. Man denke sich irgendein Gebiet materiell noch so glänzend ausgerüstet nach allen Richtungen hin und ohne geistige Werte, - dann wird dieses Mate­rielle, sei es ein Staats- oder sonstiges Gebilde, nicht gedeihen kön­nen, weil der Gang der Welt so ist, daß jeder Körper eine Seele braucht. Und im einzelnen könnte ich Ihnen dies klar machen. Ich möchte ein Beispiel anführen, das uns vielleicht nahe liegen kann. Nicht wahr, es soll zunächst nichts irgendwie, von dem, was man tun soll oder was man denken soll über das zu Tuende, jetzt berührt werden, aber ich darf doch dieses uns naheliegende Beispiel anfüh­ren, zunächst nur, ich möchte sagen, um eben ein uns naheliegendes Beispiel vorzubringen.

Wir pflegen dasjenige, was uns Geisteswissenschaft ist, innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft. Diese Anthroposophische Ge­sellschaft unterscheidet sich von allen anderen Gesellschaften durch mannigfaltige Eigenschaften. Eine solche Gesellschaft, wie andere Vereine es sind, kann die Anthroposophische Gesellschaft, wenig­stens unter den jetzigen Verhältnissen, nicht sein. Warum nicht? Aus einem einfachen Grunde ! Was machen andere Vereine, wenn sie sich begründen? Sie machen Programme, und auf ein gewisses Programm hin vereinigt man sich, nicht wahr? Man drückt seine Zu-stimmung zu diesem Programm aus. Wenn man austritt, stimmt man nicht mehr mit dem Programm überein. Wenn sich der ganze Verein auflöst, so tun die Programmpunkte auch niemandem weh, nicht

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wahr. Man kann zusammengehen, kann wiederum auseinandergehen. Das ist der Fall bei jedem Mechanismus in der Welt. Weismann ver­suchte einmal, vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus den Organismus zu charakterisieren. Er brachte natürlich nur eine nega­tive Eigenschaft zum Bewußtsein, aber diese negative Eigenschaft stimmt: Was ist ein Lebendiges? fragte Weismann. - Dasjenige, was, wenn es sich auflöst, einen Leichnam zurückläßt. - Es ist natürlich das Lebendige an sich nicht charakterisiert, aber man muß schon sagen, es ist etwas Richtiges daran, daß das Lebendige negativ da­durch charakterisiert ist, daß man einen Leichnam zur ü ckläßt Unsere Anthroposophische Gesellschaft ist ein Lebendiges wirklich schon dadurch, daß in den Händen unserer Mitglieder so und so viele Zyklen sind, von denen wir zunächst, so, wie die Gesellschaft ist, haben wollen, daß sie Nichtmitglieder in der Regel nicht in die Hände bekommen. Damit ist aber gegeben, daß das Austreten nicht so ohne weiteres geschehen kann, sonst nimmt ja der Betreffende alle Zyklen mit; aber davon will ich gar nicht sprechen. Jetzt kann man die Zyklen schon bei den Antiquaren kaufen ! Sie sehen daraus, daß es schon - Beispiele davon sind vorgekommen - ins Auge ge­faßt werden muß, daß die Anthroposophische Gesellschaft ein Orga­nismus ist; denn denken Sie sich, wenn sich die Anthroposophische Gesellschaft auflöst, so läßt sie einen Leichnam zurück: die Zyklen sind ja da ! Eine andere Gesellschaft, die nach mechanischen Grund-sätzen aufgebaut ist, die kann sich auflösen, ohne einen Leichnam zurücl::zulassen: die Leute gehen auseinander, die Programmpunkte sind ja wirklich kein Leichnam, der zurückbleibt. Wie gesagt, in der jetzigen schweren Zeit kann nicht gedacht werden an Reformen oder an irgendwelche solche Dinge, aber was ich sagen will, ist etwas anderes. Glauben Sie nicht, meine lieben Freunde, daß man nun sagen kann: Nun ja, die Gesellschaft kann ja doch weiter bestehen, warum soll sie nicht weiter bestehen? - Dann besteht sie nicht in Wahrheit, lebt sie nicht in der Wahrheit! Wenn sie unter der Vor­aussetzung lebt, daß Zyklen nicht bei Antiquaren gekauft werden können, so lebt sie, wenn sie doch dort gekauft werden können, nicht in der Wahrheit, sondern in der Lüge. Das ist ja ganz selbstverständlich.

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Und für den Betrieb der Geisteswissenschaft ist Wahr­heit, absolute Wahrheit notwendig. Darüber kann man sich hinweg­setzen im abstrakten Denken; aber derjenige, der da weiß, wie Wahrheit ein Reales ist, das in der Welt wirkt, der kann sich nicht darüber hinwegsetzen.

Das ist nun auch etwas, was in unsere Seelen hereinzieht, wenn Geisteswissenschaft in uns zur Empfindung wird, daß jeder Ge­danke so gefühlt wird, wie er in der Wirklichkeit drinnen steht, wahrend das abstrakte Denken, das dem Materialismus entspricht, wirklich sich nicht darum kümmert, wie ein Gedanke in der Wirk­lichkeit drinnensteht. Aber man macht ja wirklich eigentümliche Erfahrungen, wenn man versucht, Gedanken niederzuschreiben, sagen wir, die in der Wirklichkeit leben. Was macht man heute damit für Erfahrungen? Man macht die Erfahrungen, daß die Leute sie höchstens noch so nehmen, wie andere Gedanken, die zum Bei­spiel in der Zeitung stehen. Nicht wahr, sie brauchen ja nicht gleich einen solchen Realitätswert zu haben, wie ein langer Leitartikel des «Piccolo della Sera», der mir einmal in die Hand gekommen ist, der sich lang, lang ergossen hat über irgendeine Tatsache. Man konnte lesen und so recht - Entrüstung war es ja wohl, was man sich aneig­nen konnte, durch drei Spalten; und dann las man weiter: da war die ganze Sache dementiert ! Man brauchte nicht einmal zu warten bis zum nächsten Abend auf das Dementi, es war im selben Blatt! Es braucht nicht so weit zu gehen, aber, wie gesagt, das Äußerste, was einem heute passieren kann, wenn man versucht, wahrhafte Ge-danken, das heißt nicht nur solche Gedanken, von denen man glaubt, sondern von denen man weiß, daß sie im Wahren walten, hinzustellen, ist, daß die höchstens so genommen werden wie andere Sachen auch. Man liest sie so, wie man Zeitungen liest, die ja doch zumeist innerhalb 24 Stunden - zumeist - nur gelten. Ja, dieses Be­wußtsein von der Verantwortung, mit seinen Gedanken drinnen zu leben in der Wirklichkeit, das ist etwas, was mit Geisteswissenschaft kommen muß. Und wenn der Ernst unserer Zeit uns zu etwas er-mahnen soll, so ist es schon auch dieses: sich für seine Gedanken verantwortlich zu fühlen.

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Das alles, meine lieben Freunde, zeigt, wie eingeschränkt das Denken wird, wenn es sich nur auf das Bewußte, das ja zunächst an das Materielle gebunden ist, einschränken soll. Daher dürfen wir uns nicht verwundern, wenn diejenigen Kulturströmungen im Ent­wickelungsgange der Menschheit, welche tiefer eingreifen sollen als dasjenige, was das Alltagsieben ist, auch mit anderem rechnen wol­len als mit dem, was nur auf das gewöhnliche Bewußtsein wirkt. Und so ist es immer gewesen mit den tieferen religiösen Kultur­impulsen. Warum kam denn in die Entwickelungsgeschichte der Menschheit so etwas hinein wie der Osterkultus? Und warum wurde denn dieser Osterkultus in Zusammenhang gebracht mit der Kos­mologie, mit demjenigen, was sich draußen in den weiten Himmels­räumen abspielt zwischen Sonne und Mond? Weil der Mensch, wenn er nur auf die Erlebnisse der Erde beschränkt wäre, verfallen würde in die alleräußerste Kurzsichtigkeit sowohl im Denken wie im Fühlen wie im Wollen. Nur dadurch kann der Mensch größere Umschau erhalten für das Leben, kann seine Gedanken weiter ma­chen, daß er in der richtigen Weise nun nicht nur sein physisches Ichbewußtsein eingliedert den irdischen Erlebnissen, sondern sein astralisches Unterbewußtsein eingliedert den großen kosmischen Ereignissen.

Wenn der allerwichtigste Gedanke, der Gedanke an die Unsterb­lichkeit, an den Kosmos angegliedert wird, so hat das in religiöser Beziehung wahrhaftig seinen guten Untergrund. Denn würde der Mensch nur aus demjenigen stammen, was irdisch ist, er würde nie­mals den Gedanken der Unsterblichkeit überhaupt fassen. Wäre der Mensch, wozu ihn der bloße Materialismus in der Naturwissenschaft machen will, so ein höher ausgebildeter Affe, es gäbe nichts in ihm was auf diesen Gedanken der Unsterblichkeit käme.

Wie kurz die Gedanken der Naturforscher auf diesem Gebiete übrigens sind, wenn sie philosophisch werden wollen, dafür kann ich Ihnen auch ein schönes kleines Beispiel geben: Ich schlug vor einigen Tagen ein Buch auf, in dem einer sich - er ist vielleicht nicht in einem Monistenbund, aber er könnte es sein - im Sinne der Monistenbündnisse in materialistischem Sinne über den Zusammenhang

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des Menschen mit den Affen ausspricht; nicht in dem Sinne, wie es ja berechtigt ist und wie wir dies oftmals selbst getan haben. Der sagt da in einer seiner Abhandlungen gleich im Anfange, er könnte Beweise anführen, daß Reisende in gewissen Gegenden ge­kommen sind, wo durch Kultur-Verkommnis die Menschen so tief heruntergekommen sind, daß sie dieselben Instinkte und Triebe haben wie die Affen. Nun, wenn man das erlebt, sagt er, daß die Menschen heruntersinken können bis zur Affenhaftigkeit, wenn die Menschen sich bis zum Affen entwickeln können in ihrem Gebaren, dann ist es doch logisch gegeben, selbstverständlich, daß sich aus dem Affen auch der Mensch entwickeln kann. Selbstverständlich, Logik! Es ist doch ganz klar, nicht wahr: Wenn der Mensch älter wird, wird aus einem Kinde ein Greis, das kann man, ohne daß man Reisen macht, ersehen. In demselben Sinne wird der Mensch aus einem Kind ein Greis, wie da, nicht wahr, durch Kultur-Verkomm­nis der Mensch bis zur Affenhaftigkeit heruntersinkt. Und ebenso logisch, wie es dann ist zu sagen: Wenn der Mensch zum Affen wer­den kann, warum soll nicht aus dem Affen auch ein Mensch wer­den? - ebenso könnte man mit derselben Logik sagen: Wenn das Kind zum Greise wird, warum sollte nicht wiederum aus einem Greise ein Kind werden? Die Logik ist genau dieselbe. Das Schlimme ist ja nicht bloß das, daß die Leute solche Logik ausbilden, sondern das wird alles gelesen, und man merkt nicht, welches ganz ausgewalzte Blech eigentlich diesen Dingen zugrunde liegt.

Wenn der Mensch eben wirklich nur mit den irdischen Verhält. nissen zusammenhängen würde, wenn dasjenige, was in ihm ist, nur von der Erde wäre, dann würde er auf den Gedanken der Un­sterblichkeit nicht kommen. Man kann nun - sei es durch Geistes­wissenschaft, sei es auf andere Weise - den Menschen zusammen-bringen mit dem Kosmos, mit demjenigen, was außerirdisch ist; dann kann der Unsterblichkeitsgedanke in ihm erblühen. Man kann auch kommen und sagen: Alles Faseln über außerirdische Verhält nisse ist doch nur reine Phantasterei. Das kann man; aus der gei­stigen Auffassung des Menschen kann man herausbringen das Gei­stige. Das versucht ja dasjenige, was monistischer Materialismus ist,

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heute genügend auf allen möglichen Gebieten. Aber aus der Seele des Menschen kann man es nicht herausbringen, denn der Mensch ist nicht bloß von Erde, ist nicht bloß aus irdischen Verhältnissen. Lassen Sie daher die Wissenschaft und die Geistesrichtung weiter­leben, die den Menschen nur zu Gedanken und Gefühlen und Emp­findungen über Irdisches bringt, dann lebt in seiner Tiefe dennoch dasjenige, was an übersinnlichen Kräften vorhanden ist, nur muß er es zurückdrängen. Dann wird dasjenige zustande kommen nach und nach, was die Kulturkrankheit des zurückgedrängten Spirituellen in der menschlichen Seele ist.

Die Zeiten sind ernst und wir können nicht genug in unserer Seele den Ernst der Zeit empfangen. Aber nur dann empfangen wir im richtigen Sinne dasjenige, was in diesem Ernst der Zeit walten soll, wenn wir nicht bloß an das Äußere denken, was geschehen soll durch die harten Prüfungen in unserer jetzigen Zeit, sondern wenn wir daran denken, wie dasjenige, was geschehen soll, zugleich sein muß ein Merkzeichen einer geistigen Erhöhung des ganzen Men­schengeschlechts.

Nur wenn aus diesen schweren Zeiten das hervorgeht, daß wenig­stens eine geringe Anzahl von Menschen durchdrungen ist von dem Bewußtsein: Es bedarf die Menschheit der Vergeistigung -, kann aus dieser schweren Prüfungszeit dasjenige werden, was im Sinne des Weltengeistes ist. Nicht ohne dieses, wie auch die Dinge ausgehen sonst, aber mit diesem - wie auch die Dinge ausgehen -wird für die Menschheit Gutes ersprießen.

Wir fassen Geisteswissenschaft nur, wenn wir in ihr sehen nicht nur, wie ich oft gesagt habe, eine Weihnachts-, sondern auch eine Osterverkündigung, dahingehend, daß wir begreifen, was eigentlich mit dem Gedanken an die Unsterblichkeit für das ganze Wesen des Menschen zusammen erschaut werden muß. Nur dann können wir die Unsterblichkeit fassen, wenn wir das Unsterbliche im Menschen ergreifen. Fichte, Hegel und viele andere, sie haben schon gewußt:

Die Menschenseele wird nicht erst unsterblich, wenn sie durch den Tod gegangen ist, sie ist unsterblich und ist als Unsterbliches in uns zu finden; daher eine Wissenschaft gesucht werden muß, welche

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außer dem sterblichen Leibe die unsterbliche Seele des Menschen ins geistige, ins seelische Auge faßt.

Es ist ganz natürlich, daß unter dem Glanze der naturwissen­schaftlichen Entwickelung in den letzten vier Jahrhunderten die Be­trachtungen des geistigen Lebens zurückgehen mußten, und mit der Betrachtung des geistigen Lebens ist die Hinneigung zum Geistigen auch aus der äußeren Welt gewichen. Aber es muß eine Zeit wieder­kommen, wo jener Hieram oder, wie wir sagen: jener Teil des Christus, der immer da ist und uns von dem Übersinnlichen spricht, wieder aufersteht, nachdem er in der Karwochenzeit der Kultur-entwickelung begraben war. Wahrhaftig, fassen wir den Gedanken, daß damals, als der große Kopernikus, als der große Kepler erschie­nen sind und Galilei und sie alle, welche zunächst die Gedanken der Menschen hinlenken mußten auf die äußere Welt, daß damals ein Welten-Gr ündonnerstag war, und ein Karfreitag folgte. Begraben wurde diese Anschauung von dem Unsterblichen. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, wo der Welten-Ostersonntag kommen muß und wo gefeiert werden muß jene heilige Auferstehungsfeier des mensch­lichen Seelen- und Geisteswissens. Es geziemt uns wohl, Karwochen-stimmung in unserer jetzigen Zeit zu haben. Aber nur, wenn wir die Kraft haben, uns für den Welten-Ostersonntag auch zu rüsten, dann werden wir innerhalb unseres Seelenerlebens die Kultushandlung auch vollziehen können, die äußerlich als Osterkultus-Handlung vielfach da ist. Schwarze Trauerstimmung in den Karwochentagen: die Prie­ster tragen schwarze Trauerstimmung, schwatze Trauerkleider, weil da der Leichnam des gestorbenen Christus im Grabe ruht. Dann folgt die Auferstehung: Freundliches helles Ftühlingsgewand er­setzt die schwarze Trauerkleidung in dem Moment, wo an die Stelle des Grabesgedankens der Auferstehungsgedanke tritt. Es ziemt uns heute, Trauer zu tragen in unserer Seele. Aber rüsten wir uns, damit wir geistig Osterkleidung tragen dürfen, wenn die Zeiten wiederum andere sein werden.

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SIEBENTER VORTRAG Berlin, 25. April 1916 Die Lebenslüge der heutigen Zeit

Den Ausgang möchte ich auch heute wiederum nehmen in unseren Betrachtungen von Dingen, die wir auch in den verflossenen Be­trachtungen gepflogen haben. Von den Gebräuchen gewisser Brü­derschaften habe ich gesprochen und einiges angegeben, was in sol­chen Gebräuchen solcher Brüderschaften sich vollzieht, einiges na­mentlich angegeben von der Art, wie, ich möchte sagen, verdorrt zu einem trockenen Gehäuse die tieferen Impulse der okkulten Brüder­schaften noch in der modernen Freimaurerei enthalten sind. Das letztemal im besonderen habe ich angeknüpft an jenen Gebrauch, der da darstellt die Grablegung und Auferstehung und der ja im Grunde genommen nichts anderes ist als dasjenige, was man den Ostergebrauch nennen könnte. Heute will ich, wie gesagt, den Aus­gang nehmen von etwas anderem, das mit diesen Dingen ver­knüpft ist.

Man sagt innerhalb dieser Kreise in hezug auf dasjenige, was man sucht, was da eigentlich erstrebt wird, man suche «das verloren gegangene Wort». Nun, ich kann mich auf Einzelheiten nicht ein­lassen, das würde zu weit führen, allein will man ein wenig nachforschen mit, ich möchte sagen, naheliegenden Mitteln nach dem, was mit dem verloren gegangenen Worte gemeint ist, so braucht man ja nur den Anfang des Johannes-Evangeliums ins Auge zu fas­sen: «Im Urbeginne war das Wort». Im Griechischen war das Wort immer: der Logos. «Und das Wort war bei Gott; und ein Gott war das Wort.» Mit diesem Worte ist ja - wir haben oftmals über diese Dinge gesprochen - selbstverständlich nicht dasjenige ge­meint, was wir jetzt mit dem Worte Wort bezeichnen, sondern mit diesem Worte ist etwas ganz anderes gemeint. Man kommt nur nahe dem, was damit eigentlich gemeint ist, wenn man sich erin­nert - und wir haben ja solche Dinge gerade in den letzten Stunden

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hier besprochen -, daß die Menschheit in uralten Zeiten eine Ur­Offenbarung gehabt hat, eine Ur-Weisheit. Denken Sie sich diese Ur-Weisheit, die der noch kindlichen Menschheit auf die Art gegeben worden ist, wie es hier besprochen worden ist, denken Sie sich diese in Ausbreitung und nennen Sie sie dann den Logos, das Urwort, dann werden Sie ungefähr eine Vorstellung von dem haben, was mit dem Worte, mit dem Logos gemeint ist. Und man kann ja sagen: Das­jenige, was einstmals durch die Vermittelung höherer Geister der noch in den Kinderzeitaltern stehenden Menschheit als eine Weis­heit gegeben worden ist, die weit überragt alles dasjenige, was wir heute auch in unserer Geisteswissenschaft schon wissen können, das ist verloren gegangen. Und es ist ein schöner Brauch, wenn in sol­chen Brüderschaften wenigstens das eine Gefühl, die eine Empfin­dung angeregt wird: daß so etwas verloren gegangen ist und daß es wieder gesucht werden müsse. Selbstverständlich wird es in die­sen Brüderschaften natürlich nicht etwa gefunden. Sonst wären ja alle diejenigen, die einen gewissen Grad solcher Brüderschaften er­reicht haben, weise, wie es einstmals die von den Göttern unterrich­teten Urweisen der Menschen waren. Und das zeigt sich ja nicht ge­rade an denjenigen, von denen man weiß, daß sie gewisse Grade in solcher Brüderschaft erreicht haben, sonst müßte ja die Welt ganz anders aussehen. Aber in der Zeremonie, im Kultus, wird doch etwas gezeigt, was Bild ist dieses Verlorengehens der Ur-Weisheit und Wiederauffindens der Ur-Weisheit. Es soll sich so etwas in die Seelen der Menschheit senken, damit sie wenigstens in die Lage kommen, wenn sie durch die Todespforte durchgehen, durch die geistige Welt dann durchgehen, wiederum auf die Erde kommen, daß sie wenig­stens dann ein Verständnis haben können für dasjenige, was dann, ja, was auch schon heute, müßte man eigentlich sagen, als eine Weis­heit der Erde nötig wäre.

Also das verloren gegangene Wort wird gesucht. Und im Grunde genommen ist ja alle unsere Geisteswissenschaft ein Suchen nach dem verlorenen Worte. Aber wenn dieses verlorene Wort heute noch ausgesprochen wird, das heißt, wenn irgendwie aus dem Ge­biete der Geisteswissenschaft heraus etwas gesagt wird, da kommen

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alle die Menschen, die weise geworden sind in unserer Zeit - und wir haben es ja auf allen Gebieten so herrlich weit gebracht -, und sagen: Träumerei ! Phantasterei ! Unsinn ! - wenn nicht noch schlim­mere Dinge. Aber lassen wir uns im ersten Teil unserer heutigen Betrachtung, da wir ja unter uns smd, doch wiederum auf ein sol­ches Kapitel der Geisteswissenschaft ein, das gerade imstande sein kann, uns mancherlei von den Rätseln zu enthüllen, welche Rätsel des menschlichen Daseins selber sind. Man kann allerdings nicht einmal sagen, daß dasjenige, was heute durch Geisteswissenschaft zutage gefördert werden soll, immer so absolut unbekannt war. Ich habe ja selbst öffentlich gesprochen über einen vergessenen Ton im neueren Geistesleben, eine vergessene Strömung, in der so manches gelebt hat von dem, was wie ein Keim zur Geisteswissenschaft ist. Wenn wir den Menschen heute betrachten, so wissen wir: Das­jenige, was die physischen Augen an dem Menschen sehen, ist ja nur gewissermaßen die Außenseite dieses Menschen, der physische Leib. Innerhalb dieses physischen Leibes ist wirksam und wesenhaft der Ätherleib. Aber man kommt nicht sehr weit, gar nicht weit, wenn man nichts anderes weiß, als daß eben der Mensch einen Ätherleib hat, wenn man dieses Wort kennt und höchstens noch die Vorstel­lung hat, mit der viele schon zufrieden sind: der Ätherleib ist halt so etwas, was dünner ist als der physische Leib, mehr nebelhaft und leuchtend. Aber damit hat man nicht viel. Dieser Ätherleib ist schon wahrhaftig ein recht, recht kompliziertes Gebilde. Sehen Sie, wenn wir die Menschen betrachten, so wie sie heute sind: Sie sind ja ver­schieden voneinander, nicht wahr, der europäische Mensch ist von dem afrikanischen Menschen verschieden, von dem asiatischen Men­schen verschieden. Solche Verschiedenheiten muß man anerkennen. Aber wenn wir den Blick schweifen lassen über die gesamte Mensch­heit, so müssen wir trotz aller Verschiedenheiten der Menschen doch zugeben, diese Menschen über die ganze Erde hin sind sich viel ähn­licher als die Tiere. Denn wenn auch der Europäer und der Afrika­ner sich wesentlich voneinander unterscheiden - wenn wir feinere Unterscheidungsmerkmale ins Auge fassen -, so kann man doch nicht sagen, daß die Verschiedenheit zwischen Menschen jemals so

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groß sein könnte, wie zwischen einem Storch und einer Maus, nicht wahr? Also die Tiere sind in viel höherem Grade voneinander ver­schieden als die Menschen. Die Tiere sind in Gattungen vonein­ander getrennt und beim Menschengeschlechte kann man schon sagen: es ist eine einzige Gattung. So sehen wir, wenn wir den Blick über das Tierreich der Erde schweifen lassen, die mannigfaltigsten, stark voneinander verschiedenen Tiere. Fassen wir das einmal ins Auge und lenken wir den Blick zurück auf die Betrachtung unseres Ätherleibes. Unser Ätherleib ist gewissermaßen in uns so, daß er zusammengehalten wird durch die elastische Kraft des physischen Leibes. Solange wir zwischen Geburt und Tod stehen, wird der Ätherleib in dieser Weise durch die elastische Kraft des physischen Leibes zusammengehalten. Stellen Sie sich das nur bildhaft so vor, daß, wenn man könnte - man kann es ja selbstverständlich nicht, solange der Mensch leben bleiben soll, aber wenn man es experi­mentell könnte, so daß sogar der Naturforscher sich am Ende davon überzeugen lassen würde -, experimentell den physischen Leib eines Menschen wegtun vom Ätherleib, so den Ätherleib herausziehen und dann auch den astralischen Leib und das Ich vom Ätherleib sondern, so würde, weil jetzt die Elastizität des physischen Leibes nicht mehr da ist, dieser Ätherleib Zerspringen in viele Portionen. Dieser Ätherleib ist eine Mannigfaltigkeit aus vielen, vielen Einzel­heiten und wird nur durch die Elastizität des physischen Leibes zu­sammengehalten.

Und wie würden denn diese Teile, die da herausspringen aus uns, wenn wir den physischen Leib abtrennen könnten, aussehen? Ja, sehen Sie, so sonderbar das den heutigen gescheiten Menschen klingt, wahr ist es doch: Diese Teile des Ätherleibes würden For­men annehmen und sie würden ungefähr das ausgebreitete Tierreich sein, das heißt, alle die möglichen Formen des Tierreiches würden zum Vorschein kommen. Es würde wirklich so sein, daß ein gewisser Teil Ihres Ätherleibes - der des Kopfes - sich vogelähnlich gestal­ten würde, ein gewisser Teil des Ätherleibes, zum Beispiel aus der in der Nähe des Kehlkopfes befindlichen Partie, würde eine sehr schöne, fast engelhafte Tiergestalt sein und so weiter. Also wir

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tragen im Grunde genommen das ganze Tierreich in unserem Äther-leibe in uns. Das ist durchaus wahr. Unser Ätherleib ist das aus­gebreitete Tierreich, das zusammengedrängt, zusammengehalten wird durch die Elastizität des physischen Leibes. Als die Entwicke­lung noch auf anderen Stufen war, in früheren Urzeiten, war ja überhaupt die ganze menschliche Gestalt verteilt in die vielen Tiere. Wenn man das bedenkt, dann versteht man erst dasjenige, was in grobklotziger Weise heute als Darwinismus angesehen wird. Die Menschheit hatte sich gleichsam vorbereitet, indem sie dasjenige, was sie später nur als Ätherleib ausbilden soll, auseinandergebildet hat, wie in dem Fächer des heutigen Tierreichs, das dazumal etwas anders ausgesehen hat als das heutige, veränderte Tierreich. Das heutige Tierreich ist nicht mehr dasjenige, von dem die Menschheit abstammen könnte, sondern ein ganz anderes Tierreich. Aber die Kräfte, die in diesem Tierreiche ausgebreitet sind, sind gewisser­maßen extrahiert worden und sind heute noch in unserem Äther-leibe vorhanden. Nun denken Sie sich einmal, was wir da im Grunde alles in uns haben. Denn mit diesem Tierreich haben wir alle die Instinkte, alle die verschiedenen Triebe der Tiere schon in uns. Sie sind nur harmonisiert, in ein Gesamtverhältnis gesetzt dadurch, daß das alles durch die Elastizität unseres physischen Leibes vereint ist. Als physischer Mensch sind wir Menschen - als physischer Mensch. Und unsere physische Gestalt haben wir von den Geistern der Form während des Erdendaseins bekommen. Als physischer Mensch hal­ten wir im Zaume alles dasjenige, was da in uns ist. Zuweilen kommt der eine oder der andere Trieb zum Vorschein. wenn irgend-ein Teil im Ätherleib die Oberhand erhält.

Denken Sie, was für eine komplizierte Mannigfaltigkeit wir Menschen also eigentlich sind und wie es im Grunde genommen unmöglich ist, mit diesen Dingen, durch die man doch erst die Welt verstehen kann, an die Menschen heranzukommen. [>as kann man sehen, wenn einmal jemand aus einer, ich möchte sagen, genialen Eingebung heraus so etwas ahnt von der Wahrheit. Und solche Menschen gab es im Laufe der neueren Geistesentwickelung. Zum Beispiel dem Schüler Schellings, Oken, kam durch seine Genialität

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die Idee: Der Mensch ist zusammengefaßt aus dem gesamten Tier­reich. Nicht im Sinne des Darwinismus der Gegenwart - ich habe das letzte Mal wiederum mit einem Worte bezeichnet, was für Un­logik die modernen Menschen entfalten, wenn sie über den Dar­winismus der Gegenwart sprechen -, sondern Oken ahnte etwas von der Wirklichkeit. Er hatte noch nicht die geisteswissenschaftliche Möglichkeit, die Sache so auszusprechen, wie wir das heute aus­sprechen können, aber er ahnte etwas von diesem Tatbestand, von diesem Darinnenstecken des ganzen Tierreiches in dem Menschen, und er hat es kühn ausgesprochen. Aber er ist ausgelacht worden, namentlich von denjenigen, die nach seinem Zeitalter gekommen sind. Denn denken Sie sich, was soll sich denn ein so ganz geschei­ter, so unendlich kluger Mensch der Gegenwart denken, wenn Oken ausspricht, was er zum Beispiel getan hat: Die Zunge ist ein Tinten­fisch ! Oken wollte aber das, was ich eben angedeutet habe aus der Geisteswissenschaft heraus, aus seiner genialen Intuition heraus den Menschen klar machen. Er wollte zeigen, daß die einzelnen Teile, wie sie aus dem Ätherleib herausgebildet sind, eigentlich etwas mit den Formgestalten des Tieres zu tun haben. Das Ohr führte er zum Beispiel gerade auf eine Art Kombination von einem Storch und einer Maus zurück, aber die Zunge führte er zurück auf die Natur des Tintenfisches. Selbstverständlich wurde er mit einer solchen Sache ausgelacht. Aber man sieht, dasjenige, was so lächer­lich erscheinen kann, das ist die Vorahnung von etwas, was ein tie­fes Wissen bilden muß und sich einleben muß in die Menschheit gerade der kommenden Zeiten. Denn man wird nicht die Erschei­nungen dieser Welt umfassen können, wenn man solche Dinge nicht wissen wird. Und die Wirklichkeit wird man nur beurteilen können, wenn man solche Dinge wissen wird.

Sehen Sie, auf unseren physischen Leib wirken in erster Linie die Geister der Form. Diese Geister der Form geben während der Erdenzeit die Form nur dem Menschen. Die Tiere haben ihre ererbte Form von der alten Mondenentwickelung. Diese tierische Form ist daher eine luziferisch geartete Form, sie ist zurückgebliebene Form von der alten Mondenentwickelung. Was dazumal nur ätherisch

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war, ist verhärtet. Der Mensch hat von den Geistern der Form seine äußere physische Gestalt, und in seinem Inneren wirken weniger die Geister der Form. Also auf den Ätherleib wirken schon weniger die Geister der Form als die Geister der Persönlichkeit, diejenigen geistigen Wesenheiten, die wir als Archangeloi oder als Angeloi bezeichnen. Die wirken auf den Ätherleib, und die haben etwas zu tun mit dem Dirigieren dieser Mannigfaltigkeit im Ätherleib, von der ich eben gesprochen habe. Und wenn wir auf die genaueren geisteswissenschaftlichen Tatsachen eingehen, dann müssen wir uns eben gerade zum Beispiel über so etwas ganz klar sein, daß in diesen unseren Ätherleib hineinwirken auch alle jene Kräfte, die aus der Volksseele heraus kommen. Was wir mit unserm physischen Leibe auffassen, was wir durch unsere Augen sehen, durch unsere Ohren hören zunächst, das ist schon international. Viel tiefer ist das Natio­nale sitzend in der Unbewußtheit zum Beispiel des Ätherleibes. Von einer anderen Seite habe ich das etwa vor anderthalb Jahren hier einmal dargestellt. Kurz, der Mensch kommt in die Lage, zu sehen, wie kompliziert eigentlich sein Wesen ist und was er zu suchen hat, um sich selbst zu verstehen, von dem, was einstmals als Ur-Weisheit vorhanden war.

Und tiefe Bilder gibt es im Grunde genommen, Weisheiten, die als Bilder den Menschen mitgeteilt sind und die verstanden werden können, wenn man will. Nehmen Sie einmal an, wir sprechen oder singen: Es ist ein bloßes Vorurteil, wenn man glaubt, daß da bloß der physische Leib in irgendwelcher Bewegung wäre. Die Haupt­sache der Bewegung vollzieht sich im Ätherleibe und vollzieht sicll innerhalb jener Mannigfaltigkeit im Ätherleibe, von der ich eben gesprochen habe. Daher ist dasjenige, was im Gesang oder in der tönenden Kunst überhaupt zum Bewußtsein kommt, so sehr aus unterbewußten Tiefen herauf, kann so wenig leicht wirklich in Worte gefaßt werden, weil es eben mit all dem, was die Kompli­ziertheit des Ätherleibes ist, zusammenhängt. Und wie verwandt mit der übrigen Welt kommen wir uns wiederum vor, wenn wir wissen: Das, was da draußen ausgebreitet ist als Tierreich, in unse­rem Ätherleibe lebt es in der Weise, wie es geschildert worden ist.

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Selbstverständiich, wenn ein Trieb dann in uns tätig sein will, muß er in den astralischen Leib heraufkommen. Die Dinge widerspre­chen sich nicht, wenn man sie nur in Wirklichkeit ordentlich be­trachtet. Also, wenn man von der Anwesenheit von Trieben und Instinkten im Menschen spricht, muß man sie natürlich dem astra­lischen Leibe zuschreiben. Aber die Formähnlichkeit, wie sie jetzt mit dem Tierreiche besprochen worden ist, die liegt der Sache zu­grunde.

Und wiederum, wenn wir unseren astralischen Leib betrachten, wenn wir ihn so absondern könnten, wie ich das jetzt angegeben habe für das Absondern des ätherischen Leibes, da würde er zer­fallen, denn auch er ist nur durch die Elastizität des physischen und Ätherleibes zusammengehalten; da würde er zerfallen und würde etwas darstellen, was so ähnlich wäre, wie das gesamte Pflanzenreich. Wirklich, in uns steckt dadurch, daß wir einen astra­lischen Leib haben, alles, was in den Formen des Pflanzenreiches in Mannigfaltigkeit draußen in der Welt sich ausbreitet. Wenn Sie die ganze Pflanzenwelt studieren in der Art und Weise, wie sich Form neben Form stellt, so haben Sie ein äußeres Bild, ein aus­einandergefächertes Bild desjenigen, was zusammengezogen ist im menschlichen astralischen Leibe. Auch das gehört zum verloren­gegangenen Worte. In der Urweisheit war Bewußtsein von diesen Dingen vorhanden. Daher hat man sich gesagt: Also ist im Men­schen etwas, was seine tief-innerste Verwandtschaft mit der Baum-, mit der Pflanzennatur zum Ausdrucke bringt. Lesen Sie die ger­manische Mythologie; Mythologien sind ja nur ein später Ausdruck der Ur-Weisheiten der Menschen. Da sehen Sie, wie das erste Men­schengeschlecht gewonnen wird aus Esche und Ulme, und Sie haben darinnen steckend etwas von einem Bewußtsein dieser Verwandt­schaft des Menschen mit der Pflanzennatur, die ja ihre Grundlage darinnen hat, daß der Mensch selber während der Sonnenzeit auf der Stufe des Pflanzenreiches, während der Mondenzeit auf der Stufe des Tierreiches gestanden hat.

Und innerhalb des astralischen Leibes wiederum tragen wir das eigentliche Ich. Der Mensch weiß ja im äußeren physischen Leben

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von diesem eigentlichen Ich wenig genug. Selbstverständlich, Philo­sophen wissen sehr viel davon ! Die wissen zum Beispiel, daß dieses Ich so, wie der Mensch es im physischen Leibe wahrnimmt, das­jenige ist, was gleich bleibt von der Geburt bis zum Tode in allen Veränderungen, die der Mensch seelisch durchmacht. Das wissen die Philosophen. Man kann es in unzähligen philosophischen Bü­chern lesen. Als wenn die Leute vergessen hätten, daß der Mensch innerhalb vierundzwanzig Stunden immer schläft, und dieses Ich ausgelassen wird; und jeder Schlaf unterbricht dieses Gleichbleiben des Ich in den Veränderungen! Aber so etwas, das geniert die Philo­sophen weiter nicht, selbstverständlich, denn sie sind ja gescheit, sehr gescheit !

Wenn wir von dem Ich sprechen, so müssen wir von demjenigen im Menschen sprechen, das zum Beispiel nicht nur ein Bewußtsein hat während des Wachens, sondern das auch da ist, wenn der Mensch schläft, das seine Kräfte entfaltet ins ganze Universum hinaus, das von den geistigen Kräften des Kosmos durchstrahlt und durchwirkt und durchpulst ist, wenn der Mensch schläft: das tragen wir unbe­wußt in uns. Und wenn wir es herausexstirpieren könnten aus dem Menschen, so wie wir das gesagt haben für den Ätherleib, für den astralischen Leib, wir würden aus diesem Ich das ganze Bild des mine­ralischen Weltenalls bekommen mit allen seinen verschiedenen Ge­heimnissen des Kosmos. In diesem Ich steckt alles dasjenige zusam­mengedrängt, was im ganzen Kosmos ausgebreitet ist. Wir tragen den mineralischen Kosmos also in uns.

So bekommen wir ein Bild von dem, was der Mensch eigentlich ist und wie er verwandt ist mit dem Kosmos. Und wenn wir davon sprechen, der Mensch bestehe aus physischem Leib, aus dem Äther-leib, aus dem astralischen Leib, aus dem Ich, dann müssen wir eben das nicht als bloße Worte hinnehmen, sondern daran denken, wie wir erst verstehen können, was hinter diesen Worten steckt, wenn wir durch Geisteswissenschaft den ganzen Zusammenhang zwischen dem Menschen und dem Kosmos wirklich ins Auge fassen können.

Ja, das wäre solch ein Kapitel aus der Geisteswissenschaft. Und notwendig wäre es schon. daß der Mensch wenigstens ein bißchen

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von unserem heutigen Zeitabschnitte ab sich im allgemeineren hin­einfände in das Verständnis solcher Sachen. Denn man redet ja heute über den Menschen in der aller-unverständigsten Weise, weil man im zeitgenössischen Sinne ja selbstverständlich gescheit redet; man redet in der unverständigsten Weise. Und die Zeit gibt uns größere Aufgaben, als sie mit der unverständigen Wissenschaft und Weisheit gelöst werden können. Aber wie wehren sich die Men­schen, auch nur einen Begriff aufzunehmen von so etwas, wie es zum Beispiel jetzt wiederum auseinandergesetzt worden ist ! Und es kommt ja nicht darauf an, daß man gerade just diese Dinge weiß, sondern es kommt darauf an, daß man so denken lernt, diese Beweg-lichkeit des Denkens bekommt, die man eben haben muß, wenn man sich so etwas klar machen kann. Derjenige, der heute die Dinge durchschaut, weiß, daß durch die harten Prüfungsereignisse der Gegenwart in der nächsten Zeit der Menschheit schwere, schwere Aufgaben gestellt sein werden, Aufgaben, von denen vielleicht wenige heute noch ahnen. Nur soll man nicht glauben, daß mit der Beweglichkeit und Elastizität des Denkens, die die Menschen heute haben, es möglich sein wird, diese Aufgaben zu lösen. Wenn man so etwas bedenkt im unmittelbaren Zusammenhang mit den harten Prüfungsereignissen unserer Zeit, dann wird man noch ein ganz anderes Gefühl bekommen von der Notwendigkeit des Einlebens von Geisteswissenschaft in die menschlichen Gemüter von unserer heutigen Zeit an. Blut düngt unsere Erde. Aber entwickeln muß sich etwas auf dieser blutgedüngten Erde in der Zukunft, was wirk­lich mit einem anderen Denken umspannt werden muß als dem Denken, das sich aus der mehr oder weniger materialistischen Ent­wickelung des neunzehnten Jahrhunderts, die von dem Geistes-wissenschafter, wie Sie wissen, durchaus nicht verkannt wird in ihrer Bedeutung und in ihren großen Triumphen, ergeben kann. Denn eben das Karma dieser materialistischen Entwickelung des neunzehn­ten Jahrhunderts hat als seine Folge hervorgebracht die Ströme des Blutes und all das Traurige, das in der Gegenwart geschieht.

Nicht, sage ich, werden sich die Menschen hineinfinden, irgend­wie den Mut zu entwickeln, selbst wenn sie das Geisteswissenschaftliche

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flüchtig kennen lernen wollen, auch da, wo sie können, für diese Geisteswissenschaft das zu tun, was getan werden muß. Denn es ist ja sehr eigentümlich, man muß sagen: Ausgelacht, verhöhnt, als Phantasterei, als Träumerei verschrieen wird diese Geisteswissen­schaft mit Worten. Wird sie es denn aber eigendich auch in Wirk­lichkeit?

Da ist eine Erscheinung zu besprechen, die uns zeigen kann, in welcher tiefen Lebenslüge wir eigentlich stecken. Ich will Ihnen einmal einen uns naheliegenden Beweis zeigen, wie unwahr in die­ser Beziehung eigentlich die Verhältnisse sind, die unter den Men­schen heute in der Gegenwart walten. Erinnern Sie sich einer Sache, die da steht in jenem Zyklus, wo die Auseinandersetzung gegeben wird über die christliche Einweihung. Da wird als die erste Ein­weihungsstufe von der Fußwaschung gesprochen, die einfach ein symbolischer Ausdruck ist für etwas, was der Mensch in seiner Seele sich erüben soll. Es wird dort beschrieben, wie der Mensch gewisse Gefühle, gewisse Empfindungen entwickeln soll, die ja dahin gehen, seinen Zusammenhang mit dem ganzen All der Reiche der Natur zu empfinden. Ja, wenn man hineinschaut in diesen Zusammenhang, dann sagt man sich, mit tiefem, innigem Gefühl hinunterschauend zu dem Tierreich: Dieses Tierreich muß da sein als Grundlage des Menschenreiches. Was wären wir, die höher entwickelten Ge­schöpfe, wenn das niedere Reich nicht da wäre? Dies zu einer leben­digen Empfindung zu machen, ist der Anfang des ersten Grades der christlichen Einweihung. Und dann, sich klar zu machen, wie wiederum das Tier, als dem höheren Reiche angehörig, hinunter-schauen müßte auf die Pflanzen und sagen müßte: Du, Pflanze, die du zwar niedriger stehest als ich in der Reihe der Erscheinungen, dir verdanke ich mein Dasein. Und wiederum die Pflanze mußte hinunterfühlen zum Mineral, aus dem sie herauswächst, zum mine­ralischen Boden, und sagen: Dir verdanke ich mein Dasein. Und so beten die Angeloi, zum Menschenreich hinunterschauend: Euch Menschen, die ihr auf einer niedrigeren Stufe der Entwickelung steht, euch danken wir unser Dasein ! Und so weiter hinauf. Da ver­wandelt sich dasjenige, was man sich erdenken kann, was man erforschen

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kann, in eine Grundempfindung der menschlichen Seele. Unser lieber Freund, der so tapfere, so treu zu unserer Sache hal­tende Christian Morgenstern, er hat gerade diese Fußwaschung in ein schönes Gedicht gebracht. Dasjenige, was vor Jahren eben gesagt wurde im Zusammenhang mit der christlichen Einweihung, haben wir ja in Morgensterns letzter Gedichtsammlung, die nach seinem Tode erschienen ist, und die da heißt: «Wir fanden einen Pfad», in dem schönen Gedichte «Die Fußwaschung» wiedergegeben:

Ich danke dir, du stummer Stein,

und neige mich zu dir hernieder:

Ich schulde dir mein Pflanzensein.

Ich danke euch, ihr Grund und Flor

und bücke mich zu euch hernieder:

Ihr haift zum Tiere mir empor.

Ich danke euch, Stein, Kraut und Tier,

und beuge mich zu euch hernieder:

Ihr haift mir alle drei zu Mir.

Wir danken dir, du Menschenkind,

und lassen fromm uns vor dir nieder:

Weil dadurch, daß du bist, wir sind.

Es dankt aus aller Gottheit Ein-

und aller Gottheit Vielfalt wieder.

In Dank verschlingt sich alles Sein.

Und Christian Morgenstern, der durch Jahre hindurch in unserer Mitte mit seinen Empfindungen gelebt hat, hat in tapferer Weise ge­rade in diesem seinem letzten Gedichtband sich bekannt zu demjenigen, was durch unsere Weltanschauungsströmung fließt. Soweit also das, was Christian Morgenstern betrifft, der selbstverständlich auch nicht im geringsten etwas kann für das Folgende, das ich nun zu sagen habe.

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Denn würde Christian Morgenstern heute als physischer Mensch noch unter uns sein - er ist ja vor zwei Jahren durch die Pforte des Todes gegangen -, er würde heute ganz gewiß noch stärker und tap­ferer mit seinem ganzen Wesen für unsere Sache eintreten. Aber nun erscheint eine Kritik der Morgensternschen Gedichte. Mancherlei wird in dieser Kritik gesagt, selbstverständlich auch Gutes über Christian Morgenstern; denn man hat ja schon früher gewußt, bevor er gestorben ist, daß er ein bedeutender Dichter ist, warum sollte denn derjenige, der eine solche Kritik jetzt schreibt, das vergessen haben? Da wird selbstverständlich nichts gesagt davon, wie Christian Morgenstern gerade mit all dem, was durch diesen Gedichtband fließt, ganz innerhalb unserer Strömung steht. Aber etwas anderes wird gesagt: Dieses Gedicht, das ich eben vorgelesen habe, wird an-geführt, und über dieses Gedicht wird gesagt, man sehe daran, daß ein Mensch eine Anschauung haben könne, welche das Geistige im Gleichnis und doch wiederum ganz gleichnislos darstelle. Und Fol­gendes wird über dieses Gedicht gesagt: «In diesen wundersamen Strophen ist kein Bild; aber inmitten der leiblosen, ganz spirituellen Dichtungen wirkt dies Gedicht mit besonderer Kraft, weil das Irdische darin sichtbar wird: in ihm noch sichtbar ist. Wirklichkeit-haft erscheint es, angeredet, nicht als Gleichnis. Der Weg des Men­schen: gleichsam die früheren, erdischen Stücke; nun wandert er fort, jenseitige Strophen verkünden es. Dies verehrungswürdige Ge­dicht ist ein diesseitiges Gebild; und, darum vielleicht, für mein Gefühl das größte dieses Buches, das größte, das Morgenstern schuf, und eins der größten Gedichte, welche in der deutschen Lyrik jemals entstanden sind.»

Christian Morgenstern wäre selbstverständlich der erste, der da sagen würde, daß dieses Gedicht niemals aus jenem Geisteszusam­menhange heraus hätte entstehen können, aus dem Ernst Lissauer diese Kritik geschrieben hat, sondern Christian Morgenstern würde selbstverständlich tapfer eintreten dafür, daß dieses Gedicht aus einem ganz anderen Geisteszusammenhange heraus geschrieben ist. - Da haben Sie ein Beispiel, in welcher Lebenslüge wir leben. So werden die Dinge anerkannt, wenn man nicht nötig hat, einzustehen

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für den Boden, aus dem sie entsprießen, wenn man sich noch vorbehalten kann, solche Dinge für die schönsten Blüten des Gei­steslebens zu halten und den Boden, aus dem sie entsprießen, eine Träumerei, eine Phantasterei, eine Schwindelei weiter nennen darf !

Das sind die Dinge, meine lieben Freunde, innerhalb derer wir leben. Wahrhaftig, ich würde Ihnen gerne als Osterbetrachtungen anderes, vielleicht Erbaulicheres noch sagen. Aber unsere Zeiten, unsere blutigen Zeiten, machen notwendig, daß wir es uns so recht in die Seele schreiben, daß wir so recht empfinden, in welcher kar-mischen Entwickelung wir eigentlich drinnen leben. Ernst sind diese Zeiten, und man muß ein Verständnis haben für den Ernst dieser Zeiten. Das ist schon das etbaulichste Gefühl, das wir uns in diesen Zeiten aneignen können. Und man muß mit offenen Augen die Dinge ansehen. Sehen wir uns Einzelnes an, sehen wir uns zum Bei­spiel an, was wir täglich, stündlich erleben können von Urteilsfähig­keit, die sich aus der in dem neunzehnten Jahrhundert, in das zwan­zigste herein entwickelten Geistfähigkeit ergeben hat. Man kann jeden Tag seine Erfahrungen auf diesem Gebiete machen. Nur ein­zelne Beispiele seien Ihnen angeführt.

Bald nach Ausbruch des Krieges ist mir immer wieder und wie­derum zugeschickt oder auf den Vortragstisch gelegt worden ein Gedicht, von dem behauptet worden ist, daß es im Nachlaß Robert Hamerlings als eine Prophetie der gegenwärtigen Zeit gefunden worden sei. Man brauchte nur ein wenig sich eingelebt zu haben in die Art und Weise der Dichtkunst Robert Hamerlings, um zu wissen, daß auch nicht eine Zeile in diesem Gedichte von Robert Hamerling herrühren könnte. Trotzdem ging durch eine ganze Reihe von Zeitungen immer wieder und wiederum bewundernd die Rede, wie Hamerling vor seinem Tode - er ist ja 1889 gestorben -die gegenwärtige Zeit voraus besungen hat. Mancherlei Geister sind darauf hereingefallen in einer Zeit, in der man sogar schon hat wis­sen können, daß das Gedicht erschwindelt ist. Ich war erstaunt, wie verhältnismäßig spät erst zum Beispiel Maximilian Harden in der «Zukunft» hereingefallen ist auf dieses Gedicht. Und «schöne» Worte - schön mit Gänsefüßchen - braucht Harden, um zu sagen,

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wie man die Muse Robert Hamerlings durch die edlen Verse dieses Gedichtes durchfühle. Vor einigen Tagen nun konnte man hier ein Abendblatt kaufen, da wurde in einem Leitartikel die bittere Pille besprochen, die uns als Osterpille in die gegenwärtige Zeit hereingefallen ist. Und man konnte den Ernst, mit dem das Zei­tungsblatt diese Sache besprach, daran ermessen, daß in diesem Leit­artikel, wo eine bitter-ernste Angelegenheit besprochen wird, zum Schlusse wiederum dieses Gedicht «von Robert Hamerling» ange­führt wird ! Das ist so recht ein Beispiel, wie ernst auch jede andere Zeile zu nehmen ist da, wo solche Urteilskraft oder vielmehr solches Gegenteil von aller Urteilskraft vorhanden ist.

Und heute abend werden sich unzählige Menschen unterrichten aus einem Abendblatte, wie die Verhältnisse in der Schweiz liegen. Schön wird auseinandergesetzt: die Wege der Schweizer. Die Leute werden nun wissen, was die Schweizer eigentlich jetzt für politische, für militärische, für volkswirtschaftliche Nöte haben. Das wird ihnen auseinandergesetzt. Ich möchte einmal wissen, ob selbst die­jenigen, die es könnten, die Unterschrift dieses Artikels lesen und ihn danach beurteilen: Max Hochdorf steht darunter - jener Mann, der jenen blöden Artikel geschrieben hat über unsere Sache; ich habe ihn angeführt in einem öffentlichen Vortrage des Architektenhau­ses. Dieselbe Wahrheitsliebe, die man dort finden kann, wenn er über uns schreibt, sollte man selbstverständiich auch in einem sol­chen Artikel suchen. Und wenn man solche Schlüsse ziehen würde, dann würde man finden, auf welchem Wege eigentlich heute die Schädel zurechtgehämmert werden, um die Zeit zu beurteilen, welche Stumpfheit und Gedankenlosigkeit im Leben der Menschen ist, die sich einhämmern lassen ein Urteil über die Zeit und über dasjenige, was in der Zeit wirkt und lebt. Vergleichen muß man, überall nachgehen, dann wird man sehen, wie wertlos alles das­jenige ist, was heute aus der Zeitbildung heraus und aus den Zeit-verhältnissen heraus in die Menschenschädel hineingehämmert wird.

Gar mancherlei wird da hineingehämmert. Man sollte glauben, daß heute wenigstens ein elementarisches Verständnis vorhanden sein könnte für jenen Fortschritt, den wir gemacht haben in Europa

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und im Abendlande überhaupt, indem wir übergegangen sind von den gewiß höchst verehrten, ja vielleicht sogar in eine Urweisheit hineinragenden germanisch-mythischen Göttern in das Christentum. Man sollte glauben, daß dafür wenigstens ein elementarisches Ver­ständnis vorhanden sein könnte. Dennoch findet man in einer Zeit­schrift, die eben jetzt erschienen ist, über die Tatsache, daß sich das alte Germanentum in das Christentum hineingefunden hat, folgen­des Bedauern ausgesprochen:

«Der Zwiespalt unseres Denkens, in den wir Deutsche durch die Einführung der christlichen Religion gekommen sind, war für un­sere Ahnen nicht vorhanden. Ihre Welt- und Lebensanschauung kannte den Kampf in der Natur als das ewige Gesetz des Lebens; er erschien als das Natürliche; so wie der Kampf des Lichts gegen die Finsternis, dauert ewig der Kampf der Lichtsöhne gegen die Kinder der Finsternis, der Guten gegen die Schlechten. Sie wußten, daß ihre Götter nur Bilder waren» denken Sie nur: solches Blech ! -«unter denen sie die Erscheinungswelt auffaßten; die Welt ihres Glaubens und ihrer Sache war zugleich die ihrer Poesie» - nun, dabei leckt er sich natürlich die Finger ab, weil er so gescheit ist ! -«Sind wir heute wirklich über sie hinausgekommen? - - Ich fürchte nein; und die Schwierigkeiten der Altgläubigen, die Probleme des gegenwärtigen furchtbaren Weltgeschehens zu lösen, zeigen uns nur, daß die starken Wurzeln unserer Kraft in der heroischen Welt-und Lebensansicht unserer Ahnen liegen.»

Also möglichst schnell Wiedereinführung des Wotan- und des Thordienstes? Es ist allerdings eine Zeitschrift, in der auch einst­mals die schmählichsten Angriffe gerade gegen unsere Sache er­schienen sind. Es ist den Menschen schon heute nicht gestattet, sich einzuschließen in die Sehsphäre, die zwischen gewissen Scheuledern liegt und dann zwischen diesen Scheuledern allerlei Weltanschau­ungsprinzipien geltend zu machen. Was wird alles als Weltanschau­ungsprinzipien heute hoch verehrt! Ja, da macht man seine sonder­baren Erfahrungen. Und ganz frei, meine lieben Freunde, ist ja keineswegs diejenige Weltanschauung, die man so trivial die «theo­sophische» nennt, von dem Teilnehmen an diesem, sagen wir, allgemeinen

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Dusel. Dieser allgemeine Dusel ist eigentlich recht groß. Das mannigfaltigste Überhandnehmen dieses oder jenes Triebes, der durch das Überwuchern eines Teiles des Ätherleibes bewirkt wird -jetzt können Sie sich ja nach dieser Schilderung, die ich heute gege­ben habe, das vorstellen -, das kommt zum Vorschein. Nicht wahr, Hochmut zum Beispiel, das ist ja etwas, was durch unser ganzes gegenwärtiges Schrifttum geht. Jeder läßt sich anmerken, wie be-deutend er eigentlich ist. Ohne das kann man ja heute schon fast gar nicht mehr schreiben, als daß sich die Leute anmerken lassen, wie bedeutend sie eigentlich sind. Ich habe oftmals gesagt: Darin besteht ein Teil der esoterischen Entwickelung, daß man einen Un­sinn nicht bloß logisch als einen Unsinn empfindet, sondern daß man körperlichen Schmerz dabei empfinden kann. Diesen körperlichen Schmerz, der einen fast bis zur Verzweiflung bringen könnte, man kann ihn heute wahrhaftig recht, recht häufig spüren, wenn man dies oder jenes, sonst vielleicht ganz gescheite Dinge, durch­liest.

Dafür ein kleines Beispiel: Da habe ich ein Büchelchen, über den Inhalt will ich weiter nicht sprechen. Der Verfasser ist Thomas Mann, einer derjenigen, die heute von vielen als die erleuchtetsten Geister angesehen werden. Er spricht auch über die Art und Weise, wie man den gegenwärtigen Krieg in seinen Ursachen zu betrachten habe. Nun, ich will in diese Sache nicht eingehen. Aber indem er auf die Urteile der anderen blickt, sagt er: «Ein wenig Mut zur Geistesklarheit, meine Herrschaften!» - Er findet, daß die anderen nicht Mut haben zur Geistesklarheit. Also bescheiden ist der Mann nicht ! Und jetzt kommt das, wobei man wirklich vor Schmerz auf­springen könnte. Jetzt will er beweisen, wo die Ursachen liegen. Da sagt er: «Zum Kriegführen gehören zwei oder mehrere, und wenn nur Deutschland bereit gewesen wäre, es auf die ultima ratio an­kommen zu lassen, wenn nicht auch die anderen den Krieg, wie die korrekte Redensart lautet, gehabt und ihn einem diplomatischen Erfolge Deutschlands begeistert vor­gezogen hätten, - nun ! so wäre er nicht gekommen». - Zum Kriegführen gehören zwei, sonst kommt der Krieg nicht, - natürlich,

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das ist die Logik, mit der man heute denkt. Also das heißt:

Wenn einer angreift, und nicht zwei da sind, die wollen, da kommt kein Krieg. Zum Kriegführen gehören zwei, da müssen zwei wol­len. Das ist die Logik, meine lieben Freunde, eine Logik, die man noch dadurch besonders unterstreicht, daß man sagt: «Mut zur Geistesklarheit, meine Herrschaften!» Solche Erscheinungen spüren manche, und sie erziehen sich dann zur Demut, zur Bescheidenheit. Aber oftmals kommt einem diese Bescheidenheit so vor, daß man es charakterisieren könnte, mit einem Gedichte von Matthias Claudius, einem schönen Gedicht über die Bescheidenheit, der man sich hin­gibt. Ich will nicht über die Bescheidenheit sprechen, sondern dieses Gedicht sprechen lassen. Das Gedicht heißt - verzeihen Sie -: «Der Esel».

Hab nichts, mich dran zu freuen,

Bin dumm und ungestalt,

Ohn Mut und ohn Gewalt;

Mein spotten und mich scheuen

Die Menschen, jung und alt;

Bin weder warm noch kalt;

Hab nichts, mich dran zu freuen,

Bin dumm und ungestalt;

Bescheiden ist er, nicht wahr !

Muß Stroh und Disteln käuen;

Werd unter Säcken alt -

Ah, die Natur schuf mich im Grimme!

Sie gab mir nichts als eine schöne Stimme

So bescheiden kommt einem mancher vor, der heute eine Welt­anschauung begründet. Er ist bescheiden in allen Dingen, selbst be-scheiden in dem, was man zu lernen hat, um eine Weltanschauung zu erhalten. Aber er weiß genau: die Natur gab ihm die Fähigkeit des Mutes zur Geistesklarheit, wie - verzeihen Sie - dem Esel die schöne Stimme.

Wie gesagt, diese Dinge müssen, so sehr sie auf dem Boden der

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Alltäglichkeit zu spielen scheinen, schon durchaus beachtet wer­den, man muß schon den Blick darauf hinwenden. Denn viel wich­tiger ist, daß man die Fähigkeit des beweglichen Denkens erlangt, als der Besitz einzelner geisteswissenschaftlicher Wahrheiten. Bei der Kraft der Klarheit des Denkens und bei der Weite und Beweg­lichkeit des Denkens, die nötig ist, um sich hineinzufinden in das Anerkennen der geisteswissenschaftlichen Wahrheit, känn man nicht anders, als spüren und empfinden, wo heute das vorhanden ist, was ich als Lebenslüge, Hochmut und alle möglichen Dinge dieser Art charakterisiert habe, die heute so vielfach das Leben beherrschen. An den breiten Menschenmassen liegt es nicht. Derjenige, meine lieben Freunde, der das Menschenleben kennt, der weiß, daß wenn es nur auf die menschlichen Naturen ankäme, es ebensogut möglich wäre, daß, wie Ihre Zahl hier Geisteswissenschaft aufnimmt, zwei Drittel von Berlin Geisteswissenschaft aufnehmen würden ! An den Menschen als solchen, an der breiten Menschenmasse liegt es nicht. Es liegt an den Verhältnissen und an den führenden Persönlichkei­ten. Das muß klar und deutlich empfunden werden. Und nicht ein­mal so sehr an den führenden Persönlichkeiten als an den Strömun­gen, in die diese führenden Persönlichkeiten eben durch die Zeit hineingepfercht sind, und wobei es dahin gekommen ist, daß heute jeder glaubt, über alles ohne eine Grundlage der Einsicht in die Welterscheinungen ein Urteil haben zu können. Man sagt ja, es werde heute viel Geistreiches geschrieben, wenn man auf dem Standpunkt der ganz gescheiten Leute steht. In Wahrheit wird viel gekohlt. Man könnte hier auch sagen, es wird viel «gekohlert»; denn der Professor Dr. Kohler ist Professor an der Berliner Univer­sität, Rechtslehrer, und ist Neu-Hegelianer. Daher könnte man auch das Wort «kohlen» durch «kohlern» ersetzen. Ja, sehen Sie sich nur das an von einem etwas gründlichen Standpunkte, was von solchen Neu-Hegelianern zusammengekohlert wird! Wie gesagt, notwendig ist es, ein offenes Auge und einen freien Sinn zu haben für das­jenige, was da lebt in unserer Zeitbildung, im Zeitdenken.

Denn wahrhaftig, ebenso wie die Menschen heroisch ihr Blut ver­gießen, ebenso würden sie dem Geiste sich zuneigen, wenn dieser

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Geist in der richtigen Weise an sie herankommen könnte. An den Menschen liegt es nicht. Das zeigt all dasjenige, was an großen Opfern und großen Taten in unserer Gegenwart verrichtet wird.

Notwendig ist es, meine lieben Freunde, daß wir aus solchen Din­gen der Geisteswissenschaft heraus, wie sie auch heute wiederum besprochen worden sind, den Willen bekommen, wirklich ein offe­nes Urteil und einen freien Sinn für dasjenige zu haben, was in un­serer Umgebung lebt. Ich habe Ihnen vor kurzem darüber gespro­chen, wie man in vieler Beziehung nur aneinander vorbeiredet. An einem epochemachenden Buch des Professors Schleich habe ich Ihnen angeführt, an einem besonderen Beispiel, wie man aneinander vorbeireden kann. Lesen sie wenigstens einzelne Kapitel dieses Bu­ches. Es iSt dieses Buch so recht ein Beispiel, wie in Wahrheit es sich ganz anders verhält als nach den menschlichen Meinungen. In Wahr­heit arbeiten schon die wirklich redlichen Menschen so, wie man in einem Tunnel arbeitet: von zwei Seiten her, so daß man sich in der Mitte begegnet. Lesen Sie zum Beispiel gerade das Kapitel, an des-sen Ende das steht von dem Goetheschen Zettel, der erst noch ge­funden werden soll, der aber schon seit dem Jahre 1892 gefunden ist, dieses Kapitel über den «Mythos vom Stoffwechsel im Ge­hirn» - so nennt Schleich dieses Kapitel -, dann werden Sie spüren, wie ein redlicher ernster Forscher, der zu gleicher Zeit ein Denker ist, durch die Notwendigkeiten seiner anatomisch-chirurgischen Untersuchungen, die er in zahlreichen Fällen machen konnte, weil sie ihm chirurgisch auferlegt waren, dazu kommt, etwas zu schil­dern. Lesen Sie dieses Kapitel, Sie werden sehen, was Schleich eigentlich schildert von der anderen Seite her: Den Ätherleib des Kopfes schildert er in Wirklichkeit ! Er ist gedrängt, gezwängt durch die notwendigen Tatsachen, diesen Ätherleib zu schildern.

Segen wird einmal erst da sein, wenn man wissen wird, daß von der anderen Seite her die Geisteswissenschaft arbeitet. Denn man wird nichts machen können mit alledem, was da von der einseitigen Naturwissenschaft her gebracht wird. Wenn man immer wieder und wiederum sehen muß - oh, es ist schmerzlich -, daß die Natur-forscher eigentlich von der anderen Seite her arbeiten und das beschreiben,

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so weit sie eben kommen können, von der anderen Seite, worauf die Geisteswissenschaft aus einer breiten, umfassenden Weltanschauung kommt, da hat man das Gefühl: die Leute haben ja dasjenige in der Hand, um das es sich handelt. Aber wie haben sie es in der Hand? Sie haben es in der Hand wie einer, der ein Magneteisen in der Hand hat, einen Hufeisen-Magneten, und der da sagt: Da behauptest du mir, da sei eine magnetische Kraft drinnen; ich sehe das stoffliche Eisen ! - und der dieses stoffliche Eisen nimmt und damit das Pferd beschlägt. Denken Sie sich einmal:

Gerade so verhalten sich die bloß auf dem Boden der Naturfor­schung stehenden Menschen, wie der, der ein Pferd beschlägt, statt den Magnetismus zu verwenden, woraus dann etwas ganz anderes entstehen könnte als ein Hufeisen, das man einem Pferd annagelt; dazu braucht das Eisen eben nicht magnetisch zu sein, es ist vielleicht gar nicht gut, wenn es magnetisch ist. Denken Sie, was anderes ent­stehen würde aus alledem, was unsere Naturwissenschaft gebracht hat, wenn es möglich wäre, daß die Leute ohne Vorurteile und unbe­fangen sich wirklich begegnen würden mit dem, was die Geistes­wissenschaft ihnen entgegenbringt. Und denken Sie, wie das auf allen Gebieten so ist. Wie hilflos, wie grenzenlos hilflos sind die volkswirtschaftlichen Untersuchungen der gescheiten Leute der Ge­genwart! Sie ahnen nicht, was aus der gegenwärtigen Volkswirt­schaft würde, wenn man sich begegnen wollte mit dem, was die Geisteswissenschaft zu geben vermag. Und so auf allen, allen Ge­bieten. Überall ist es so, daß man sieht: Die Leute haben das Eisen, sie wissen nur nicht, daß es magnetisch ist, daß eine unsichtbare Kraft in dem ist, was sie in der Hand haben. Das ist dasjenige, was wir fühlen, was wir empfinden müssen. Überall werden die Men­schen durch die Notwendigkeit der Entwickelung an den Geist herangedrängt. Aber die Meinung ist so befangen, daß sie diesen Geist nicht anerkennen können.

Dieses Gefühl uns anzueignen, wahrhaftig, ein Zeichen dafür ist dasjenige, was wir als im Sinne der Zeitgeschichte und als Zeit-ereignisse jetzt erleben. Und was ist das, was ich schon neulich an-führte? Dadurch zeichnet sich unsere Zeit besonders aus, daß die

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Verhältnisse, die Ereignisse, kompliziert geworden sind, und die Gedanken diese komplizierten Ereignisse nicht im entferntesten umspannen können. Und so zersplittert sich alles. Die Leute gehen aneinander vorbei. Alles zersplittert sich. Jeder findet auf seinem besonderen Gebiete seine eigene Methode und ahnt nicht, daß die geschichtliche Notwendigkeit vorliegt, alles das wirklich beleuchten zu lassen von der Geisteswissenschaft aus.

Nun, ich habe es oftmals hier ausgesprochen: Jedes physische Ereignis hat schon seine geistige Seite. Wie verwandt wir mit der Welt sind, zeigt sich, indem wir der Welt zur ü ckgegeben werden, wenn wir durch die Pforte des Todes gehen. Das, was ich über den Ätherleib gesagt habe, bezieht sich auf die Zeit zwischen Geburt und Tod. Anders wird es, wenn unter dem Halt des Ich und des astralischen Leibes zunächst während einiger Tage nach dem Tode der Ätherleib zusammengehalten und dann dem Kosmos übergeben wird. Dann wirkt er so, wie ich das oftmals dargestellt habe. Viele solche Ätherleiber - ich habe es oft gesagt - von jung durch die Pforte des Todes Gegangenen sind gegenwärtig in der geistigen Sphäre und bleiben dort mit all dem geistigen Inhalte, der da kommt von dem Opfertode. Das können Helfer sein für die Ver­geistigung der Menschheit in der Zukunft. Aber hier auf der Erde werden Menschenseelen sein müssen, welche verstehen, was äthe­risch um den Menschen herumschwebt als teuer-werter Überrest der durch den Opfertod Gegangenen. Das wird ein realer, nicht bloß ein abstrakter Erinnerungsprozeß sein. Und an den Menschen, die hier sind, wird es sein, daß sie diese Kräfte, die von den noch jungen Ätherleibern kommen können, in den Dienst der Menschheit stellen, wo sie hin wollen. Wenn die Menschenseelen hier nicht dazu reif sein werden, dann werden diese Kräfte in ahrimanisch­luziferische Strömungen einlaufen müssen. Nicht nur Erkenntnisse, nicht nur Gefühle, meine lieben Freunde, sondern auch Verant-wortungen zeigt uns die Geisteswissenschaft, Verantwortungen, die wir treulich in unserer Seele lebendig machen sollen.

Und im Grunde genommen ist es das rechte Ergebnis einer sol­chen Betrachtung, wie wir sie heute nach der einen und nach der

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anderen Richtung gepflogen haben, wenn wir fühlen lernen die Ver­antwortung, die auch das Seelische des Menschen hat gegenüber der Zeit, die sich entwickelt, die die Ereignisse entwickeln muß, da, wo sie sich werden abspielen müssen über blutgedüngtem Boden. Nur wenn wir so, nicht in leichtem, sentimentalem Sinn, sondern in echtem, ernstem Sinne uns erbauen an der Betrachtung des Zusam­menhanges von Mensch und Welt, wie die Geisteswissenschaft es geben kann, dann verstehen wir recht die Worte, die oftmals hier gebraucht sind und die uns zur Seele rufen sollen die Gefühle, die in den gegenwärtigen Menschen so notwendig sind angesichts der großen Zeitereignisse:

Aus dem Mut der Kämpfer,

Aus dem Blut der Schlachten,

Aus dem Leid Verlassener,

Aus des Volkes Opfertaten

Wird erwachsen Geistesfrucht -

Lenken Seelen geistbewußt

Ihren Sinn ins Geisterreich !

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ACHTER VORTRAG Berlin, 2. Mai 1916 Thomas Morus' «Utopia»

Wir haben Betrachtungen angestellt in Anknüpfung an dasjenige, was man nennen kann okkulte Brüderschaften, und wir haben ja auch das letzte Mal hier versucht, einiges Licht zu werfen auf das­jenige, was als eines der bedeutsamsten Symbole innerhalb solcher Brüderschaften immer wieder und wiederum vorkonsrnt: die Auffin­dung des verloren gegangenen Wortes. Heute möchte ich zu diesem Thema, zu dem man jahrelang hindurch fortsprechen könnte und es selbstverständlich doch nicht erschöpfen würde, gewissermaßen etwas dazu beibringen, das wohl in der Welt, die von Geisteswissenschaft nichts weiß, wenig oder gar nicht - man kann schon sagen: gar nicht - in irgendeinen Zusammenhang gebracht werden kann mit demjenigen, was, ich will nun nicht sagen, okkulte Brüderschaft ist, sondern durch die okkulten Brüderschaften als Lehre, als Kultus, als Weltanschauung fließt. Also von etwas wollen wir spre­chen, das rnit den Gegenständen, die wir besprochen haben, in einer Art von Zusammenhang steht, den wir uns nur dann klar machen können, wenn wir zum Schlusse auf die ganze geisteswissenschaft­liche Seite der Frage, um die es sich heute handeln wird, eingehen werden.

Über ein trübes Kapitel der Geschichte ist es dabei notwendig zu sprechen, welches ja gerade von dem Gesichtspunkte aus, den wir heute erörtern werden im Zusammenhange mit geisteswissenschaft­lichen Erkenntnissen, auch überschrieben werden könnte: Wie manchmal Religionen entstehen. Sie werden sich vielleicht noch aus Ihrer Schulzeit erinnern, daß vöm Jahre 1509 bis zum Jahre 1547 auf dem Thron von England Heinrich VIII. saß. Ich glaube, Sie wer­den alle diesen Heinrich VIII. wohl kaum als ein besonders nach­ahrnungswürdiges Beispiel edler Menschlichkeit in Ihre Seele und in Ihr Herz geschlossen haben. Diejenige Geschichte, die Ihnen ja

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vielleicht am besten von diesem Heinrich VIII. im Gedächtnis ge­blieben ist, wird ja wohl diese sein, daß er sechs Frauen gehabt hat, von denen er zwei hinrichten ließ: Die eine, weil sie ihm nicht mehr gefiel, die andere im Grunde auch, weil sie ihm nicht mehr gefiel. Gründe findet man ja dann immer dafür. Von den anderen ließ er sich scheiden. Die letzte, die sechste, hat er ja auch hinrichten las­sen wollen, aber es ist nicht mehr dazu gekommen, weil in einer besonders koketten Rede, die stattgefunden hat zwischen Heinrich VIII. und dieser seiner sechsten Frau, diese ein wenig schlauer war als er, und ihn wieder herumgekriegt hat. Nun aber ging ja insbe­sondere, wie Sie wissen, das Scheiden von seiner ersten Frau nicht gerade ganz leicht, denn die Ehe war vollzogen nach allen kirch­lichen Regeln, und es wäre notwendig gewesen, wenn alle Gebräuche und Anschauungen der äußeren Welt gewahrt worden wären, daß Heinrich VIII. durch den Papst Clemens VII. geschieden worden wäre. Aber der Papst fand keinen Grund zur Scheidung und wei­gerte sich immer wieder und wiederum. Viele Jahre gingen die Verhandlungen hin und her. Der Papst wollte nicht scheiden. Nicht wahr, eine fatale Situation! Was tut man in einem solchen Falle? Na, man kann es ja nicht immer tun, aber wenn man Heinrich VIII. ist, so tut man es eben: Man gründet eine neue Religion, man stiftet eine neue Kirche. Und so stiftete denn Heinrich VIII. die neue Kirche, die dann fortlebt nach mancherlei Umformungen in der anglikanischen Kirche Englands, die heute zwanzig Millionen Be­kenner hat. Es stiftete also Heinrich VIII. eine neue Kirche. Eine neue Kirche zu stiften, das machen andere so, daß sie eine neue Lehre in eine Form prägen. Aber Heinrich VIII. war ja kein kluger Mann, wie schon das Gespräch mit seiner letzten Frau, von dem ich erzählt habe, zeigt, und es fiel ihm eigentlich gar nichts ein, womit er eine neue Kirche begründen sollte. Da ließ er denn die Lehre die alte sein und gründete eine neue Kirche, das heißt, er suchte nach und nach die erleuchteten Männer des Parlaments, des Staates dahin zu bringen, daß sie zustimmten, nicht mehr den Papst weiter als das Oberhaupt der englischen Kirche anzuerkennen, sondern ihn selber, Heinrich VIII. Es ist die berühmte Supremats-Akte, die dazumal in

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England gestiftet worden ist, wodurch Heinrich VIII. - und damit selbstverständlich jeder seiner Nachfolger - zum Oberhaupt dieser Kirche erklärt worden ist. Nun konnte er sich scheiden lassen. Der Zweck war erreicht, nicht wahr? Aber man darf vielleicht doch eine solche Sache im Zusammenhange mit all den fortlaufenden Ge­schehnissen der Menschheitsentwickelung ein wenig betrachten.

Einer derjenigen Männer nun, der stark sein Leben verbunden hat mit all dem, was da als eine neue Kirchengründung durch einen ja so heiligen Mann wie Heinrich VIII. stattgefunden hatte, ist der berühmte, ich weiß nicht, wie weit gekannte, Thomas Morus. Thomas Morus ist ja, wie Sie wohl wissen, der Verfasser einer Schrift von der Art, die man seitdem Utopien nennt. Sie erinnern sich vielleicht noch an die Utopie des Bellamy. Solcher Utopien sind viele geschrieben worden, meinen die Menschen. Wie wir gleich sehen werden, meinen es die Menschen bloß, daß viele solcher Utopien, wie Thomas Morus sie geschrieben hat, geschrieben wor­den sind. Aber man nennt seit Morus dasjenige, was jemand als Ideal einer Staatsordnung schreibt, von der die gescheiten Leute glauben, daß sie nicht verwirklicht werden kann - sie können dann aber auch gescheit sein, denn manche Utopien lassen sich ja wirklich nicht verwirklichen -, deshalb Utopien, weil Thomas Morus in einer besonderen Schrift das Land «Utopia» beschrieben hat, das eine besondere Staatseinrichtung habe. Thomas Morus hat in dieser Utopia verschiedene Einrichtungen seines Staates - sagen wir zu­nächst: seines Phantasie-Staates - beschrieben, und eine der Einrich­tangen ist auch diese, daß in diesem Phantasie-Staate Toleranz der verschiedenen Religionen herrschen soll. Ein Staat also, der ge­wissermaßen die Religion zur Privatsache erklärt. Man kann sagen, daß jener Redemptorist - das ist eine Sorte von Jesuiten - der noch vor gar nicht langer Zeit über Thomas Morus geschrieben hat, eigentlich gar nicht Unrecht hatte, wenn er bezweifelte, daß Thomas Morus wirklich gedacht haben könnte, daß in irgendeinem Ideal-staate religiöse Toleranz walten sollte. Man darf ja auch nicht ver­gessen, daß es einem Redemptoristen schwer würde, solches anzu­nehmen, denn die katholische Kirche hat Thomas Morus selig gesprochen,

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und auf diese Seligsprechung ist in den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts so stark hingewiesen worden, daß man aus diesen verschiedenen Hinweisen ersehen kann: die katho­lische Kirche hat sogar die Absicht, Thomas Morus sehr bald heilig zu sprechen.

Ja, meine lieben Freunde, die katholische Kirche kennt in einem solchen Falle in der Regel die Akten sehr gut. Denn eine Heilig­sprechung ist eine recht ausführliche und auf die Akten tief ein­gehende Prozedur. Da hat vor allen Dingen der «Advocatus Regius» alles dasjenige hervorzuheben, was dafür spricht, daß der Betref­fende wirklich ein heiliger Mann war, daß durch ihn Wunder ge­schehen seien. Denn ohne daß durch einen Wunder geschehen, kann man in der katholischen Kirche nicht heilig gesprochen werden. Diese Prozedur dauert schon sehr lange. Dann spricht aber auch der sogenannte «Advocatus Diaboli». Der hat alles dasjenige vorzubrin­gen, was gegen den Betreffenden spricht. Nun stelle man sich vor, daß sich die Kirche der Gefahr aussetzen würde, daß der Advocatus Diabolus bei einer eventuellen Heiligsprechung des Thomas Morus vorbrächte: Dieser Mann hätte das Wunder vollbracht, religiöse Toleranz anzuerkennen! - Unmöglich, nicht wahr! Aber es spricht wirklich vieles andere noch dagegen. Und wenn wir in Ausführ­lichkeit die Biographie des Thomas Morus, soweit sie bekannt ist, entwickeln könnten, so würden wir sehen, wie vieles dagegen spricht, daß Thomas Morus so ohne weiteres religiöse Toleranz, wie man das nennt, habe predigen wollen durch seine Schrift «Utopia». Aber es spricht ja vielleicht sogar schon ein Hauptzug seines Lebens dafür. Thomas Morus war nämlich eigentlich in sei­nem Leben, trotzdem er ein sehr frommer Mann war, zunächst, man könnte sagen, ein Glückskind. Er stieg auf zu verschiedenen Staats-ämtern, wurde Parlamentsmitglied und zuletzt Lordkanzler Heinrichs VIII. Also er hatte eine hohe Würde bei einem heiligen Manne erlangt! Thomas Morus war aber ein frommer Mann und ein gewissenstreuer Mann. Und er hatte - durch das besondere Ver­hältnis, in dem er stand zu dem heiligen Manne, Heinrich VIII. -sein Urteil abzugeben über die Stiftung der neuen Kirche. Und

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siehe da, dazu ließ er sich nicht herbei, obwohl er, trotzdem er ein frommer Mann war, auch eine weiche Natur war. Thomas Morus ließ sich nicht dazu gewinnen, sein richterliches Urteil dahin abzu­geben, daß Heinrich VIII. recht habe.

Was tut man in einem solchen Fall, wenn man ein Mann wie Heinrich VIII. ist? Man widerlegt wohl den Betreffenden, der so triftige Einwendungen macht wie Thomas Morus? Nein! Man sperrt ihn ein! Und so ließ denn auch Heinrich VIII. nach mancher­lei Zwischenprozeduren Thomas Morus in den Tower werfen. Und das sehr erleuchtete Gericht der Lords hatte nun zu entscheiden, welches Urteil über diesen Thomas Morus zu fällen sei, der sozu­sagen eine der ersten großen Sünden der neuen Kirche begangen hatte. Es ist doch nicht uninteressant, meine lieben Freunde, dieses Urteil, das dazumal gefällt worden ist, ein wenig ins Auge zu fas-sen. Thomas Morus wurde nämlich zu folgendem verurteilt. Also er wurde geführt - machen wir uns die Situation klar - von dem Tower zu dem erleuchteten Gerichtshofe und wurde nun verurteilt, durch Hilfe des Sheriffs oder Stadtrichters, William Pinkston, wie­der zurück in den Tower gebracht zu werden, von dort in einem ge­flochtenen Korbe durch die Stadt London bis nach Tyburn ge­schleift zu werden, dann dort in Tyburn gehangen zu werden, aber nur so lange, bis er halb tot sei; dann lebendig abgeschnitten zu werden; dann, nachdem ihm gewiesse Glieder abgeschnitten worden seien, solle ihm der Leib aufgerissen werden, die Eingeweide ver­brannt, sein Leib mit Ausnahme des Kopfes in vier Teile geteilt werden, welche nach den vier Enden der Stadt London gebracht werden sollten, um dort auf Spießen aufgespießt zu werden. Sein Kopf aber sollte auf der Londoner Brücke auf einem hohen Spieße zum Abschrecken der Leute aufgepflanzt werden, damit sie in der Zukunft nicht solche Sachen machten. Dieses Urteil wurde aus­gesprochen durch die erleuchteten Lords. Es wurde allerdings nicht ausgeführt, sondern Thomas Morus wurde dazu begnadigt, bloß im Tower enthauptet zu werden und die übrigen Dinge wurden nicht gemacht, bloß das Haupt ist auf der Londoner Brücke auf einem hohen Spieße aufgepflanzt worden.

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So steht Thomas Morus vor uns in der Geschichte da. Und das alles hat sich ja in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts vollzogen. Gar so lange ist die Sache nicht her. Und nun, nachdem wir es danach haben unwahrscheinlich finden müssen, daß Thomas Morus Religionstoleranz gepredigt habe, weil er nur Heinrich VIII. aus treuer Anhänglichkeit zur katholischen Kirche widerstanden hat und deswegen eben als ein Märtyrer selig gesprochen worden ist, - nachdem wir also wohl verstanden haben werden, daß Thomas Morus so ohne weiteres kein Rationalist von der Sorte der Rationa­listen, der Freigeister des achtzehnten Jahrhunderts sein kann, welche Religionstoleranz gepredigt haben, so müssen wir uns nun seine «Utopia» etwas ansehen. Es ist aber ein ausführliches Buch, und ich kann nur ein paar Züge davon erklären.

Diese «Utopia» also enthält Ideen über ein Staatsgebilde, von dem uns erzählt wird, daß es sich entwickelt habe auf der fernen Insel, eben Utopia. Dieses Staatsgebilde - wollen wir es nur in den Hauptzügen charakterisieren - zeigt Einrichtungen, welche ganz gewiß sehr vielen Menschen aus manchen Untergründen des Nach­denkens heraus als sehr wünschenswerte Züge erscheinen. Mancher­lei allerdings zeigt ja, daß bloßer nüchterner, trockener Verstand in diesem Staatsgebilde herrscht. So wird uns zum Beispiel beschrieben, daß die Häuser alle quadratförmigen, viereckigen Grundriß haben, daß alle gleich sind, die Straßen auch alle gleichmäßig verlaufen. Dann wird uns erzählt, daß es in jedem Hause geregelt werden muß, streng polizeilich, könnte man sagen, wieviele Jünglinge und Män­ner, Jungfrauen und Frauen darin wohnen dürfen. Stellt es sich einmal heraus, daß eine Überzahl in einem Hause ist, dann müssen einige heraus und in anderen Häusern einspringen, wo Lücken sind. Also es wird auf eine genaue Verteilung des Menschen-materials auf die verschiedenen Häuser gewisser Wert gelegt. Dann aber wird darauf gesehen, daß private Besitztümer nicht erworben werden, sondern daß eine gewisse kommunistische Wirtschaft sei. Damit die Menschen nicht zur Überschätzung des Privateigentums in Form des Goldes kommen, kann jeder durch polizeiliche Gewalt nur so viel erwerben, daß es eine bestimmte Höhe erreicht. Alles

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andere wird an den Staat abgeführt. Namentlich darf kein einzelner Gold erwerben. Alles Gold wird an den Staat abgeführt. Aber es soll nicht einmal die Anschauung aufkommen, daß das Gold etwas sei, was ganz besonders begehrenswert sein könnte. Denn wenn man Gold genug habe, im Überfluß Gold habe, so müsse aller Überfluß oder alles dasjenige, was Überfluß werden könnte, zu Ketten geformt werden, mit denen man die Verbrecher fesselt, oder es wird verteilt, indem gewisse, aber nur zu untergeordneten Zwek­ken in den Häusern dienliche Gefäße daraus geformt werden und dergleichen mehr. Also das Gold soll ganz entschieden in einer Weise verwendet werden, daß man auch niemals auf den Glauben kommen könne, daß es irgendwelchen Wert habe. Die polizeiliche Gewalt wird in diesem Staate Utopia nicht ganz ins Wüste getrie­ben. Gewisse Grenzen werden gesetzt. So wird zum Beispiel aus­drücklich gesagt, die Zahl der Kinder, die man in einem Hause ha­ben dürfe, werde nicht vorgeschrieben. Die Mahlzeiten in den Häu­sern sind gemeinschaftlich für die Hausgenossen. Es ist streng ange­ordnet, wo die Alten sitzen, wo die Jungen sitzen, wer zuzutragen hat und so weiter. Auch über die Gesinnungen, die herrschen - wir haben es ja zu tun mit einer Insel Utopia, also der Staat existiert für die Phantasie, es ist nicht ein Zukunftsideal -, über die Gesinnungen der Bewohner von Utopia wird erwas gesagt: Sie sind von unter­geordneten selbstsüchtigen Leidenschaften und Begierden durch die vernünftigen Einrichtungen ihres Staates in einem gewissen Sinne so stark frei geworden, daß sie zum Beispiel immer die Redensart auf der Zunge führen: Man dürfe ja nicht essen aus dem Grunde, weil einem das Essen irgendwie schmecke, das sei wider die höhere Ent­wickelung der menschlichen Natur, aber man müsse dankbar sein der Gnade, die den Menschen geworden sei, daß mit dem notwen­digen Genuß der Speise zugleich ein angenehmes Gefühl verbunden sei. Sie merken die feinen Unterschiede, nicht wahr! Und insbeson­dere sagen diese Bewohner von Utopia, man müsse dankbar sein, daß jene Krankheit, die man Hunger nennen könnte - denn daß der Mensch hungrig werden kann, ist wahrhaftig ebenso schlimm, wie daß er krank werden könne -, nicht mit Giften und bitteren

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Arzneien geheilt werden muß wie andere Krankheiten, denn sonst müßte man jeden Tag Gifte und bittere Arzneien zu sich nehmen, und das wäre schlimm. Dann wird ausdrücklich gesagt, daß man selbst bei Tisch, oder wenigstens bevor man begiunt, immer einen frommen, auf die Sittlichkeit bezüglichen Vortrag hören müsse von einem der erleuchteten Geister in Utopia. Dann wird davon gespro­chen, daß die Utopisten überhaupt ganz geführt werden von den er­leuchteten Männern, die zugleich Priester sind, und älinliches mehr.

Aber nun wird eben auch auseinandergesetzt, wie in diesem Utopien Grundsätze herrschen so, daß man Gott recht dienen könne, selbst für den Fall, daß es ihm gefallen hätte, sich nicht auf eine einzige, sondern auf verschiedene Arten von den Menschen ver­ehren zu lassen. Und das war einer der Gründe, sogar der erheb­lichste Grund für Utopus, den Gründer der Staatseinrichtungen von Utopia, vollständig Religionsfreiheit zu gestatten. Diese Religions­freiheit ist nun wirklich recht vernünftig, denn sie enthält zugleich, daß jeder dasjenige aussprechen kann, was er für seine religiöse Überzeugung hält. Allerdings, vorausgesetzt wird dabei, daß es kei­nen Menschen gibt und je geben kann in Utopia, welcher das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und das jenseitige Gericht nach dem Tode leugne. Das seien gemeinsame Grundsätze für alle Reli­gionen, und die würde ohnedies jeder anerkennen. Als das vernünf­tige Gegenbild dieser Religionsfreiheit ist zugleich ausgesprochen, daß niemand irgend jemanden wegen seiner religiösen Überzeugung beschimpfen oder ihm gar etwas zu Leide tun darf. Kurz, wenn man sich einläßt auf diesen Inhalt des Buches «Utopia» von Thomas Morus, so sieht man wirklich, daß es aufgebaut ist auf merkwür­digen Anschauungen, von denen man nur sagen kann: Sie sind ver­nünftig nach jeder Richtung hin. Und wenn Thomas Morus solche Einschiebsel macht, wie ich sie erwähnt habe, von dem Preis der Gnade, die es den Menschen möglich macht, doch angenehme Emp­findungen vom Essen zu haben oder ähnliches, so beruht das auf ganz gewissen Voraussetzungen, die durchaus nicht darauf hinwei­sen, daß Thomas Morus sagen wollte, der ganze Staat sei ein Un­sinn, ohne weiteres, sondern daß er sagen wollte: Die Menschen sind

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nur nicht dazu veranlagt, vernünftige Lehren wirklich auch immer vernünftig auszulegen, sondern sie verzerren sie zur Karikatur. - Es gibt auch noch andere Gesellschaften, die zwar nicht in Utopia sind, sondern anderswo, in denen zum Beispiel auch Gleichberechtigung, gleiche Anerkennung der verschiedenen Religionsgemeinschaften herrscht, in denen man sich auch bemüht, vernünftige Lehren zur Wirklichkeit zu machen, und in denen auch nicht jeder einzelne durchaus immer Vernünftiges gibt, wenn er zum Beispiel seine An­schauungen und Gesinnungen erzählt, die er aus dem Vernünftigen heraus geholt hat. Ich will nicht auf die «fernen» Gebiete hinwei­sen, in denen so etwas vorkommt!

Also Thomas Morus muß von einem gewissen Gesichtspunkte aus mit seiner Insel Utopia sehr ernst genommen werden. Dabei dürfen wir wiederum nicht vergessen, daß dieser Thomas Morus von Kind­heit auf nicht nur ein frommer Mann war, sondern auch ein Mann, der unablässig seine Meditationen, seine geistigen Übungen, ab­solvierte, ein Mensch, der seine Meditationen im tiefsten Sinne ernst nahm, und der täglich stundenlang damit zubrachte, seine Seele durch Meditation den Weg in die geistige Welt gehen zu lassen. Noch am letzten Tage vor seiner Hinrichtung sandte Thomas Morus aus dem Tower die geheimen Dinge, die er zu seinen gei­stigen Übungen hatte, an seine Tochter, damit diejenigen, die ihn wegführten, sie in seiner Zelle nicht finden würden. Bis zu seiner Hinrichtung setzte er seine geistigen Übungen fort. Dieser Mann, der es so ernst nahm mit der Entwickelung seiner Seele, er hat im­mer wieder und wiederum deutlich zum Ausdruck gebracht, daß er im Sinne seiner Zeit - wir stehen ja vor der Ausbreitung des Prote­stantismus selbstverständlich - durchaus nichts anderes sein wollte als ein treuer Sohn seiner Kirche, nämlich der römisch-katholischen Kirche. Und für diese Kirche hat er sich ja auch hinrichten lassen.

Einige Züge müssen noch vor unsere Seele treten aus dem Buche «Utopia». Da wird vor allen Dingen gesagt: Auf dieser fernen Insel, die gar keinen geographischen Zusammenhang mit Europa habe, sind nur einmal alte Weise gelandet, römische und ägyptische Weise, die dasjenige angegeben haben, was dann den Utopus, den

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Begrün der des Staates veranlaßt hat, seine Einrichtungen zu treffen. Dann werden merkwürdige Dinge mitgeteilt; wenigstens in den älteren Ausgaben des Buches «Utopia» sind sie enthalten. Ein gewis­ses Alphabet wird mitgeteilt, das aus gewissen rechten Winkeln und ihrer Zusammensetzung besteht, und das das Alphabet der Schrift von Utopia sein soll. Wer heute in den gebräuchlichen Büchern, die die Schriften mancher freimaurerischer Orden wiedergeben, nach-sieht, der kann gar nicht umhin, schon dieses Äußerliche anzuerken­nen, wie ähnlich die Schrift ist, die da Thomas Morus als die Schrift von Utopia mitteilte, der Schrift, die in gewissen freimaurerischen Zusammenhängen gebraucht wird. Außerdem werden gewisse Sprüche mitgeteilt, die gewisse Richtschnuren geben sollen für Handlungsweisen in Utopien. Und da wird in einer merkwürdigen Weise zusammengesetzt lateinischer, griechischer, hebräischer Text, so daß das wiederum erinnert an gewisse Formeln okkulter Verbrü­derungen, wenn auch die Sache nur sehr, sehr verhüllt angedeutet wird. Dann wird noch etwas Merkwürdiges gesagt. Es wird aus­drücklich gesagt, römische und ägyptische Weise seien gelandet auf jener Insel, aber vom Christentum sei nichts hingekommen. Nun wird die Sache immer rätselhafter. Denken Sie, Thomas Morus ist frommer Katholik, ist ein Mann, der geistige Übungen macht. Thomas Morus schreibt ein Buch «Utopia», in dem er eine Insel beschreibt mit von ihm zweifellos innerhalb der weitesten Grenzen ernst gemeinten Einrichtungen; aber das Christentum ist niemals hingekommen.

Ja, wie steht man eigentlich vor solch einem Manne? Wie begreift man ihn? Nun, wir brauchen nur anzuknüpfen an die Tatsache, daß er geistige Übungen machte, und man braucht nur Verschiedenes, was er geäußert hat und was im Zusammenhang mit seinen geistigen Übungen steht, richtig zu betrachten, so wird man finden, daß Thomas Morus es auch zu etwas gebracht hat durch seine geistigen Übungen. Aber nun erinnern Sie sich, in welcher Zeit Thomas Morus steht. Erinnern Sie sich, daß wir in der Regierungszeit Heinrichs VIII. stehen, im sechzehnten Jahrhundert, also kurz nach dem Übergange der vierten nachatlantischen Zeit in die fünfte nachatlantische

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Zeit. Ich habe Ihnen vor kurzem diesen Übergang ge­schildert, indem ich Sie hingewiesen habe auf Pico von Mirandola, auf Savonarola und so weiter, indem ich Ihnen den ganzen Über­gang, ich möchte sagen, so zu charakterisieren versuchte, wie er aus Persönlichkeiten heraus spricht. Aber auch in Thomas Morus haben wir einen Menschen vor uns, der im Beginne des fünften nachatlan­tischen Zeitraums steht, jenes Zeitraumes, den wir ja so oft charak­terisiert haben durch seine tiefste Eigenart: daß zurückgegangen sind die alten okkulten Fähigkeiten. Sie sind für das gewöhnliche menschliche Erleben zurückgegangen, aber erlangbar sind sie wie­derum durch geistige Übungen. Und Thomas Morus hat solche gei­stigen Übungen gemacht.

Nun kann ein bestimmter Fall eintreten. Man kann durch solche geistigen Übungen, wie es jetzt eigentlich immer beim richtigen Üben angestrebt wird, dahin kommen, gleich ordentlich zu durch­schauen, wie der Zusammenhang ist zwischen dem gewöhnlichen menschlichen Vorstellen des Alltagslebens und dem, was aus den Tiefen der Seele heraufzieht als Anschauung einer höheren spirituel­len, geistigen Welt. Aber es kann auch anderes eintreten. Und bei Thomas Morus ist eben etwas anderes eingetreten. Thomas Morus hat sich durch seine geistigen Übungen versetzt während seiner Schlafenszeit in die astralische Welt, so daß er in dieser astralischen Welt ganz andere Erfahrungen machen konnte als der gewöhnliche Mensch, der keine geistigen Übungen in der astralischen Welt macht, aber er konnte sie nicht unmittelbar bewußt herüberbringen. Er konnte ausführlich erleben gewisse Dinge in der geistigen Welt, er konnte sie zwar nicht bewußt herüberbringen, aber er brachte sie herüber, und was er herübergebracht hat aus dieser astralischen Welt, das hat er in seinem Buche «Utopia» beschrieben. Dieses Buch «Utopia» ist nur für die, verzeihen Sie, ganz gescheiten Leute ein Phantasiebild. Es ist für den, der die Tatsachen kennt, ein gei­stiges Erlebnis, bei dem nur der Zusammenhang zwischen dem ge­wöhnlichen Denken und dem geistigen Erlebnis nicht voll zum Be­wußtsein gekommen ist. Aber um so zwingender sind solche gei­stigen Erlebnisse. Man kann gut frommer Katholik sein, man kann

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sogar so frommer Katholik sein, daß man nachher selig und heilig gesprochen worden ist, man kann Märtyrer für seinen Katholizismus werden, wie Thomas Morus: Wenn man solche geistigen Erfahrun­gen gehabt hat, wie er sie gehabt hat auf dem astralischen Plan, dann schreibt man sie doch nieder! Denn man hat sie erlebt. Und das Erleben wirkt mit elementarer Gewalt.

Es ist mir entgegengetreten, daß immer oder wenigstens sehr häu­fig der Versuch gemacht wird, Utopia, den Inselnamen, zu über­setzen. Und ich glaube, daß die deutsche Literatur den Leuten die

Übersetzung: «Nirgendheim» aufgemutzt hat, also die Insel, die nirgends ist. Das ist solch eine von denjenigen Übersetzungen, die man macht, wenn man eben von der ganzen Sache nichts versteht. Man muß schon die ganze Sache durchschauen, wenn man den Namen Utopia richtig übersetzen will. Wenn man nämlich wirklich hineinkommt in die astralische Welt, so ist es zum ersten gehörig, was man in dieser astralischen, elementarischen Welt erlebt, daß die Gesetze des Raumes in der Weise aufhören, wie sie hier im gewöhn­lichen dreidimensionalen Raume sind. Diese Gesetze, wie wir sie in der Geometrie kennen lernen, haben wirklich nur für die äußere Sinnes-welt Geltung. Und es ist unmöglich, in der gleichen Weise von dem zu sprechen, was man in der astralischen Welt erlebt. Bildlich kann man es; aber in Wirklichkeit muß man wissen, daß das Bildliche etwas anderes bedeutet. Es ist unmöglich, von dem, was man in der astralischen Welt erlebt, in derselben Weise zu sprechen, wie man hier von Dingen und Wesen der Sinneswelt spricht. Nicht wahr, ich darf von diesen Dingen und Wesen der Sinneswelt sprechen, spreche auch davon: diese Dame sitzt hier, diese Dame sitzt dort, an dem einen, an dem anderen Orte. Das so unmittelbar auf die astralische Welt zu übertragen, hat nicht den geringsten Sinn. Das wird man bald gewahr in dieser Welt, daß man da in der Welt der Nicht-Örtlichkeit, der Nicht-Topigkeit, des Nicht-Topismus, steht, daß man also, wenn man etwas reden will über diese Welt, das Örtlich-sein der sinnlich-physischen Welt verneinen muß. Und man müßte übersetzen «Utopia»: Nicht-Örtlichkeit. Auf die Qualität der Welt, in die Thomas Morus hineingeschaut hat, kommt es dabei an.

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Was ist ihm nun in dieser Welt ganz besonders entgegengetre­ten? Braucht man sich denn eigentlich zu verwundern, daß ihm etwas entgegengetreten ist, was demjenigen ähnlich sieht, was in okkulten Verbrüderungen als Grundsätze herrscht und als gewisse Gebräuche herrscht? Diese Gebräuche der okkulten Verbrüderun­gen, wir haben es betont, sind ja altes okkultes Weistum, stammen ja auch von den alten Beobachtungen aus dieser astralischen Welt. Als das hinuntergegangen war und nur in den verschiedenen Ordensgemeinschaften weiter lebte durch Tradition, bei Leuten, die es zwar historisch hatten und denen es diktiert wurde und im Bilde gezeigt wurde, die aber selber keinen Einblick hatten, da war es natürlich rein äußerlich der Anschauung entschwunden. Aber da-durch, daß solche Leute wie Thomas Morus geistige Übungen machten, versetzten sie sich gerade in die geistige Welt hinein, und es kam ihnen nun aus der geistigen Welt heraus etwas Ähnliches entgegen. Und sie beschrieben das. Kein Wunder daher, daß das­jenige, was in vielen okkulten Verbrüderungen lebte als noch nicht vom Christentum berührte Lehre, auch von Thomas Morus so dar­gestellt wird, daß es durchdringt als Staatseinrichtung die Insel Utopia, auf die zwar alte ägyptische und römische Weise gekommen sind, aber noch nicht das Christentum. Es wird auf solche okkulte Verbrüderungen hingewiesen, die immer und immer gerade ihre hohe Bedeutung dadurch hervorheben, daß sie sich ägyptische Orden nennen, auf Früheres hinweisen und dergleichen.

Und nun fassen wir im Zusammenhange mit diesem Gesagten dasjenige, was wir kennen gelernt haben als mit dem tiefsten Nerv der christlichen Weltanschauungsströmung zusammenhängend. Ich habe öfter auf das aufmerksam gemacht, was ich jetzt wiederum erwähnen will. Das Christentum berüht ja darauf, daß jene geistige Macht, welche wir mit dem Christus-Namen bezeichnen, herunter-gestiegen ist und durchgeistet hat im dreißigsten Jahre ihres Lebens den Leib des Jesus, der nach und nach zu dieser Fähigkeit sich auf-geschwungen hat dadurch, daß er durch die Seelen der beiden Jesus-Knaben gegangen ist. Was ist da eigentlich geschehen? Nun, eine geistige Gewalt, die bis zu dem Mysterium von Golgatha nicht

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verwoben war in die Erdenentwickelung, hat sich von da ab mit der Erdenentwickelung verwoben, indem sie zuerst lebte in dem Leibe des Jesus von Nazareth, dann durch das Mysterium von Golgatha überging in die Erdenentwickelung, um immer tiefer und tiefer, fester und fester sich in der weiteren Erdenentwickelung mit dieser zu verbinden. Wir haben das ja oft ausgesprochen. Also aus gei­stigen Höhen, in denen diese Macht früher war, ist sie herunter-gestiegen auf den physischen Erdenplan. Wenn also - ich habe ja auch das schon erwähnt - ein alter Weiser, der wirklich hellsichtig war, in der Zeit vor dem Mysterium von Golgatha sich in die gei­stigen Höhen hinaufhob, so traf er in diesen geistigen Höhen natür­lich den Christus. Daher wurden diejenigen, die dazumal von dem Christus sprechen konnten, Propheten, die das Ankommen des Christus vorhersagen konnten; denn sie fanden Christus in den gei­stigen Welten und sahen ihn gewissermaßen auf seinem Wege zur Erde hin, wie er als Sonnengeist herunterstieg, um allmählich Erd-geist zu werden. Sie schauten also hin auf einen zukünftigen Augen­blick der Erdenentwickelung, in dem sich das, was sie nur in gei­stigen Höhen sahen, mit der Erdenentwickelung verbinden werde. Wenn man die Erde dazumal, vor dem Mysterium von Golgatha, in allen ihren Weiten durchforschte nach dem, was man aus ihr wissen konnte, fand man den Christus nicht. Daher hat die Erden-wissenschaft der alten vor dem Mysterium von Golgatha lebenden Völker selbstverständlich den Christus nicht. Aber wenn die Einge­weihten dieser Mysterien einen gewissen Grad erreicht hatten, wurde ihnen verkündet das Kommen des Christus auf die Erde.

Bedenken Sie nun, wie das alles anders ist seit dem Mysterium von Golgatha. Es ist ja gerade das Gegenteil davon seit dem Myste­rium von Golgatha da. Seit dem Mysterium von Golgatha findet man, wenn man hier die Erdenentwickelung durchforscht, den Christus hineinverwoben in die ganze Geschichte derjenigen Völker, die eben schon vom Christentum durchdrungen sind. Und eine ge­schichtliche Darstellung zu geben, ohne vom Christus zu sprechen, ist eigentlich ein Unding. Das hat sogar der Historiker Ranke emp­funden und sich noch in seinem hohen Alter die Frage gestellt, ob

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denn Geschichte überhaupt etwas heißt, wenn man nicht überall zeigt, wie der Christus-Impuls in den einzelnen Erscheinungen drin­nen lebt. Dafür aber ist in denjenigen Welten, in die man aufstei­gen kann, aus denen der Christus herausgekommen ist, um eben mit der Erdenentwickelung sich zu verbinden, der Christus nicht so un­mittelbar darin. Man muß dann schon von jenen Höhen herunter-schauen auf die Erde und sehen, wie er sich mit der Erde ver­bunden hat.

Sehen Sie, das, was ich jetzt auseinandergesetzt habe, liegt als reale Tatsache zugrunde der heillosen Angst, welche gewisse Reli­gionsbekenntnisse vor dem Okkultismus haben. Denn natürlich, von dem wahren Okkultismus verstehen sie nichts, und wie der Christus doch gefunden wird durch die wahre Geisteswissenschaft, davon wissen sie eben nichts. Aber, ich möchte sagen, mit jenem seichten Okkultismus machen sie zuweilen Bekanntschaft, der gerade darin besteht, daß man den Leuten vom okkulten Standpunkte aus erklärt:

Der Christus ist ja doch nur etwas auf der Erde, und wenn ihr euch in die erhabenen geistigen Welten hinaufbegebt, dann müßt ihr die­sen Christus abstreifen, denn da oben ist gar nicht der Christus. -Es ist die Angst, die gewisse Priesterschaften haben, daß die Leute durch den Okkultismus, den sie nur in seiner seichten Form kennen, hinter dieses Geheimnis kommen könnten, das selbstverständlich das Christentum tiefer begründet, wenn man die wirklichen Tat­sachen kennt, das aber das Christentum gefährdet, wenn man nur den seichten Okkultismus kennt. Daher die Bekämpfung des Okkul­tismus von kirchlicher Seite. Dem liegt schon eine reale Tatsache zugrunde.

Also wir haben es zu tun damit, daß wir wirklich festhalten müs­sen dasjenige, was noch innerhalb des Erdendaseins von dem Chri­stus erfahren werden kann. Ich habe das so oft auseinandergesetzt. Wenn wir die Grenze überschreiten und in die geistigen Welten hinaufkommen, dürfen wir nicht vergessen dasjenige, was noch innerhalb der Erde auf okkulte Art auch über den Christus erfah­ren werden kann. Das ist dann tiefere Geisteswissenschaft, während die seichte Geisteswissenschaft entweder den Leuten erzählt, der

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Christus sei überhaupt nur für das irdische Anschauen, oder er ver­körpere sich in Alcyone oder dergleichen.

Versetzen wir uns jetzt in die Lage von Thomas Morus. Thomas Morus hat gerade solche Übungen gemacht, welche ihn befähigten, uber den Christus vollständig ins Klare zu kommen. Als dann Ge­fahr für die Welt eintrat, Verirrungen in bezug auf den Christus zu haben, dann haben, allerdings auch wiederum durch eine noch größere, kolossale Verirrung, die Jesuiten dem vorzubeugen versucht durch ihre jesuitischen Übungen. Solche jesuitischen Übungen hat Thomas Morus nicht gemacht; aber solche Übungen, die ihn wirklich dazu brachten, die ganze Realität des Christus Jesus vor seiner Seele zu haben. Wäre er nun vollbewußt hineingetreten in die geistige Welt, so hätte er natürlich auf die angedeutete Weise den Christus darinnen geschaut, wie er heruntergestiegen ist auf die Erde. Aber er konnte ja nicht einen vollständigen Bewußtseins­zusammenhang herstellen. Die Folge davon war, daß er, eigentlich halb unbewußt, niederschrieb dasjenige, was er da erlebt hat in der geistigen Welt, wo aber der Christus fehlte. Das drückte er damit aus,daß auf die Insel Utopia das Christentum noch nicht hinge­kommen war. Und jetzt können wir auch begreifen, warum so etwas in «Utopia» steht, was aller Ehrlichkeit und aller Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe des Thomas Morus widersprechen würde, wenn er es bewußt, vollständig bewußt hingeschrieben hätte, ich meine, von dem Standpunkte des gewöhnlichen Bewußtseins. Nimmermehr hätte er hinschreiben können die Einrichtungen von der Religions-toleranz. Aber er schrieb ja etwas nieder, was nicht vollständig sei­ner ganzen Grundlage nach in sein Bewußtsein einging. Das, was er da wahrnahm in Utopia, war alles so, daß Religionstoleranz be­dingt ist, daß es wirklich nicht ankommt auf die einzelne Form des Kultus und auf die einzelne Form der Gottesverehrung. In einem hohen Sinne mußte Thomas Morus von sich sagen: Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust: die eine hier in der physischen Welt, die andere, die da lebt zwischen dem Einschlafen und Aufwachen und die eine ganz andere Welt erlebt, eine Welt, in die sie den Christus-Impuls nicht hineintragen kann. Und suchen wir das

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Grundgefühl, welches einen solchen Menschen wie Thomas Morus beleben konnte, daß er so etwas wie «Utopia» schrieb, so finden wir folgendes: Zu den Begleiterscheinungen nicht ganz voll erlebter Okkultismen, nicht ganz vollen, sondern mühevollen Hineinkom­mens in die geistige Welt, wie es bei Thomas Morus zweifellos der Fall war, gehört, daß Ängstlichkeiten auftreten, und diese Ängst-lichkeiten werden von der Seele nicht als solche empfunden, son­dern es bleibt das, was eigentlich Angstgefühl ist, mehr oder we­niger im Unterbewußtsein stecken. Man sucht dann andere Gründe für das, was man erlebt und was man tut. Maskierte Angst, die sich für das Bewußtsein umsetzt in ganz etwas anderes. Bei Thomas Morus setzte sich die Angst, die er hatte, in etwas anderes um. Denn Angst bekam er durch das Wühlen seiner okkulten Erlebnisse in seinem Gemüte, er bekam Angst. Und was wäre diese Angst gewe­sen, wenn sie so, wie sie war, bewußt heraufgezogen wäre in seine Seele? Was hätte sich Thomas Morus dann gesagt? Nehmen wir einen Augenblick an als Hypothese, was nicht hat sein können: in Thomas Morus' vollständiges Bewußtsein wäre das hineingezogen:

Du siehst dieses in der astralischen, elementarischen Welt - was er dann später in Utopia beschrieben hat -, du willst es beschreiben. Warum? Wenn er die Angst vollständig begriffen hätte und sich durch das Schreiben die Angst vielleicht vom Leibe geschrieben hätte, so hätte er folgende Gedanken gehabt. Man muß in dem gegenwärtigen Weltenzeitalter mit allen Fasern seiner Seele alles tun, was den Christus-Impuls durchschauen und für die Mensch­heitsentwickelung voll aufrecht erhalten kann. Wenn aber irgend­wie die Menschen zu dem alten Hellsehen zurückkehren könnten, dann würden sie dasjenige sehen, was so aussieht - und jetzt würde er seine Utopia beschrieben haben -, und was keinen Christus-Im-puls enthält. Oh, hütet euch, so würde diese Angst gesprochen ha­ben, vor dem, was euch auf diesem Wege von dem Christus- Impuls abbringen könnte! - So würde er gesprochen haben und unter dem Eindrucke dieses Ausspruches geschrieben haben, wenn er seine Angst hätte wirklich empfinden können. Die hat er aber nicht wirk­lich empfunden, die blieb in seinem Unterbewußten. Und die

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Folge davon war, daß er die Sache hinschrieb. wie er es im Innern schaute, und nun der Welt das Rätsel aufgab, wie dieser scheinbare Widerspruch mit der ganzen Natur des Thomas Morus, die trotz-dem eine gewissenhafte, redliche, wahrheitsgetreue war, zu vereini­gen ist.

Aber versetzen wir uns einmal, nachdem wir uns das vor die Seele geführt haben, in die Lage derer, die gewissen okkulten Brüder­schaften angehörten. Da hat der Thomas Morus «Utopia» geschrie-ben. Er ist ohnedies schon verdächtig gewesen, aber das würde natürlich die erleuchteten Lords, da sie ja noch nicht alle ganz auf den Kopf gefallen waren, nicht dazu gebracht haben, ein solches Urteil zu fällen, wie sie gefällt haben. Er ist ohnedies natürlich schon verdächtig - und der Zwang wurde auch auf die Lords aus-geübt -, gegen die Intentionen des Königs Heinrich VIII. gehandelt zu haben. Aber nehmen Sie einmal an: In dem Gerichtshofe der Lords säßen einige, die die Majorität bildeten, die zu gleicher Zeit okkulten Brüderschaften angehörten. Was konnten sich denn diese sagen, was mußten sie sich sagen? Was war sogar als eine Forde­rung für ihr Gewissen von ihrem Standpunkte aus voll berechtigt? Da hat dieser Thomas Morus «Utopia» geschrieben - das ist ja ein Verrat an demjenigen, was wir als Geheimnisse bewahren! Das ist ja ein voller Verrat! Da stehen in dieser Schrift alle möglichen An-deutungen über alles Mögliche darin. Und nicht nur ein Verrat; sondern gezeigt wird, wie das dann fortwirkt in der äußeren Menschheitskultur. Wenn man nun den ganzen Menschen Thomas Morus nimmt, mußten sich die Leute sagen, dann ist es ja klar: Es ist durch ihn ganz dasselbe geschehen, wovon man sagen würde sonst, wenn einer eingeweiht wäre in diese oder jene Brüderschaft, diesen oder jenen Grad erlangt hätte, daß er das verraten hätte, wo­von er geschworen hat, daß er es nicht verraten wird. Eine der Eides-formeln, die dazumal gebräuchlich war in einem gewissen Grade für den Verrat, den etwa jemand verüben würde, die ist aufs Haar ähn­lich dem Richterspruch, der in London gefällt worden ist über Thomas Morus. Und wenn irgendein Mitglied einer okkulten Brü­derschaft eines bestimmten Grades dasjenige bewußt verraten hätte

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für die damalige Zeit, was in Thomas Morus' «Utopia» steht, inso­fern als seine Quellen dasjenige gewesen wären, was in der okkulten Brüderschaft ist, dann wäre das ein Mensch gewesen, der, als ihm die Dinge mitgeteilt, gezeigt worden waren, eine Eidesformel ge­sprochen hätte, die sehr, sehr ähnlich gewesen wäre der Formel, mit der das Londoner Gericht, die weisen Lords den Mann verurteilt haben.

Sie sehen, meine lieben Freunde, um Geschichte zu kennen, ge­nügt wahrhaftig dasjenige nicht, was man in jener «fable convenue», die man heute Geschichte nennt, zusammenträgt. Sondern um Ge­schichte wirklich kennen zu lernen, muß man tiefer in das Werden der Menschheit und in dasjenige hineinsehen können, was in den Seelen spielt. So etwas wie der Tod des Thomas Morus steht als ein großes Wahrzeichen da, und dieses Wahrzeichen muß zum Ver­ständnisse des geschichtlichen Werdens enträtselt werden. Und es kann nur enträtselt werden, wenn man das Hineinspielen von sol­chen übersinnlichen Impulsen in diese Tatsachen kennenlernt, die nur durch Geisteswissenschaft erschlossen werden können. So ist es an vielen, vielen Stellen der geschichtlichen Entwickelung. Gar manches, was sich ja, von außen angesehen, so ausnimmt, wie es nun in der fable convenue, die man Geschichte nennt, beschrieben wird, das lernt man erst kennen, wenn man ein wenig weiß, was in die Seelen hineingespielt hat, die an dem betreffenden Vorgange betei­ligt sind.

Und das gehört auch zu jenen großen Forderungen, die die gegen­wärtige Zeit an uns stellt, daß wir über gewisse Dinge die Gedan­kenlosigkeit abstreifen. Denn schließlich kann ja doch niemand ob­jektiv den Wert von so etwas, wie die anglikanische Kirche ist, beur­teilen, wenn er nicht weiß, welcher «Heilige» sie gestiftet hat: daß in dem Gemüte dieses Mannes, der sie gestiftet hat, die Möglichkeit lebte, zwei Frauen wirklich hinzurichten und bei der dritten dies sich vorzunehmen, was ja offenbar bedeutsame Vorstufen ganz besonderer Heiligkeit sind. Und wenn so etwas durch Nachdenken in das wirkliche Licht gesetzt wird, in jenes Licht, das uns mancher­lei lehren könnte von dem, worin wir darinnen leben, dann könnte,

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wenn man wahrhaftiges Nachdenken über solche Dinge übt, auch die Seele gedrängt werden, das Weitere, oftmals so geheimnisvoll mit ihnen in Zusammenhang Stehende zu erkennen. Denn diese be­deutsame, so unendlich viel offenbarende Tatsache, die mit dem Niederschreiben der «Utopia» des Thomas Morus und dem ganzen Leben des Thomas. Morus gegeben ist, spielt sich im Zusammenhang mit diesen geschichtlichen Ereignissen ab.

Nun, meine lieben Freunde, könnte man auch gespannt sein, was, wenn irgendein indiskreter Mensch das heute hier Gesprochene einem Jesuiten auslieferte und etwa vom Advocatus Diaboli spä­ter einmal vorgebracht würde bei der Heiligsprechung des Thomas Morus dasjenige, was heute gesagt worden ist, was der Advocatus Diaboli dazu sagt. Vielleicht würde er schwere Anklagen gegen Thomas Morus erheben. Aber sein Gegner, der gute Advocatus, könnte ja auch erwidern: Alles Okkulte ist Teufelswerk. Und ge­rade, wenn es bewiesen werden könnte, daß Thomas Morus aus okkulten Untergründen seine «Utopia» hervorgeholt hat, dann ist er um so heiliger, denn dann hat er das Wunder vollzogen, all den teuflischen Anfechtungen, die in allem Okkultismus liegen, zu widerstehen.

Und zu verstehen - das war ja, ich möchte sagen, das Grund-thema, gewissermaßen das Leitmotiv der jetzt hier gehaltenen Vor­träge -, wie Geistestatsachen und geistige Angelegenheiten hinein-spielen in die äußeren geschichtlichen Ereignisse, das gehört schon einmal zu dem, wozu uns die heutige so schicksaltragende Zeit, diese schweren, diese in das Menschenleben so tief eingreifenden Ereignisse, hinweisen sollen. - Davon dann nächstens weiter.

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NEUNTER VORTRAG Berlin, 9. Mai 1916 Kultus und Symbol. Der Jesuitenstaat in Paraguay

Die Zeit, die wir jetzt zu diesen Betrachtungen haben, versuche ich, wie das ja schon die vorhergehenden Stunden gezeigt haben, zu ver­wenden, um einige Lichtblicke von der Geisteswissenschaft her auf mancherlei Tatsachen des menschlichen Lebens zu richten, weil wir ja in einer Zeit leben, in welcher es besonders notwendig ist, den Blick zu schärfen für ein Verständnis desjenigen, was im Menschen­leben und in der menschlichen Geschichte wirkt. Nun habe ich ver­sucht, einiges anzudeuten über die Art und Weise, wie in okkulten Verbrüderungen oder in solchen Verbrüderungen, die auf allerlei Okkultismen zurückgehen, auf die menschliche Seele in einer ande­ren Weise gewirkt wird, als in der Art, wie es das Gewöhnliche und auch das Erstrebenswerte im Grunde genommen in unserer Zeit sein soll. Und ich habe das letzte Mal auf einen Fall hingewiesen, auf den Fall des Thomas Morus, auf seine «Utopia», und habe zu zeigen versucht, wie man in jene «fable convenue», die wir Geschichte nen­nen, die so wimmelt von allen möglichen Legenden, von allen mög­lichen zurechtgestutzten Anschauungen, von einer gewissen Seite her dadurch Wahrheit bringen kann, daß man gerade auf solche Einflüsse, die in das menschliche Leben hereinkommen, aus den ubersinnlichen Welten, Rücksicht nimmt.

Nun fragen wir uns heute einmal: Worauf beruht es denn, daß man mit den Lehren von der Auferstehung, wie ich es angedeutet habe, von dem verlorenen und wieder zu findenden Worte, daß man mit gewissen Kultushandlungen, wie sie üblich sind in solchen okkulten Verbrüderungen, auf die menschliche Seele noch in einer ganz besonderen Art wirken kann? Woher kommt denn das?

Das steht gar sehr im Zusammenhange mit der Art und Weise, wie sonst die menschliche Seele in unserer Zeit auf sich wirken läßt und immer mehr und mehr wird auf sich wirken lassen, je mehr Zeit

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die Menschheit zugebracht haben wird in diesem fünften nachaflan­tischen Zeitraum, in dem wir leben und in dessen erstem Drittel wir im Grunde genommen ja erst stehen. Also ich meine, die Art, wie auf die menschliche Seele gewirkt wird, ist in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum zunächst einmal von uns ins Auge zu fassen. Alle Bestrebungen der Menschen gehen ja in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum darauf hin, gewisse Dinge, die früher dem Menschen natürlich waren, auszuschalten. Nehmen Sie nur ein verhältnismäßig gar nicht weit zurückliegendes naturwissenschaft­liches Werk aus dem dreizehnten, vierzehnten Jahrhundert in die Hand, etwa des Albertus Magnus, da werden Sie sehen, daß diese Art, die Natur anzuschauen, für den gegenwärtigen Menschen schon ganz und gar befremdend ist. Warum ist das? Weil der Mensch in der damaligen Zeit durchaus noch damit rechnete, daß in alledem, was uns als Natur umgibt, wenn er auch nicht mehr von Wesenheiten sprach, doch gewisse elementarische Kräfte sind, die geistig-ätherischer Art sind. Das ist ja das Wesentliche der neueren Anschauung, daß alles herausgeworfen worden ist aus den menschlichen Vorstellungen, was nicht mit den Sinnen gesehen werden kann, was irgendwie geistig-ätherischer Artist. Nur wenn man voraussetzt, daß solche Bücher, wie die des Albertus Magnus im dreizehnten Jahrhundert, eben rechneten damit, daß auch noch geistige Kräfte überall in unserer physischen Umgebung sind, dann versteht man sie. Das aber ist das Bedeutsame im neueren natur-wissenschaftlichen Zeitalter, das nicht etwa bloß auf die Natur-anschauungen seine Einflüsse übt, sondern auf alles menschliche Vorstellen und Denken bis herunter zum einfachsten Volksgemüte, das ist das Eigentümliche dieses naturwissenschaftlichen Zeitalters, daß der Mensch zunächst nurmehr dasjenige in seine Vorstellungen von der Außenwelt her aufnimmt, was in seine Sinne fällt, was sich auf dem Felde abspielt, das seine Sinne beobachten. Wenn man heute auch draußen in der Welt von einer Geisteswissenschaft spricht, etwa Ästhetik, Kunstgeschichte, Soziologie, ja sogar Ge­schichte als Geisteswissenschaften anspricht, so ist das ja natürlich eine ganz ungeeignete Bezeichnungsweise. Denn Geisteswissenschaft

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kann nur da sein, wenn man vom Geist spricht, das heißt von dem­jenigen, das sich nicht in der Sinneswelt abspielt. Aber dasjenige, was uns die heutige Geschichte erzählt, spielt sich ja in der Sinnes­welt ab, wenn es auch aus Gedanken, aus Empfindungen und so weiter hergeleitet wird. Da hat man es also nicht etwa mit Geistes­wissenschaften zu tun, sondern eben doch auch nur in Wahrheit mit Sinneswissenschaft. Also aufzunehmen in die Vorstellungen zu­nächst dasjenige, was nur die äußere, sinnenfällige Natur hergibt, das ist das Charakteristische unseres fünften nachatlantischen Zeit­alters.

Glauben wir nun nicht, daß man besonders recht tue dann, wenn man über diesen fünften nachatlantischen Zeitraum und seine An­schauungen bloß herfällt und sagt: Rohe materialistische Vorstellun­gen! Damit hat man außerordentlich wenig gesagt, wenn man nicht diesen rohen materialistischen Vorstellungen etwa ebenso Wirk­liches entgegenstellen kann. Denn dieser fünfte nachatlantische Zeitraum ist geradezu da, um in einer gewissen Beziehung den Materialismus auszubilden, um gewissermaßen alles andere aus den menschlichen Vorstellungen herauszuwerfen, was nicht von der Sinneswelt hereinkommt. Denn nur dadurch, daß der Mensch ein­mal während mehr als zweitausend Jahren - so lange dauert ja ein solcher Zeitraum - sich hingibt einem Leben mit der Welt, das, wie gesagt, elementarische Kräfte ausschließt, dadurch erlangt der Mensch die Möglichkeit, vollständig seine Freiheit zu entwickeln, vollständig aus seinem eigenen Innern heraus eine eigentliche Geist-wirksamkeit zu entfalten. Die Ausschreitungen des Materialismus in diesem unserem ersten Drittel der zweitausend Jahre rühren nur davon her, daß wir eben am Anfange dieses Zeitraumes stehen, daß gewissermaßen die Flut des Sinnlichen den Menschen überfallen hat und er noch nicht das Geistige aus seinem Inneren herausgetrie­ben hat. Dieses Geistige muß eben durch eine wirkliche Geistes-wissenschaft noch kommen.

Der vorhergehende, der griechisch-lateinische Zeitraum hatte eine andere Aufgabe. Da waren alle Menschen darauf abgestimmt, das Elementarische, das Ätherisch-Geistige noch in der Umgebung wahrzunehmen

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und auch auf sich selber wirken zu lassen, nachdem sie es wahrnahmen. Da wirkte man auch von Mensch zu Mensch noch so, daß man voraussetzte: das Elementarisch-Geistige schwebt um uns herum, wie die Luft. In diesen 2160 Jahren, die unserem fünf­ten nachatlantischen Zeitraum vorangegangen sind, da wurde näm­lich erst der menschliche Leib zubereitet zu einem Werkzeuge für das jetzige denkerische, rein sinnliche Auffassen der äußeren Wirk­lichkeit. Die Arbeit, die am Menschen geleistet wurde während des griechisch-lateinischen Zeitraums, war eine mehr auf seinen Leib selber gehende. Die formte seinen Leib so, daß er in dem jetzigen Zeitraum eben denken kann über dasjenige, was sich ihm sinnlich zeigt. Man hatte also, wenn man zum Beispiel lehrte, entweder in den Mysterien selbst oder in denjenigen Anstalten, die von den Myste­rien abhängig waren - und das waren ja im griechisch-lateinischen Zeitraum noch alle Lehr- und Unterrichts- und Kultusanstalten -, dazumal nicht im Auge, dem Menschen einfach etwas mitzuteilen, das er dann in seine Überzeugung aufnehmen solle, wie das heute der Fall sein muß, sondern man hatte die Aufgabe, bei der Mittei­lung Kräfte an ihn zu übergeben, die an seinem Leibe arbeiteten. Würde heute jemand oder wird heute jemand so etwas unterneh­men, in der direkten Lehrmitteilung etwas geben zu wollen, was am Leibe des Menschen arbeitet, so würde er etwas im Sinne unseres heutigen Zeitengeistes Unerlaubtes tun; denn der Mensch will heute in bezug auf seinen Leib unbeeinflußt sein. Und das mit Recht, denn das gehört zum Charakteristikon unseres Zeitalters. Es soll nur auf sein Seelisches gewirkt werden. Alles andere ist im Grunde genom­men unerlaubte magische Einwirkung, die aber noch durchaus zu dem Erlaubten gehörte im griechisch-lateinischen Zeitalter. Da war gewissermaßen das leibliche Werkzeug des Menschen noch weicher, schmiegsamer, biegsamer, da mußte noch daran gearbeitet werden. Jetzt ist es in sich verhärteter geworden, und es handelt sich nur um Mitteilungen an die Seele, wenn gelehrt oder mitgeteilt wird.

Aber will man also formend an dem noch weichen Leib des Men­schen arbeiten, dann kann man das nicht tun mit den Dingen, die bloß von der äußeren Sinneswelt her gewonnen sind. Mit den Inhalten

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unserer Naturwissenschaft hätte das griechisch-lateinische Zeit­alter seine Aufgabe nicht erfüllen können. Hätte man damals kopernikanische Astronomie gelehrt, hätte man Darwinismus ge­lehrt, dann würde man nichts anderes erreicht haben, als daß, statt den weichen Leib des Menschen vorzubereiten für den fünften nach-atlantischen Zeitraum, man ihn vertrocknet haben würde. Man würde ihn falsch geformt haben. Man mußte dazumal gewisser­maßen eine ganz andere Wissenschaft haben. Und das ist die Wis­senschaft, die statt Photographien des äußeren Naturdaseins, wie es unsere heutige Wissenschaft gibt, Symbole gibt, die statt Experimen­ten, wie sie heute beschrieben werden, Kultushandlungen gibt, Sakramentalismus in gewisser Beziehung. Denn mit Sakramentalis­mus, mit Kultushandlungen, mit symbolisch-mythischen Darstellun­gen greift man in ganz andere Regionen des Menschen ein, als mit dem, was wir heute in unseren Naturgesetzen, in der kopernika­nischen Weltanschauung, im Darwinismus haben.

Nun haben jene Brüderschaften, wie ich angedeutet habe, zurück­behalten die alten Symbole, den Symbolismus, den Sakramentalis­mus, die Kultushandlungen, und sie ragen herein in unser Zeitalter und können auf die Art wirken, wie ich das dargestellt habe. Da wird insbesondere auf ein Glied der menschlichen Natur gewirkt, auf das in unserer Zeit direkt wenig gewirkt werden soll, wenn man beim Erlaubten bleibt. Gewissermaßen ist das so, wenn man beim Erlaubten bleibt in der Gegenwart, daß man seine Lehre, seine Mit­teilungen in solche Worte kleidet, die halt zum Ohr des anderen gehen. Die Überzeugung bildet er sich dann aus sich selber heraus. So sollte alles im Grunde genommen sein. Also man wirkt mit der Mitteilung, mit der Lehre rein in den physischen Leib hinein, und der läßt sich heute sozusagen nicht mehr aus der Fasson bringen, die ihm im vierten nachatlantischen Zeitraum, in der griechisch­lateinischen Zeit, schon beigebracht worden ist, wenn alles normal geht. Mit den Symbolen, mit dem Sakramentalismus, mit der Kultus­handlung wirkt man aber tiefer hinein, bis in den Ätherleib. Das heißt, man beeinflußt direkt die ganze Anlage der Denkrichtung des Menschen. Man nimmt gewissermaßen seine Zuflucht - indem

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man mitteilt, indem man etwas in seiner Umgebung entwickelt - zu etwas, was in seinen Ätherleib hineinwirkt und dadurch sein Den­ken in gewisse Richtungen bringt.

Das ist nun so der Fall vorzugsweise bei denjenigen okkulten Verbrüderungen, von denen ich bisher gesprochen habe. Nun gibt es noch eine ganz andere Sorte von auch okkult zu nennenden Ver­brüderungen, welche das gleiche befolgen, aber auf einem anderen Felde, welche auch mit der Art und Weise, wie sie wirken, tiefer in den Menschen hineinkraften und welche es verstehen, tiefer in den Menschen hineinzukraften. Zu okkulten Verbrüderungen sol­cher Art gehört zum Beispiel der Orden der Jesuiten. Denn der Orden der Jesuiten beruht durchaus auf Okkultismen. Ich habe das ausgeführt in dem einmal in Karlsruhe gehaltenen Vortragszyklus, wo ich direkt beschrieben habe die Übungen, die der Jesuitenschüler zu machen hat, um eben Jesuit werden zu können. Diese Übungen bewirken nun, daß der Mensch, der mitteilt oder Kultushandlungen bewirkt, statt in den Ätherleib des Menschen einzugreifen, in den astralischen Leib eingreift. Alle Schulung des Jesuitismus geht dar­auf hinaus, dem Jesuiten Kraft zu geben, seine Worte so zu stellen, die Art und Weise, wie er redet, so zu fügen, daß dasjenige, was er vorbringt oder was er tut, sich hineinstiehlt, möchte ich sagen, in die astralischen Impulse des Menschen.

Nun ist jesuitische Wirksamkeit nicht einerlei mit dem Vorhan­densein der Jesuiten da oder dort. Denn es gibt Kanäle im mensch­lichen Leben, durch welche man wirken kann auch an Orten, wo es einem verboten ist sich aufznhalten. Und man soll nicht glauben, daß, wenn man im Jesuitismus gewisse Gefahren wittert, man schon alles dagegen getan hat dann, wenn man den Jesuiten den Aufent­halt in irgendeinem Territorium verbietet. Das zeigt nur, daß man nicht recht weiß, worauf es ankommt. Und man wird erst wissen, worauf es ankommt, wenn man diese Kenntnisse haben wird, die nur die Geisteswissenschaft geben kann. Aber man kann ja nicht so leicht zeigen, wie Jesuitismus wirkt, wenn man auf allerlei unbe­kannte Kanäle hinweisen muß. Die Leute glauben es einem auch nicht recht, wenn man auf unbekannte Kanäle hinweist. Daher

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möchte ich zuerst an einem Beispiel zeigen, wie es der Jesuitismus macht, wenn er ganz robust, ungehindert seinen Impulsen folgen kann, wenn er alles dasjenige tun kann, was in seinen Methoden liegt, die darauf ausgehen, in den astralischen Leib des Menschen hineinzuwirken.

Und da ist ein gutes, schönes Beispiel die gerade auch an der Wende des vierten und fünften nachatlantischen Zeitraums voll­zogene Begründung des Jesuiten-Staates in Paraguay. 1610 wurde dieser von mir gemeinte Jesuiten-Staat in Paraguay begründet. Wie ist das geschehen? Nun, Sie wissen ja, meine lieben Freunde, nach­dem Amerika entdeckt worden ist und die europäische zivilisierte Menschheit ihre verschiedenen Gelüste nach den Goldschätzen Amerikas und auch nach anderen Dingen Amerikas entwickelte, da trat ein Zeitraum ein, in dem sich die nach Amerika hinüber­strebenden Europäer ja sehr wohl fühlten, weniger aber die in­dianische Urbevölkerung Amerikas. Wie diese arme Urbevölkerung Amerikas von seiten der zivilisierten Europäer behandelt worden ist, das ist ja vielfach beschrieben worden. Und in einem Gebiete Süd­amerikas, Paraguay, wohin in einer mit Bezug auf die Behandlung der Indianer gar nicht besonders rühmenswerten Weise europäische Kultur gedrungen ist, da erschienen eines Tages in größerer Anzahl Jesuiten mit der entschiedenen Absicht, den Guaranis, einem In­dianerstamme in Paraguay, eine nach ihrer Ansicht wesentlich bes­sere Behandlung angedeihen zu lassen als die übrigen Europäer.

Nun, die Jesuiten konnten nicht guaranisch, die Guaranis konnten nicht die verschiedenen Sprachen, die die Jesuiten sprachen, konnten auch nicht lateinisch. So in einer ganz gewöhnlichen Weise, wie man agitiert, eine Tätigkeit zu entwickeln, das ging nicht. Was taten die Patres, die in größerer Anzahl in Paraguay erschienen? Sie fuh­ren auf Kähnen, auf Schiffen durch die Flüsse, die da sind, in wilde Gegenden hinein, die nur von Indianern bewohnt waren, in Gegen­den, von denen man immer mehr und mehr gehofft hatte, daß sie sich von den im Sinne des europäischen Kapitalismus sich dort aus­breitenden Europäern würden kolonisieren lassen. Die Jesuiten fuh­ren also auf den Flüssen da in die Wildnisse hinein und bemühten

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sich vor allen Dingen, schöne Musik um sich hören zu lassen, Musik, Gesänge, und hineinzumischen in das Musikalische, in das Gesang­liche allerlei, das sie aus ihrer Praxis heraus gut kannten und das gewissermaßen zwischen den Wellen des Tones und des Gesanges sich mit ausbreitete, das man zum Kultus, zum Sakramentalismus rechnen konnte. Und die Folge davon war, daß die Indianer ganz von selbst herankamen. Sie fanden sich in großer Schar zusammen, und in gar nicht zu langer Zeit hatten die Patres eine große Men­schenmenge in den verschiedensten Gegenden beisammen, konnten einzelne Dörfer anlegen, organisierten in ihrer Weise diese Dörfer, faßten sie zu einer Art von Staat zusammen, den sie in ihrer Art eben mit Organisationen durchdrangen, und es entstand vom Jahre 1610 ab dieser berühmte Jesuiten-Staat in Paraguay, der zu seinen Bewohnern nur die leitenden, führenden Jesuiten und sonst die wilden Indianer hatte. Kirchen wurden gebaut, eine Kirche zum Beispiel an einem Orte, der angelegt wurde unter dem Namen Sanct Xaverius, die viertausend bis fünftausend Menschen fassen konnten. Alles wurde in diesem Jesuiten-Staate streng geregelt, aber so gere­gelt, daß über allem der Kultus waltete. Überall, in der kleinsten Ansiedelung wurde dafür gesorgt, daß musikalische Anregungen, nicht bloße musikalische Einflüsse, daß Kultushandlungen statt-fanden, daß die Zeit eingeteilt wurde dadurch, daß alle einzelnen menschlichen Handlungen geregelt wurden nach dem Klingen der Kirchenglocke. Zu dem klang die Glocke, zu dem klang die Glocke. Nur um eines zu erwähnen: Es wurde dafür gesorgt, daß der Mensch nicht am frühen Morgen aufstand, sich die Augen wischte, wusch, und dann aufs Feld ging arbeiten. Nein, sondern die Kirchenglocke erklang. Man wußte: der Tag beginnt. Man stand auf, versammelte sich am Platze des Dorfes. Da wurde man mit Musik empfangen. In der Mitte des Platzes stand entweder das Bildnis der heiligen Jungfrau, oder irgendein anderer Heiliger, für den durch die Mit­teilungen des Jesuiten-Pfarrers oder des Jesuiten-Vikars bereits ein gewisses Verständnis bei diesen Indianern sich eingelebt hatte. Da wurde zunächst eine Art Gottesdienst gehalten. Die Leute schauten im Gebete zum Himmel auf. Dann setzte sich der ganze Zug in Bewegung,

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vorne der Heilige, der tragbar war, oder die heilige Jung­frau. So begab man sich auf die Felder, und dann wurde gearbeitet. Dann, nachdem die Arbeit genügend verrichtet war, nahm man wiederum den Heiligen oder die Jungfrau und ging zurück bis zum Marktplatz. Dann wurden die Leute entlassen unter Kirchengeläute. Alles wurde durchdrungen von Kultus, in alles mischten sich sym­bolische Handlungen hinein, und auch die Arbeit auf dem Felde selbst wurde unter der Begleitung von Kultushandlungen vollbracht, für die man bestimmte Jesuiten-Patres erzogen hatte. Alles wurde durchhaucht und durchdrungen von Kultushandlungen.

Dadurch war die ganze Wechselwirkung zwischen den Patres und diesem Indianervolke eine solche, die immer direkt in die astra­lischen Leiber hineinging. Alle diese astralischen Leiber der Men­schen wurden in der entsprechenden Weise präpariert, und der ganze Jesuiten-Staat in Paraguay war im Grunde genommen von einer astralischen Aura durchdrungen, die eine Folge war des Sym­bolismus, des Sakramentalismus, der Kultushandlungen der Jesuiten, die natürlich in dem Sinne geleitet waren, den die Jesuiten wollten. Und man hat einiges recht Tüchtiges erreicht. Denken Sie, man hat es mit wilden Indianern zu tun gehabt, die eigentlich sich mit nichts beschäftigt hatten vorher, als im wildesten Sinne mit Jagd und an­deren ähnlichen Dingen. Und was hat man erreicht? Man hat er­reicht, daß die Leute intelligent wurden in verhältnismäßig kurzer Zeit, alles selbstverständlich in dem Sinne der Jesuiten. Die Leute konnten zum Beispiel bald alles dasjenige selber herstellen, was man brauchte. Die Patres haben sehr bald den Groll der übrigen Euro­päerherrschaft auf sich gezogen. Sie brauchten ein Heer. In ver­hältnismäßig kurzer Zeit haben sie ein Heer zusammengestellt, des­sen Offiziere zum Teil Indianer waren, nur zum Teil Europäer waren. Sie haben ein Heer zusammengestellt, das zum Beispiel mit Glück zurückgetrieben hat eine von England gegen Paraguay dazu­mal durchgeführte Blockade. Es waren ja einfachere Verhältnisse als heute, aber das alles ist doch geschehen. Nun, all das, was die Patres brauchten zur Herstellung der Flinten, ihrer Kanonen, die sie sogar herstellen ließen, all das lernten in verhältnismäßig kurzer Zeit

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diese indianischen Guaranis. Sie lernten auch Musikinstrumente machen, sie lernten auch Orgeln bauen, sie lernten gewisse Mal-künste, so daß behauptet werden konnte, sie hätten Malereien und Steinpiastiken zustandegebracht, die jeder spanischen Kirche zur Ehre gereicht haben würden.

Aber nun stellen Sie sich vor, in welche astralische Aura das Ganze getaucht war! Diejenigen, die mit den Indianern direkt ver­kehrten, die sich ihnen unmittelbar zeigten, das waren nur Mittels-personen der Patres. Die Patres wohnten streng abgesondert, hatten nur alle Fäden in der Hand, leiteten alles und waren nur zu sehen in ihren Prunkgewändern, die in Gold erglänzten, bei den Messe­zeremonialhandlungen, wo sie im Grunde genommen geschaut wur­den von den Indianern nur im Weihrauchduft. Es war gar kein Wunder, daß diese Indianer in einer gewissen Beziehung zu ihnen wie zu höheren Wesen aufschauten, aus allen diesen Gründen her­aus. Aber das alles gehörte dazu, in den astralischen Leib hinein unmittelbar zu wirken.

Der moralische Zustand dieses Jesuiten-Staates scheint wahrhaftig nicht besonders schlecht gewesen zu sein. Wenigstens wird erzählt, daß in den zahlreichsten Fällen die Indianer, die gar nicht zu fürch­ten brauchten, daß irgend etwas, was sie angestellt haben, verraten werden könnte, es mit ihrem Gewissen nicht vereinen konnten, sich nicht selber anzuzeigen. Und man hat darauf gesehen, daß eigentlich nur solche Strafen verhängt wurden, mit denen sich der Betreffende, der bestraft wurde, selber einverstanden erklärte.

Ich weiß nicht, ob die Anwendung dieses Prinzips in unserer Ge­sellschaft Glück machen würde. Aber die Menschen begreifen eben gar nicht, wie sehr sich die Denkweisen im Laufe der Jahrhunderte geändert haben. Denken Sie doch nur, daß ungefähr in derselben Zeit der Italiener Campanella in einer ähnlichen Weise einen Staat beschreibt wie Thomas Morus, der Engländer, einen Staat, von dem Campanella durchaus nicht glaubt, daß er nicht ausführbar sei. Er schildert ihn auch als sogar sehr ausführbar für die damalige Zeit. Aber er stellt es als Grundbedingung in diesem Staate auf, daß kei­ner gehängt wird, der nicht einverstanden damit ist, der sich nicht

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erst bereit erklärt, sich hängen zu lassen. Das ist nicht ein Scherz, das sieht man nur in unserer heutigen Zeit als einen Scherz an.

Eines haben diese Jesuiten in ihrem Staate auch zustande gebracht:

Sie haben nämlich nachgedacht über das Problem, wieviel gearbeitet werden muß von allen Menschen, wenn sie ihre Arbeitskraft an­wenden; denn alle haben gearbeitet in der Weise, wie ich es geschil­dert habe, mit Ausnahme der Jesuiten, die sich eben mit der Lei­tung beschäftigten. So haben sie nachgedacht, wie lange der Mensch arbeiten muß, wenn alle arbeiten, damit das zustande komme, was eine solche menschliche Gesellschaft, die in sich geschlossen ist, zusammen braucht. Und sie haben herausbekommen, daß der Mensch dann zwei Tage in der Woche arbeiten muß bei ziemlich normaler Arbeitszeit. Wenn also in einem geschlossenen Staate die Menschen zwei Tage in der Woche arbeiten würden, so würden sie alles er­zeugen, was die menschliche Gesellschaft braucht. Daher haben diese Jesuiten auch die Leute nur zwei Tage in der Woche für sich arbei­ten lassen; was sie noch in den anderen Tagen der Woche gearbeitet haben, mußte an den Staat abgeliefert werden. Das wurde allerdings für die Jesuiten-Propaganda in der übrigen Welt verwendet, nicht wahr; na, das ist aber eben auf das Konto des Jesuitismus zu schrei­ben. So daß durch mehr als ein Jahrhundert die Jesuiten immerhin die Möglichkeit hatten, überall in der Welt zu wirken mit dem­jenigen, was ihnen die fünftägige oder wenigstens viertägige Ar­beit - Sonntags ließen sie ja die Leute ruhen, da mußten sie immer in der Kirche all die Zeremonien sich ansehen und anhören - in diesem Jesuiten-Staate ergab, mit dem konnten die Jesuiten dann in der übrigen Welt wirtschaften.

Schließlich ist aber den Europäern, die dort ihre Herrschaft be­gründet hatten, die keine Jesuiten waren, sondern eben im aufleben-den Kapitalismus standen, diese Jesuitenwirtschaft doch zu dumm geworden, und am 22. Juli 1768 erschienen genügend viele und ge­nügend große Reiterschwadronen und nähmen die Jesuiten einfach gefangen und mit, und aus war es mit diesem Jesuiten-Staate. Er hat also von 1610 bis 1768 gedauert und hat eine Tätigkeit entfal­tet, wie ich es Ihnen geschildert habe.

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Ich wollte Ihnen das nur schildern, um Ihnen zu zeigen, was man erreichen kann, wenn man Methoden entwickelt, die in den astra­lischen Leib des Menschen hineingehen. Nun waren diese Methoden selbstverständlich leichter anwendbar auf die Indianer, als sie an­wendbar wären auf andere Glieder der Menschenwelt; denn andere Glieder der Menschenwelt ließen sich nicht so ohne weiteres ein­fangen. Denken Sie, was Leute der angrenzenden Provinzen hier tun würden, wenn die Elbe herauf unbekannte Wesen kommen würden und durch Musizieren die Menschen würden einfangen wollen! Also es ließen sich diese Methoden damals leicht anwenden, denn man hatte es mit verhältnismäßig primitiven Menschen zu tun. Und je weiter wir zurückgehen in der Menschheitsentwickelung, desto bestimmbarer ist ja auch der astralische Leib und der Äther­leib des Menschen. Und diese wilden Völkerschaften haben etwas von der früheren Bestimmbarkeit behalten, haben vor allen Dingen etwas von der Bestimmbarkeit noch des physischen Leibes behalten. Wirken muß man auf den astralischen Leib, wenn man so wirken will; aber der astralische Leib kommt dann in seine Schwingungen und wirkt auf den physischen Leib, und das ist das eigentlich Wirk­same. Wenn Sie zu einem europäischen Menschen reden, da senden Sie seinem Ohre die Worte zu, aber sein Gehirn schwingt so, wie eben sein Gehirn schwingen kann nach der ganzen Erziehung und nach den ganzen Lebensbedingungen, in die er hineingestellt ist. Das war bei den Indianern nicht so. Da arbeitete man hinein in ihren astralischen Leib, und dann schwang das Gehirn mit. Ich möchte sagen, durch diese musikalischen und durch die anderen Kultushandlungen wurden diese Indianer eingespannt in all die Schwingungen, die ausgingen von diesen Handlungen. Und sie wurden im Grunde genommen nur ganz Glieder darinnen in einer gemeinsamen astralischen Aura.

Wir Europäer, nicht wahr, wir haben es besser. Denn unsere Köpfe sind eben dicker geworden und sind nicht so leicht zu beein­flussen. Das ist schon klar. Aber alles, meine lieben Freunde, ist nur gradweise, und bei den einzelnen Menschen wiederum grad-weise verschieden. Und wenn auch nicht in einer solchen Weise, wie

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es eben beschrieben worden ist, in Europa unter der hochkultivierten Menschheit gearbeitet werden könnte, so findet natürlich schon in minderem Grade noch die Möglichkeit statt, daß in den ätherischen, in den astralischen Leib der Menschen hineingearbeitet wird und dies sich dann in den physischen Leib weitervibrierend überträgt. Nur darf es nicht in solcher Weise von dem einzelnen Menschen aus­gehen; denn selbst wenn er sich in einen Weihrauchqualm phy­sischer oder geistiger Art begeben würde, so würde die Wirkung in der europäischen Menschheit keine große mehr sein. Aber was die Jesuiten, ich möchte sagen, getan haben, indem sie einfach ihren physischen Menschen ins Feld geführt haben, das braucht ja nicht immer mit den physischen Menschen zu geschehen. Und wo, wie gesagt, der Leib dichter ist als hei den Indianern, da kann es auch nicht mit dem physischen Menschen geschehen, denn das läßt man sich nicht gefallen. Man würde ja aütoritätsgläubig sein, wenn man es sich gefallen ließe! Das läßt man sich nicht gefallen.

Aber in demselben Maße - so ist es noch im ersten Drittel der fünften nachatlantischen Zeit, in der wir leben -, in dem gewisser­maßen die in irgend einem physischen Menschen verkörperte Autori­tät, wie sie da die Jesuiten ausübten, schwindet, in demselben Maße nimmt der Autoritätsglaube zu, wenn diejenigen Wesen, die da wir­ken, weniger oder gar nicht physisch sind, indem bloß durch die physischen Menschen gewirkt wird. Wir wissen ja, es gibt auch ahrimanische Wesenheiten, die das Volk Teufel nennt. Und wenn gleich innerhalb der sogenannten zivilisierten Menschheit aus-geschlossen ist dasjenige, was man wie das brennende Feuer fürch­tet: Autorität eines leibhaftigen Menschen, - so ist doch nicht aus­geschlossen die Autorität, wenn durch das, was Menschen tun, ahri­manische Wesenheiten wirken. Denn: den Teufel merkt der Gebil­dete nie, und wenn er ihn auch schon am Kragen hätte; mit einer klei­nen Umänderung eines Ausspruchs im «Faust» kann man das sagen.

Und diese ahrimanischen, unsichtbar unter uns webenden Wesen, die haben ihre eigenen Methoden und müssen ihre eigenen Methoden haben gegenüber denen, die zum Beispiel die Jesuiten im Paraguay-Staate anwendeten im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert.

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Denn bei diesen Indianern konnte man auf den astralischen Leib wirken, und ihr physischer Leib war weich. Jetzt muß man anders wirken. Jetzt muß man namentlich in Aussicht nehmen, müß sich dessen bewußt sein, daß man das Denken der Menschen als solches beeinflußt, daß man sich mit den Kräften so in die Gedankenrich­tungen der Menschen hineinbegibt, daß sie es nicht merken. Ich sage nicht, Menschen tun das: Durch Menschen wird das meistens getan, von ahrimanischen Wesenheiten geht das aüs, die sich in die Gedankenrichtungen der Menschen hineinbegeben. Die Men­schen glauben dann, wenn sie ein Urteil übernehmen, daß sie dieses aus ihrer Überzeugung übernehmen. An der Oberfläche ist das auch richtig. In den Tiefen ist es aber nicht richtig, sondern die Sache verhält sich anders. Wenn das Urteil so gleichsam schwirrt im öffentlichen Leben, daß es gewissen Gefühlsrichtungen, gewissen Empfindüngsströmungen sich - verzeihen Sie den trivialen Aus­druck - einschmiert, dann glauben die Leute, mit dem Verstande hätten sie es begriffen. In Wahrheit haben sie es nur in ihre Denk-gewohnheiten aufgenommen, in die es sich hineingeschmiert hat. Und dann haben die Leute selbstverständlich die Meinung, daß sie nun etwas ganz ohne irgend einen Autoritätsglauben aufgenommen haben, während sie eben gerade die Art und Weise, wie es sich in ihre Seele hineingestohlen hat, ganz und gar nicht merken.

Wie geschieht so etwas? Nun, sehen Sie, so etwas geschieht zum Beispiel auf folgende Weise: Es bildet sich im Laufe der Zeiten durch alle möglichen Denkgewohnheiten - denn wenn Sie ge­schichtlich der Sache nachgehen, werden Sie schon sehen, daß es wahrhaftig nicht aus dem Verstande heraus sich gebildet hat - so eine Urteilrichtung über das, was wissenschaftlich ist, waswissenschaft­liche Methode sein muß, was strenge Wissenschaft ist. Dann gesellt sich, wiederum auf dieselbe Weise, zu diesem Urteil über das, was strenge Wissenschaft ist, im Laufe der Zeit hinzu, daß diese strenge Wissenschaft von einem geheimnisvollen Orte ausgehen muß:

Universität oder ähnlichem. Was nicht von dorther weht, das schmiert sich in die Gedankengewohnheiten doch nicht so hinein, nicht wahr? Dann aber schmieren sich in diese Gedankengewohnheiten

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allerlei Namen hinein. Man glaubt nicht an eine Autorität, selbstverständlich; aber man glaubt auch an alles andere nicht, höch­stens an das, was die berühmte Persönlichkeit darüber gesagt hat. Und aus allen solchen Elementen setzt sich ein solcher Strom von Urteilen zusammen. Das ist richtig ein Flußbett für den Ahriman, ein Fluß für den Ahriman! Da kann nun Ahriman seine Kräfte hineinfließen lassen. Denn ins bewußte Leben, ins wirklich bewußte Leben kann ja Ahriman nicht herauf. Wenn man Wache hält vor seinem Bewußtsein, dann kann Ahriman nicht herein. Aber wenn man nicht Wache hält und auf diese Weise, wie ich es geschildert habe, sich in den Strom der Denkgewohnheiten hinein aufnehmen läßt, dann kann der Ahriman überall herein und einen zurichten. Und man ist besonders wenig geschützt vor dieser Zurichtung, wenn man sich so recht mit seiner ganzen Persönlichkeit in diesen Strom hineinbegeben hat, wenn man zum Beispiel von frühester Jugend auf dressiert worden ist auf «strenge Wissenschaft».

Nehmen wir also einmal an, jemand wäre in unserer Zeit dressiert worden von frühester Jugend auf auf die strenge psychologische Methode. Psychologie ist ja in unserer Zeit etwas ganz Besonderes geworden. Eduard von Hartmann hat 1901 eine Geschichte der mo­dernen Psychologie geschrieben. Darinnen hat er gleich im Anfang auch von dem geredet, wovon diese moderne Psychologie nicht mehr redet, weil das wissenschaftlich überwunden ist, weil es nicht mehr zur Wissenschaft gehört, über solche Dinge zu reden. Er sagt zum Beispiel: «Nur in der ersten Hälfte des zu besprechenden Zeit­raums» - nämlich der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhun­derts - «halten noch einige theistische Philosophen wie an der Un­sterblichkeit einer selbstbewußten Seelensübstanz so auch an einem Rest indeterministischer Freiheit fest, begnügen sich dann aber meistens damit, die wissenschaftliche Möglichkeit dieser Herzens-wünsche begründen zu wollen.» - Aber in der neuesten Zeit hat das ganz aufgehört. Es ist selbstverständlich, daß man sich in der Psycho­logie weder mit der Unsterblichkeitsfrage befaßt noch mit der Frage, ob es eine menschliche Freiheit gibt; das sind keine wissen­schaftlichen Fragen mehr!

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Nun, so wird man hineindressiert in dasjenige, was eigentlich wissenschaftliche Methode ist. Man gründet psychologische Gesell­schaften, in denen selbstverständlich so dummes Zeug wie die Geisteswissenschaft gar nicht besprochen werden darf, denn das entspricht keiner wissenschaftlichen Richtung.

Ich weiß nicht, ob Sie in den letzten Tagen einen Blick in die Zeitungen geworfen haben. Es kommt gar nicht auf die Parteirich­tung der Zeitung an, die Sie etwa gerade pflegen; sondern Sie konn­ten spaltenlange Artikel in jeder Zeitung jeder Parteirichtung über einen psychologischen Vortrag in einer gelehrten psychologischen Gesellschaft Berlins lesen. Ein Herr Dr. Löwenstein, ein so richtig gelehrter Psychologe der Gegenwart, sprach in der gelehrten psycho­logischen Gesellschaft über die Psychologie der Heiratsannonce! Man muß die gelehrten Methoden vollständig handhaben, um sie auf jegliches Gebiet mit strenger Wissenschaftlichkeit anwenden zu können. Denken Sie nur einmal, was es für Ausbeute für die Wissen­schaft gibt, wenn man weiß: da erscheint eine Annonce in der Zei­tung, man sucht ein Mädchen oder etwas ähnliches mit ganz be­stimmten Eigenschaften, und da laufen so und so viele Briefe ein. In denen drückt sich die Psyche, die Seele so und so vieler Mädchen aus. Welche tiefen Lichtblicke gewinnt man auf diese Weise in das Leben der Seele! Ist es nicht wahrhaftig viel würdiger, über diese Lichtblicke zu sprechen als in der alten Weise über die Unsterb­lichkeit der Seele oder über die Freiheit des Menschen? Das machen nur diejenigen, die nichts von strenger Wissenschaft heute mehr verstehen! Aber man muß erst Experimentator sein, um derlei Dinge ganz wissenschaftlich behandeln zu können. Denn, nicht wahr, die strenge wissenschaftliche Methode sagt: Zufällige Beobachtungen, die führen nicht zu einer, wie man es nennt - ich weiß nicht, der Ausdruck wird Ihnen ja bekannt sein - vollständigen Induktion. Man muß immer eine vollständige Induktion zugrunde legen. Das heißt, die Fälle müssen so behandelt werden, daß man nicht bloß zufällige Beobachtungen, durch die man sich irren könnte in den Konklusionen, aufnimmt; man muß also Experimentator sein. Wie der Chemiker mit den Experimenten der Natur ihre Geheimnisse

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ablauscht, so muß man auch jene Geheimnisse dem Leben der Seele ablauschen, die sich entwickeln, wenn Heiratsannoncen hinausflat­tern und Briefe zurückgehen, nicht wahr?

Aber wie wird man Experimentator? Auch das haben die Zeitun­gen in ihren spaltenlangen Artikeln genauer auseinandergesetzt. Man ist also Gelehrter, Psychologe - nicht von der alten Art, daß man über die Seelenunsterblichkeit noch redet; man redet über die Heiratsannonce. Man verfaßt zunächst selbst eine Heiratsannonce! Zunächst - so erzählt es die Zeitung - von der Art, daß man ein jüngeres Mädchen will, idealistisch veranlagt, die weniger auf äußere Lebenshaltung sieht. Dann läßt man diese Annonce hinaus-flattern. Man bekommt viele Briefe. Auf seine Annoncen hat der betreffende strenge Gelehrte überall reichlich über zweihundert Briefe bekommen. Nun, da sieht man schon hinein in die Psyche! Man kann da schon beurteilen, was solch eine Annonce in den See­len anrichtet. - Das ist die eine Art. Aber damit man eine vollstän­dige Induktion hat, das heißt, das Problem auch von der anderen Seite umfaßt, macht man noch eine zweite Annonce, in der man weniger eine idealistische, sondern eine fesche Lebensgefährtin sucht, mehr eine, die auf äußeres Leben schaut. Wiederum über zweihundert Antworten!

Der Gelehrte ist dann auch gründlich zu Werke gegangen. Er hat die Geschichte der Heiratsannonce zurückverfolgt, wie sie sich entwickelt hat. Man weiß jetzt endlich, daß die erste Heiratsannonce schon vor mehr als hundert Jahren in einem Hamburger Blatt er­schienen ist. Denken Sie nur einmal, man weiß das endlich! Man weiß sogar, wie lang sie war: viel länger als heute! Sie hatte dazu­mal die Länge eines ganzen Feuilletons. Aber an Zahl müssen sie sich doch vermehrt haben, diese sonderbaren Objekte neuerer Psy­chologie. Es wurde erzählt, daß der Betreffende, um eine vollstän­dige Induktion zu haben, auch gezählt hat, wieviele Heiratsannoncen in zwei Zeitungen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen erscheinen. Das hat er nicht einmal gemacht, sondern immer wieder gemacht. Man macht das ja so, daß man züsammenzählt, daß man aus vielen Fällen das arithmetische Mittel nimmt, also man dividiert. Nicht

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wahr, wissenschaftliche Mathematik muß ja überall dabei sein. Ja, ich glaube mich nicht zu irren: Siebenhundert - haben die Zeitungen angegeben - Heiratsannoncen seien an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in zwei verschiedenen Zeitungen erschienen.

Wir sehen also ein sehr reichlich zu bebauendes Feld für strenge Wissenschaft zugleich vorhanden. Nun weiß ich nicht, ob der Ge­lehrte wirklich so war, aber die Zeitungen haben es so geschrieben:

Daß die Sache ihre gute Bedeutung hätte, hätte er gesagt, ihre tie­tere Bedeutung; denn die Seelenkunde, die es nun endlich auf eine gewisse wissenschaftliche Höhe gebracht habe, die müsse nun auch wirklich ihre volle Aufgabe erfüllen und ins praktische Leben ge­rade in einem solchen Zeitpunkt eingreifen, der an die Menschheit grandiose Forderungen stelle wie der jetzige Zeitpunkt. Und es soll dieser Gelehrte gesagt haben: Diejenigen, die nun diese Psychologie der Heiratsannonce ausbilden, werden praktische Psychologen auf diesem Gebiet werden. Welche Dienste werden sie leisten können den heimkehrenden Kriegern aus den Schützengräben, die nun die geeignete Lebensgefährtin werden suchen müssen! Da muß nun also der Psychologe mit seiner nun endlich erlangten Gelehrtenbildung eingreifen können und aus seinen Erfahrungen, aus seinen wissen­schaftlichen Ergebnissen heraus die richtige Abfassung der Heirats­annonce herausfinden, die richtige Abfassung beratschlagen können mit den bedürftigen aus den Schützengräben heimkehrenden Kriegern!

Es ist kein Märchen, es hat sich abgespielt in diesen Tagen, meine lieben Freunde, und es zeigt uns, wie die Menschen gar nicht wissen, was in ihrem astralischen Leibe vorgeht, weil sie von diesem astralischen Leibe nichts wissen. Denn die ganze Sache ist nur mög­lich dadurch, daß diese Strömungen da sind, die auf ahrimanische Kräfte-Art sich hineinmischen in die Denkgewohnheiten der Men­schen, und in den Menschen eine Meinung erzeugen von Wissen­schaftlichkeit, die nun auf alles angewendet werden kann. Wenn sie noch von einigem Humor begleitet ist, so kann man sie noch verzeihen. Ein wenig humoristisch hat wenigstens jener exakt philo­logische Gelehrte geschrieben, der jetzt in den «Preußischen Jahrbüchern»

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auch eine zeitgemäße ausführliche Abhandlung veröffent­licht hat, in der er untersucht, ob auch die griechische Literatur einen Beweis dafür erbringen kann, daß die Griechen auch schon, so wie die heutigen Menschen, unter den Läusen gelitten haben. Und er hat nun die ganze griechische Literatur daraufhin untersucht, welche Rolle in der griechischen Literatur von Homer bis hinauf zu Aristophanes die Läuse spielten. Wenigstens mit einigem Humor. Aber die Abhandlung ist streng wissenschaftlich; sie steht in den «Preußischen Jahrbüchern»!

Diese Dinge beleuchten schon dasjenige, was sich in den Unter­gründen des gegenwärtigen Lebens vollzieht. Und sie sind wichtiger als man zunächst denken kann. Es ist schon wichtig zu wissen, daß wir in unserer Zeit eine geisteswissenschaftliche Strömung brauchen, welche zunächst ja von denjenigen, die unter solchen Denkgewohn­heiten stehen, wie ich es angedeutet habe, eigentlich gefürchtet wird. Denn gefürchtet wird sie, weil sie eine Menschenkenntnis gibt, vor der man sich fürchtet, unbewußt fürchtet; eine Menschen­kenntnis, die nur ausgeglichen werden kann im Leben, wenn man unter dem, was da eintritt, seine Beziehungen zur Menschheit nicht leiden läßt. Daher ist zum Beispiel in einem solchen gesellschaft­lichen Zusammenhang, wie der unserige ist, angestrebt, neben der Verbreitung der Geisteswissenschaft auch jene Gefühle zu ent­wickeln, die die Gefühle der Brüderlichkeit sind. Das muß das not­wendige Gegenbild sein; sonst würden die Leidenschaften zu sehr entfesselt werden. Aber auf der anderen Seite ist schon notwendig, um in unserer Zeit die Dinge zu beurteilen, etwas den Blick hinein­werfen zu können in die Beschaffenheit vieler Menschen. Man wird ja auf diesem Gebiete immer eine gewisse Regel entfalten müssen, die, ich möchte sagen, sich vergleichen läßt mit der Wahrung des Briefgeheimnisses. Nicht wahr, wenn man einen Brief findet, der an einen anderen gerichtet wird, so schaut man nicht hinein. So schaut man auch nicht in das Seelenleben und in das ganze Menschen­leben eines anderen hinein, ohne daß eine Veranlassung dazu ist. Aber eine Veranlassung kann schon diese sein, daß man irgend­wo sieht: Da wirkt eine Persönlichkeit, die diese und jene Bedeu­tung

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hat für die Zeitgenossen. Dann muß man, um die Zeitgenossen aufzuklären, in dieses Seelenleben dieser Persönlichkeit schon hin­einleuchten mit den Mitteln, die auch von der Geisteswissenschaft gegeben werden können. Denn so ein Löwenstein mit seiner Psycho­logie der Heiratsannonce ist schon geeignet, über den Grundcharak­ter des wahrhaft Wissenschaftlichen die tollsten Anschauungen un­ter denjenigen zu verbreiten, die beileibe nicht autoritätsgläubig sind, selbstverständlich, die aber sofort - ja, wie soll man nnn sagen, autoritätsgläubig sind sie nicht, gläubig sind sie auch nicht - sagen wir dann mit dem trivialen Worte: darauf hereinfallen, wenn irgend-etwas mit dem Mantel der Wissenschaftlichkeit auftritt. Wir müs­sen aber durchaus wissen, daß die Seele des Menschen ein recht, recht kompliziertes Ding ist, daß der ganze Mensch ein kompliziertes Ding ist und daß man ihn nicht kennen lernen kann, wenn man nicht auf seine Komplikationen eingehen kann. Bedenken Sie nur:

Vier Glieder zunächst, wenn wir von den oberen Gliedern absehen, die durcheinanderwirken im Menschen, die sind da. Da kann der physische Leib zunächst noch etwas haben von der Schmiegsamkeit und Biegsamkeit der vierten nachatlantischen Periode, aber zugleich etwas haben von einer guten Empfänglichkeit für alles dasjenige, was das Gedankenleben der Gegenwart erzeugt. Da kann also ein Mensch auftreten, der, sagen wir, diese Eigenschaften hat: einen Organismus, der auf der einen Seite noch die zurückgebliebenen Eigenschaften der griechisch-lateinischen Zeit hat, aber einen Kopf zugleich, der die Gedanken, die in der Gegenwart entfaltet werden, mit einem gewissen Scharfsinn aufnehmen und wiedergeben kann. Das kann durchaus da sein. Man wird einen solchen Menschen für scharfsinnig, für sehr gescheit halten. Er kann aber daneben durch die besondere Qualität seines Leibes, von der ich gesprochen habe, schwachsinnig sein. Wenn man weiß, daß der Mensch ein kompli­ziertes Wesen ist, so ist es kein Widerspruch, daß er schwachsinnig und scharfsinnig, schwachsinnig und gescheit zugleich ist. Geistes­wissenschaft ist schon etwas, das uns gewissermaßen eine Leuchte gibt, um uns zurechtzufinden in den gerade durch die Menschheit kompliziert gemach ten Verhältnissen der Gegenwart.

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Wahrhaftig, meine lieben Freunde, glauben Sie ja nicht, daß ich irgend etwas dagegen habe, wenn jetzt jemand in diesen Tagen amerikanische Verhältnisse mit besonderer Vorsicht bespricht. Ge­gen die Beobachtung politischer Vorsichten, gegen ein entsprechen­des Sich-Benehmen und Verhalten, so daß gewisse Dinge geschehen können, die geschehen sollen, wird selbstverständlich nicht im ge­ringsten von mir etwas eingewendet. Aber das hindert nicht, daß man die Wahrheit einsieht. Und deshalb habe ich, trotzdem diese Verhältnisse gekommen sind, eben weil sie gekommen sind, in einem der öffentlichen Vorträge jüngst aufmerksam gemacht auf die Art und Weise, wie der gegenwärtig in Amerika führende Staats­mann Wilson, Gedankenformen entwickelt. Ich habe eine Stelle vor­gelesen, wie er über die Freiheit denkt - im öffentlichen Vortrage war es -, um daran zu veranschaulichen, wie weit dieses, nun, sagen wir jetzt in diesen Tagen nicht amerikanische, sondern dieses mecha­nistische Denken, entfernt ist von dem, was wir uns für das geistige Weben und Wesen durch die europäische Kultur errungen haben zum Beispiel durch solche Leute, die die ersten Elemente zu einer wahren Freiheitslehre gelegt haben, durch Fichte oder andere ähn­liche Geister. Man darf da nun fragen: Ist eine Notwendigkeit vor­handen aus den gegenwärtigen politischen Verhältnissen heraus, daß jemand nun hergeht und «zufälligerweise», sagen wir, noch die­selben Sätze, die dazumal zitiert worden sind aus dem Buch über die Freiheit, nun zitiert und dann hinzugefügt, um Mr. Wilson zu charakterisieren: So etwas Bedeutendes ist seit zwei Jahren auf der ganzen Erde nicht geschrieben worden. Wir in Europa könnten froh sein, wenn wir einen solchen Menschen hier hätten. Das ist der Fichte Amerikas. - So steht es da! Mr. Wilson: der Fichte Amerikas! Innerhalb des deutschen Schrifttums geschrieben in diesen Tagen!

Meine lieben Freunde, solche Erscheinungen sind ja nur möglich aus dem Grunde, weil die Menschen eben kompliziert sind. Und unter uns können wir ja schon auf solche besonderen Verhältnisse hinweisen, denn es ist notwendig, daß unter uns Menschen sind, die sich auskennen im Leben durch dasjenige, was die Geisteswissenschaft

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uns an die Hand gibt, damit wir uns auskennen im Leben. Ich sagte, man kann einen Leib an sich tragen, der noch so bestimm­bar ist, wie ein griechisch-lateinischer Leib, der also nicht auf die Höhe der gegenwärtigen Leiblichkeit gekommen ist, und man kann dabei scharfsinnig gescheit sein und alles dasjenige, was in der Gegen­wart an Urteusformen ausgesprochen wird, in sich aufnehmen, also durchaus ein sehr gescheiter Mensch sein; man kann ein Schwach-kopf und zugleich ein sehr gescheiter Mensch sein. Ja, man wird vielleicht gerade dadurch bei unseren - ja, autoritätsgläubigen kann man wieder nicht sagen -, also bei unseren nichtautoritätsgläubigen Zeitgenossen besonderen Anklang finden, wenn man durch seinen weichen Leib gewissermaßen einen Phonographen, eine Art mensch­lichen Phonographen abgibt, durch den allerlei Gedanken der Ge­genwart noch verstärkt, verzerrt, karikiert wirken können. Man muß selbstverständlich selber in der Gegenwart darin stehen und in ihrer Geistesbildung, wenn man es blödsinnig und abgeschmackt genug finden will, solches Zeug zu schreiben, wie eben angeführt worden ist. Aber man braucht nicht, um als gescheiter Mensch zu wirken, in der Kultur der Gegenwart, in dem Geistesleben der Gegenwart darin zu stehen, sondern man braucht bloß so scharfsinnig zu sein, um die Gedankenformen der Gegenwart aufzunehmen und dann einen Leib zu haben, wie ich ihn beschrieben habe. Und sehen Sie, das ist die Erscheinung eines Journalisten der Gegenwart, der seit Jahrzehnten einen großen Einfluß, einen weitgehenden Einfluß hat, das ist die Erscheinung Maxmilian Hardens.

Und man muß wissen, welche Kräfte in unserer Gegenwart wir­ken, man muß wissen, wie heute öffentliche Meinungen gemacht werden und wie sie zurückzuführen sind auf die menschlichen Na­turen. Man hat aber kein Mittel, um das zu kennen, wenn man sich nicht einläßt auf die Erkenntnis des Menschen aus der Geisteswissen­schaft heraus. Nur dadurch wird man bewahrt, sich auch mitnehmen zu lassen von dem Strom, den ich geschildert habe und der die Denk-gewohnheiten erzeugt, aus denen heraus die Leute glauben: Autori­täten, ach, das haben wir, die wir es so herrlich weit gebracht haben, längst überwunden! Autoritätsgläuhig sind wir nicht, aber wir glauben

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alles, was in der «Zukunft» steht, - wenn wir zu einem gewis­sen Leserkreis gehören, selbstverständlich!

Dasjenige, was da kornmen muß, meine lieben Freunde, das ist, daß aus dem geisteswissenschaftlichen Urteilen heraus, ohne daß wir das einfließen lassen in unser praktisches Verhalten - selbstver­ständlich werden wir nicht unsere Emotionen danach einrichten, aber unser Urteilen sollen wir danach einrichten -, folgen wird ein Ge­wahrwerden der Wertigkeiten, die in unserer Kultur walten. Heute ist alles eine so unbestimmte chaotische Masse. Wir leben ja nicht in Gegenden, in denen wenigstens die meisten Menschen so sind, wie diese geschilderten Indianer, daß sie hinschauen, wo die Priester in ihren goldenen Meßgewändern in Weihrauchqualm sind. Nein, das tun wir nicht! Aber wir haben andere Altäre: die Zeitungen und ähnliches. Und wenn auch der Qualm geistiger ist, der um diese herum ist - Weihrauchqualm ist ja natürlich materieller als der Qualm, der um die Autoritäten der Gegenwart ist -, wenn auch die­ser Qualm geistiger ist, meine lieben Freunde: geistig duftet er nicht so schön, wie Weihrauch materiell duftet!

Da ist diese ganze Masse, diese chaotische Masse dessen, was auf die autoritätsentwachsenen Menschen mit starker Autorität wirkt. Aber schwierig ist es, das einzige Mittel in der rechten Weise zur Geltung zu bringen, das den Menschen herausführen kann aus dem, worinnen er heute so leicht steht. Da muß man schon auf alles Mög­liche nach und nach eingehen können. Ja, meine lieben Freunde, die Schwierigkeiten sind wirklich nicht klein, die die Geisteswissen­schaft hat, um in das Leben einzudringen, in das sie eindringen muß. Denn sie muß ja dann die verschiedenen Gebiete des Lebens ergrei­fen, und man kann immer nur auf das eine Gebiet nach dem ande­ren wirken, und muß langsam und allmählich auf die Menschen wirken. Da haben wir denn zum Beispiel versucht, zunächst einmal, weil das Karma es so gebracht hat, auszubilden eine Art Ausdrucks-kunst, die Sie ja alle kennen. Sie ist öfter besprochen worden unter dem Namen Eurythmie. Gewiß, man kann über diese Eurythmie denken, wie man will; aber das Haupterfordernis ist, daß sie in einer würdigen Weise an die Menschen gebracht wird. Vor einigen

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Tagen mußten wir lesen, daß ein Mitglied von uns - ein Mitglied von uns! - in München aufgetreten ist, ein langer, schmaler Herr, der zuerst in seiner Art Gedichte rezitiert hat, dann verschwunden ist, sich weiße Hosen und dazu gehörigen Rock angezogen hat und dann, wie die Zeitung selbstverständlich in diesem Fall unter Hohn­gelächter schreibt, unter allerlei verzerrten Bewegungen weiter rezi­tiert hat, indem er einen Schleier in den Händen hatte, den er in verschiedener Weise bewegte; dann wiederum verschwunden ist, in einem blauen Gewand mit gelben Säumen wieder auftrat; und unter einem Sturm von höhnischem Beifall hat er dann durchgehalten, weiter zu rezitieren. Das Ganze hat er dann angekündigt - er ist Mitglied von uns! - unter dem Titel «Eurythmische Rezitations­kunst». Also wir haben es dahin gebracht, daß uns diese so lieb ge­wordene Eurythmie durch ein Mitglied selber in der Öffentlichkeit grundlächerlich gemacht worden ist. «Eurythmie und andere Kriegs­seuchen», so war einer der Artikel in den Münchener Blättern über­schrieben.

Sie sehen: Schwierig ist es, Geisteswissenschaft überzuführen in das Leben, wenn bei denjenigen, die mittun wollen, nicht der richtige Geist vorhanden ist. Es ist schon notwendig, meine lieben Freunde, daß wir noch viel, viel ernster, als es bisher geschehen ist, dasjenige betrachten, was als Impulse durch unsere geisteswissen­schaftliche Bewegung gehen soll.

Davon dann das nächste Mal weiter.

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ZEHNTER VORTRAG Berlin, 16. Mai 1916 Die dem Geist widerstrebenden Kräfte. Grundwahrheiten des Christentums

Schon öfter habe ich erwähnt gerade in diesen Betrachtungen, daß es notwendig ist, ein wenig auch hinzublicken von unserem Gesichtspunkte aus auf die Beziehungen, die da bestehen zwischen dem, was wir durch Geisteswissenschaft erkennen, und demjenigen, von dem heute mit Bezug auf Wissenschaft und Erkenntnis so ziemlich im allgemeinen gilt, daß es das allein Richtige ist. Man könnte sich vor­stellen, daß der Gang der geistigen Entwickelung Mitteleuropas in den letzten Jahrhunderten etwas anders gegangen wäre als er ge­gangen ist. Nun, das ist kein Verstoß gegen das umfassende Gesetz vom Karma, wenn man die Anschauung hat, daß irgend etwas, was in der Welt geschehen ist, auch anders hätte geschehen können. Denn das Gesetz vom Karma - und darüber werden wir das nächste Mal noch einmal sprechen - schließt durchaus nicht aus, daß Frei­heit in der Welt walte. Fatalisten, die sich vorstellen, daß alles in der Welt so hat geschehen müssen, wie es sich vollzogen hat für die äußere Sinnesbeobachtung und für dasjenige, was der äußeren Sinnesbeobachtung zugänglich geworden ist, können diejenigen nicht werden, welche im Sinne der Geisteswissenschaft auf der einen Seite von Karma und auf der anderen Seite von demjenigen spre­chen, was sich vollzieht in der Außenwelt. Denn mit dem, was sich in der Außenwelt vollzieht, geschieht zu gleicher Zeit immer auch etwas Geistiges. Die beiden Strömungen laufen miteinander, und auf die beiden Strömungen miteinander bezieht sich das Karma-­Gesetz, so daß ganz gut etwas in der äußeren Welt anders verlaufen könnte, als es sich in der Außenwelt zeigt, und dennoch würde das Notwendige geschehen. Ich bemerke das nur voraus, weil ich den Gedanken etwas weiter ausführen will, daß allerdings wenigstens denkbar wäre ein anderer Gang der Geistesentwickelung Mitteleuropas,

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der Geistesentwickelung, die sich gerade auf die Erkennt­nis bezieht, als er für die äußere Beobachtung stattgefunden hat.

Gewiß, meine lieben Freunde, heute wird in den meisten Kreisen Schiller und Goethe Verehrung entgegengebracht und in der aller-neuesten Zeit schwingen sich sogar einzelne auf, Fichte als einen großen Geist zu verehren, wobei sich die meisten Menschen aller­dings ersparen, irgend etwas auch nur von den allerersten Grund-gedanken Fichtes kennenzulernen, sondern sich beschränken auf dasjenige, was man zwar aufnehmen, aber nicht verstehen kann, wenn man es ohne diese Grundgedanken Fichtes eben aufnehmen will. Aber wir verehren in weitesten Kreisen Goethe, Schiller, Fichte und auch noch andere. Wir verehren sie im Grunde genommen in derjenigen Weise, wie man verehren kann in der besten Art, ohne die Betreffenden, die man verehrt, irgendwie wirklich kennenzuler­nen. Auch auf Goethe und Schiller bezieht sich das ja. Denn Goethe Lind Schiller in ihrem eigentlichen Nerv kennenzulernen, kennen­zulernen, was in ihrem Geiste gelebt hat, die Zeit dazu muß erst noch kommen. Und wir können nur das eine hoffen, daß sie aus dem Ernste unserer Zeit heraus geboren werde. Verlangen, zum Bei­spiel Goethe zu verstehen, das ist schon vorhanden. Auf das Ver­langen und auf die Sehnsucht nach dem Geistigen ist der Sinn des Volkes im weitesten Sinne gerichtet; das habe ich bei einem der neulichen Vorträge gesagt. Aber es handelt sich darum, wie die­jenigen, die die Führenden im Geiste sind, dieses ihr Führeramt ver­walten. «Faust» soll jetzt sogar zu den gelesensten Büchern gehö­ren! Man kann überzeugt sein: wenn diejenigen, die heute aus den Schwierigkeiten der Zeit heraus den «Faust» lesen, zurückdenken auf dasjenige, was sie im «Faust» gelesen haben, sie werden lech­zen nach einer Erklärung aus denjenigen Welten heraus, die der geistigen Anschauung Goethes offen lagen. Aber sie werden es gräßlich empfinden, wenn man ihnen zu dieser Erklärung entgegen-bringt dasjenige, was die zu solchen Erklärungen scheinbar Berufe­nen theoretisiert haben. Wir haben ja berühmte Philosophen: Kohler und Eucken. Aber dieselben, die gräßlich empfinden würden solch Gekohlere oder Geeucke, die würden schon hinhören, wenn es ihnen

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nur zugänglich wäre, auf dasjenige, was Geisteswissenschaft mit Goethe und dem gemein hat, aus dem er heraus geschaffen hat.

Die Geistesentwickelung des neunzehnten Jahrhunderts hätte auch so gehen können, daß sie in sich aufgenommen hätte dasjenige, was der Gesamtanschauung Goethes und Schillers und der anderen, die sich um sie herum befinden und mit ihnen gleicher Erkenntnis-gesinnung sind, zugrunde lag. Aber es ist anders gekommen. Man braucht heute nur - ich erzähle eine Tatsache - in eine Buchhand­lung zu gehen, und der Lehrjunge braucht einen nur zu bedienen, und man verlangt Goethes «Nat,arwissenschaftliche Schriften», und er wird einen belehren darüber, man solle doch Bölsche nehmen, denn Goethe sei ja heute veraltet! - Warum ist es denn anders ge­kommen, als es hätte kommen müssen, wenn die in der großen Zeit der klassischen Erkenntnis von der Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts schlummernden Keime sich lebendig ent­wickelt hätten? Aus diesen Keimen heraus würde sich in gerader Linie und Fortsetzung die Geisteswissenschaft ergeben. Das werde ich insbesondere zeigen in derjenigen Schrift, die nun bald erschei­nen wird, und die den Titel tragen wird: «Vom Menschenrätsel. Denken, Schauen und Sinnen deutscher und österreichischer Persön­lichkeiten». Warum ist nicht angenommen worden dasjenige, was in den Keimen der Goethe-&hillerschen Weltanschauung liegt? Des­halb, weil man Furcht davor hat, Furcht aus dem folgenden Grunde:

Es ist bequem, sich heute Erkenntnisse zu verschaffen, weil man ja nur dasjenige, was einem vorgesetztwird - ja, wie nennt man's? -, einzuochsen braucht und dann eventuell ein bißchen hinauszuochsen, und eine «Autorität» wird! Geisteswissenschaft fordert allerdings ein gründlicheres, intensiveres Denken als die meisten der heutigen Gelehrten aufzubringen in der Lage sind. Und die Furcht, etwas ler­nen zu müssen, die ist es, die das Hindernis abgibt. Die Furcht vor schwierigeren Begriffen und Ideen, die ist es, die das eigentliche Motiv abgibt für die Hindernisse. Die heutige Art der Goethe- und Schiller-Verehrung ist eher geeignet, dasjenige, was Goethe und Schiller der Menschheit gegeben haben, zu vernebeln, als es zu er­klären. Warum? Weil eine Gesinnung sich eben verbreitet hat, die

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nicht eingehen will auf dasjenige, was aus dem Geiste, den diese Persönlichkeiten gehabt haben, heraus begriffen werden muß. Diese Gesinnung trat auch schon in der Goethe- und Schiller-Zeit selber auf, in jener großen Zeit, als in Jena der Geist Goethes herrschte, Schiller lehrte, Fichte lehrte, Schlegel lehrte, Schelling lehrte, die­jenigen Geister lehrten, von denen wir ja in diesem Winter so viel gesprochen haben, und die ich in dem demnächst erscheinenden Buche auch besprechen werde.

Dasjenige, was über manche Einzelheiten des Lebens diese Gei­ster zu sagen hatten, das steht natürlich immer in einem gewissen Zusammenhange darin, und man muß es aus dem Zusammen-hange heraus begreifen, aus dem ganzen Geiste ihrer Wesenheit. Dasjenige, was von Goethe und Schiller, von Fichte, Schlegel und so weiter für die heutige Zeit geblieben ist, das konnte nur aus dem Grunde bleiben, weil im Grunde gesiegt haben die Gesinnungs­genossen, sagen wir, jenes Mannes, der aufgetreten ist noch in der Zeit Goethes und es gewagt hat, in einem, man darf sagen, der allerschlimmsten Pamphlete diejenigen als Narren, als Phantasten und Träumer, die dem Leben schädlich sind, hinzustellen, die in die Schule Goethes, Schillers, Fichtes, Schlegels gegangen sind. So etwas kann man immer erreichen, dasjenige, was aus ernster Wahr­heitsforschung heraus stammt, lächerlich zu machen. Gewiß, man­ches wird, indem es da oder dort auch als ernste Wahrheitsforschung auftritt, so manche Einseitigkeit abgeben. Aber wenn man dann gerade die Einseitigkeiten herausklaubt, herauspolkt, wie man in Berlin sagt, um die betreffende Gesinnung, Erkenntnis-Gesinnung, zu verdächtigen, dann hat man «ein groß Publikum». Der Mann -ich meine Kotzebue - ist vergessen worden; aber die Kotzebues -den Bösen sind sie los, aber die Bösen sind geblieben -, die sind in unserem ganzen geistigen Leben wohl recht vorhanden. Man kann in manchem der Aussprüche, die Schlegel, Fichte, auch Goethe und Schiller getan haben, mancherlei finden, das anklingt schon an unsere Geisteswissenschaft. Aber man kann auch manches herausreißen aus dem Zusammenhange und diese Geister verdächtigen, so, als ob sie Narren wären, Torheiten gesprochen hätten, um dem wirklichen

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menschlichen Fortschritt zu schaden, nämlich demjenigen, was sich die behäbige Philisterei, die nur am Sinnlich-Wirklichen haften will, unter dem Fortschritt vorstellt.

Kotzebue - wollen wir uns heute doch an dieses erinnern -, er ist vergessen worden; aber die Kotzebues sind geblieben. Wollen wir uns heute erinnern an diesen Kotzebue. Ein Pamphlet, ein drama­tisches, hat er verfaßt, in dem er einen Studenten darstellt, der in das Philisterium seiner Familie wieder zurückkommt - ich will nichts Schlimmes damit sagen -, nachdem er - das wird ausdrücklich ge­sagt - in Jena die verderblichen Lehren von Goethe, Schiller, Fichte, Schlegel aufgenommen hat. Er wird dargestellt als eine Art Narr, zugleich als ein «hyperboräischer Esel». Das Pamphlet heißt: «Der hyperboräische Esel oder die heutige Bildung.» Es wird ausdrücklich gesagt - ich erwähne es noch einmal -, daß der Betreffende, der da zurückkommt, Karl von Berg, Schüler von Goethe, Schiller, Fichte, Schlegel ist. Nur ein paar Szenen möchte ich Ihnen zu Gemüte füh­ren, vor die Seele führen. Der Student, Karl von Berg, kommt nach Hause, nachdem er Goethe, Schiller, Fichte, Schlegel und andere Lehren in Jena in der größten Zeit der neueren Geistesentwickelung aufgenommen hat. Er wird zunächst von der Mutter empfangen. Ihr kann man es ja nicht übelnehmen, daß sie nun nicht gerade unbesorgt ist, daß ihr Söhnlein gottesunfürchtig hätte werden kön­nen in solchem Zusammenhange nach all dem, was man ihr in die Ohren gesaust haben wird. Und da sagt dann Frau von Berg zu ihrem Sohn Karl, nachdem er nach Hause gekommen ist:

«Frau von Berg: Noch einmal drücke ich dich an mein mütterliches Herz! (sie umarmt ihn). Gott sei Dank, daß ich dich wieder habe! Dich, meine Hoffnung, meinen Stolz, mein Alles! - Bist du noch, der du warst? - 0 ja, du wirst es sein! Magst du doch viel oder wenig gelernt haben; die bekümmerte Mutter mögte dich lieber fromm als gelehrt wiedersehen. Tugendhaft gingst du von mir, tugendhaft kehrst du in meine Arme zurück, nicht wahr?

Karl: Liebe Mutter, es gibt keine andere Tugend als Konsequenz.

Mutter: Wie? So könnte ja auch der ärgste Bösewicht tugendhaft sein?

Karl: Wenn er konsequent handelt. -

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Mutter: 0 weh ! Was ist das? Karl! Du hast doch noch Religion?

Karl: Die Religion ist meistens nur ein Supplement oder gar ein Surrogat der Bildung.»

Ich bemerke ausdrücklich, daß diese literarische Gaunerei so weit getrieben ist, daß alles, was Karl sagt, wörtlich aus den Schriften der betreffenden Männer entnommen ist, - aus dem Zusammenhang herausgerissen wenigstens.

«Mutter: Nichts weiter?

Karl: Nichts ist religiös im strengen Sinne, was nicht ein Produkt der Freiheit ist.» - Denken Sie, ein so schöner Satz! -«Mutter: Ich kann darüber mit dir nicht streiten, auch begehre ich nur Beruhigung. Man hat mir so manches von den jetzigen Mode­systemen erzählt. (Sie legt ihre Hand auf seine Schulter und spricht ängstlich.) Karl ! Du glaubst doch an Gott?

Karl: Ich selbst bin Gott.»

Das Wohnen des Gottes in der eigenen Brust.

«Mutter: Weh mir! Er ist geworden wie der arme Wezel in Sonders-hausen!»

Der arme Wezel in Sondershausen war nämlich ein Dichter der damaligen Zeit, der wahnsinnig geworden ist.

«Karl: Jeder gute Mensch wird immer mehr und mehr Gott. Gott werden, Mensch sein, sich Bilden sind Ausdrücke, die einerlei bedeuten.»

Es ist alles wörtlich aus dem Zusammenhang heraus !

«Mutter: Was ist das ! Ich fürchte, er möchte gar keinen Gott glau­ben, und er glaubt deren Millionen !

Karl: Wenn jedes unendliche Individuum Gott ist, so gibt's so viele Götter als Ideale.

Mutter: Hin ist sein Christentum!

Karl: Das wissenschaftliche Ideal des Christianismus ist eine Charak­teristik der Gottheit mit unendlich vielen Variationen.

Mutter: Sprichst du von einem Rondo?

Karl: Gott ist nicht bloß ein Gedanke, sondern zugleich auch eine Sache, wie alle Gedanken, die nicht bloße Einbildung sind.

Mutter: Sprich, welche Religion hast du denn eigentlich?

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Karl: Es ist ein sehr natürlicher, ja, fast unvermeidlicher Wunsch, alle Gattungen der Religion in sich vereinigen zu wollen.

Mutter: Alle? -

Karl: Alle.

Mutter: Ach ! Ich kann dir nicht antworten. Aber ich bitte dich, rede mit unserem Pfarrer, er ist ein wackerer, vernünftiger Mann.

Karl: Ich mag nicht. Die Religion ist schlechthin groß wie die Na­tur. Der vortrefflichste Priester hat doch nur ein Stück davon.»

Alles wörtlich !

«Mutter: Ich versichere dich, er hat sie ganz.

Karl: Überdies bin ich selbst Priester.

Mutter (erstaunt): Zugleich Gott und Priester?

Karl: Das Verhältnis des wahren Künstlers und des wahren Men­schen zu seinen Idealen ist durchaus Religion. Wem dieser innere Gottesdienst Ziel und Geschäft des ganzen Lebens ist, der ist Priester, und folglich bin ich auch Priester.

Mutter: Sohn! Sohn! Was soll aus dir werden in dieser und jener Welt!

Karl: Bei den Neueren redet man immer von dieser und jener Welt, als ob es mehr als eine Welt gäbe.

Mutter: Weh dir! Du bist in den Stricken des Satans!»

Ich kann Ihnen die Versicherung geben: derjenige protestantische Pastor, der in Hamburg - ich habe den Brief selber gelesen - ge­schrieben hat an eines unserer Mitglieder, ich selber wäre der Satan, der ist nicht vereinzelt geblieben!

«Du bist in den Stricken des Satans !

Karl: Der Satan ist eine deutsche Erfindung, denn der deutsche Satan ist satanischer als der italienische und englische. Er ist ein Favorit deutscher Dichter und Philosophen, er muß also auch wohl sein Gutes haben.

Mutter: Der Satan sein Gutes? !

Karl: Das gefällt mir nicht in der christlichen Mythologie, daß die Satanisken fehlen.

Mutter: Ach mein Gott ! Haben wir denn an Einem Satan noch nicht genug? -

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Karl: Mutter, ich bitte Sie, nicht diese Elegien von der heroisch kläglichen Art; es sind die Empfindungen der Jämmerlichkeit bei dem Gedanken der Albernheit von den Verhältnissen der Platt­heit zur Tollheit.

Mutter: Wohl mir, daß ich deine Schmähungen nicht verstehe.

Karl: Sie wollen mich in meiner Bahn aufhalten? Dies ist umsonst. Wer einmal töricht oder edel sich bestrebt hat, in den Gang des menschlichen Geistes mit einzugreifen -

Mutter: Eingreifen? in einen Gang? was heißt das?

Karl: Der muß mit fort, oder er ist nicht besser daran als ein Hund im Bratenwender, der die Pfoten nicht vorwärts setzen will.

Mutter: Ach, ich bitte dich, setze die Pfoten rückwärts! Deine hohe Geistesverwirrung kann dich einst zur Verzweiflung und Selbst­mord führen !

Karl: Der Selbstmord ist nur eine Begebenheit, selten eine Hand­lung.»

Aus dem Zusammenhang herausgerissen !

«Mutter: 0, es wäre für mich eine schreckliche Begebenheit ! Karl: Ist er eine Handlung, so kann vom Recht gar nicht die Rede sein, sondern nur von der Schicklichkeit.

Mutter: Es ist weder recht, noch schicklich.

Karl: Sie irren, es ist nie unrecht, freiwillig zu sterben, aber oft un­anständig, länger zu leben.

Mutter: Was muß ich hören! weh mir! wie bitter hat meine Hoff­nung mich getäuscht !

Karl: Getrost, Mutter, Sie werden bald selbst denken wie ich.

Mutter (mit Abscheu): Nimmermehr !

Karl: Sie meinen vielleicht wie Rousseau: daß irgendeine gute und schöne Freigeisterei den Frauen weniger zieme als den Männern?

Mutter: Weder Euch noch uns.

Karl: Aber das ist nur Eine von Rousseaus unendlich vielen allge­mein geltenden Plattheiten.

Mutter: Alberner Mensch ! Es ist unverschämt, so von Rousseau zu sprechen.

Aber großer Gott ! möchtest du doch bloß unverschämt sein ! -

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Ich verlasse dich tief gebeugt. Ich bin nur ein Weib und kann dir nichts entgegensetzen als mein Gefühl. Dein Oheim ist Mann, er mag männlich mit dir sprechen (ab).

Karl (allein): Der platte Mensch beurteilt alle anderen Menschen wie Menschen, behandelt sie aber wie Sachen, und begreift es durchaus nicht, daß sie andere Menschen sind als er.»

Und jetzt aus einer folgenden Szene. Karl, der jetzt seinem Oheim, dem Baron entgegentritt.

«Karl: Der Mensch ist eine ernsthafte Bestie.

Baron: Eine Bestie? Schäme dich. Ich merke schon, du hast zu viel studiert, bist zu einsam gewesen. Ich werde dich in gute Gesell­schaft führen.

Karl: Die Gesellschaften der Deutschen sind ernsthaft, ihre Komö­dien und Satiren sind ernsthaft, ihre Kritik ist ernsthaft, ihre ganze schöne Literatur ist ernsthaft.

Baron: 0, es gibt auch Narren genug unter den Deutschen.

Karl: Narrheit ist absolute Verkehitheit der Tendenz, gänzlicher Mangel an historischem Geist.

Baron: Hör' einmal, Vetter, bleib mir mit dem Krimskrams vom Halse und laß uns vernünftig reden. Ich habe ein Projekt für dich.

Karl: Ein Projekt ist der subjektive Keim eines werdenden Objekts.

Baron: Gleichviel, du mußt eine Existenz haben.

Karl: Es kann nichts anmaßender sein als überhaupt zu existieren oder gar auf eine bestimmte selbständige Art zu existieren.»

Also nun die große Existenz-Frage, nicht wahr ! «Baron: Nun zum Teufel! wie existiere ich denn? Karl: Sie? Sie existieren gar nicht.

Baron (prallt zurück): Gar nicht?

Karl: Die meisten Menschen sind nur gleichberechtigte Prätenden­ten der Existenz; es gibt wenig Existenten.

Baron: Mensch ! du bist entweder närrisch oder toll.

Karl: Die Narrheit ist bloß dadurch von der Tollheit verschieden, daß sie willkürlich ist wie die Dummheit.»

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Nun noch ein Stückchen. Es ist eine Szene zwischen Karl und Malchen.

«Karl eilt Malchen entgegen und reißt sie wütend an seine Brust.

Karl: 0, meine Amalie!

Malchen: Gemach ! Gemach, lieber Vetter ! Sie erdrücken mich.

Karl: Es liegt in der Natur des Mannes ein gewisser tölpelhafter Enthusiasmus, der leicht bis zur Grobheit göttlich ist (er will sie abermals umarmen).

Malchen (verschämt und sich sträubend): Nicht so ungestüm, lieber Karl.

Karl (betrachtet sie lächelnd): Es ist doch wirklich eine komische Situation, ein unschuldiges Mädchen zu sein.

Malchen (erstaunt): Wie? eine komische Situation?

Karl: Allerdings, aber die Frauen müssen wohl prüde bleiben, so­lang die Männer sentimental, dumm und schlecht genug sind, ewige Unschuld und Mangel an Bildung von ihnen zu fordern.

Malchen: Sie fordern also keine Unschuld von mir?

Karl: Sie sind ein blühendes Mädchen und folglich das reizendste Symbol vom reinen guten Willen.

Malchen: Ein sonderbares Kompliment!

Karl: Wir werden uns heiraten.

Malchen: Vielleicht.

Karl: Zwar fehlt es den Frauen an Sinn für die Kunst, an Anlage zur Wissenschaft und an Abstraktion, zwar ist mutwillige Bosheit mit naiver Kälte und lachender Gefühllosigkeit eine angeborene Kunst ihres Geschlechts. -

Malchen: Eine schmeichelhafte Schilderung!

Karl: Dennoch bin ich entschlossen, den Versuch zu wagen.

Malchen: Einen Versuch? Allerliebst.

Karl: Fast alle Ehen sind nur Konkubinate, provisorische Versudie zu einer wirklichen Ehe.

Malchen: Herr Vetter, ich hoffe, daß ich Sie nicht verstehe.

Karl: Wir könnten auch allenfalls den Versuch ins Große treiben, zum Exempel eine Ehe á quatre.

Malchen (fast stumm vor Erstaunen): Wie?

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Karl: Es läßt sich nicht absehen, was man gegen eine Ehe á quatre gründliches einwenden könnte.»

Alles herausgerissen !

«Malchen: Sie wären wirklich imstande, Ihre Geliebte zu teilen?

Karl: Ich werde mich bemühen, Sie so zu besitzen, als ob ich Sie nicht besäße.

Malchen: Eine angenehme Aussicht !

Karl: Das ist die Pflicht des wahren Cynikers.»

Noch ein Stückchen. Der Fürst kommt nun und unterredet sich auch mit Karl.

«Fürst: Ich liebe die Geschichte.

Karl: Der historische Stil muß vornehm sein durch nackte Gediegen­heit, erhabene Eil und großartige Fröhlichkeit.

Fürst: Welch ein Bombast von Worten ! Haben Sie sich vielleicht der Staatsverwaltung gewidmet?

Karl: Wenn nur nicht in den Handlungen der gesetzgebenden, ausübenden oder richterlichen Gewalt oft etwas Willkürliches vorkäme, wozu sie für sich nicht berechtigt scheinen.

Fürst: Was wäre dabei zutun?

Karl: Ist die Befugnis dazu nicht etwa von der konstitutiven Gewalt entlehnt?

Fürst: Kann sein.

Karl: Die daher notwendig auch ein Veto haben müßte?

Fürst: Jetzt merke ich, wo Sie hinaus wollen und rate Ihnen wohl­meinend, sich mit der Staatsverwaltung nicht zu befassen; wenig­stens nicht in meinem Lande, wo Ruhe und Sittlichkeit herrschen.

Karl: Sittlichkeit? Das glaube ich kaum. Denn die erste Regung der Sittlichkeit ist Opposition gegen die positive Gesetzlichkeit und konventionelle Rechtlichkeit.

Fürst: Das schmeckt sehr nach den neueren alles zerstörenden Grundsätzen.»

Wenn auch das Gebiet nicht so streng eingehalten worden ist, auf dem man dem entgegengetreten ist, das damals von dem großen geistigen Aufschwung hat kommen können: der Geist, der sich da­gegen aufgelehnt hat, der hat durchaus geherrscht. Und so ist es

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denn wirklich so, daß die Keime, die dazumal gelegt worden sind, erst aufgehen müssen. Und aufgehen werden sie nicht anders, als daß die Menschen die aus der Bequemlichkeit und Plattheit flie­ßende Furcht verlieren vor dem, was die Geisteswissenschaft aus den geistigen Welten heraus erschließen kann. Die erste Bedingung wird sein, daß man erkennt, wie notwendig - ich habe das öfter gesagt -es im Leben ist, wahr, durchaus wahr zu sein, wirklich den Mut zu haben zu den - verzeihen Sie jetzt das Wort, es steht da drinnen -zu den Konsequenzen desjenigen, was man als wahr anerkennt. Wahrheit liegt nicht bloß in der Art und Weise, wie man seine Behauptungen tut, sondern Wahrheit oder Lüge liegt auch in der Art und Weise schon, wie man Worte braucht. Man kann das klar und deutlich sehen, wenn man den Widerstand, der heute von der Außenwelt kommt, auf dem Gebiete betrachtet, das eigentlich dazu führen müßte, das Christentum und das Mysterium von Golgatha so zu erfassen, wie es in unserer Zeit erfaßt werden muß, damit der Mensch alles dasjenige, was er erfühlen kann über das Mysterium von Golgatha, auch mit der vollen Höhe der Zeiterkenntnis in Ein­klang setzen kann. Man kann sagen: Am wütendsten sind gewisse Leute draußen gegenüber dem, was gehört werden konnte aus der Geisteswissenschaft über das Auf-die-Erde-Treten der Erscheinung des Christus-Jesus.

Wir mußten, meine lieben Freunde, alle drei Welten aufrufen, um die Erscheinung des Christus-Jesus zu begreifen. Wir haben zu­erst jenen Jesus, welcher in sich die Individualität des großen Zarathustra trägt. Der wächst heran bis zu seinem zwölften Jahre. Da verläßt er den Leib und geht hinüber in den Leib des anderen Jesus-Knaben, welcher eine Seele gebildet hat, die nicht mitgemacht hat die ganze Erdenentwickelung, sondern-ich habe es auseinander­gesetzt - die zurückgeblieben ist gleichsam in der Substanz der Erden-Menschenseele, indem ein Teil hinuntergegangen ist in die Menschenleiber und ein Teil oben geblieben ist, der dann erst ein­getreten ist in denjenigen Leib, den die zweite Maria geboren hat als den zweiten Jesus-Knaben. Und ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß uns die geisteswissenschaftliche Erkenntnis zeigt, wie

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dieser Jesus-Knabe gleich bei seiner Geburr - was der Mensch in der gegenwärtigen Zeit nicht kann - gesprochen hat, gesagt hat, was er ist. Mit der Seele des Zarathustra wächst dieser Jesus-Knabe heran, wird dreißig Jahre alt, und die Christus-Individualität inkar­niert sich in ihm und lebt in diesem Leibe, der zubereitet ist von dem Geiste des großen Zarathustra, zubereitet ist von jener Seele, die nicht mitgemacht hat die Erdenentwickelung, sondern von der Erdenentwickelung zurückgeblieben ist in jener Zeit, wo die Erde noch nicht heruntergestiegen ist bis zu ihrer jetzigen Materialität. Die Christus-Individualität lebt nun drei Jahre in diesem Leibe. Drei Welten mußten wir aufrufen, um diese große Gestalt, diese größte Gestalt und dieses größte Ereignis in der Menschheitsentwickelung zu begreifen: Die höchsten geistigen Welten, aus denen der Chri­stus herunterstieg, diejenige Welt, die da ist, bevor es eine Erde gab, und diejenige Welt, durch die sich die Menschen hindurch entwickelt haben, der der Zarathustra, zwar als eine vorzügliche Inkarnation, aber doch als eine gewöhnliche menschliche Inkarnation angehört.

Wenn man - ich habe das erwähnt in meiner kleinen Schrift, die auch jetzt erscheint: «Die Aufgabe der Geisteswissenschaft und deren Bau in Dornach» - diejenigen Leute hört, die so etwas beurtei­len, so sieht man, wie sie die Angst haben davor, so etwas begreifen zu sollen. Und sie nennen solche Dinge «unchristlich», und setzen dann dasjenige an die Stelle, was sie selber glauben über den Christus. Und meint man, sie sollten doch zufrieden sein, wenn man ihnen kommt und sagt: Ja, was ihr glaubt, das glauben wir schon auch; aber wir glauben noch etwas dazu ! - so sind sie damit aber nicht zufrieden, sondern sie erlauben einem nicht, noch etwas anderes dazu zu wissen zu dem, was sie zu wissen vermeinen. Darin zeigt sich, daß es den Leu­ten gar nicht ankommt auf Wahrheitserkenntnis, sondern lediglich auf die Ausübung ihrer Macht. Sie wollen nicht gestatten, daß der Christus in höchster Glorie vorgestellt wird, wenn diese Glorie nur erreicht werden kann in der Anschauung durch etwas, was ihnen nicht bequem ist zu lernen.

Lehnen sich so gewisse Leute, die sich nicht nur Christen nennen, sondern die sogar offiziell als Priester oder Pfarrer das Christentum

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vertreten, gegen die Christlichkeit der Geisteswissenschaft auf, so ist auf der anderen Seite eine andere Tatsache zu beachten. Das ist die Tatsache, daß es heute Leute gibt, die behaupten, sie dürften als christliche Pfarrer wirken und brauchten nicht daran zu denken, daß der Christus oder, wie sie sich ausdrücken, der Jesus, auf eine andere Weise in die Menschheitsentwickelung eingetreten ist als jeder an­dere Mensch. Es gibt heute schon christliche Priester, Pfarrer, die durchaus der Meinung sind, das sie nicht nötig haben, an eine beson­dere Art der Geburt bei dem Jesus zu denken, sondern die ihn so wie einen höheren Sokrates auffassen, auch eben als einen der edlen Menschen, vielleicht nur als den edelsten. Ja, es gibt Menschen, die berühmte Theologen sind, und die von der Auferstehung so reden, daß sie sagen: Was auch immer im Garten von Gethsemane vor sich gegangen ist, der Auferstehungsglaube ist daraus hervorgegangen; diesen Auferstehungsglauben wollen wir festhalten. - Ich habe ein-mal in einer Giordano- Bruno-Gesellschaft vor vielen Jahren erwähnt, was das für eine barocke Denkweise ist, daß einer sagt: Was dort auch geschehen sein mag im Garten von Gethsemane, darum kümmern wir uns nicht, aber der Glaube, daß da die Auferstehung geschehen ist, an dem sollen wir festhalten. Ich habe auf das Barocke und Paradoxe dieser Denkweise hingewiesen, weil sie die Denkweise ist, die in Adolf von Harnacks «Wesen des Christentums» vertreten ist. Da trat mir dazumal der Vorsitzende der Giordano-Bruno-Gesell­schaft - nicht des Giordano-Bruno-Bundes, sondern der Giordano­Bruno-Gesellschaft -, ein Professor, entgegen und sagte: Aber so etwas kann der Harnack nicht gesagt haben ! Das wäre ja wie bei den Katholiken, die auch behaupten: Was auch immer das sein mag, was da für ein Lappen in Trier gehangen hat, es gilt einmal als der Rock Christi, also hält man an diesem fest! Das kann nicht im «Wesen des Christentums» stehen ! - Es steht natürlich doch darin. Der Mann hat das «Wesen des Christentums» gelesen, aber darüber hinweggelesen, weil er überhaupt sich benebelt über das­jenige, was da steht.

Das sind die Erfahrungen, die man heute mit den Menschen und ihrer Art, sich zu der geistigen Welt zu verhalten, macht. Auch diejenigen

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Menschen werden ja zahlreich genug sein, die da immer wieder und wiederum kommen und sagen: Ach, was ist das für eine abstrakte Sache ! Wir wollen einen einfachen, schlichten Jesus von Nazareth, und ihr gebt uns drei Jesusse! - Der «schlichte Mann von Nazareth» ist ja sogar schon ein Lieblingsobjekt gerade auf­geklärtester Theologen geworden. Nun, die Frage muß sich vor uns hinstellen: Können wir Menschen noch Christen nennen, die eigent­lich sich auflehnen dagegen, den Christus so zu begreifen, wie er nun eigentlich in unserer Zeit begriffen werden muß?

Nehmen wir einmal an, es käme irgend jemand und würde sagen:

Das von dem Jesus als dem Zarathustra, und dann wiederum von dem Jesus als dem, der des Menschen Seelensubstanz aufgenommen hat, bevor sie heruntergestiegen ist auf die Erde, das alles zu glauben widerspricht den Überzeugungen, die ich mir einmal aus meiner Weltanschauung heraus gebildet habe. Aber an dem einen halte ich fest, das gibt mir gerade meine Weltanschauung: daß auf eine über­natürliche Weise, nicht so, wie andere Menschen in die Welt treten, die Wesenheit, die in Jesus gelebt hat, in die Welt getreten ist, daß diese Wesenheit gleich bei ihrer Geburt gesprochen hat, was andere nicht tun, und auch vorausgesagt hat, daß sie nicht sterben werde auf dieselbe Weise wie andere Menschen. - Nehmen wir an, es käme ein Mensch, der sagte, er könnte das glauben. Da würden wir sagen: Nun ja, das Christentum hat sich eben verteilt auf die ver­schiedensten Weltanschauungsströmungen; dieser hat nur das von dem Christentum aufgenommen, was im Lukas-Evangelium ange­deutet wird als der eine Jesus-Knabe, der aus der nathanischen Linie des Hauses David abstammt. Nehmen wir an, es würde in einem religiösen Dokument gerade so etwas ausgedrückt werden, so wür­den wir sagen: Nun ja, der Glaube dessen, der das sagt, ist eben beeinflußt von der unklar gewordenen Tradition, die erst wiederum klar gemacht werden kann durch die Erkenntnis der Geisteswissen­schaft von dem zweiten Jesus-Knaben. - Ich werde Ihnen ein solches religiöses Dokument vorlesen, das von Jesus handelt, und ich bitte Sie, selbst zu urteilen darüber, was dieses religiöse Dokument wert sein könnte:

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«Eine Erwähnung der Barmherzigkeit deines Herrn gegen seinen Diener Zacharias»

Sie kennen die Figur des Zacharias aus der Bibel ! «Da er seinen Herrn im Verborgenen anrief,

Sprach er: Mein Herr siehe, mein Gebein ist schwach, und mein Haupt schimmert greis,

Und nie war mein Gebet zu dir erfolglos.

Und siehe, ich fürchte für meine Sippe nach mir, denn mein Weib ist unfruchtbar.

So gib mir von dir einen Nachfolger, der mich und das Haus Jakob beerbe, und mache ihn, mein Herr, wohlgefällig.» - Das heißt, mache ihn dir wohlgefällig.

«0 Zacharias, siehe, wir verkünden dir einen Knaben, Namens Johannes,

Wie wir zuvor noch keinen benannten.

Er sprach: Mein Herr, woher soll mir ein Sohn werden, wo mein Weib unfruchtbar ist und ich alt und schwach geworden bin?

Er sprach: Also sei's ! Gesprochen hat dein Herr: Das ist mir leicht, und auch dich schuf ich zuvor, da du nichts warst.

Er sprach: Mein Herr, gib mir ein Zeichen. Er sprach: Dein Zei­chen sei, daß du, wiewohl gesund, drei Nächte lang nicht zu den Leuten redest.»

Es ist wie in der Bibel !

«Und er schritt hinaus zu seinem Volk aus der Nische und deutete ihnen an -»

Deutete, weil er nicht reden konnte. «Preiset den Herrn morgens und abends. Und wir sprachen»

Das heißt: die Gläubigen:

«0 Johannes, nimm hin die Schrift in Kräften; und wir gaben ihm Weisheit, da er ein Kind war,

Und Mitleid von uns und Reinheit; und er war fromm und voll Liebe gegen seine Eltern und war nicht hoffärtig und trutzig.

Und Frieden auf ihn am Tag seiner Geburt und am Tag, da er starb, und am Tag seiner Erweckung zum Leben !»

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Das also die Lehre vom Johannes. Nun geht es weiter.

«Und gedenke auch im Buche der Maria. Da sie sich von ihren An­gehörigen an einen Ort gen Aufgang zurückzog

Und sich vor ihnen verschleierte, da sandten wir unsern Geist zu ihr, Und er erschien ihr als vollkommener Mann.»

Wie in der Bibel ! Ein merkwürdiges Dokument, nicht wahr?

«Sie sprach: Siehe, ich nehme meine Zuflucht vor dir zum Erbar­mer, so du ihn fürchtest.

Er sprach: Ich bin nur ein Gesandter von deinem Herrn, um dir einen reinen Knaben zu bescheren.

Sie sprach: Woher soll mir ein Knabe werden, wo mich kein Mann berührt hat und ich keine Dirne bin?

Er sprach: Also sei's! Gesprochen hat dein Herr: ; und wir wollen ihn zu einem Zeichen für die Menschen machen und einer Barmherzigkeit von uns. Und es ist eine be­schlossene Sache.

Und so empfing sie ihn und zog sich mit ihm an einen entlegenen

Ort zurück.»

Sie haben die geistige Empfängnis des Jesus.

«Und es überkamen sie die Wehen an dem Stamm einer Palme. Sie sprach:

O daß ich doch zuvor gestorben und vergessen und verschollen wäre!

Und es rief jemand unter ihr: Bekümmere dich nicht; dein Herr hat unter dir ein Bächlein fließen lassen;

Und schüttele nur den Stamm des Palmbaums zu dir, so werden frische reife Datteln auf dich fallen.

So iß und trink und sei kühlen Auges, und so du einen Menschen siehst, So sprich:

Und sie brachte ihn zu ihrem Volk, ihn tragend. Sie sprachen: 0 Maria, fürwahr, du hast ein sonderbares Ding getan!

O Schwester Aarons, dein Vater war kein Bösewicht und deine Mutter keine Dirne.

Und sie deutete auf ihn. Sie sprachen: Wie sollen wir mit ihm,

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einem Kind in der Wiege, reden?

Er (Jesus) sprach: Siehe, ich bin des Gottes Diener. Gegeben hat er mir das Buch, und er machte mich zum Propheten.

UJnd er machte mich gesegnet, wo immer ich bin, und befahl mir Gebet und Almosen, solange ich lebe,

Und Liebe zu meiner Mutter; und nicht machte er mich hoffärtig und unselig.

Und Frieden auf den Tag meiner Geburt und den Tag da ich sterbe und den Tag, da ich erweckt werde zum Leben!»

Sie wissen, ich habe das geschildert in der Weise, daß ich ge-sagt habe: Er redete etwas, das nur die Mutter verstehen konnte. -Und dann sagte das Buch weiter:

«Dies ist Jesus, der Sohn der Maria, - das Wort der Wahrheit, das sie bezweifeln.

Nicht steht es Gott an, einen Sohn zu zeugen. Preis ihm ! Wenn er ein Ding beschließt, so spricht er nur zu ihm: Sei! und es ist.

Und siehe, Gott ist mein Herr und eurer Herr; so dienet ihm; dies ist ein rechter Weg.

Doch die Sekten sind untereinander uneinig; und wehe den Ungläu­bigen vor der Zeugnisstätte eines gewaltigen Tages !

Mache sie hören und schauen einen Tag, da sie zu uns kommen. Doch die Ungerechten sind heute in offenbarem Irrtum.»

So spricht diese Urkunde von dem Jesus, von dem in diesem Falle eben nur die eine Gestalt festgehalten wird. Können wir von dieser Urkunde nicht sagen: Derjenige, der ihr glaubt, glaubt wesentlich mehr als mancher, der sich in unserer Zeit nicht nur Christ nennt, sondern das Christentum von Amts wegen lehrt? Glaubt der, der an dieses Dokument fest glaubt, nicht viel mehr von dem Christentum, als ein solcher, der sich heute oftmals Lehrer des Christentums nennt? Und glauben Sie nicht, ich hätte Ihnen ein Dokurnent vorge­lesen etwa - ich weiß nicht, ob Sie es kennen -, das von ein paar Leuten, von einer kleinen Sekte, als das wirkliche Zeugnis für ihren Glauben angesehen wird ! Ich habe Ihnen aus dem Koran vorgele­sen! Die 19. Sure aus dem Koran habe ich Ihnen vorgelesen, und jeder echte Türke glaubt soviel von Jesus, als in dieser 19. Sure

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des Koran steht. Damit aber ist uns der Beweis geliefert, daß zahl­reiche von denen, die sich unter uns Christen nennen, von diesem Christentum nicht einmal soviel wissen und glauben, daß sie die Berechtigung hätten, sich Türken zu nennen. Man muß schon in unserer Zeit der Wahrheit ins Antlitz schauen. Wer nicht glauben kann, daß es sich um ein Ereignis handelt, das nur aus dem Geiste zu verstehen ist, der ist nicht einmal Türke, viel weniger ein Christ, und er sagt nicht die Wahrheit, wenn er sich einen Christen nennt. Er müßte wissen, daß ein Türke mehr vom Christentum glaubt als er selber.

Ich meine doch, meine lieben Freunde, das sind schon ernste, wirklich ernste Dinge, und es obliegt schon einmal denjenigen, die sich der Geisteswissenschaft widmen, in diese Dinge im Geiste der Wahrheit hineinzuschauen. Denn unwahr ist nicht nur dasjenige, was man als nächste Unwahrheit in einer Behauptung fühlt, son­dern unwahr ist es auch, wenn man sich oder einer Sache einen Na­men beilegt, durch den man im Zusammenhange der geschicht­lichen Entwickelung falsche Vorstellungen hervorruft. Wahr müs­sen wir nicht nur sein, indem wir dies oder jenes behaupten, sondern wahr müssen wir sein mit unserer ganzen Perönlichkeit, mit unse­rem ganzen Wesen.

So ist es oftmals von einer Seite, daß diejenigen Menschen der Geisteswissenschaft die Christlichkeit absprechen, die noch nicht einmal Türken sich zu nennen die Berechtigung haben. Aber auch von anderer Seite her steht gegen die Geisteswissenschaft überall das unzulängliche Wissen, das richtig unzulängliche Wissen. Noch auf einen Fall sei heute hingewiesen. Wir sprechen davon, daß un­sere Erde sich entwickelt hat aus dem alten Mondendasein. Was wir heute das mineralische Reich nennen, war im alten Monden-dasein noch nicht da, das hat sich gewissermaßen erst heraus-kristallisiert. Wir haben in uns als Menschen die Tiere, die Pflan­zen. Sie haben alle das mineralische Reich in sich: Sie sind durch­setzt davon, sie sind auf dem physischen Plan für die jetzige Sinnen-wahrnehmung nur dadurch wahrnehmbar, daß sie das mineralische Reich in sich haben. Wir müssen zurückschauen in die alte Monden-zeit. Da haben wir uns den Vorgänger des Menschen zu denken,

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wie er noch nicht von einem mineralischen Reich durchsetzt war. Lesen Sie in der «Geheimwissenschaft», wie dieses Mondenreich ausgesehen hat, auf dem das mineralische Reich noch nicht verwirk­licht war. Lesen Sie, wie alles weiche Substanz, gewissermaßen wässerig war und wie dasjenige, was aus dem Wasser herausgewach­sen ist, nur gewissermaßen im Wasser schwamm. Man müßte also auch annehmen: Dasjenige, was sich vom Monde her entwickelt -ich habe dies in früheren Betrachtungen erwähnt, wie vom Monde her unser Hauptorgan sich herüberentwickelt hat -, müßte sich so entwickelt haben, daß es auf dem Mond gewissermaßen geschwom­men hätte im Wasser, und dann müßte noch auf dem alten Mond eine andere Art von Wahrnehmung in dem Menschen gelebt haben, der noch nicht seinen übrigen Leib so entwickelt hatte, sondern nur als ein Anhängsel - ich habe das in einer der letzten Betrachtungen aus­einandergesetzt - sein gewissermaßen noch ganz anders bewegliches Gehirn auf dem Wasser schwimmend hatte. Aber es sind auch auf dem alten Mond noch wahrnehmbar gewesen die Töne der Sphären-musik, das Klingen und Wellen der Sphärenmusik. Nun, wie würde es denn da gewesen sein? Draußen Töne, diese Töne in dem Mon­denwasser sich fortsetzend, durch einen Apparat, aus dem sich unser heutiger Kehlkopf gebildet hat, sich umsetzend, so daß mitschwang dieses alte auf dem Wasser schwimmende Mondengehirn. Denken Sie sich also die Musik der Welt wellend in dem Weltenmeere, sich umsetzend in die Bilder der Imagination durch einen Apparat, aus dem unser Kehlkopf geworden ist und wieder auflebend als Imagi­nationen des alten Monden-Traumbewußtseins.

Wenn das wirklich so gewesen wäre auf dem alten Monde, dann müßte man das ja jetzt bemerken, man müßte es gewissermaßen dem Menschen ansehen, daß er sich aus so etwas entwickelt hat. Ja, meine lieben Freunde, sieht man es dem Menschen an? Nicht wahr, heute ist die Sphärenmusik verstummt. Dasjenige, was sich aus dem Or­gan, das die Sphärenmusik auf dem Monde aufgenommen hat, ent­wickelt hat, ist unser Kehlkopf, der umgeben ist von der Lunge. Un­ser Gehirn ist in der festen Hülle eingeschlossen. Verrät es noch irgend etwas davon, wie es auf dem alten Monde war, schwimmend

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auf dem Wasser? Ich will nur die allerhauptsächlichsten Gedanken skizzenhaft ausführen. Was die Leute gewöhnlich lernen vom menschlichen Gehirn, das macht sie durchaus nicht aufmerksam auf dasjenige, um das es sich dabei handelt. Aber die Menschen könn­ten zum Beispiel das Folgende sich überlegen - einige haben es ja auch überlegt, also es soll niemand Unrecht geschehen -: Dieses menschliche Gehirn hat ein Gewicht von 1350 Gramm. Nun denken Sie sich, wenn Sie 1350 Gramm auf die Hand legen, wie Sie das spüren! Das liegt also da drinnen, 1350 Gramm, und darunter sind die das Gehirn versorgenden Adern, die Blutadern. Das ist so, meine lieben Freunde, daß diese Blutadern zerquetscht würden von 1350 Gramm. Es ist gar keine Rede davon, daß sie, wenn Sie diese Blutadern herlegen würden und die 1350 Gramm auf diese Blut-adern, unbeschädigt blieben. Da drinnen bleiben sie unbeschädigt. Warum bleiben diese Blutadern unbeschädigt ? Weil es sie überhaupt nicht mit 1350 Gramm drückt! Warum drückt es sie nicht mit 1350 Gramm? Ja, ich erinnere Sie an dasjenige, was Sie vielleicht in den vor langer Zeit aus der Hand gelegten Physikbüchern gelesen ha­ben, daß der alte griechische Forscher einmal im Bade sein «Ich hab's gefunden!» gerufen hat, als er gewahrte: im Wasser wird er um so viel leichter. Jeder Körper wird so viel leichter im flüssigen oder luftförmigen Körper, in dem er sich befindet, als das Gewicht des luftförmigen oder flüssigen Körpers beträgt, in dem er darin ist, sonst könnte ja auch kein Luftballon in die Höhe fahren. Er verliert so viel von dem Gewicht, als das Gewicht der verdrängten Luft beträgt. Und im Wasser verliert jeder Körper so viel von sei­nem Gewicht, als das Gewicht des verdrängten Wassers beträgt. -Und das Gehirn schwimmt im Gehirnwasser ! Außerdem, daß wir da das Gehirn darin haben, schwimmt das Gehirn wirklich im Ge­hirnwasser, das außerdem noch herunterläuft durch den Rücken­markskanal. Das Gehirn schwimmt im Wasser und verliert dadurch, daß es im Wasser schwimmt, so viel von seinem Gewichte, daß es nur mit 20 Gramm drückt. Also das Gehirn, das 1350 Gramm schwer ist, drückt überhaupt nur mit 20 Gramm, weil das Wasser-gewicht so groß ist: 1350 Gramm weniger 20 Gramm. Das

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Gehirn schwimmt wirklich im Wasser. Das Gehirn ist wirklich heute noch in der Lage, wie es war auf dem alten Monde. Da drin­nen ahmt es noch heute die Form von damals nach, es hat sich nur umgewandelt, ist nur umgeben worden von der übrigen mensch­lichen Hülle, die aus den Erdengesetzen hervorgegangen ist.

Und sogar die Kommunikation mit der Außenwelt ist noch da. Wenn wir einatmen, dann senkt sich unser Zwerchfell. Das Zwerchfell senkt sich aber nicht nur, sondern dadurch, daß es sich senkt, drückt es auf das ganze Venensystem hier und auf das Ganglien. System, und dadurch wird dasjenige, was angesammelt ist im Rücken­markskanal an Wasser, ganz hinauf in das Gehirn gedrängt. Also beim Einatmen geht das Wasser aus dem Rückenmarkskanal in das Gehirn hinauf. Beim Ausatmen ist es umgekehrt: das Zwerchfell geht wieder hinauf, das Wasser rinnt etwas ab aus dem Gehirn in den Rücken, in das Rückenmark hinein. Denken Sie sich, wir stehen im Grunde genommen immer noch mit dem Wellenbewegen in der Umwelt in fortwährender Beziehung. Mit jeder Ausatmung senkt sich das Gehirnwasser herunter, mit jeder Einatmung steigt es hin­auf, - ein Auf- und Absteigen des Gehirnwassers, in dem das Ge­hirn drinnen schwimmt. Da haben Sie jenen komplizierten Vorgang, durch den der Mensch heute mehr ist, als er auf dem alten Monde war, durch den er heute, als der Mensch der mechanischen Werk-Zeuge, dazu in der Lage ist, nicht nur die Imaginationen zu haben, sondern zu denken. Es ist ins Unterbewußtsein hinuntergedrängt dasjenige, was fortwährend mit uns geschieht. Ja, meine lieben Freunde, es geschieht fortwährend: Wir haben immerfort Imagina­tionen, nur werden sie durch unsere wachen Vorstellungen über­tönt, wie ein stärkeres Licht ein schwächeres übertönt. Die Imagina­tionen sind fortwährend da, und die Imaginationen stehen mit Ausatmen und Einatmen in fortwährender Beziehung. Und nur weil das festere, eben mineralisch durchsetzte Gehirn sich entgegenstellt den Imaginationen, entsteht - durch das Anschlagen der festen Gehirnmasse auf die imaginierende Gehirnwassersubstanz - ein Subli­mieren der Imaginationen, ein Extrahieren unserer bewußten Vorstellungen, unserer Gedanken, aus den Imaginationen heraus.

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Es gibt keine naturwissenschaftliche Wahrheit, welche nicht, wenn sie in richtigem Sinne betrachtet wird, dasjenige, was die Gei­steswissenschaft aus geistigen Untergründen heraus sagt, voll be­stätigt. Aber man muß ganz anders denken, als heute unter Natur­forschern und insbesondere unter deren Nachtretern gedacht wird. Es gibt keinen Widerspruch zwischen Geisteswissenschaft und Na­turwissenschaft, sondern volle Bestätigung des Geisteswissenschaft­lichen durch die naturwissenschaftlichen Tatsachen. Aber Angst ha­ben die Leute, deren Beruf es ist, zu wissen; vor den komplizierten Gedanken, vor dem Denken überhaupt haben die Lente eine heillose Angst. Und nur aus dem Grunde, weil heute der Mensch in beque­mer Weise lernen kann und dann, wenn er ein bißchen etwas gelesen hat, eine Autorität werden kann, und nicht nur eine Autorität, son­dern sogar ein großer Entdecker auf dem Pfade der Wissenschaft, entstehen so viele törichte Theorien. Denn wenn er sich ein paar Begriffe angeeignet hat und ein paar Tatsachen kennt, so kann er heute als Reformator der Wissenschaft auftreten. Ein Mensch braucht gar nichts zu wissen von wirklicher Naturwissenschaft und von den wirklichen geistigen Vorgängen. Gerade weil er nichts weiß, kann er dazu kommen, ein paar Tatsachen, die er beobachtet, zusammenzustellen nach «streng wissenschaftlicher Methode», so nach der Methode, die ich Ihnen neulich in bezug auf die Psycho­logie der Heiratsannonce vorgeführt habe, die ja auch gegenwärtig in der Psychologischen Gesellschaft, wie Sie wissen aus der letzten Betrachtung, als ein wirkliches Kapitel der neueren Wissenschaft aufgetaucht ist, - er kann, ob es nun die Heiratsannonce ist, oder ob es die menschliche Seele ist, alles im Sinne derselben «streng wissen­schaftlichen Methode» machen. Und dann ist es ja schließlich - na, man sagt, glaube ich, im Deutschen: «Jacke wie Hose» ! Ob man nun die Jacke ergreift, nicht wahr, und wird Psychologe der Heirats­annonce, oder ob man die Hose ergreift und wird Psychoanalytiker, das ist dann schon eben ganz «Jacke wie Hose». Aber unsere Gläu­bigen, die selbstverständlich alle Autorität zurückweisen, die hören:

Psychologie der Heiratsannonce, in der Psychologischen Gesellschaft vorgetragen- also selbstverständlich etwas streng Wissenschaftliches !

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Das ist dasjenige, was sich als unterbewußte Impulse in die See­len der Menschen hineinschwätzt. So ist es auf diesem Gebiete, und so ist es eben auch auf dem Gebiete des höheren geistigen Lebens. Wollten die Leute durchschauen. was Geisteswissenschaft gerade über das Mysterium von Golgatha geben kann, und alles dasjenige, was damit zusammenhängt, dann würden sie sehen, wie durch das Anrufen der drei Welten dieses Mysterium von Golgatha eine Be­leuchtung erhält, durch die es wirklich der Mittelpunkt alles unseres zum Geistigen hinstrebenden Empfindens der Gegenwart werden kann, so, wie es dem geistigen Bedürfnisse dieser Gegenwart ange­messen ist. Weil aber am Christentum heute allzuviele derjenigen herumarbeiten, die nicht einmal das Recht haben, sich Türken zu nennen - wie wir streng nachgewiesen haben -, so ist es kein Wun­der, wenn durch die offiziellen Vertreter des Christentums ein wirk­liches Begreifen des Mysteriums von Golgatha gerade abgelehnt wird. Aber wir dürfen hoffen: Die ernsten Zeichen, die in unsere Zeit hereinwinken, sie werden in vielen, vielen Menschen Sehnsuch­ten erzeugen, die nur gestillt werden können durch dasjenige, was eine wirkliche geistige Wissenschaft geben kann. Und sie werden immer mehr und mehr, immer größer und größer die Zahl der­jenigen machen, die nicht mehr hinhören, wenn ihnen vom Geiste feuilletonistisch gesprochen wird, wie es etwa Eucken macht, und die sich nicht unter die Autorität derer begeben, die, wenn eine Autorität sagt, es käme nicht auf die Auferstehung an, sondern dar­auf, daß man an die Auferstehung glaubt, es lesen, aber nicht einmal wissen, daß sie es gelesen haben.

In Wahrheit leben, als ganzer Mensch wahr sein wollen, das wird der künftigen Zeit Losung sein. Und dann wird in eine Menschheit, die so in der Wahrheit leben will, das Mysterium von Golgatha leuchten so, daß selbst von anderen fernen Sternen ein Geist herunterschauen könnte: er würde den Sinn der Erdenentwicke­lung in demjenigen sehen, was das Mysterium von Golgatha war. Aber er würde auch sagen: Die Menschen haben den Sinn der Erde begriffen, denn das heißt: das Mysterium von Golgatha begreifen.

Davon das nächste Mal weiter.

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ELFTER VORTRAG Berlin, 23. Mai 1916 Ein Stück aus der jüdischen Haggada

Wir haben uns das letztemal mit der überraschenden Tatsache be­kannt gemacht, daß eine große Zahl derjenigen, welche im Abendlande von dem Christus Jesus von Amts wegen sprechen, nicht so viel von diesem Christus Jesus glauben, nicht so viel für wahr halten, als jeder echtgläubige Mohammedaner, jeder echtgläubige Bekenner des Koran für wahr hält über den Jesus. Und wir haben gesehen, daß uns ja in der Auffassung des Jesus des Koran helfen kann unsere Einsicht, die wir uns gerade über die Gestalt des Christus Jesus ver­schafft haben, den wir anerkennen, wenn wir uns in der richtigen Weise in das vertiefen können, was uns die Geisteswissenschaft lehrt: daß die Zarathustra-Seele bis zum zwölften Jahre sich in dem Leibe des salomonischen Jesusknaben befand. Wir wissen, daß dann diese Zarathustra-Seele hinübergeht in den LeibdesnathanischenJesus­Knaben, und daß dann im dreißigsten Jahre des Lebens dieses Jesus der Christus-Geist Besitz ergreift von dem, was sich in dieser Weise entwickelt hat.

Wenn man den Jesus-Begriff des Koran nimmt - das haben wir das letztemal gesehen -, so deckt er sich selbstverständlich, wie das aus bestimmten Gründen sein muß, in einer gewissen Beziehung mit dem nathanischen Jesus. Sogar dasjenige, was ich zu sagen genötigt war aus rein geisteswissenschaftlichen Voraussetzungen heraus: daß das nathanische Jesuskind sogleich bei seiner Geburt gesprochen hat, das finden Sie mitgeteilt im Koran. So daß also der Jesus-Begriff mancher Theologen, die sich zu einer gewissen sogenannten freigei­stigen Richtung bekennen, sie nicht nur nicht berechtigt, sich im wahren Sinne Christen zu nennen, sondern sie nicht einmal berech­tigen würde, sich «Türken» zu nennen. Es wird in der Tat von vie­len Seiten in unserer Mitte eine Lehre verkündet, die in bezug auf die Jesus-Auffassung nicht auf der Stufe steht, auf der die Jesus-Auffassung

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des Türken steht. Ich wollte das letztemal gerade auf diese überraschende Tatsache hinweisen aus dem Grunde, weil viel­leicht gerade daraus für manche Menschen ersichtlich werden könnte, in wie hohem Maße es eine Aufgabe gerade unserer abend­ländischen Kultur ist, insofern diese zum Geistigen strebt, immer mehr und mehr sich zu vettiefen in die Wesenheit des Mysteriums von Golgatha, jenes Mysteriums, von dem man sagen kann, daß, wenn wir alle unsere Erkenntnisse aus den verschiedenen Welten zusammennehmen, diese nur dann, wenn wir sie wirklich in aller­emsigstem Sinne anwenden, uns einigermaßen hinweisen können auf dasjenige, was für die Erden-Entwickelung durch das Mysterium von Golgatha eigentlich geschehen ist. Wir haben uns schon be­kannt gemacht damit, wie wenig eigentlich gedient ist auch auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft mit den schematischen Erkenntnis­sen, wie es notwendig ist, immer genauer und genauer von den ver­schiedensten Seiten her diese Dinge wirklich zu beleuchten. Daraus werden Sie ersehen, wie gut es sein kann, auch etwas näher noch von gewissen Gesichtspunkten aus einzugehen auf dasjenige, was uns entgegentritt bei der Betrachtung des Christus Jesus, erstens durch die salomonische Abstammung, zweitens durch das Wohnen der Zarathustra-Seele in einem Leibe, der aus der salomonischen Linie abstammt, und dann wiederum, wie gut es ist, einzugehen auf das­jenige, was etwas beleuchten kann die Gestalt des nathanischen Jesus und so weiter. Daher möchte ich heute ausgehen davon, etwas zu sprechen über Salomo und über dasjenige, was mit der Gestalt des Salomo zusammenhängt.

Wenn man dasjenige nimmt, was von der Lehre des alten Juden­tums erhalten ist in den Begriffen, in den Ideen dieses Judentums -ich meine, was erhalten ist im Talmud oder den anderen Schriften, abgesehen vom Alten Testament, mit dem es ja anders ist -, so be­kommt man eigentlich nurmehr mangelhafte Begriffe von dem gan­zen Inhalte der Vorstellungswelt des Judentums. Namentlich be­kommt man mangelhafte Begriffe von den Vorstellungen, die sich knüpfen an solch eine Gestalt, wie es die des Salomo ist. Man nennt dasjenige, was mehr begrifflich erhalten ist von der jüdischen Lehre

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Halacha, dagegen Haggada dasjenige, was so erhalten ist, daß der moderne Mensch sagt, es seien Märchen, Bilder, Legenden. In Wirk­lichkeit aber gehen solche Märchen, solche Bilder, solche Legenden zurück auf Schauungen in der geistigen Welt, auf dasjenige, was in der geistigen Welt geschaut worden ist, oder was gelernt worden ist dadurch, daß in der geistigen Welt geschaut worden ist. Auf ima­ginative Erkenntnisse gehen solche Märchen, solche Sagen, solche Legenden zurück, wie sie auch enthalten sind in der jüdischen Haggada.

Nun will ich Ihnen ein kleines Stück dieser Haggada heute zum Ausgangspunkt unserer Betrachtung machen, jenes Stück, welches einen wichtigen Moment im Leben des Königs Salomo behandelt. Das wollen wir also zum Ausgangspunkt unserer Betrachtung ma­chen. Dieses Stück der jüdischen Bilder-Tradition über Salomo lautet:

Rabbi Jochanam sagte: «Die Füße des Menschen bürgen für ihn, daß sie ihn bringen an den Ort, wo er abgefordert wird.» Von jenen beiden Mohren wird uns erzählt, die zur Umgebung Salomos ge­hörten: Elichoref, Achijah, die Söhne Scheschas, welche Schreiber Salomos waren. Eines Tages sah Salomo den Engel des Todes, der traurig war, und er sprach zu ihm: «Warurn bist du so traurig?» Darauf sagte der Engel des Todes: «Weil die beiden Mohren hier von mir verlangt werden.» Da übergab Salomo seine beiden Mohren den Seirim. - Seirim sind Dämonen, die sich für die bildliche An­schauung so anschauen wie Böcke und die durch die Luft fliegen können. - Da übergab Salomo seine Mohren den Seirim und schickte sie in die Stadt Lus. Als sie dort anlangten - die beiden Mohren nämlich -, starben sie. Tags darauf sah Salomo den Engel des Todes wieder. Der lachte nun. Da sagte Salomo zum Engel des Todes: «Warum lachst du?» Und der Engel des Todes erwiderte:

«Du schicktest sie gerade an den Ort, wo man sie von mir ver­langte.» Sogleich hub Salomo an und sprach: «Die Füße des Men­schen bürgen für ihn, daß sie ihn bringen an den Ort, woselbst er gewünscht wird.»

Also Salomo hatte mit dem Engel des Todes ein Erlebnis, welches

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ihm bewahrheitete dasjenige, was als eine allgemeine Wahrheit der Rabbi Jochanam sagte: Des Menschen Füße bürgen dafür, daß er dem Orte übergeben werde, für den er abgefordert werde.

Nun werden Sie gestehen, meine lieben Freunde, daß in dieser Erzählung, die uns die Haggada mitteilt, manches ist, worüber man die verschiedensten Fragen stellen kann. Zunächst hören wir: Die Füße des Menschen bürgen dafür, daß er eben dem Orte übergeben werde, für den er gewünscht wird. Warum wird gerade von den Füßen gesprochen? Denn in solchen alten Bilder-Legenden ist ja nichts irgendwie gleichgültig, sondern alles hat seine bestimmte tiefe Bedeutung. Das ist also die erste Frage, die man stellen kann. Dann wird uns eine weitere Frage die sein müssen: Warum der Todesengel traurig war, da er vor Salomo erschien mit der Aussage, er habe seine beiden Schreiber zu holen. Sehen Sie, Traurigsein des Todesengeis, dafür gibt es eigentlich in der Legende, wie es scheint, zunächst keine Erklärung; denn es wäre natürlich eine Plattheit, wenn man meinte, daß der Todesengel irgendwie traurig wäre, weil er die beiden holen muß. Das ist ja schließlich seine Auf­gabe, und man würde gar nicht begreifen können, daß er traurig sein sollte. «Und Salomo sprach zu ihm: Warum bist du so traurig?» Was bedeutet also diese Frage? Darauf sagte der Engel des Todes:

Weil die beiden Mohren hier - also die Schreiber des Königs Salomo - von ihm verlangt werden, weil er die holen soll. Aber Salomo übergibt sie den Dämonen, die sie in die Stadt Lus tragen. Ja, sehen Sie, die Stadt Lus, das ist eine Frage, die leichter beant­wortet werden kann, denn die Stadt Lus war eine Stadt, in der eine sonderbare Einrichtung war, nämlich daß man in dieser Stadt nicht sterben durfte, daher diejenigen Menschen, denen der Tod nahte, vor die Stadt hinausgetragen wurden. Es war die einzige Stadt, welche diese Einrichtung hatte zu jener Zeit. Nun könnte man na­türlich leicht glauben, es handle sich überhaupt nur um Angabe die­ser Sache. Aber das ist nur hineinverwoben. Es wird also angedeutet:

Salomo hört vom Todesengel, seine beiden Schreiber müssen ster­ben. Da schickt er sie in die Stadt Lus, weil er glaubt, wenn sie in der Stadt Lus sind. da kann der Todesengel sie nicht holen. Aber

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siehe da, diese Erzählung aus der Haggada, die ich Ihnen mitgeteilt habe, ist an vielen Orten der jüdischen Tradition vorhanden. An an­deren Orten wird uns mitgeteilt, daß sie eben gerade vor den Toren der Stadt hinfielen bei ihrem Fluge, so daß sie noch nicht in der Stadt angelangt waren; da konnte sie der Todesengel doch holen. Aber dann, am nächsten Tag, da steht der Todesengel lachend vor Salomo. Und jetzt könnte man erst recht platt sagen: Nun ist der Todesengel froh, daß es ihm doch gelungen ist, die beiden zum Sterben zu bringen, und deshalb lacht er. Salomo erkennt nun die Wahrheit an, von der eigentlich der Rabbi Jochanam sprechen will:

daß die Füße des Menschen wirklich dafür bürgen, daß er an den Ort gebracht werde, wo er gewünscht wird.

Nichts ist in der Regel unnötig in solchen Beschreibungen. Be­deutsam ist es sogar, daß die beiden Schreiber, die beiden Mohren, Söhne des Schescha sind, der selber Schreiber bei David war. Es wird also angedeutet, daß diese beiden Schreiber des Königs Salomo schon etwas Besonderes waren. Das alles müssen wir zusammen­nehmen, wenn wir das ganze Schwergewicht der Fragen empfinden wollen, die uns auftauchen können da, wo von einem wichtigen Erkenntnis-Momente im Leben des Königs Salomo gesprochen wird.

Nun bedenken wir, daß von dem König Salomo bekannt ist, daß er weise nicht bloß deshalb hieß, weil er gescheit war, wie die mo­dernen gescheiten Menschen gescheit sind, sondern weil er wirkliche Einblicke hatte in die geistige Welt, weil er in die geistige Welt hineinschauen konnte und weil die geistige Welt vor ihm offen war. Salomo sollte erfahren jene Wahrheit, welche der Rabbi Jochanam wieder mitteilte, die Wahrheit, was es mit den Füßen des Menschen für eine Bewandtnis habe.

Sehen Sie, wenn wir den Menschen betrachten und ihn verglei­chen mit der Tierheit, so sollte eigentlich - ich habe das schon öfter erwähnt - das bedeutsamste Kennzeichen für die Unterscheidung des Menschen von der Tierheit dieses sein, daß der Mensch sein Rückgrat aufrecht hat, senkrecht auf die Erde, auf die Erdenfläche, das Tier es waagrecht hat. Ich hoffe, man wird mir nicht das Kän­guruh oder dergleichen einwenden, denn selbstverständlich sind das

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Ausnahmen; diese Ausnahmen könnten auch erklärt werden, wenn wir uns auf die Einzelheiten der Sache einlassen könnten. Aber darum handelt es sich nicht. Das wesentlichste Kennzeichen zu­nächst in bezug auf die äußere Formung ist schon dieses, daß der Mensch ein aufrechtes, das Tier ein horizontales Rückgrat hat. Wenn wir eine Linie ziehen durch das Rückgrat des Tieres, so wird ja, wenn wir die Hauptrichtung einhalten, diese Linie nicht ganz gerade, sondern etwas gebogen. Ich sehe von der S-förmigen Rich­tung ab, und ich nehme die Biegung etwas nach unten. Im wesent­lichen, wenn wir das Durchschnitts-Krümmungsmaß bei den Tieren nehmen, werden wir finden, daß wir diese Linie, die durchs Rück­grat geht, zu einem Kreis erweitern könnten, der ganz um die Erde herum geht. Ein richtiger Umkreis um die Erde! Das heißt, wenn wir einen Parallel-Kreis ziehen zur Erde, so geht der durch das Rückgrat des Tieres. Wenn wir denselben Kreis für den Menschen ziehen würden mit seinem Rückgrat, so ginge der natürlich nicht um die Erde herum, sondern wenn Sie ihn vollständig klar denken könnten, so würden Sie finden, daß dieser Kreis, der dadurch ent­steht, einen Mittelpunkt hat: Beim Tier haben Sie gerade gesehen, sein Mittelpunkt würde der Mittelpunkt der Erde sein; beim Men­schen aber würde der Mittelpunkt der Mittelpunkt des Mondes sein. Warum? Weil der Mensch diejenige Entwickelungsstufe, die das Tier heute mit Bezug auf die Erde durchmacht, schon während der alten Mondenzeit durchgemacht hat, und das ist ihm als ein Erb­stück geblieben, daß er mit dem, was vom Mond übrig geblieben ist, so zusammenhängt, wie das Tier mit der Erde zusammenhängt.

Also der Mensch hängt mit dem, was vom Monde übrig geblieben ist, so zusammen, wie das Tier mit der Erde zusammenhängt. Der Mensch hat sich also seinem Planeten entrissen. Er ist nicht so mit seinem Planeten verbunden, wie das Tier. Er ist in bezug auf seine äußere physische Wesenheit gewissermaßen von seinem Planeten losgerissen. Aber er ist insofern losgerissen, als eine Seite seines We­sens von diesem Planeten losgekommen ist. Statt daß der Kreis, von dem ich gesprochen habe, um die Erde herumgeht, geht er in die Erde hinein. Dadurch aber hat der Mensch seine Fuß-Stellung zur Erde

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empfangen, dadurch ist der Mensch mit einer Kraft mit der Erde ver­bunden, die ausgedrückt wird durch die Art und Weise, wie seine Füße zur Erde stehen. Mit dem ganzen Herübergehen des Menschen von der Mondenentwickelung zur Erdenentwickelung hängt dieses zusammen, daß die Hände entrissen worden sind der Erde, die Füße noch mit der Erde zusammenhängen. Versteht man des Menschen Form so, wie sie sich gebildet hat beim Herübergang von der Mon­denentwickelung zur Erdenentwickelung, so muß man sagen: Inso­weit gehört der Mensch der Erde an, als die Erde vermocht hat, einen Teil von ihm in der Richtung der Füße und in der ganzen Gestaltung der Füße an sich zu ziehen.

Was bürgt also der Erde dafür, daß der Mensch zur Erde kommt? Das Geheimnis seiner Fuß-Stellung bürgt dafür ! Das Wort, das im Hebräischen an dieser Stelle steht: «Die Füße bürgen dafür», das ist genau dasselbe Wort, das man gebraucht, wenn zum Beispiel irgend­wie für ein Kapital durch etwas Bürgschaft gehalten wird, genau dasselbe Wort. Das Wort bedeutet, daß die Füße zurückbehalten sind von der Menschwerdung, so daß sie Bürge sind dafür, daß der Mensch nach einer Seite seines Wesens mit der Erde zusammen­hängt. Sie sehen also, damit ist nicht etwa gemeint, als ob die Füße den Menschen nach dem Orte seines Todes hintragen würden; son­dern das ganze Geheimnis der menschlichen Gestalt liegt in diesem Satze, wie es Salomo erkannt hat dadurch, daß er in die geistige Welt hat hineinschauen können. Was ich jetzt umschrieben habe mit Worten, das hat sich also Salomo geoffenbart, als er diese Er­scheinung des Engels des Todes hatte. Und wir sehen an diesem Bei­spiel wiederum, wie eine Weisheit bei den Menschen vorhanden war, welche wir ja einmal in den letzten Betrachtungen die Urweis­heit genannt haben, und die vergangen ist, damit dem Menschen Gelegenheit gegeben werde, während der Erdenentwickelung, aus sich heraus in Verbindung mit der Freiheit sich wiederum Weisheit zu erringen.

Ein nächstes Rätsel in dieser Erzählung kann uns sein, daß der Todesengel einmal traurig ist, das andere Mal lacht. Lachen und Weinen, das wird für die wenigsten Menschen in der Gegenwart

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eine Erkenntnis-Frage, und wenn sie es wird, dann sehen die Ant­worten auch wirklich zuweilen recht betrüblich aus - in demjenigen Zeitalter, in dem es, wie wir gehört haben, sogar eine Psychologie der Heiratsannonce als ernsthafte Wissenschaft gibt. Und dennoch gibt es, ich möchte sagen, nahe Gelegenheiten, einmal nachzuden­ken darüber, wie es sich mit Lachen und Weinen verhält, denn das Volk macht sich schon eine, ich möchte sagen, sehr weisheitsvolle Idee zunächst über das Lachen. Wenn Sie auf dem Lande draußen sind, so werden Sie es schon vernehmen können, daß, wenn einer so auf der Straße für sich allein geht und anfängt zu lachen, der Mann aus dem Volke da sagen wird: Bei dem ist's nicht recht, mit dem stimmt etwas nicht ! - Nicht wahr, das weist schon auf eine eigent­lich tiefere Einsichtsgrundiage, das weist dahin, daß ein Urteil ge­fällt wird, daß man eigentlich, wenn man allein ist, als vernünftiger Gegenwartsmensch nicht lacht. Und man lacht ja auch wirklich nur in Gesellschaft. Gewiß sind ja auch da Ausnahmen vorhanden, aber im wesentlichen gilt das doch, was ich eben ausgesprochen habe. Das Lachen ist also etwas, meine lieben Freunde, was man sozusa­gen nur in Gesellschaft tut. Beim Weinen ist das nicht in so starkem Maße der Fall. Weinen wird man vielleicht gerade, wenn man recht weint, lieber in der Einsamkeit, denn diejenigen Menschen, die gerne in Gesellschaft weinen, wenn es gesehen wird, sind vielleicht nicht diejenigen, an deren Ehrlichkeit des Weinens man immer so recht glauben kann. Der Bauer denkt nicht so besonders nach, wenn er jemanden sieht, der allein lacht, aber er fällt das Urteil: Mit dem ist irgend etwas nicht richtig, stimmt irgend etwas nicht. Nun, was liegt denn da eigentlich zugrunde?

Wirklich, meine lieben Freunde, solche Erscheinungen des Men­schenlebens wie Lachen und Weinen zu verstehen, dazu ist schon notwendig, daß man sich auf die Geisteswissenschaft einläßt. Denn sehen Sie, sogar schon für das rein materielle Dasein stimmt eigent­lich das nicht ganz, was man so im allgemeinen Bewußtsein hat. Ich habe öfter darauf aufmerksam gemacht: Wenn ein Mensch vor uns steht, so wird jemand vom Gesichtspunkt des allgemeinen Bewußt­seins aus, wenn er gefragt wird: Was gehört denn zu diesem Menschen?

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- sagen: Was innerhalb der Haut ist. Nicht wahr, das gehört zum Menschen, was innerhalb der Haut ist. Und wenn man nicht besonders tief nachdenkt, so hat man selbst, wenn man durch die Welt geht, die Meinung, daß man das zum Menschen zu rechnen hat, was innerhalb der Haut ist.

Aber stellen Sie sich jetzt recht lebhaft vor, was innerhalb der Haut ist: Da ist auch die Luft! Die ist aber im nächsten Moment draußen! Die Luft, die jetzt innerhalb der Haut ist, ist im nächsten Moment draußen. Das heißt, wir sind gar nicht imstande, dasjenige, was innerhalb der Haut ist, wirklich abzutrennen von demjenigen, in das das ganze Dasein des Menschen eingebettet ist. Dasjenige, was Erden-Luftumkreis ist, das gehört im Grunde genommen zum physischen Wesen des Menschen absolut dazu, das geht immer hinaus und herein. Und es ist im Grunde gar nicht besonders wun­derbar, wenn man dann aufgefordert wird, diese Vorstellung, die man schon vom physischen Menschen mit seiner Luft haben soll, auszudehnen auf den ganzen Menschen, wenn einem gesagt wird:

Wacht der Mensch morgens auf, so nimmt er etwas in sich herein, was in der Nacht draußen ist. Er nimmt ja in jedem Augenblick sogar materiell die Luft herein, die draußen ist; die ist dann in ihm. Beim Aufwachen nimmt er dasjenige in sich herein, was in der Nacht draußen ist. Beim Einschlafen atmet er gleichsam wiederum aus sein Ich und seinen astralischen Leib. Die Beziehung, die phy­sisch ist zwischen dem Menschen und dem Luft-Umkreis, wir brau­chen sie uns ja nur vorzustellen wie die zwischen dem Menschen und der geistigen Welt, wie die zur Erde gehört; dann bekommen wir schon den Begriff. Der Unterschied ist ja nur der, daß die Luft, die wir jetzt in uns haben und später ausgeatmet haben, dann sich gleich in der äußeren Luft verteilt, während, wenn wir abends beim Einschla­fen unser Ich und unseren astralischen Leib gewissermaßen aus­atmen, diese ihre Form behalten und so uns wieder zurückkommen, wie wir sie ausgeatmet haben. Aber ebenso, wie wir durch die Luft, die wir in uns haben, mit der umgebenden Luft in Verbindung stehen, und eigentlich immer die Luft herein-, heraus-, herein-, her-ausgeht, so ist auch ein flutendes Leben zwischen uns und der ande­ren,

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geistigen Welt. Denn so dürfen wir uns das nicht vorstellen, daß einfach unser Ich und unser astralischer Leib in uns herein­schlüpfen und dann da drinnen sind. Sie stehen mit der ganzen gei­stigen Welt nach außen in Verbindung, so wie der Sauerstoff, den wir in uns haben, nach außen wieder mit der umgebenden Luft in Verbindung steht, wie die Luft in uns mit der Umgebung in Ver­bindung steht. Wir hängen also fortwährend mit der geistigen Welt zusammen durch unser Ich und durch unseren astralischen Leib.

Nehmen wir einmal an, irgend etwas mache auf uns einen solchen Eindruck, den wir im gewöhnlichen Leben eben einen komischen Eindruck nennen. Was tut denn das in Wirklichkeit, was auf uns einen komischen Eindruck macht? Etwas ganz Ähnliches tut es, wie wenn wir - also physisch -, statt daß wir unser normales Quantum einatmen, ein wenig draußen lassen und über die Umgebung ver­breiten würden. Unser Ich und unsern astralischen Leib, die strecken wir gleichsam aus uns hervor. In dasjenige, was uns komisch vor­kommt, ergießen wir unser Ich und unseren astralischen Leib hin­ein. Also denken Sie: Wenn Sie über irgend etwas lachen, so be­steht die Tatsache, die sich da abspielt, darinnen, daß Sie Ihr Ich und Ihren astralischen Leib gewissermaßen darüber verbreiten. Sie strecken den astralischen Leib und das Ich heraus und verbreiten es darüber. Es ist ein geistiger Vorgang, der ja nicht so eine Abwei­sung ist, wie wenn dieser astralische Leib in einem anderen Gefühl etwas vom physischen Leibe mitzieht, wo auch dasjenige, was wir als astralischen Leib haben, sich ergießt in die Umgebung, aber etwas vom physischen Leibe mitzieht: es ist unartig, denn das, was mit­gezogen wird, ist die Zunge! Das tun unartige Kinder, die die Zunge herausstrecken. Wenn wir lachen, lassen wir die Zunge zwar drinnen; aber es ist schon eine ähnliche Verfassung des Astralleibes, der herausgezogen wird, und sogar so stark herausgezogen wird, daß er das einnebelt, was auf ihn einen komischen Eindruck macht. Dem Lachen liegt eine Verbreiterung des astralischen Leibes sogar bis zum Ätherleib zugrunde. Der unsichtbare Mensch verbreitert sich, dehnt sich wie elastisch aus. Das ist also der Vorgang beim Lachen.

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Genau der entgegengesetzte Vorgang findet statt beim Weinen. Da zieht sich der astralische Leib sogar mit dem Ätherleib zusam­men, preßt dadurch, daß er sich zusammenzieht, den physischen Leib und preßt die Tränen heraus. Das ist ja viel leichter zu ver­stehen. Aber Sie sehen: Lachen und Weinen und damit natürlich auch Traurigsein - denn Traurigsein ist ja nur derselbe Seelenvor-gang, nur daß es eben nicht zu Tränen kommt -, Lachen, also Heitersein und Traurigsein beruht auf Ausdehnung und Zusammen­ziehung der unsichtbaren Wesenheit des Menschen, beruht also in einer Kraftentfaltung der unsichtbaren Wesenheit des Men­schen.

Jetzt können Sie sich auch vorstellen, was Salomo gesehen haben wird. Er hat ja natürlich nicht einen physischen Leib gesehen, als er den Todesengel gesehen hat, sondern eine geistige Wesenheit. Er hat also gesehen, wie sich der Todesengel ausgedehnt hat am zwei­ten Tag, während er am ersten Tag sich zusammengezogen hat. Da haben Sie etwas, was Ihnen zeigen kann, wie geistige Wesenheiten wirken, wie geistige Wesenheiten ihre Taten verrichten. Bei uns Menschen ist Lachen und Weinen, Heitersein und Traurigsein ge­wissermaßen eine Begleiterscheinung des Lebens, durch die wir nur unser Inneres ausdrücken, durch die wir zeigen, wie unser Inneres gestimmt ist. Wir verrichten in den meisten Fällen durch Lachen und Weinen für andere Menschen wenig. Wir arbeiten nicht durch Lachen und Weinen. Es sind Begleiterscheinungen des Lebens. In dem Augenblicke aber, wo man an gewisse Geistwesen herankommt, die viel mehr mit ihrem eigenen Selbst bei ihrer Arbeit zu sein haben wie wir, da bedeutet Ausdehnung und Zusammenziehung das, was sie zu verrichten haben. Und der Todesengel hatte, als er davor stand, die beiden zu holen, seine Kräfte zusammenzuhalten: Er hatte sich in sich zu verdichten, um durch die Verdichtung in sich ein Stemmen seiner Kräfte hervorzurufen, denn er stand vor seiner Ar­beit. Das drückt sich dadurch aus, daß er traurig ist. Es ist nur eine Andeutung dafür, wie er sich zusammenzieht. Am nächsten Tag hatte er seine Arbeit verrichtet, da ging die Sache durch Elastizität wiederum auseinander. Es wird uns also einfach eine Tatsache des

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geistigen Lebens in diesem Traurig- und Heitersein des Todesengeis mitgeteilt.

Niemand, der nicht platt denken will, wird Anstoß daran neh­men, daß eben nicht eine platte Erklärung für das Traurigsein und Heitersein des Todesengeis gesucht wird, sondern eine solche, welche in den tieferen Verhältnissen der geistigen Welt begründet ist. Als der Rabbi Jochanam sprach, da war allerdings noch durch­aus eine gewisse Empfindung vorhanden für die Eigentümlichkeit der geistigen Welten. Und man sieht es dem Ernste der Fassung dieser Erzählung an, daß der Rahbi Jochanam eben diese Erzählung zum Inhalte seiner Erklärungen machte und daran dann seine Er­klärungen knüpfte. den Leuten von den geistigen Welten etwas zu erzählen.

Allerdings, im späteren Mittelalter, in der Zeit, als schon heran-nahte der fünfte nachatlantische Zeitraum, den wir ja charakterisiert haben, da kamen auch unter die jüdischen Erklärer der Haggada solche Menschen, über die unsere «fortgeschrittene Zeit» helle Frende haben könnte. Da gibt es zum Beispiel einen jüdischen Er­klärer, der als sehr gelehrt galt in dieser vorgeschrittenen Zeit -nicht in der zurückgebliebenen Zeit, wo man noch an das Geisterreich geglaubt hat - und der sagte: Hinter der ganzen Erzählung müssen wir nicht diese abergläubische Erklärung suchen, die die Alten gege­ben haben, sondern wir müssen ausgehen von der Stadt Lus. Es ist ja bekannt von Salomo, daß er schon zu seiner Zeit bemüht war, Orte ausfindig zu machen und zu besiedeln, die gute Luft, gutes Klima haben, welche für Sommeraufenthalte taugen. - Wahrhaftig, mit diesem jüdischen Erklärer könnten eigentlich die modernen liberalen Gelehrten ganz außerordentlich zufrieden sein ! - Und wenn man das weiß, daß die Stadt Lus eben solch eine Sommer­frische, von dem König Salomo eingerichtet, war, dann kommt man, von diesem Punkte ausgehend, im Grunde genommen sehr leicht auf die Sache. Denn dann braucht man sich ja nur vorzustellen, daß die beiden Schreiber - dazumal wird man noch nicht gesagt haben, daß sie «nervös» waren, aber irgend etwas dergleichen, nicht wahr - sich nicht mehr ganz gesund zeigten, und da hatte denn Salomo in seiner

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Weisheit, die ja selbstverständlich für einen modernen Menschen eine viel größere Weisheit ist ak das Hineinschauen in die geistige Welt, erkannt: Nun, man schickt natürlich die beiden Schreiber in die Sommerfrische ! Und da traf es sich just so, daß sie in der Som­merfrische gestorben sind, wie das nun schon geschieht. Und da hat sich nun der Glaube daran geknüpft, daß das eine Art Strafe war. Nun, im Mittelalter konnte man wenigstens noch an das glauben, nicht wahr? Aber jedenfalk gab es also auch schon diese Erklärun­gen in verhältnismäßig früher Zeit, beim Herannahen des fünften nachatlantischen Zeitraums.

Warum aber ist denn die Stadt Lus angeführt? Und warum über­haupt der ganze Vorgang mit Salomo? Nun, zunächst müssen wir eben immer wieder bedenken, daß Salomo eben ein Mensch ist, der mit der geistigen Welt in Verbindung steht. Ich sagte: Bedeutsam ist, daß seine beiden Schreiber die Söhne waren des Schescha, der schon Schreiber war bei dem König David; sie sind also gewisser-maßen wertvolle Persönlichkeiten. Und Schreiber in der damaligen Zeit bedeutet etwas anderes als heute. Schreiber in Ägypten zum Beispiel - ich habe das schon einmal erwähnt - wurden Leute, welche die Buchstaben wirklich im Sinne der alten ägyptischen Schrift mit aller Inbrunst nachzumalen hatten. Wenn jemand einen falschen Buchstaben schrieb, so stand darauf die Todesstrafe, weil das etwas Heiliges war. In den Buchstaben lag etwas Heiliges. Und so waren denn auch die Schreiber des Königs Salomo durchaus eben Menschen, die mit der geistigen Welt in Berührung standen, in Ver-bindung standen sie, gehörten gewissermaßen zu der Gemeinschaft derjenigen, mit denen Salomo sein Wissen von der geistigen Welt teilte. Und die Stadt Lus, die soll uns nur hinweisen darauf, daß in diesen Schreibern etwas war, wodurch sie gewissernaßen ein Gefühl ihrer Unsterblichkeit schon während des Lebens voll hatten durch ihren Zusammenhang mit der geistigen Welt. Wir sollen aufmerk­sam darauf gemacht werden, daß sie nicht dahinlebten, diese Schrei­ber, ebensowenig wie der König Salomo, ohne zu wissen von ihrem geistig-seelischen Wesenskern, der durch die Pforte des Todes geht. Nicht nur theoretisch wußten sie das, sondern sie gehörten eben zu

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denjenigen, die gewissermaßen bis zu einem gewissen Grade in diese Geheimnisse eingeweiht waren. Daher hatte es der Todesengel schwierig und hatte es notwendig, sich mit dem König Salomo in einer gewissen Weise in Verbindung zu setzen. Das heißt, da die beiden Schreiber für ihr eigenes und namentlich für das Bewußtsein des Königs Salomo in ihrer Unsterblichkeit lebten, so war es für den Todesengel notwendig, daß er so herantrat an den ganzen Vorgang, den er jetzt zu verrichten hatte, daß auch Bewußtsein vorhanden war von dem Tode, daß teilgenommen wurde daran. Nicht sollte aus­gedrückt werden, daß der König Salomo seine Schreiber vor dem Tode schützen wollte und sie daher in die Stadt Lus geschickt hat, sondern es sollte angedeutet werden, daß hier das Sterben ganz be­wußt geschah, daß man es hereinnahm in sein Wissen, daß man da­mit rechnete. Und darauf liegt der Hauptton, daß eben für Salomo das bewußt wurde, daß seine Schreiber starben. Und wenn gesagt wird, er schickte sie nach der Stadt Lus, so soll uns das nur andeu­ten, daß er sah, wie die ahrimanische Gewalt, die durch den Todes-engel ja repräsentiert wird, durch ihre Agenten, durch die Bock-Dämonen, herandringt.

Also der ganze Vorgang, wie er sich bewußt abspielt, der soll uns gewissermaßen durch die Erzählung veranschaulicht werden: Da ist einmal ein Sterben geschehen vor einem Weisen so, daß zuge­sehen wurde durch das Bewußtsein des Weisen. Das wollte der Rabbi Jochanam andeuten. Und der ganze Vorgang setzte sich so um in das Wissen des Salomo, daß er jetzt wußte, wie der Mensch mit der Erde zusammenhängt und wie er mit der geistigen Welt zusammenhängt. Die Entstehung des Wissens vom Übersinnlichen in dem König Salomo, die wird uns durch diese Erzählung darge­stellt. Nur wenn wir das nehmen als eine Nacherzählung gewisser­maßen eines hellsichtig von dem König Salomo erfahrenen Vorgan­ges, dann nehmen wir die Erzählung so, wie sie genommen werden soll, nur wenn wir sie so verstehen, daß sie gleichsam besagen will:

der Rabbi Jochanam sagte, die Menschen sind gebunden an die Erde durch die Gestalt ihres physischen Leibes. So, wie die Gestalt der Füße und ihre Stellung zur Erde mit der Erde zusammenhängen,

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so drückt das aus, daß der Mensch nur einseitig mit der Erde zu­sammenhängt, daß nur die Füße Bürge sind dafür, daß der Mensch zur Erde gehört. Die aufrechte Stellung des Menschen ist aber Bürge dafür, daß er der geistigen Welt übergeben wird mit seinem Wesenskern. Damit Salomo das glauben könne, wurde ihm bewußt das Sterben vorgeführt an ihm teuren Genossen.

Also nur mit Begriffen und Ideen, die der geistigen Welt selbst entnommen sind, kommen wir diesen Dingen bei. Und mancher alten Legende - man nennt sie so - kommt man nur bei, wenn man an sie herantritt mit den geisteswissenschaftlichen Begriffen. Aber daß gerade diese Tatsache von dem König Salomo erzählt wird, das ist recht bedeutsam. Denn es wird uns angedeutet dadurch, daß Salomos Weisheit gerade darinnen bestand, hineinzuschauen in die geistige Welt, in der sich zunächst enthüllt das Geheimnis des To­des. Und wenn wir von den alten Mysterien hören, daß der Mensch als erstes, was er zu erfahren hat, das zu erfahren hat, daß er an die Pforte des Todes herantritt, so ist im Grunde genommen dasjenige, was uns in dieser Legende dargestellt wird, nichts anderes, als daß uns gesagt wird: Salomo war einer von denjenigen, die bis an die Pforte des Todes herangekommen waren. In der Linie der Genera­tionen, welche abstammten von dem König Salomo, da liegt gewis­sermaßen die physische Zubereitung für dieses Heilsehen, das an die Pforte des Todes kommt. Der Körper Jesu ist also aus der salo­monischen Linie des Hauses David, die Seele ist die des Zarathustra. Und machen wir uns recht klar, was das Wesen der Zarathustra-Seele ausmacht, warum die Zarathustra-Seele in einem Leibe darin­nen ist, der von einem Menschen herstammt, der Helisehertum hatte.

Nun habe ich ja öfter gesprochen über dasjenige, was aus der Seele des Zarathustra gekommen ist. Heute wollen wir nur, ich möchte sagen, dasjenige, was dann später vorzugsweise sich ab-gesetzt hat von der Zarathustra-Lehre, ins Auge fassen, was dann von der Zarathustra-Lehre hauptsächlich übergegangen ist in die Mani-Lehre und so weiter, in die Manichäer-Lehre. Zu den tiefsten Fragen, die das Menschenrätsel uns bringt, gehört ja ohne Zweifel die nach dem Guten, Sonnigen des Lebens und seinem Zusammenhang

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mit dem Bösen, Schattenhaften des Lebens. Nun wissen wir, wieviel wir davon verstehen können, wenn wir Einsicht haben in das Wirken von Luzifer und Ahriman. Aber diese Lehre von Luzifer und Ahriman, sie führt ja in einer gewissen Weise auf den Zarathustra zurück, auf seine zwei außer den guten, fortschreiten­den Gottheiten wirkenden geistigen Mächte. Luzifer und Ahriman leben schon in der Zarathustra-Lehre als eine Tatsache der geistigen Welt, als Erkenntnis einer Tatsache der geistigen Welt. Was hat es in dieser Zarathustra-Lehre dadurch nicht geben können, meine lieben Freunde, daß man eine gewisse Einsicht hatte in das Zusam­menwirken von Luzifer und Ahriman? Sehen Sie, etwas hat es nicht geben können, womit die späteren Menschen nimmermehr fertig geworden sind. Wenn man nicht mehr in der richtigen Weise das Zusammenwirken von Luzifer und Ahriman in der Welt versteht, dann durchschaut man die Welt nicht, dann bleibt das Gute ein Rätsel, das Böse ein Rätsel. Betrachten wir von diesem Gesichts­punkte aus einmal eine spätere Lehre, welche geradezu so charak­terisiert werden kann, daß man sich innerhalb dieser Lehre, dieses Bekenntnisses, nicht mehr zubesinnen wußte auf die alteZarathustra­Lehre. Es ist das die Lehre von der Prädestination und was bei den Mohammedanern damit zusammenhängt.

Bedenken Sie, diese Prädestinations-Lehre sagt auf der einen Seite ganz klar: Alles, was geschieht, ist vorausbestimmt, wie durch eine in der allerersten Urzeit vorhandene älteste Schrift ist alles im vor­aus beschrieben. Ich kann nicht einen Schritt vor meine Türe ma­chen, ohne daß es im voraus bestimmt wäre. Wenn ich sterbe -vorausbestimmt ! Alles streng vorausbestimmt ! Das heißt, für das Bewußtsein des Mohammedaners ist es so, daß sich nichts für ihn voll­zieht, was nicht streng vorgeschrieben ist im Buch des Gottes. Aber alle Augenblicke wird der Mohammedaner, wenn er von etwas spricht, was demnächst geschehen soll, und was er gerne hätte, daß es geschieht, so etwas sagen, das heißen würde im Deutschen:

Nun, wenn Gott es will ! - Er ist zwar vollständig überzeugt davon, daß alles aufgeschrieben ist in dem Buch des Gottes, sagt aber von allem: Nun, wenn Gott es will ! - und wird nicht vergessen, bei den

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Dingen, die ihm nur irgendwie bedeutsam erscheinen, diese Redens­art zu gebrauchen: Wenn Gott es will. Was sagt der abendländische Mensch dazu, was sagt der Mohammedaner selbst, wenn er gefragt wird, wenn ihm zum Beispiel gesagt würde: Ja, sieh einmal, du sagst, alles sei aufgeschrieben. Dann kann das doch keinen Sinn haben, wenn du sagst: So Gott es will. Denn dann wird es ja nicht mehr gewollt, dann ist es ja von allem Anfang an bestimmt. - Der Mohammedaner sagt, und der abendländische Mensch sagt: Das ist eben ein unlösbarer Widerspruch, über das kommt man nicht hinweg.

Und so ist es auch. Es ist ein unlösbarer Widerspruch. Gehen Sie alle abendländische Philosophie durch, nehmen Sie alle Namen:

Spinoza, Descartes, Kant, Fichte, Schelling, Hegel und so weiter, uberall werden Sie nachwirkend empfinden diesen Widerspruch, der nicht lösbar scheint, der nur besonders kraß hervortritt in der Lehre von dem Kismet, von der Vorherbestimmung im Mohamme­danismus. Da haben wir also eine Lehre, die in dieser Beziehung anders ist als die Zarathustra-Lehre. Die Zarathustra-Lehre würde weder das eine noch das andere so empfinden, daß daraus ein Widerspruch wird, weil sie Luzifer und Ahriman kennt. Und erin­nern Sie sich an die Betrachtung, die wir hier angestellt haben, wo wir die Vereinigung dieser Dinge ins Auge gefaßt haben ! Wir müs­sen daraus erkennen, daß in der Menschheitsentwickelung etwas war, was eine ursprüngliche Lehre, die gar nicht diesen Widerspruch hervorgerufen hat, verwandelt hat in eine andere, die an diesem Widerspruch krankt, die höchstens durch Gedankenlosigkeit sich über diesen Widerspruch hinweghelfen kann. Dieser Widerspruch, meine lieben Freunde, ist nur ähnlich vielen anderen Widersprü­chen; er ist nur derjenige Widerspruch, der am meisten ins Leben eingreift. Er ist aber ähnlich vielen, vielen anderen Widersprüchen, die wir immer wieder und wiederum im Leben finden können. Und derjenige, der nicht anerkennen will, daß das Leben voller Wider­sprüche ist, der kennt eine Seite der Wirklichkeit überhaupt nicht. Das Leben ist voller Widersprüche, wenn es nämlich angeschaut wird mit dem menschlichen Verstande ! Aber es sollte mit dem

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menschlichen Verstande angeschaut werden, das heißt, es sollte eine Zeit kommen, wo der Mensch sich in Widersprüchen befindet; es sollte die Zarathustra-Zeit abgelöst werden durch eine Zeit, in der der Mensch durch Widersprüche lernt, durch Widersprüche ge­radezu aufgestachelt wird zu seinem wahren inneren Leben. Zu den mancherlei Dingen, die die Erde dem Menschen bringen soll zu seinen Prüfungen, gehört auch dieses Leben in den Widersprüchen.

Nun bedenken Sie, was für eine Art Mitte die vierte nachatlan­tische Zeit war, die Mitte des fünften Erden-Zeitraums. Im vierten, im atlantischen Zeitraum, da kam noch nicht dasjenige heraus, was die Erde bringen sollte, erst im fünften und in der Mitte dieses fünf­ten, da kam dasjenige heraus, was vorzugsweise diese Erde bringen sollte, und dazu gehörte auch dieses Widerspruchsvolle. Das Wider. spruchsvolle, das ist geradezu Erden-Element. Warum hatte es denn der Zarathustra noch nicht? Weil er noch Erbschaften hatte von den alten Zeiten ! In der vierten nachatlantischen Periode waren die Menschen schon ganz eingelebt in das Irdische. Würde der Mensch nichts für sein inneres Verstandes- und Vernunftsleben bekommen als das, was ihm die Erde geben kann, dann würde er auch nicht über die Widerspr üche hinauskommen; dann würde der ganze Rest der Erdenentwickelung so ablaufen, daß der Mensch sich in seinen Widersprüchen verzehren würde seelisch, daß er seelisch zugrunde gehen würde in den Widersprüchen. Denn das Geistige, das sich nur durch die Erde entwickeln kann, muß Widersprüche bringen.

Soll der Mensch wieder hinausgeführt werden über die Wider­sprüche, was mußte denn da geschehen? Da mußte etwas, was zwar zur Erde gehört, aber nicht die Erdenentwickelung der Menschheit mitgemacht hat, in die Erdenentwickelung hereinkommen. Da mußte etwas hereinkommen, was zurückgeblieben war in der alten lemu­rischen Zeit, als der Mensch herunterstieg. Und dies ist ja doch ge­rade die Wesenheit des nathanischen Jesus. Der nathanische Jesus ist gerade der, der den Menschen nahe steht, weil er sozusagen zu­rückgeblieben ist und nicht mitgemacht hat die Erdenentwickelung, aber der eben wiederum von den menschlichen Widersprüchen frei ist aus dem Grunde, weil er zurückgeblieben ist und erst hereingetreren

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ist, als die Menschen ihre Widerspruchs-Entwickelung bis zum Gipfel gebracht hatten, bis zum vierten nachatlantischen Zeitraum. Da tritt er auf als ein Heilmittel gegen den Widerspruch, der sich in der menschlichen Natur entwickeln muß, wenn die Menschheit durch die Erde durchgeht. Wahrhaftig, die Menschen müssen für ihre geistige Entwickelung dasjenige haben, was also in der Zara­thustra-Kultur noch ein altes Erbstück ist; aber sie müssen zu dem etwas hinzubekommen, was sie nun auf der Erde als die Wider­spruchsnatur erfahren. Daher mußte zu dem Zarathustra-Jesus, zu dem salomonischen Jesus, der nathanische Jesus hinzukommen. Und diejenigen, welche in ihrem übrigen Religionsbekenntnis diesen furchtbaren Widerspruch haben der Prädestination und des «Gott will es», wie die Mohammedaner, denen ist zugleich zugeflossen die Offenbarung von dem nathanischen Jesus. Haben sie so viel Ent­wickelungsfähigkeit, daß sie das einmal verstehen können, dann werden sie sich sagen: Wenn wir wiedererkennen die Natur des­jenigen, der uns da geof fenbart ist im Koran, dann werden wir fin­den, wie sich Prädestination und «Gott will es» zusammenschließen.

In der gegenwärtigen Entwickelung ist der Mohammedaner noch nicht so weit; aber er hat die Entwickelungskeime doch in gewisser Beziehung in sich, das heißt, sie liegen da. Es ist nur im Keime. Aber die Christen sollten weiter sein. Die Christen sollten verstehen, was sie haben in dem Wesen, das durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, indem wirklich die Kräfte der Erdenentwickelung sich in ihm zusammengefunden haben. Sie sollten verstehen, daß das uralte Menschheitserbgut durch die Zarathustra-Natur gekom­men ist, und daß eine unmittelbare Gabe des Menschlichen herein­gekommen ist durch den nathanischen Jesus.

Bis hierher wollen wir zunächst diese Betrachtung führen. Sie sehen aber aus diesem wiederum, wie sich alles zusammenschließt. Sie sehen, wie die Dinge, die im Leben nebeneinander stehen, gut begründet nebeneinander stehen. Im Koran steht die Prädestination neben dem «Gott will es»; aber dazu steht auch das Heilmittel da, der nathanische Jesus. Sie sehen, meine lieben Freunde, wie wir an dasjenige herankommen, was wirkliches Menschenleben ist. Wir

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versuchen es ja bis in seine höchsten Formen dadurch, daß wir die geisteswissenschaftlichen Begriffe verwenden. Denn wir leben durchaus in einer Zeit, in welcher die Sache schon so liegt, daß die alte Art des Wissens im Verschwinden begriffen ist. Wenige Men­schen sind noch da, die etwas haben von der alten Art des Wissens, von jenem instinktiven Wissen, das ein Erbstück ist aus dem Hell­seherischen, wenige Menschen sind noch da, und die werden ver­lacht. Und das andere Wissen, das begonnen hat, das Wissen des Verstandes, das Wissen der Vernunft - nun, nach der Ansicht der­jenigen Menschen, die es so herrlich weit gebracht haben, ist es ja natürlich schon in seiner Blüte. Für den, der die Dinge durch­schaut, ist es nicht in seiner Blüte, sondern wirklich erst im Anfange, und es erweist sich überall als noch nicht ausreichend. Die Tat­sachen gehen schneller als dieses Wissen. Das war in älteren Zeiten anders, als das Wissen von den Göttern gegeben wurde; da wurde es immer angepaßt den Tatsachen. Jetzt ahnen die Leute gar nicht, wie die Tatsachen fortschreiten, und das Wissen wirklich so sitzt wie ein Rock, der an allen Seiten zu klein, richtig zu klein ist. Und wenn einmal Tatsachen auftreten, dann werden diese Tatsachen nicht in genügender Weise zur Belehrung für die Menschen benützt.

Ein sehr gelehrter Herr hat in den letzten Jahren einen streng wissenschaftlichen, mit allen wirklich vorgerückten nationalökono­mischen Begriffen der Gegenwart strikten Beweis geführt, daß kein Krieg in der Gegenwart länger dauern kann als höchstens drei bis vier Monate. Das ist «streng wissenschaftlich» bewiesen. Was be­deutet es denn für den vernünftigen Menschen? Für den vernünf­tigen Menschen bedeutet es ja nichts anderes als daß, nachdem un­ser Krieg bald zwei Jahre dauert, wir es hier zu tun haben mit einer Theorie, die eben zu klein ist gegen die Tatsachen. Aber man läßt sich nicht so leicht belehren. Man wird nicht hingehen - wozu man verpflichtet wäre -, um nachzusehen: Woran liegt denn das, daß da einer einmal mit dem gesamten nationalökonomischen kri­tischen Apparat der Gegenwart kommt und beweist, daß ein Krieg nicht länger dauern kann als drei bis vier Monate, denn dann muß er aufhören nach den gegenwärtigen Verhältnissen; man wird nicht

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hingehen und wird untersuchen, woran das liegt, denn dann würde man darauf kommen, daß diese Wissenschaft nichts taugt, daß sie die Tatsachen nicht umspannen kann. Unangenehme Perspektive ! Der Mann hat seine Wissenschaft gut in der Gegenwart gelernt. Würde man also ganz konsequent sein: Fatale Perspektive! National­ökonomische Lehrkanzeln, da lernt man ja das, wovon der Mann seine Wissenschaft hat. Letzte Konsequenz: Sie alle abschaffen ! Weg mit all diesen nationalökonomischen Lehrkanzeln ! Das geht nicht, das geht wirklich nicht ! - Also muß man anerkennen, daß die Nationalökonomie doch weiter in der Gegenwart leben muß so, wie sie jetzt ist, nicht wahr! Sie wird, wenn sie weiter lebt so, wie sie in der Gegenwart ist, noch viel dergleichen «streng wissenschaft­lich» beweisen. Konsequenz: Fatal ! - Aber wenn man weitere Konse­quenzen ziehen und nachschauen würde, ob unter Umständen auch andere Theorien ebenso zu klein sein könnten für die Tat­sachenreihe, so ist ja nicht auszudenken, was alles dabei heraus-käme. Also das geht nicht, daher sind alle diese Sachen weiter rich­tig, selbstverständlich.

Sie sehen, meine lieben Freunde, ein Mut gehört schon dazu, die Dinge zu Ende zu denken, der in der Gegenwart nicht immer vor­handen ist. Und dennoch, man sollte diesen Mut in einer gewissen Weise haben. Dann wird vielleicht nicht von heute auf morgen alles geändert werden, denn denken Sie an alle die großen Pensio­nen, die bezahlt werden müßten, wenn alle, die auf diese Weise nicht mehr weiter lehren könnten, pensioniert werden müßten ! Aber wenn auch schon aus Steuergründen die Sache von heute auf mor­gen nicht geändert werden kann, so würde sie doch in richtigere Bahnen kommen, wenn wenigstens ein gewisser Kern von Menschen da wäre, die den Mut haben, richtig zu denken und überall da, wo wo sie nur irgend können, dieses Richtige durchsickern zu lassen, Darauf kommt schon etwas an. Mit solchen Dingen fängt man immer bei sich selbst an und versucht, soviel als möglich ist, nach dem Richtigen hin zu denken. Denn das Leben schreitet vor, nicht so, daß alles von selber geht, sondern das Leben schreitet schon vor so, daß durch die Menschen die Fortschritte bewirkt werden. Und

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wenn manche zum Trost sich sagen: Na, morgen braucht ja auch nicht gleich alles anders zu sein, denn die Natur macht keine Sprünge, die Welt macht keine Sprünge: Sie macht eben doch lauter Sprünge ! Würde das grüne Laubblatt sich immerfort sagen: Ich darf keine Sprünge machen ! - so würde ein grünes Blatt dann ein ein wenig anderes grünes Blatt werden, aber eine Rose würde niemals zustande kommen; denn die kommt durch einen Sprung zustande! Die Natur macht überall Sprünge! Und so ist es auch im mensch­lichen Leben. Die Dinge kommen nicht auf die bequeme Weise der Sprunglosigkeit zustande, sondern die Dinge kommen schon so zu­stande, daß tatsächlich überall Neubildungen auftreten. Überall kommen Sprünge zustande, und das müssen wir auch bedenken. Schon wenn wir ein richtiges Urteil gewinnen über die Dinge, ohne Leidenschaften nach der einen oder nach der anderen Seite ein­fließen zu lassen in unser Urteilen, so ist viel getan. Denn Gedan­ken sind durchaus lebendige Kräfte.

Aber in unserer Zeit rafft man sich nicht auf zu einem gesunden, geraden, positiven Urteilen über die Dinge. Daher nimmt man, ich möchte sagen, ohne inneren Anteil, ohne inneres Miterleben die Dinge hin. Man nehme zum Beispiel an: Was wäre das Natürliche, wenn ein Mensch sprechen würde über literarische Fragen, über die Fragen der Literatur eines Volkes? Das Natürliche wäre, daß er etwas versteht von diesen Dingen, und daß er nicht spricht über solche Dinge, wenn er nichts versteht davon. Heute sprechen nicht bloß diejenigen Menschen, die von diesen Dingen etwas verstehen ! Neulich sind wir unterrichtet worden über die Bedeutung der deut­schen Literatur, sehr gründlich, von einem Mann, der gar nichts da­von versteht, denn er ist ja nicht einmal Literaturgeschichts-Profes­sor, sondern er ist Präsident einer Republik und hat durchaus nicht Gelegenheit gehabt, das zu lernen, worüber er ein ganzes Land zu unterrichten sich vermessen hat. Ein politischer Advokat spricht über Literatur! Ein Dichter spricht über Politik! Diese zwei Dinge, wir haben sie in der letzten Zeit unmittelbar, ich möchte sagen, neben­einander erlebt. Diese Erscheinungen muß man schon hinnehmen so, wie sie sich ihrer wahren Gestalt nach verhalten, und muß die richtigen

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Gedanken zu ihnen gewinnen können. Viel zu sehr sind wir in unserer Gegenwart, ich möchte sagen, gleichgültig. Und Theosophie soll uns nicht dazu verleiten, nun erst recht gleichgültig zu werden, wenn man diese Gleichgültigkeit auch oftmals Ruhe nennt, oder, indem man das Wort ganz falsch anwendet: Gelassenheit. Die Ge­lassenheit muß man ja anstreben. Die Gelassenheit soll aber nicht darin bestehen, daß uns alles ganz gleichgültig wird; sondern die Gegenwart fordert schon von uns, daß wir in einer gewissen Weise Feuer haben können in der Anerkennung des Guten und in der Ver­abscheuung desjenigen, was nicht sein soll und nicht sein darf, wenn die Entwickelung wirklich in der entsprechenden Weise so fort­schreiten soll, wie es die guten Geister der Menschheit wollen.

Davon wollen wir dann das nächstemal weiter reden.

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ZWÖLFTER VORTRAG Berlin, 30. Mai 1916 Homo Oeconomus

Es ist, wie Sie ja aus mancherlei Betrachtungen dieses Winters gese­hen haben, vonnöten, daß derjenige, der der Geisteswissenschaft nahesteht, seine Begriffe, seine Ideen, insofern diese aus dem gei­steswissenschaftlichen Erkennen fließen, immer konkreter und kon­kreter mache, das heißt, immer Bestimmteres, Geschlosseneres mit diesen Begriffen verbinde. Wir sprechen von den im gewissermaßen richtigen Sinne vorwärtstreibenden geistigen Mächten der verschie­denen Hierarchien, und wir wissen, daß gewisse Wesenheiten dieser verschiedenen Hierarchien zurückbleiben und dann, indem sie auf einer früheren Stufe zurückgeblieben sind, in späteren Stufen nicht die Tätigkeit entfalten, die sie entfaltet haben würden, wenn sie vor­wärts geschritten wären, sondern eben eine Tätigkeit entfalten, welche einer früheren Stufe der Weltentwickelung entspräche. So nennen wir für die Erde im großen luziferische und ahrimanische Wesenheiten diejenigen, welche heute die Tätigkeiten ausüben, die die gewissermaßen normalen, normal fortgeschrittenen Wesenheiten schon während der Mondenzeit ausgeübt haben. Wir haben von den verschiedensten Gesichtspunkten aus erörtert, was das im ganzen Weltengang für eine Bedeutung hat, daß diesem Weltengang, der Weltenentwickelung einverwoben sind solche luziferisch-ahrima­nischen Wesenheiten und Kräfte. Wir müssen uns nun auch gewöh­nen, ich möchte sagen, in einem kleineren Umkreis wirklich das Luziferische und Ahrimanische zu sehen. Notwendig ist allerdings, daß wir dazu, damit wir es richtig sehen, unsere Empfindungswelt in der richtigen Weise arten. Denn wenn wir diejenigen Empfindun­gen, dasjenige Gefühl gleich entfalten, das leider auch viele noch unter uns haben: Ach, Luzifer, Ahriman, da muß ich mich ganz weit davon entfernt halten! - wobei man nicht ahnt, daß gerade dieses recht luziferisch und ahrimanisch ist, wenn man diese Empfindung

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hat - so wird es natürlich immer ein zu starkes Gruseln hervor-rufen, wenn man von Luziferischem und Ahrimanischem in kleine­rem Kreise spricht. Aber zu einem wirklichen Verständnisse der Welterscheinungen, wie es notwendig ist, damit wir unser Verständ­nis ins Leben einführen können, dazu gehört schon, daß wir auch im kleineren Kreise das Luziferische und Ahrimanische gewahr wer­den können.

Sehen Sie, meine lieben Freunde, Jahrhunderte bevor das Myste­rium von Golgatha sich vollzogen hat, war es etwas Großes, etwas Ungeheures, daß vom alten Indien die Lehre ausgegangen ist, welche in der Bhagavad Gita, in anderen Schriften des Orients ver­zeichnet ist. Das war dazumal etwas Großes, etwas Ungeheures, etwas Bedeutungsvolles. Und daß unsere Geisteswissenschaft nicht sich dazu hergibt, das Große, das ungeheuer Bedeutungsvolle sol­cher Erscheinungen etwa zu verkleinern, Sie können das aus dem Zyklus, der in Helsingfors gehalten worden ist über die Bhagavad Gita, entnehmen. Da wird schon auf das Große, auf das Ungeheure der tiefen Wahrheiten hingewiesen, die in der Bhagavad Gita ste­hen. Für den heutigen Menschen ist es auch durchaus gut, wenn er sich in dieser Weise in dasjenige vertieft, was dazumal für die Menschheit ein Großes, ein Ungeheures war. Aber über die Mensch­heit hinweggegangen ist das Mysterium von Golgatha, welches uns im Grunde genommen eine wirkliche geschichtliche Auffassung der Erdentwickelung erst nahelegt, aus dem Grunde, weil wir, wenn wir das Mysterium von Golgatha richtig verstehen, unterscheiden zwischen der Zeit, die dem Mysterium von Golgatha vorangegan­gen ist als eine Vorbereitungszeit, und der Zeit, die da nachfolgt dem Mysterium von Golgatha. Der Orient hat diese Begriffe der Entwickelung des geschichtlichen Fortschreitens eigentlich gar nicht, weil der Orient eben ein wirkliches Verständnis auch für das Myste­rium von Golgatha nicht gewinnen kann. Für den Orient gibt es eine ein für allemal gültige vorhandene Wahrheit, nicht eine Ent­wickelung der Wahrheit.

Nun wird es in unserer Zeit noch sehr vielen Menschen schwer, an die Entwickelung der Erkenntnisse zu denken. Das rührt eben

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davon her, daß wir uns noch nicht vollständig mit dem Sinn des Mysteriums von Golgatha durchsetzt haben. Nehmen wir deshalb an, es trete jemand auf in unserer Zeit und wollte in unserer Zeit so sprechen, wie etwa, sagen wir, die Verfasser der Bhagavad Gita gesprochen haben oder wie der Buddha gesprochen hat in seiner Zeit, so würde dies so sein, daß der Betreffende etwas tun wollte in un­serer Zeit, was gut war für jene Zeit, die Jahrhunderte dem Mysterium von Golgatha vorangegangen ist. Und man würde sagen können:

Hätte der betreffende Mensch dasjenige, was er jetzt bringt, dazu­mal gebracht, als die Bhagavad Gita gebracht worden ist, dann ware es dazumal eine richtige Tat gewesen im Sinne der Entwicke­lung. Träte er heute damit auf und spräche in demselben Sinne, in dem die Bhagavad Gita gesprochen hat, so ist es eine luziferische Tat, so ist dasjenige, was für jene Zeit taugt und was in jener Zeit hätte entwickelt werden sollen, herübergetragen in unsere Zeit. Ein solcher Mensch würde eben auslöschen aus seiner ganzen Vorstel­lungsart dasjenige, was in die Menschheit gebracht worden ist durch die Entwickelung seither.

Nun rede ich Ihnen hier nicht von einem Abstraktum, sondern ich rede so, weil ich Sie aufmerksam machen will auf eine gar sehr bestehende konkrete Erscheinung. Es ist im Jahre 1912 ein Buch er­schienen, das heißt: «Das hohe Ziel der Erkenntnis. Aranada Upanishad» von Omar al Raschid Bey. Ich bemerke ausdrücklich, daß Omar al Raschid Bey kein Türke ist, daß das nichts mit Moham­medanismus zu tun hat; er ist aus rein äußerlichen Gründen ein Türke geworden. Es kann uns hier nicht weiter interessieren, warum er Türke geworden ist. Er hat etwas zu vollziehen gehabt, was man in Deutschland - er ist ein guter Deutscher - nicht machen kann nämlich, wenn man nicht Türke wird, und da wurde er denn Türke. Omar al Raschid Bey wurde außerdem Brahmane und schrieb «Das hohe Ziel der Erkenntnis. Aranada Upanishad.» Herausgegeben nach seinem Tode ist dieses «Hohe Ziel der Erkenntnis» von seiner Frau, Helene Böhlau al Raschid Bey. Ich bemerke, daß nichts gesagt sein soll gegen die vorzüglichen «Ratsmädelgeschichten» und ähn­liches, das Helene Böhiau früher geschrieben hat. Das ist ja nicht

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nötig, daß man in Bausch und Bogen eine ganze Persönlichkeit ver­urteilt. Aber die Vorrede, die die frühere Helene Böhlau, spätere Helene Böhlau al Raschid Bey, zu diesem Werke geschrieben hat, die wäre allerdings besser unterblieben. Nun sehen wir wirklich in diesem «Hohen Ziel der Erkenntnis» auftreten im Jahre 1912 das­jenige, was eben Jahrhunderte vor dem Mysterium von Golgatha hätte da sein dürfen, also etwas, was im eminentesten Sinne, ganz im technischen Sinne des Begriffes als etwas Luziferisches aufzufas­sen ist.

Es wird in der nächsten Zeit von mir ein Buch erscheinen, das vieles enthält von den Ideen, die ich vorgetragen habe in den zwei letz­ten Wintern vor der Öffentlichkeit. In diesem Buche wird aber auch vieles von dem darin sein, wodurch der neuere Weltanschauungs­idealismus, der also nach dem Mysterium von Golgatha liegt und diese seine Stellung nach dem Mysterium von Golgatha wohlver­standen hat, hinaus ist über dasjenige, was im alten Indien zu fin­den war. Denn tatsächlich, meine lieben Freunde, was Fichte, was Hegel, was Schelling, was die anderen, die ich genannt habe, ge­lehrt haben, das liegt weit hinaus über dasjenige, was die orienta­lische Weisheit, was das Brahmanentum enthält. Und daß man heute noch nicht allgemein anerkennt, daß das darüber hinaus liegt, das hat zwei Gründe. Der eine Grund ist der, daß man gewöhnlich findet, es sei zu schwierig, sich mit den Dingen zu befassen. Darüber habe ich auch in meinem Buche einiges gesprochen. Der andere Grund ist der, daß wir nun überhaupt kein solches Talent haben, uns selbst und anderen so ungeheuer erhaben vorzukommen, wenn man eine Erkenntnis errungen hat, wie der Orientale dieses hat. Und daher können Sie auch dieses «Hohe Ziel der Erkenntnis» vom Anfang bis zum Ende durchlesen, und Sie werden überall finden, daß nicht nur Erkenntnisse mitgeteilt werden, die erworben worden sein sollen, sondern daß auch überall beigefügt ist, daß diese Er­kenntnis eine erhabene Erkenntnis ist, daß diese Erkenntnis so erha­ben ist, daß sie selbstverständlich nur für Auserwählte verständlich, begreiflich ist, daß sie nur von den höchsten Meistern der Weisheit mitgeteilt wird.

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Ja, meine lieben Freunde, man braucht sich einmal bloß zu über­legen, was bei dem Talent für Verehrung, das das Morgenland hat, aus einem Fichte geworden wäre in der Nachwelt, dann würde man einen Begriff bekommen von dem, was wir eigentlich im Abendland unterlassen. Wir haben schon nicht die Begabung, mit denselben Untergefühlen zu den Großen emporzublicken, mit denen der Orientale zum Beispiel zu seinem Buddha oder zu seinem Shankaracharya hinaufblickt. Aber verführerisch - und da kann man schon sagen, luziferisch verführerisch - ist es, wenn so gespro­chen wird. Denn erstens redet es sich sehr leicht in unsere Seele ein, wenn jemand ein «Hohes Ziel der Erkenntnis» schreibt. Es ist schon an sich ein Titel, nicht wahr, der suggestiv wirkt, denn jeder leckt sich die Finger ab, wenn er das «Hohe Ziel der Erkenntnis» auf 1 73 Seiten sich aneignen kann. Aber davon abgesehen, wenn in dem Buch fortwährend ausdrücklich hervorgehoben wird: die Weisesten der Weisen haben das zurückbehalten, nur dir, mein Teurer, wird es anvertraut, - was muß das für ein bedeutender Mensch sein, wenn er das Wissen empfängt, das die Weisesten der Weisen immer bewahrt haben, und das ihm anvertraut wird! Und gar wenn dieses Gefühl der Selbstbeweihräucherung so stark vorhanden ist, daß solch ein Buch nun gar schließt mit den bedeutungsvollen Worten:

«Frieden sei mit dir, o Teurer!

Ich habe zu dir vom Endziel des Wissens gesprochen - gesagt, so viel zu sagen deinem Verständnis angemessen war - zu irdischem Heil und zu der Welt Erlösung - stammelnde Worte suchender Seele. Die ersten Hügel im Tiefland sind erstiegen, es lichten sich die Nebel -: vor dir in schier unabsehbaren Fernen leuchten die Hö­hen von Himavat. Öffne dein Auge göttlichem Lichte - - du schaust wahrhaft - - und zuschanden geworden ist alle irdische Weisheit - zerstoben die allblendende Erscheinung - erloschen der Weltenschein - ein Traum - was in dir erwacht ist, ist größer als alle Welten - erreicht das hohe Ziel der Erkenntnis, erreicht Vollendung - Vollendung in Gottheit.

So lautet in aranada-upanishad der adhyaya: Erwachen; wortlos das Letzte: Nirvana.»

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«Wortlos das Letzte»! Und damit das besonders unterstrichen ist, macht uns Frau Helene Böhlau al Raschid Bey noch darauf auf­merksam, daß wir das besonders tief aufzufassen haben: «Wortlos das Letzte», weil sie aus der Schülerschaft zu dem, was in diesem Buche steht, selbst erkannt hätte, wie menschliche Worte nicht aus­reichen, das Tiefste zu sagen. Also es ist viel Tieferes, als darin gesagt ist, selbstverständlich! Denn das wortlose Wissen, an das zu­letzt appelliert wird, das muß natürlich ganz besonders tief sein! Findet man schon unendlich tief, was er sagt, wie sollte man nicht dasjenige unendlich tief finden, was er nicht sagt! Allerdings, meine lieben Freunde: solches zu schreiben, solches zu denken und solches zu halten, sind noch zweierlei Dinge. Denn: «Wortlos das Letzte» -also das andere sind Worte, die eben noch nicht das Tiefste geben. Aber es wird gleich begonnen mit einer ungeheuer tiefen Anschau­ung. So zum Beispiel mit der ungeheuer tiefen Anschauung, die ja ganz in der Sprachweise jener alten orientalischen Weisheit ist:

Wenn ich hier stehe, und einer steht hier, so steht er von mir links. Ich sage mit Recht: er steht links von mir. Aber wenn ein anderer dort steht, so steht derselbe Mensch rechts von ihm, so daß also rechts und links gar keine absoluten Bezeichnungen sind. Wenn ich ihn bezeichne, ist er links; wenn er ihn bezeichnet drüben, ist er rechts. Also: rechts und links ist Maya. Wie könnte man einen bes­seren Begriff geben von Maya, als den, daß links nur eine Bezeich­nung ist, die von außen hinzugefügt ist! Und ungefähr in dieser «Tiefe» geht es auch weiter; denn die Tiefe wird im Grunde genom­men hauptsächlich dadurch erzeugt, daß immer gesagt wird, es sei «abgrundartig tief».

Aber es erhebt sich ja auch zu anderen Dingen. Sie wissen ja vielleicht, und Sie werden es noch mehr sich überlegen können, wenn Sie das Buch, das demnächst erscheinen wird, lesen werden, daß denjenigen Geistern, die den neueren Weltanschauungsidealis­mus gepflegt haben, es hauptsächlich darauf angekommen ist, das Ich zu erleben, im Ich zu leben. Das muß so sein nach dem Myste­rium von Golgatha. Aber die orientalische Weisheit ging darauf hinaus, das Ich nur ja nicht zu erleben, sondern es zu überwinden,

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auszulöschen. LJnd nun erneuert Omar al Raschid Bey, der Deutsche, nicht der Türke, diese alte indische Weisheit, indem er sagt:

«Wer sein Heil im ,Ich' sucht, dem ist Selbstsucht Gebot, dem ist Selbstsucht Gottheit.»

Ja, meine lieben Freunde, wer sein Heil im Ich sucht, dem ist Selbstsucht Gebot, dem ist Selbstsucht Gottheit. Die Selbstsucht, die Ichsucht, liegt nämlich vor dem Finden des Ich. Solange man sucht das Ich, solange entwickelt man die Selbstsucht, und von der Selbst­sucht befreit nur die Findung, das Finden des Ichs. Hat man es ge­funden, dann kann man nicht mehr von der Selbstsucht, von der Ich-sucht gequält werden. In dem Finden des Ich liegt die einzig wirk­liche Überwindung der Selbstsucht. Und wer heute, nach dem Myste­rium von Golgatha, noch fliehen will das Ich, wer heute noch das­selbe sagt, wie man im alten Indien gesagt hat, der wird zurück-geworfen aus dem Ich in die Sucht nach dem Ich, der pflegt gerade die Selbstsucht. Daher machen solche Bücher heute auf uns einen so selbstsüchtigen Eindruck, einen Eindruck, der uns zeigt, wie die Betreffenden sich von der Welt zurückziehen, nicht das Unsterb­liche, das Geistige der Wirklichkeit suchen wollen, sondern vor der Wirklichkeit zurückzucken, um in ihren Träumen selbstsüchtig nach einer Erkenntnis zu suchen. Das ist die Selbstsucht der Erkenntnis. Und diese Selbstsucht der Erkenntnis, die sich selbst nicht bemerkt, das ist die schlimmste Selbstsucht. Daher ist das ganze Buch ein selbstsüchtiges Buch. Solange das Ich nicht eingezogen war in die Entwickelung der Menschheit, das heißt vor dem Mysterium von Golgatha, mußte man die Ichsucht veredeln. Da war die orienta­lische Weisheit am Platze. Heute so zu sprechen, heißt: scheinbar vorn vor sich wegzustoßen das Ich, und hinten packt einen Luzifer und stößt einen erst recht in die Selbstsucht hinein; und das merkt man nicht! Und weiter heißt es:

«Wer sein Heil in dieser Welt sucht, der bleibt dieser Welt ver­fallen. -» Seit dem Mysterium von Golgatha sagen wir: Wer das Heil nicht im Geistigen der Welt sucht, sondern vor der Welt zu­rückzuckt, der verfällt erst recht der Welt. Nämlich er verfällt der­jenigen Welt, die in ihm träumt! Und weiter heißt es:

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«Dem ist kein Entrinnen aus ungestilltem Verlangen»

Er verfällt, meint er, immer wieder und wiederum in ungestilltes Verlangen. Der aber, der so sagt, fällt in das Verlangen nach dem Ich und merkt es nicht, weil er das Ich flieht:

«Dem ist kein Entrinnen aus nichtigem Spiel.»

Statt die Wirklichkeit zu nehmen, statt sich der Wirklichkeit ent­gegenzustellen und in der Wirklichkeit selber zu suchen dasjenige, was in ihr geistig ist, wird hier die Wirklichkeit geflohen. Dadurch fällt man aber erst recht auf der anderen Seite in die Wirklichkeit zurück:

«Dem ist kein Entrinnen aus den engen Fesseln des Ich.»

Dadurch, daß man es findet, das Ich, entringt man sich diesen Fesseln!

«Wer sich aus dieser Welt nicht erhebt, der lebt und vergeht mit seiner Welt.»

Derjenige aber, der nach dem Mysterium von Golgatha spricht, der sagt: Wer aber mit dem Ewigen dieser Welt sich verbindet und aus dem Zeitlichen das Ewige sucht, der verfällt nicht mit dieser Welt.

Man kann fast jeden Satz, der hier steht, in sein Gegenteil ver­kehren, und man wird das für unsere Zeit Richtige finden. Ich habe an den Rand geschrieben: «Wer das Ich flieht, der verfällt der Sucht nach dem Ich, denn Sucht nach dem Ich schafft das Ich zum Ich für sich; Finden des Ich befreit von Sucht nach dem Ich, befreit von Selbstsucht. Wer diese Welt durchschaut, durch den ist diese Welt gewonnen.» - Das Original sagt:

«Wer sich aus dieser Welt nicht erhebt, der lebt und vergeht mit seiner Welt.»

Heute, nach dem Mysterium von Golgatha, sagen wir: Wer diese Welt durchschaut, durch den ist diese Welt gewonnen!

Sie sehen daraus, daß dasjenige, was wir luziferisch nennen, ganz im technischen Sinne des Wortes, durchaus auch in dem engen Kreise unseres geschichtlichen Werdens seine tiefe Bedeutung hat. Heute dasjenige lehren als für die Gegenwart gültig, was gelehrt werden mußte vor Jahrtausenden, heißt luziferisch lehren. Aber die wirklichkeitsfreundlichen Seher, an denen geht man nur allzu gern

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in der Gegenwart vorbei, weil man es nicht wichtig genug findet, sich mit ihrer Seherschaft und mit dem, was Inhalt ihrer Seherschaft ist, zu befassen. Solche Weisheit wie im «Hohen Ziel der Erkennt­nis» spricht ja gar sehr zu der - na, sagen wir - höheren Selbst­sucht der Menschen. Sich mit der Wirklichkeit zu befassen, die Wirklichkeit zu durchschauen, dafür ist weniger Interesse vorhan­den. Und wir haben ja auch nicht das Talent, diejenigen gleich so zu erkennen und zu schätzen, wie der Orientale seinen Buddha etwa geschätzt hat, wenn solche mehr oder weniger unter uns sind.

Sehen Sie, solch eine Gestalt, die schon in gewissem Sinne eine Seher-Gestalt ist, von einem gewissen Gesichtspunkte aus, ist Robert Hamerling, der größte neuere Dichter Mitteleuropas. Nun will ich nicht von der Dichtung Robert Hamerlings im allgemeinen spre­chen, auch nicht von seiner Philosophie im allgemeinen. Darüber können Sie lesen in dem Buch, das ich eben erwähnt habe, das näch­stens von mir erscheinen wird. Aber ich möchte Sie darauf aufmerk­sam machen, daß sich Hamerlings Sehergabe wirklich bewährt hat in einem gründlichen Durchschauen desjenigen, was in der Gegen­wart spielt. Und daß sich seine Sehergabe so bewähren konnte, das hat er in seinem noch kurz vor seinem Tode erschienenen großen satirischen Epos «Homunkulus» gezeigt. Homunkulus - was ist denn das eigentlich für eine Dichtung? Nun, ich will Ihnen heute nicht die Dichtung erzählen; die können Sie ja lesen. Ich will nur zeigen, wie man die Homunkulus-Idee und das Homunkeltum, den Homunkulismus aus der Gegenwart heraus verstehen kann. Nicht wahr, wir haben heute Leute unter uns - ich meine nicht, hier unter uns, sondern im allgemeinen, und wenn welche unter uns wären, so wären ja die Anwesenden ausgenommen! - wir haben heute Leute unter uns, welche glauben, daß die naturwissenschaftliche Vorstel­lungsart ganz allein für ein Weltbild berechtigt ist, daß alles natur-wissenschaftlich erklärt werden muß, und daß alles übrige, was nicht naturwissenschaftlich erklärt wird oder erklärt werden kann, abzuweisen ist: das sei nichts als phantastische Träumerei, phanta­stische Mystik, Okkultismus! - Nicht wahr, wir haben solche Men­schen unter uns. Diese Menschen gehen davon aus, daß alles unter

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mechanistischen Gesetzen, unter den Gesetzen der Materie steht. Auch alle geistigen Erscheinungen und Erlebnisse stehen unter mechanistischen, unter materialistischen Stoff- und Kraft-Gesetzen. Nun, selbstverständlich kann man sich das vorstellen. Aber solch eine Welt, wie sie der materialistische Denker vorstellt, kann nicht wirklich sein. In der würde niemals das kleinste Pflanzenwürzel­chen, geschweige denn ein Tier oder ein Mensch entstehen. Aber es könnte jemand einmal die Frage stellen: Wie würde denn eigentlich der Mensch beschaffen sein, wenn es die Welt gäbe, welche die naturwissenschaftliche Vorstellungsart vorstellt, wenn diese Welt wirklich existierte, wenn nicht unsere Welt, die geistdurchsetzt ist, exi­stierte, sondern wenn diej erige Welt existierte, die der, der einzig und allein an naturwissenschaftliche Vorstellungen glaubt, eben sich denkt. Wie wäre ein solcher Mensch beschaffen? Nun, ein solcher Mensch würde aus solch einer Welt nach rein mechanistischen Ge­setzen erzeugt, selbstverständlich. Alles Geheimnisvolle würde ver­schwunden sein. Hamerling beantwortet mit echt künstlerischer, dichterischer Kraft diese Frage, indem er in seinem Homunkulus einen solchen Menschen hinstellt, der wirklich so ist, wie der Mensch werden müßte, wenn es nur die Welt des Materialistischen gäbe - ein Homunkulus! Und dieser Homunkulus erreicht viel. Denn wenn Sie sich an manches erinnern, was ich gerade in den letzten Betrachtungen ausgeführt habe: Das Gehirn ist schon in gewissem Sinne ein mechanisches Werkzeug, das Gehirn könnte schon entstehen beim bloßen Mechanismus. Also könnte da das Gehirn Gescheitheit erzeugen, so könnte ein solcher Mensch furcht­bar gescheit werden, könnte sich furchtbar gescheit hinstellen in diese Weltenordnung, in der auch alles mechanisch wäre. Der Homunkulus Hamerlings ist auch sehr gescheit. Er kann alle die Dinge, die sich in der Welt ergeben, sehr gut kombinieren. Er gründet ein Allerweltsblatt. Das kann man auch in einer Welt, in der der Homunkulismus blüht; man kann große Blätter begründen. Der Homunkulus wird auch Billionär. Nicht bloß Millionär, auch Bil­lionär wird er, der Homunkulus! Das kann man auch in einer Welt, in der es keinen Geist gibt! Nun, so geht es weiter. Er bringt eine

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Affenschule zustande, weil er selbstverständlich aus dem materiali­stischen Darwinismus heraus die Idee hat, daß die Menschen vom Affen abstammen. Also wenn man die Affen nur ordentlich unter­richtet und sie entsprechend schulmäßig behandelt, so müssen sie sich natürlich zu Menschen verwandeln; man kürzt ihren Weg dann schulmäßig ab, nicht wahr? Es ist ein vorzügliches Kapitel, diese Affenschule in Hamerlings «Homunkulus»! Er zeigt auch, welche Stellung gewisse Leute einnehmen, die Zeitungen und anderes ähn­liches Zeug schreiben. Das alles kann geschehen in einer Welt des Homunkulismus. Man kann sagen: Hamerling hat in den achtziger Jahren wirklich mit Sehergabe geschrieben. Denn selbstverständlich gäbe es in der Welt des Homunkeltums auch Luftschiffe, das ist ja ganz klar, viel vollkommenere vielleicht, als bei uns schon da sind, weil noch immer die alten Anschauungen die Sache stören, nach dem Eindruck gewisser Leute. Der Homunkulus baut sich selbst­verständlich auch ein Luftschiff - in den achtziger Jahren schrieb das Hamerling hin -, er hat nur das Malheur, daß er, indem er mit diesem Luftschiff in die Welt hinausfährt, von den Welten-Anzie­hungskräften, von der Welten-Gravitation ergriffen und nun wirk­lich von den mechanischen Kräften in den Weltenraum mitgenom­men wird. Und wenn Sie abends hinausgehen und ganz genau hin­schauen, und irgend so ein Wrack in der Ferne sehen: Da ist der Homunkulus auf dem zerschellten Weltenschiff! Da hält er sich noch an dem letzten Pfosten so an. Er geht auch in die mechanischen Kräfte auf.

Mit echter, anschaulicher Sehergabe, aus der Wirklichkeit heraus ist diese Sache, Hamerlings «Homunkulus», geschrieben. Denn die Welt gibt es ja natürlich nicht, die der Homunkulismus sich vor­stellt. Aber die Leute können so ihr Denken einrichten, wie es im Sinne des Homunkulismus ist, und dadurch können sie - wenig­stens für ein gewisses Zeitalter - unter den Menschen ein Homun­keltum des Denkens begründen. Das war Hamerlings Meinung: Das Homunkeltum zieht herauf, das Homunkeltum erfaßt die Men­schen. Die Menschen können die Natur nicht seelenlos machen, die behält schon ihre Seele. Aber sich selber können sie seelenlos ma­chen.

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Und Homunkulus, der seelenlose Mann, er findet auch ein seelenloses Weib. Homunkulus, dessen Erkenntnis nicht zugänglich ist Seele und Geist, - er wird der seelenlose Mann.

Hamerling ahnte, daß Leute kommen könnten, die da sagen: Ach, uberwunden haben wir, Gott sei Dank, diesen Goetheschen Klassi­zismus und alles, was damit zusammenhängt! Dieser Goethesche Klassizismus hat noch seinen vollen Glauben an den homo sapiens, an den weisen Menschen, der in seinem Geiste etwas finden könnte, was menschliche Ordnungen begründet. Wir aber wissen, daß alles, was menschliche Ordnung ist, rein von den äußeren wirtschaftlichen Verhältnissen bedingt ist, so von wirtschaftlichen Verhältnissen ab­hängt, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse den Menschen heraus­stellen und der Mensch eigentlich nur von dieser alten Klassik, die wir nun glücklich überwunden haben, noch als ein homo sapiens angesehen wird. Heute müßte man ihn als einen homo oeconomus ansehen! Hamerling ahnte wohl, daß so etwas kommen könnte. Sie werden mich auslachen aus dem Grunde, weil Sie sagen werden:

Es wird doch niemand so konfus sein, zu sagen, der alte Klassizis­mus, in dem man noch an den homo sapiens glaubte, wäre heute abgetan, und daß man heute glauben müsse nicht an den homo sapiens, sondern an den homo oeconomus, und man nicht daran denken könnte, daß Ideen und Ideale in die soziale Ordnung ein­fließen, sondern daß dieselbe rein mecharistisch orientiert sei. Die reine Naturwissenschaft ergebe die wirtschaftlichen Gesetze so, daß der Mensch als homo oeconomus im Sozialorganismus sich drinnen-stehend wisse, und nicht mehr verfällt diesem dummen Glauben an den homo sapiens.

Sie werden sagen, diese wahnsinnige Idee kann heute doch nicht als gescheit gelten! Ich werde Ihnen aber etwas erzählen, meine lieben Freunde. Vor einiger Zeit las ich im «Berliner Tageblatt» einen Artikel meines alten lieben Freundes Engelbert Pernerstorfers, der jetzt Vizepräsident des österreichischen Reichsrates ist. Er ist in vielen Dingen ein sehr gescheiter Mann. In diesem Artikel des «Berliner Tageblatts» war besonders hervorragend besprochen ein Buch von einem gewissen Dr. Renner: «Österreichs Erneuerung».

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Aller Grund lag für mich vor, mich mit diesem Buch zu befassen, denn in dieser Besprechung von meinem alten Freund Pernerstorfer war gesagt, daß dieses Buch wohl berücksichtigt werden sollte von den Menschen der Gegenwart, denn man sähe, daß es noch Leute gibt, die wissen, wie man die Welt einzurichten habe, wenn dieser Krieg über uns hinweggezogen sein wird, daß es noch Leute mit fruchtbaren, schöpferischen Ideen gibt. Also, selbstverständlich, man muß seine Zeit kennen, ich ließ mir das Buch kommen. Da heißt es:

«In diesem Kriege sind in mannigfacher Weise die anderen Kräfte sichtbar geworden. Am auffälligsten verriet die volkswirt­schaftlicheReife der Nationen ihre Übermacht. Man hat Hindenburgs Siege Eisenbahn-Siege genannt und mit Recht: der gute Zustand der Bahnen, Straßen und Wege in einem Lande ist eine Bürgschaft der militärischen Erfolge, er ist jedoch nur ein Anzeichen der höher organisierten Volkswirtschaft.»

Es soll nicht bestritten werden. Aber gehen wir weiter:

«Die stärkste Umwertung, die dieser Weltkrieg vollzogen hat, betrifft die ökonomische, soziale, politische und militärische Ein­schätzung der Industrie und damit des Industriestaates, wie des Industrievolkes. In diesem Punkte hat sich eine wahre Revolution des öffentlichen Bewußtseins vollzogen.»

«Und nun kommt der Krieg, hoch und nieder, In- und Ausland verkünden es immer öfter, immer lauter, unaufhörlich und am Ende unbestreitbar: Die Industrie hat gesiegt! Deutschlands Industrie ist die Retterin des Vaterlandes, die unzerstörbare Widerstands- und unwiderstehliche Stoßkraft des Staates! Der Industriestaat siegt über den Handelsstaat, den Rentnerstaat, den Agrarstaat, die Industrie ist der Kern unseres Volkstums!»

«Im Handumdrehen aus Kavalleristen Infanteristen, aus Reser­visten gute technische Truppen, aus Landsturmmännern vollwertige Frontsoldaten zu machen: das kann nur ein Industriestaat, dessen Arbeiter oft und oft im Leben Betrieb, Branche und Stellung wech­seln und sich jeweilig in Stunden in jeder Lage zurechtfinden müs­sen bei Strafe des wirtschaftlichen Unterganges.»

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Nicht mehr die Ideen - so wird auseinandergesetzt -, die die frühere Zeit beherrscht haben, sollen die soziale Ordnung irgendwie begründen, sondern die wahre Wissenschaft; die geht mit ihren mechanischen Gesetzen in die Industrie hinein und organisiert die Industrie und stellt auch den Menschen hinein, daß er ein Rad wird in diesem industriellen Zusammenhange. Das ist das Große der neueren Wissenschaft und Organisation - selbstverständlich nur Wissenschaft im Sinne der naturwissenschaftlichen Denkweise!

«Wissenschaft und Organisation werden zur lebendigen Praxis nur im Industrievolk. Diese Erfahrungen müssen von nun an unsere ganze politische Praxis durchdringen.»

«Es ist kein Zufall, daß sich in diesem Kriege der Staatsgedanke mächtiger erwiesen hat als das Nationalitätsprinzip. In dem halben Jahrhundert nach dem geschichtlichen Höhepunkt des rein nationa­len Gedankens haben die Welt und die Menschen eine ganz er­staunliche Entwickelung genommen. Die vorwaltenden Interessen jener heute fernen Jahrzehnte waren noch immer Literatur, Kunst, Philosophie, noch wirkte die klassische Zeit nach.»

«Technik und Ökononiie beherrschen auch die Phantasie der Menschen, der Mensch ist aus dem homo sapiens der Klassik der homo oeconomus geworden, das wirtschaftliche Interesse waltet vor und drängt alle anderen zurück.»

«Und so wird auch heute der Staat anders empfunden und gewer­tet. .. Als Wirtschaftsstaat wird er heute angerufen von allen Par­teien und Klassen im Innern, wird er nach außen und von außen ge­wertet.»

Hier haben Sie's! So weit haben wir's gebracht: «Technik und Ökononile beherrschen auch die Phantasie der Menschen, der Mensch ist aus dem homo sapiens der Klassik der homo oeconomus geworden, das wirtschaftliche Interesse waltet vor und drängt alle anderen zurück.»

Das ist das Buch, das dazumal empfohlen war als eine der be­deutenden Erscheinungen des gegenwärtigen Denkens, als eine der­jenigen Erscheinungen, auf die man hinblicken soll, wenn man wis­sen will, wie die Erneuerung des gegenwärtigen Lebens geschieht.

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Was ist das? Homunkulismus! Der Homunkulismus ist wahrhaft geworden, jener Homunkulismus, den Hamerling in den achtziger Jahren vorausgesagt hat. Homunkulismus - hier haben wir ihn ins System gebracht, in philosophische Weltanschauung gebracht! Homunkulus wird nicht nur Billionär, Homunkulus gründet nicht nur eine Allerweltszeiturig, Homunkulus schreibt das Buch:

«Österreichs Erneuerung. Politisch-programmatische Aufsätze von Dr. Karl Renner, Reichsratsabgeordneter»! Hamerling war ein Seher. Er hat vorausgesehen, was kommen werde. Und was da ge­kommen ist: es könnte gesunden, indem es zurückblickte auf das­jenige, was Hamerling in seinem Homunkulus geschaffen hat. Der wahrscheinlich in Wien lebende Dr. Karl Renner brauchte ja nur nach Graz zu fahren, um dort vielleicht zu erfahren, daß es einen Hamerling einmal gegeben hat drei Jahrzehnte vor ihm!

Es ist schon nötig, daß man auch wirklich ein Verständnis dafür entwickelt, worin denn das Große einer solchen Schöpfung wie des «Homunkulus» eigentlich besteht. Das Große einer solchen Schöp­fung besteht darinnen, daß Hamerling wirklich einmal, ohne schon Geisteswissenschaft zu haben, sich gesagt hat: wie wäre der Mensch, wenn er nur den physischen Leib hätte? Er hat natürlich nicht so ge­sagt, aber er hat so geschildert. Er hat in seinem Homunkulus einen Menschen geschildert, der im Grunde genommen nicht mitbringt die Erbschaft von Saturn, Sonnen- und Mondenentwickelung, son­dern nur die Erdentwickelung hat und dem wesentliche Teile des Ich, des astralischen Leibes und des ätherischen Leibes fehlen. Hamer­lings «Homunkulus» wird richtig verstanden gerade von der Geistes­wissenschaft aus. Also es ist schon nötig, gewissermaßen der Gegen­wart auf die Finger zu schauen, meine lieben Freunde!

Ich habe Ihnen das letztemal ausgeführt, daß gerade die Idee des Mysteriums von Golgatha, wie wir sie durch die Geisteswissen­schaft kennen, zusammenbringt drei Dinge: Erstens den Jesus, wie er als Zarathustra in dem salomonischen Jesusknaben sich verkör­pert und wie er das bringt, was geschichtlich die Menschheit durch­gemacht hat, er selber mitgemacht hat von Inkarnation zu Inkarna­tion. Ich habe Ihnen dann klargemacht, wie dasjenige, das in der

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Erde vorbestimmt war, bevor sie durchgegangen ist durch diese ge­schichtliche Entwickelung, im nathanischen Jesusknaben ist. Ich habe Ihnen gezeigt, wie im Koran der nathanische Jesuskriabe voll beschrieben wird bis zu jenem Punkte hin, daß dieser nathanische Jesuskriabe bei der Geburt schon gesprochen hat. Mit diesen zwei Elementen bringen wir zusammen das Außer- und Überirdische des Christus, der im dreißigsten Jahre in die Persönlichkeit des Jesus von Nazareth, des salomonisch-nathanischen Jesus, einzieht, so daß wir in dem Christus erkennen eine Verbindung der geistigen Welten außer der Erde mit dem, was auf der Erde sich vollzogen hat. Und ich habe darauf aufmerksam gemacht: Notwendig ist es, daß unsere Zeit sich hinbequemt zu dem Begriffe dieser Größe der Jesus-Gestalt und damit auch dieser Größe des Mysteriums von Golgatha. Denn unsere Zeit hat ja gewiß in ihrem fünften nachatlantischen Zeitraum den Verstand, das verständige Denken sehr, sehr ausgebildet; aber es muß hinzugefügt werden zu diesem verständigen Denken das geistige Erfassen der Welt. Dann wird schon wieder verstanden wer­den, und auch in einem vorgerückteren Maße verstanden werden das Mysterium von Golgatha, als es die vorhergehenden Jahrhunderte verstanden haben. Wir müssen uns erwerben die Möglichkeit des Verständnisses des Mysteriums von Golgatha. Aber ich möchte sa­gen: Bevor das Verständnis des Mysteriums von Golgatha so recht erworben werden kann, kommt erst noch alles dasjenige, was durch ahrimanische Mächte diesem Menschen-Verständnis eingefügt wird. Im Grunde genommen warten alle guten Geister, möchte ich sagen, darauf, daß die Menschen das Mysterium von Golgatha verstehen. Aber den Menschen drängt sich noch alles entgegen. Sie wollen nicht heran an das Verständnis dieses Mysteriums von Golgatha. Und so verleumden sie unbewußt dieses Mysterium von Golgatha. So verleumden sie unbewußt auch die Gestalt, die im Mittelpunkt dieses Mysteriums von Golgatha zu stehen hat. Denken Sie einmal, es würde jemand alle die tiefen Gefühle, die ernsten Gefühle und Empfindungen, die in uns erzeugt werden können durch die Art, wie wir das Mysterium von Golgatha verstehen, wirklich durchleben wollen, und er stieße mit jemand zusammen, der so recht aus dem

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heutigen Zeitbewußtsein heraus über den Christus Jesus spräche. Da könnte er unter Umständen eine furchtbarste Verleumdung, Herab­setzung desjenigen erfahren, was er fühlt und empfindet aus der wirklichen Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha heraus. Man wird ihm vielleicht entgegnen: Was du uns da alles sagst, das leuch­tet dem Verstande nicht ein, du bist ja ein verrückter Kerl; nur da­durch, daß du ein verrückter Träumer bist, kannst du eigentlich an solche Dinge glauben, denn nur ein verrückter Träumer kann heute wirklich einen Zusammenhang finden in demjenigen, was die Evan­gelien von dem Christus Jesus schildern!

Solches könnte man vielleicht erfahren. Und wenn der Betref­fende glaubte, ein Dichter zu sein, ja, wenn er vielleicht sogar schon früher bis zu einem gewissen Grade gute Dichtungen geschrie­ben hat, und er trifft gerade, weil ihm die anderen Stoffe ausgegan­gen sind, auch auf den Christus-Jesus-Stoff, so könnte der vielleicht das auch künstlerisch so darstellen wollen, könnte sich fragen: Ja, wie ist denn heute ein Mensch eigentlich beschaffen, der das in sich aufnimmt, was der Christus Jesus gewesen sein soll nach den Evan­gelien? - Es muß eine Art Träumer sein, ein schwachsinniger Mensch. Denn ein gescheiter Mensch, der es heute «so herrlich weit gebracht» hat, nicht wahr, der prüft die Evangelien kritisch, findet ihre Widersprüche, zeigt, daß höchstens ein guter Mann in Nazareth gelebt haben könnte, aber an das, was die Evangelien enthalten, kann ja ein vernünftiger Mensch nicht glauben; ein schwachsinniger Mensch muß es sein. Und solch ein schwachsinniger Mensch, der kann dann leicht darauf kommen, zu sagen: Ich folge dem Christus Jesus. Einer, der es so herrlich weit gebracht hat, tut das nicht, son­dern einer, der schwachsinnig ist. Solch ein Schwachsinniger könnte dann auch, sagen wir, auf die Wanderschaft gehen, in einem frem­den Dorfe auftreten, sich irgendwo in der Nähe einer Laterne auf einen Stein stellen und anfangen zu predigen, weil er sich voll des Geistes des Christus glaubt - so könnte einer schildern, der es so herrlich weit gebracht zu haben glaubt -, und weil der Betreffende ein Schwachsinniger ist, so wird er eingesperrt. Man könnte da lesen, sagen wir, daß derjenige, der heute als Christus auftritt, eingesperrt

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wird. Dann wird er verhört vom Pfarrer, der ihm klar macht, daß er nicht über den Christus zu reden hat, weil er kein Pfarrer ist. Dann wird er von demjenigen, der das Richteramt hat, ordentlich angeschnauzt, dann wird er entlassen, weil er doch ein Narr ist, wird nicht weiter eingesperrt. Na, das geht so weiter, er trifft andere, die an seine Narrheit glauben, heilt auch andere; denn das glaubt ja der moderne Mensch, daß Krankheit, die nicht eigentlich Krankheit ist, durch Handauflegen von so nicht ganz Vollsinnigen geheilt werden könne. Endlich wird der Schwachsin­nige immer schwachsinniger und bildet sich nun selber ein - weil alle Leute sagen: In dir ist wirklich der Christus erschienen -, er sei der Christus, hat noch irgendein Malheur, so daß er verkannt wird, und so weiter. - Nicht wahr, es wäre schon etwas Furchtbares, wenn sich die sogenannte Gescheitheit der heutigen Leute verstiege, einen Christus so darzustellen!

Ich erzähle Ihnen wiederum nichts, was abstrakt ist, sondern hier liegt das Buch: «Der Narr in Christo Emanuel Quint», Roman von Gerhart Hauptmann, der enthält, was ich Ihnen jetzt mit ein paar Worten angedeutet habe. Es soll nicht gesagt werden, daß Gerhart Hauptmann nicht früher einigermaßen erhebliche Dramen und der­gleichen geschrieben hat. Aber unsere Zeit ist reif, daß derjenige, den man den größten Dichter der Gegenwart nennt in vielen Krei­sen, einen Schwachsinnigen verwendet, um einen Christus darzu­stellen! Ich weiß sehr wohl, daß diejenigen, die heute so zahlreich sind, kommen werden und sagen: Da verdammst du diesen «Narren in Christo» von Gerhart Hauptmann, weil du die Sache religiös oder philosophisch nimmst, weil du kein Verständnis hast für das rein Ästhetische. - Rein ästhetisch ist die Sache ein Machwerk! Und wenn ich schon eine solche Schilderung haben will, die ein schlech­ter Abklatsch der «Brüder Karamasow» ist von Dostojewski, dann lese ich lieber Dostojewski und rate auch jedem anderen, lieber Dostojewski zu lesen, wenn er solches, was in einem solchen Milieu ist, durchaus haben will, als einen solch schwachen Abklatsch des Dostojewski. Sogar bis in die Einzelheiten hinein erinnert manches an die «Brüder Karamasow», denn dieser Narr in Christo wird angeklagt,

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daß er einen Mord begangen haben soll - man erinnere sich daran bei den Brüdern Katamasow -, er ist unschuldig daran, er wird entlassen, er hält sich selbst für den Christus und wandert durch die Welt und klopft überall an, wo es ihm einfällt: bei Pasto-ren, bei Kardinälen, bei Bischöfen und so weiter, überall klopft er an, weil selbstverständlich die Leute den Christus annehmen sollen. Er wird natürlich überall hinausgeworfen, weil er für einen Narren gehalten wird. Und dann schließt das Buch pathetisch, nachdem geschildert wurde, wie er im Hause verschiedener Leute angeklopft hat, auch im Hause eines Lehrers, den er sogar von früher her kennt:

«So ging es auch im Hause des Lehrers einige Tage später, wo einst Emanuel Quint, im &hulzimmer, Bruder Nathanaels Bußpr& digt gelauscht hatte.» - Die Namen sind alle Anspielungen! - «Die Lehrersleute saßen bei Tisch und ein kalter Herbstwind durchbrauste draußen die Dunkelheit. Man hörte einen Schritt auf der Haus-schwelle und hernach ein Pochen gegen die Tür. Die Frau wollte nicht öffnen, sie fürchtete sich. Nachdem, aus irgendeinem Grunde ängstlich geworden, der fromme Lehrer seine Seele dem Herrn emp­fohlen hatte, öffnete er und fragte durch den Türspalt: kam es leise zur Antwort. Und sofort schlug mit einer Gewalt, die das Häuschen erbeben machte, von der Hand des Lehrers gerissen, die Tür ins Schloß. Er kam schlotternd herein zu seiner Frau und behauptete, draußen stünde ein Wahnsinniger.»

Na, und so weiter, so geht es fort. Nett schließt das Ganze in der folgenden Weise:

«Wiederum eine Woche später fing der gleiche Unfug in der ehemaligen freien Reichsstadt Frankfurt am Main die Leute ein Weilchen zu beschäftigen an. Vor dem Narren und Bettler, der sich Christus nannte, waren mittlerweile zwischen Berlin und Frankfurt Hunderte und Aberhunderte von Haustüren zugeflogen. Ein Frank­furter, der die Angelegenheit auf ironische Weise nahm, sagte, der Herrgott in seinem Himmel müsse unzweifelhaft durch den unge­wohnten wilden Lärm des Türenschlagens auf die Vorgänge unter dem Menschengeschlecht aufmerksam geworden sein.

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Unwillkürlich dankt man dem Himmel», - jetzt kommt erst das eigentlich Empörende! - «daß nur ein armer Erdennarr und nicht Christus selber der Wanderer gewesen ist: dann hätten nämlich Hunderte von katholischen und protestantischen Geistlichen, Arbei­tern, Beamten, Landräten, Kaufleuten aller Art, Generalsuper­intendenten, Bischöfen, Adligen und Bürgern, kurz, zahllose fromme Christen, den Fluch der Verdammnis auf sich geladen.

Aber wie konnte man wissen - obgleich wir beten -, ob es nicht doch am Ende der wahre Heiland war, der in der Verkleidung des armen Narren nachsehen wollte, inwieweit seine Saat von Gott gesäet, die Saat des Reiches, inzwi­schen gereift wäre?»

Also es wird doch die Hinterrüre offen gelassen, daß der Christus sich verkörpert haben könnte in der Gestalt des Narren, um einmal nachzusehen, wie es auf Erden zugeht. Das kann man selbstverständ­lich als Christus in der geistigen Welt nicht, nicht wahr, nach einem Mann, wie Gerhart Hauptmann ist, der es so herrlich weit in der Welt gebracht hat!

«Dann hätte Christus seine Wanderung, wie ermittelt wurde, über Darmstadt, Karlsruhe, Heidelberg, Basel, Zürich, Luzern bis nach Göschenen und Andermatt fortgesetzt und hätte überall im­mer nur von dem gleichen Türenschlagen an seinen Vater im Him­mel berichten können. Nämlich der Narr, der sich Christus nannte, teilte zuletzt mit zwei armen, barmherzigen Schweizer Berghirten, oberhalb Andermatt, Brot und Nachtquartier. Seitdem ist er nicht mehr gesehen worden.»

Sie werden vielleicht, wenn Sie die Annoncenseiten der Blätter angeschaut haben - denn das ist ja auch interessant -, eine große Annonce gefunden haben in den meisten Blättern, die einen ziem­lich großen Teil der Seite einnimmt. Diese Annoncen, die jetzt sehr zahlreich erschienen sind, hatten verschiedene Fassungen. Aber eine von diesen Fassungen will ich Ihnen doch vorlesen - sie ist so groß, das ist die Zeitungsseite, das ist die Annonce -:

«Soiben erschien die neue wohlfeile Ausgabe des Romans #SE167-296

Band von 540 Seiten. Geheftet 3 Mark, Pappband M. 3.75.

,Nun liegt das Buch vor, von dem es leicht ist vorauszusagen, daß es in rascher Folge ungezählte Auflagen erleben und in alle Kultur-sprachen übersetzt werden wird. Es wird als ein echter religiöser Roman klassischen Ruhm bekommen, vom Volke nach Menschen-altern noch gelesen, nicht gepriesen nur. Ich übertreibe damit nicht aus eitler Schwärmerei, denn das Buch birgt stärkste, überwäl­tigende Werte in sich. Es ist der Roman religiöser Kämpfe unserer Zeit, dargestellt an einem Schwärmer, einem Sohn des Volkes, der sich bis zur Gottessohnschaft versteigt. Jeder religiöse Mensch wird durch dies große Bekenntnis unseres bedeutendsten lebenden Dich­ters erbaut und aufgerichtet werden. Hier hat Hauptmann sein größ tes Werk vollendet.'»

Das hat nicht nur der Verleger, Samuel Fischer, gemacht, bei dem das Buch erschienen ist, sondern da hat er eine Rezension eines sehr gescheiten Herrn aus den «Berliner Neuesten Nachrichten» ab-drucken lassen!

Sehen Sie, meine lieben Freunde, oftmals mußte ich im Verlauf dieses Winters davon sprechen, wie Geisteswissenschaft gesund machen soll das Denken, wie sie die Gedankenformen in der rich­tigen Weise gestalten soll. Wenn jemand so abstrakt heute erzählte, es könne einen Menschen geben, der sagt: Die klassische Zeit hat von dem homo sapiens gesprochen, das ist längst überwunden, der homo oeconomus muß endlich an die Stelle treten, - man würde ihn für wahnsinnig halten. Aber er gilt nicht für wahnsinnig. Er gilt als ein Kulturbringer, als einer, der das Lebensrätsel jetzt zu lösen hat, wenn er in der Gestalt des Homunkulus Dr. Karl Renner auf­tritt!

Aber es ist auch viel gearbeitet worden, meine lieben Freunde, recht, recht viel gearbeitet worden daran, die Menschen wegzubrin-gen von einem wirklich gesunden Denken, von einem wirklichkeits-gemäßen Denken. Sie werden den Begriff des wirklichkeitsgemäßen Denkens gerade in meinem Buche, das demnächst erscheinen wird, klar auseinandergesetzt finden. Denken Sie, daß wir ja heute nicht nur haben die alte «Kritik der reinen Vernunft» von Immanuel

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Kant, in der den Menschen klar gemacht wird: An das Ding-an-sich könnt ihr doch nicht kommen, alles ist nur Schein -, wir haben ja heute, wie ich schon öfter erwähnt habe, sogar schon eine «Kritik der Sprache» von Fritz Mauthner. Und wir haben sie nicht nur, diese «Kritik der Sprache», sondern Trompeter für diese «Kritik der Sprache», Trompeter des Ruhmes der «Kritik der Sprache» sind zahlreiche Journalisten geworden, und es gibt zahlreiche Leute, die in dieser «Kritik der Sprache» von Fritz Mauthner ein monumentales Werk der Gegenwart sehen, während es nichts anderes ist als scheuß­lichster philosophischer Dilettantismus. Nicht einmal bis zu dem Begriffe kann sich Mauthner erheben, daß doch Dinge vorgestellt werden nicht dadurch, daß man bloß das Wort hat, sondern daß das Wort etwas ist wie ein Hinweis und wie eine Gebärde auf das Ding. Bei geistigen Dingen ist das ja schwieriger vorzustellen; aber natür­lich muß man sich zunächst klar machen, wie das Wort nur eine Gebärde ist und wie man an den Worten nicht herumkritisieren kann, weil das Wort eine Gebärde ist, die hinweist auf das Betref­fende, so im Physischen und so im Geistigen. Weil Mauthner keine Ahnung hat von der Natur des Wortes, fängt er an, das Wort zu kritisieren, und glaubt, die Menschen haben Worte gemacht und hängen dann bloß an den Worten, hinter denen keine Wirklichkei­ten sind. Ja, aber die Wirklichkeiten kann man nicht dadurch kriti­sieren, daß man das Wort kritisiert. Ich will Ihnen das an einem drastischen Beispiel zeigen. Denken Sie sich, was tut Fritz Mauthner! Fr hat drei dicke Bände geschrieben: «Kritik der Sprache», hat auch ein «Wörterbuch der Philosophie» in zwei dicken Bänden geschrie­ben, worin er dann ja auch, sagen wir, gesammelt hat: Begriff des Seins, Begriff der Erkenntnis und so weiter. Das wird alles so nach den Worten abgehandelt: wo das Wort herkomme, wo das Wort zuerst auftritt, wie das Wort von einer Sprache in die andere wandle. Und indem er so beschreibt, wie das Wort von einer Sprache in die andere sich wandelt, da glaubt er, daß er irgend etwas über die Dinge aussagen kann. Ich will es Ihnen an einem drastischen Beispiel klarmachen: Nehmen wir an, Fritz Mauthner zöge so durch Österreich, da könnte er zum Beispiel ein Wort finden, das gebildet

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worden ist, das Wort «Böhmischer Hofrat». Der «böhmische Hof­rat», ist eine Bezeichnung, die man in Österreich sehr häufig findet:

irgendeiner ist ein «bohmischer Hofrat». Was würde der Sprach-kritiker Fritz Mauthner nach seiner Methode machen müssen? Er müßte natürlich bei «B» in seinem «Philosophischen Wörterbuch» zunächst anknüpfen und müßte «böhmisch» ordentlich kritisieren und würde finden, es sei ein Teil des Begriffes «Böhmen». Dann würde er bei «H» aufschlagen: Hofrat. Er würde dann den Begriff «Hofrat» ordentlich analysieren und würde auf diese Weise die Wirklichkeit des «böhmischen Hofrats» suchen. Aber das Eigen­tümliche ist dabei, daß «böhmischer Hofrat» in Österreich ein Wesen ist, das weder ein Böhme noch ein Hofrat zu sein braucht, im Gegenteil, die meisten «böhmischen Hofräte» in Osterreich sind weder Böhmen noch Hofräte! Das ist gerade ihre Eigentümlichkeit, sie sind durchaus keine Hofräte, es ist nur ein Zufall, wenn einer einmal ein Hofrat ist, und sie brauchen durchaus keine Böhmen zu sein, es ist auch wiederum ein Zufall, wenn ein «böhmischer Hof­rat» ein Böhme ist. Einen «böhmischen Hofrat» nennt man in Öster­reich den, der so ein Schleicher ist, der Talent hat, die Leute, die er überspringen will in der Rangordnung, beiseite zu schieben, Mit-teIchen findet, um sich hinaufzuschieben. Das alles hat zu tun weder mit «böhmisch» noch mit «Hofrat». Er kann ein in Steiermark ge­borener Kanzleidiener und doch «böhmischer Hofrat» sein. Da sehen Sie, wie das Wort gebildet wird, gedeutet auf die Wirklich­keit. Und so sind alle Worte gebildet. Wenn man hinter den Wor­ten die Wirklichkeiten sucht, so findet man so wenig hinter den Worten die Wirklichkeiten, wie man hinter dem «böhmischen Ho£ rat» in Österreich die Wirklichkeit findet, wenn man nicht aus an­derem heraus als aus dem Wortinhalte darauf kommt, was eigent­lich das Wort bedeutet.

Sehen Sie, meine lieben Freunde, bis zu diesem Grade von Ver­worrenheit ist die Gegenwart gekommen, und bis zu diesem Grade von Hochmut in der Verworrenheit ist man gekommen, daß man das als epochemachende Leistung ansieht. Es ist wahrhaftig nicht so ohne Bedeutung zu wissen, daß Volksausgaben entstehen von

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Werken, in denen die Phantasie der Menschen in der Weise vergif­tet wird, wie bei Gerhart Hauptmanns «Narr in Christo». Es ist wahrhaftig nicht gleichgültig, wenn das Denken der Menschen so konfus gemacht wird, wie es durch eine «Sprachkritik» oder der­gleichen konfus gemacht wird. Das sind gewissermaßen solche Aus-flüsse des Verstandes-Hochmuts, der sich entgegenstellt einem wirk­lichen Verständnis des Mysteriums von Golgatha, das für die Ge­genwart so notwendig ist. Ich möchte sagen: Wie die Kreuzigung für den Christus selber eintreten mußte, so muß schon auch der Be­griff des Christus, wie er in der Gegenwart in die Menschheit zieht, erst gekreuzigt werden. Und gekreuzigt wird er durch ein solches Buch, wie der «Narr in Christo Emanuel Quint» ist, von Gerhart Hauptmann. Freilich fühlt sich Gerhart Hauptmann so besonders gescheit, weil er darauf hinweist, wie Bischöfe, Pastoren, Amts­richter und so weiter den Narren Quint hinausgeworfen haben, als er gekommen ist und gesagt hat, er sei Christus. Und dieser Gerhart Hauptmann fügt sogar elegisch hinzu, daß eventuell in diesem Nar­ren wirklich der Christus sein könnte, und dann hätten ihn die Leute auch hinausgeworfen, und der Christus hätte nur nachsehen wollen. Aber, meine lieben Freunde, ich habe noch eine andere Meinung. Ich habe die Meinung: Wenn der wirkliche Christus probeweise sich irgendwie in einen Menschen begeben hätte und an der Tür des Gerhart Hauptmann geklopft hätte, während er seinen «Narren in Christo» geschrieben hat, so wäre die Türe vor seiner Nase zugeflogen und er herausgeworfen worden, während der Gerhart Hauptmann an seiner Weisheit im «Narren in Christo» geschrieben hat!

Es gibt also Mannigfaltiges, was die Menschen in der Gegenwart abhält davon, hinzudringen zu dem dreifachen Verständnis des Christus: Zu dem geschichtlichen Christus, der durch dieZarathustra­Seele in die Christus-Gestalt eingetreten ist; zu dem irdischen Chri­stus, der aber von dem Erdenleben noch nichts in sich eingewirkt hatte, zu dem Jesus, der in dem nathanischen Jesuskuaben war; und zu dem dritten Verständnis, zu dem Christus-Verständnis, zu jener Macht, welche heruntergestiegen ist aus geistigen Höhen und alles

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Erdenleben befruchtet hat. Dieses dreifache Verständnis, meine lie­ben Freunde, es muß gewonnen werden. Es wird gewonnen werden, wenn Geisteswissenschaft hindurchdringt durch alle Selbstsucht und allen Hochmut derjenigen, die da zwar sagen, das höchste Ziel der Erkenntnis sei Schweigen, die aber dafür um so mehr reden von links und rechts, und wie links auch rechts sein kann, und trotz der­jenigen, die als Homunkulusse neue soziale Ordnungen begründen wollen, und trotz derjenigen, die eine Blasphemie leisten, wie der «Narr in Christo», einen wertlosen sogenannten Roman. Trotz alle­dem werden sich Menschengemüter finden, welche herankommen werden zum Verständnis des dreifachen Christus.

Wenn wir nun noch einmal zusammen sein können, so will ich Ihnen dann noch einiges, was sich an dieses anschließen könnte, sagen.

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HINWEISE

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10 Friedrich Lienherd (1865-1929)

12 Johann Friedrich Oberlin (1740-1826)' Pfarrer zu Waldersbach im Steintal (Vogesen), «dessen kräftiges Wirken zum äußeren und inneren Aufbau einer hülfsbedürftigen Gemeinde in mehreren Ländern von Europa allgemeine Be­wunderung erregt hat» (G. H. v. Schubert) wurde im 19. Jahrhundert aus G. H. v. Schuberts «Zügen aus Johann Friedrich Oberlins Leben» bekannt. Schuberts Werk «Die Symbolik des Traumes», Leipzig 1840, enthält einen Anhang:

«Berichte eines Geistersehers über den Zustand der Seelen nach dem Tode», in welchen Oberlins Erlebnisse aufgrund seiner Tagebücher wiedergegeben werden

13 Wilhelm Jordan (1819-1904) Siehe Rudolf Steiner «Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1886-1902», Rudolf Steiner-Gesamtausgabe. Sein Epos «Demiurgos» erschien Leipzig 1854 in 3 Bänden

15 Die meisten der von Marie Steiner rezitierten Gedichte Friedrich Lienhards sind in dern Band «Gedichte», Stuttgart 1906, enthalten

16 ... das letzte Mal: Vortrag vom 8. Februar 1916 in «Notwendigkeit und Freiheit im Weltengeschehen und im menschlichen Handeln», Gesamtausgabe Dornach

1960

17 Max Reinhardt (1873-1943), damals Direktor des Deutschen Theaters in Berlin

19 Fedor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881), «Die Brüder Karamasow» (1879-1880, deutsch 1884). Siehe auch Rudolf Steiner «Gesammelte Aufsätze zur Literatur»

24 ... zwei Bücher: Emil Rasmussen, «Jesus, eine vergleichende psychopatholo­gische Studie», Leipzig 1905; De Loosten (Dr. G. Lomer) «Jesus Christus vom Standpunkte des Psychiaters», Bamberg 1905. Vgl. Albert Schweitzer «f)ie psychiatrische Beurteilung Jesu», 2. Aufl. Tübingen 1933.

27 Leo Nikolajewitsch Tolstoi (1820-1910). Siehe Rudolf Steiner «Gesammelte Aufsätze zur Literatur»

Rapheel Löwenfeld (1854-1910) schrieb eine Biographie Tolstois und gab des-sen Werke heraus (8 Bände 1891-93, neue Ausgabe 33 Bände 1910-11)

33 Es hat Darwin gefallen: In der letzten Arbeit, die Darwin veröffentlichte, ,,The formation of vegetable mould through the action of worms" (1881, deutsch 1882) wies er den Einfluß der Regenwürmer auf die Fruchtbarkeit des Bodens nach. Vgl. W. v. Wyss «Charles Darwin», Zürich 1958 S.263 f.

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33 Da... muß der Spruch in Betracht gezogen werden: Faust 1 602-605

40 Es gibt ... einen Staatsmann: Möglicherweise war Joaeph Austen Chamberlain (1883-1937) gemeint, 1915-17 Staatssekretär für Indien, Sohn des Staats­mannes Joseph Chamberlain (1836-1914)

41 Die Mitternachtsstunde des Daseins:

43 in den ersten Partien des zweiten Mvsteriums:

45 Meister Bertram (ca. 1343-1415). Tafel vom Grabower Altar von 1379, Ham­burg, Kunsthalle

48 Moriz Benedikt (1833-1920), begründete mit Lo"nbroso die Kriminalanthro­pologie.

49 Ein Naturforscher der Gegenwart: Der von Rudolf Steiner verschiedentlich er-wähnte schwedische Naturforscber Svante Arrhenius schließt das Vorwort seines Werkes «Die Vorstellung vom Weitgebäude im Wandel der Zeiten», Leipzig 1908, mit den Worten: «Wir können in der festen Hoffnung, daß die Zukunft nur noch besser werden wird, mit dem großen Natur- und Menschenkenner Goethe sagen: ,Es ist ein groß Ergetzen 1 Sich in den Geist der Zeiten zu ver­setzen / Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht / Und wie wir's dann so herrlich weit gebracht'»

50 in dem öffentlichen Vortrage: 25. Februar 1916

Carl Christian Planck (1819-1880), «Testarnent eines Deutschen. Philoaophie der Natur und der Menschheit» Aus dem Nachlaß herausgegeben von K. Köstlin, Tübingen 1881, Neuausgabe Jena 1915, S. XIV.

54 ... über den verklun genen Ton im Geistesleben Mitteleuropas: Leipzig 21. Fe­bruar 1916

... eine Tatsache, die ich schon hervorgehoben habe vor einem Jahrzehnt:

12. Oktober 1905 «Unsere Weltlage. Krieg, Frieden und die Wiasenschaft vom Geiste», in Das Goetheanum 24. Jahrg. 1945 S. 241 ff.

58 Helena Petrowna Blavatskv (1831-1891) gründete 1875 mit Henrv Steel Olcott die Theosophische Gesellschaft in New York

63 Hengist und Horsa kamen nach der altenglischen Sage dem König Vortigern gegen die Pikten und Skoten zuhilfe. Nach dem Sieg ließen sie sich mit ihren nacbdrängenden niedersächsischen Stammesgenossen in Kent, Essez und Sussex nieder

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66 Lehren der Geheimschulen: Rudolf Steiner folgt hier Ausführungen von C. G. Hanrison in seinem Werk «Das tranazendentale Weltenall», ins deutsche über­setzt von Carl Graf von Leiningen-Billingheim, 0.0.0. J. (1897). Das englische Original ,,The transcendental Universe" erschien zuerst London 1893

75 George Sand: Pseudonym der Schriftstellerin A. A. Dudevant (1804-1876). Ihr Roman «Le compagnon du Tour de France» erschien 1840 (2 Bde.)

76 des öffentlichen Vortrags vom Freitag: 24. März 1916 «Die Unsterblichkeits­frage und die Geistesforschung» in

77 Annie Besant (1847-1933). Die zitierten Auslassungen erschienen in ,,The Theosophist", London 1914 Vol. XXXVI Nr.3 S. 196

78 Berlin-Bagdad-Bahn: Der unter deutscher Beteiligung seit 1899 unternommene Bau einer Eisenbahn von Kleinasien über Bagdad nach dem Persischen Meer­busen führte zu politischen Spannungen wegen des befürchteten Einflusses Deutschlands im Mittleren Osten

Jesuiten-Beschuldigung: Nach der Trennung der mitteleuropäischen Bewegung von der Theosophical Society brachte Annle Besant die auf keinerlei Tatsachen beruhende Behauptung auf, Rudolf Steiner sei von Jesuiten erzogen worden

79 Bertrand Keightley: Prominentes Mitglied der Theosophischen Gesellschaft

Alcvone: Unter dem Namen Alcyone wurde J. Krishnamurti von Anme Besant und ihrem Anhang mit Hilfe des zu diesem Zweck gegründeten Orden vom «Stern des Ostens» als der wiedergeborene Christus propagiert

90 Eliphes Lévi: Pseudonvm für den Abbé Alphonse Lonis Constant (1810-1875), Verfasser von «Dogme et rituel de la haute magie» (1854-56);

Dr. Encausse: schrieb unter dem Pseudonym Papus u. a.:

91 Jakob Böhme (1575-1624): Siehe Rudolf Steiner «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschau­ung», Gesamtausgabe Dornach 1960; «Pfade der Seelenerlehnisse», Gesamt­ausgabe Dornach 1957

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91 Louis Claude Marquis de Saint-Martin (1743-1803),

92 Kleine Broschüre: Rudolf Steiner «Die Aufgabe der Geisteswissenschaft und deren Bau in Dornach», Berlin 1916

93 Broschüre von E. v. Gumppen berg:

95 Persönlichkeiten in Irland: In diesem Zusammenhang verwies Rudolf Steiner au anderen Orten auf Seotus Erigena

116 Vitruv: Vitruvius Pollio, Kriegsbaumeister unter Cäsar und Augustus. Sehrieh zehn Bücher «De architectura» zwischen 16 und 13 vor Chr.

120 Girolamo Savonarola (l452-1498)

Giovanni Pieo della Mirandola (1463-1494). Zitiert nach Giovanni Pico della Mirandola, Ausgewählte Schriften, übersetzt und eingeleitet von Arthur Liehert, Leipzig 1905 S. 54 ff

124 Friedrich Eckstein (1861-1939), «Comeuitis und die Böhmischen Brüder», Österreich. Bücherei Nr.13, Insel-Verlag, Leipzig o. J. Die Comeuius-Zitate stammen aus diesem Buch S. 14 ff und 42 ff. Betr. Eckstein vgl. Rudolf Steiner «Mein Lebensgang» Kap. XXIX sowie Briefe 1

130 Carl Ludwig Sehleieh (1859-1922), «Vom Schaltwerk der Gedanken», S. Aufl. Berlin 1917 S. 256 f, 260 f. 261 f.

136 Thassilo von Selleffer (1873-195l) Worauf sich die Bemerkung bezieht, konnte nicht festgestellt werden

137 Gustav Meyrink (1868-1932), «Der Golem», 4. Aufl. Leipzig 1915, «Der Kardinal Napellus» in «Fledermäuse», Sieben Geschichten, Leipzig 1916

146 das am Donnerstag Gesagte und wiederum am Sonnabend: Vorträge vom

13. und 15. Februar 1916 in

149 Eduard von Hartmann (1842-1906) #SE167-305

Zu Seite

152 Hermann Lotze (1817-1881) war zunächst Arzt und vor seiner Habilitation an der philosophischen Fakultät in Leipzig für Medizin habilitiert

Gustav Theodor Fechner (1801-1887) verfaßte unter dem Pseudonym Dr. Mises die Schrift

154 ... am letzten Donnerstag: S. Hinweis zu S. 146

Rudolf Kjellén (1864-1922) Schwedischer Historiker und Staatsmann, wird von R. Steiner verschiedentlich zitiert. Von seinen Schriften besaß Rudolf Steiner u. a. «Die Ideen von 1914», Leipzig 1915;

156 August Welsmann (1834-1914), Zoologe, Studien zur Deszendenztheorie (2 Bde. 1875/6), Vorträge zur Deszendenztheorie (2. Bde. 1903)

164 Ich hebe... öffentlich gesprochen: 25. Februar 1916

166 Lorenz Oken (1779-1851)

168 ... habe ich das vor anderthelb Jahren dargestellt: Vortrag vom 27. November

1914 169 ... wie das erste Menschengeschlecht gewonnen wird... Siehe 172 Zyklus:

175 Robert Hamerling (1830-1889). Siehe Rudolf Steiner

Maximilian Harden (1861-1927), Herausgeber der Wochenschrift «Die Zu­kunft»

176

178 Thomas Mann (1875-1955), #SE167-306

Zu Seite

180 Josef Kohler (1849-1919), Rcchtslehrer an der Berliner Universität

187 Thomas Morus (Sir Thomas Moore, 1480-1535) «De optimo statu rei publicae deque nova insuha Utopia», 1516

Edward Bellamy (1850-1898), amerikanischer Schriftsteller, Verfasser eines Zukunftsromans ,,Looking Backward, 2000-1887"

198 Das hat sogar Ranke empfunden: Siehe Herman Grimm «Fragmente», zweiter und letzter Teil, Berlin 1902, S. 174 ff.

206 Albertus Magnus, Graf von Bollstädt (1193-1280), Doctor universalis, Lehrer des Thomas von Aquino

210 ... in dem... in Karlsruhe geheltenen Vortragszyklus: S. Hinweis zu S. 172

214 Thomas Campanella (1563-1639). War 27 Jahre eingekerkert. Im Kerker schrieb er den

219 Eduard van Hartmann «Die moderne Psychologie», Leipzig 1901 S. 6

223 Abhandlung über Läuse: Theodor Birt «Die Laus im Altertum», Preuß. Jahr-bücher Bd. 164 S. 271, Berlin 1916

225 Woadraw Wilson (1856-1924) führte die Vereinigten Staaten 1917 in den Krieg gegen Deutschland, nachdem er kurz zuvor als

... im öffentlichen Vartrage - 13. April 1916

230 Kahler S. Hinweis zu S. 180

Rudolf Eucken (1846-1926). Siehe

231 Bölsche Wilhelm Bülsche, geb. 1861, Schriftsteller. Schrieb viel Populär-Wissen. schaftliches und gab Goethes Naturwissenschaftliche Schriften in

Rudolf Steiner, « Vom Meuschen rätsel. Ausgesprochenes und Unausgesproche­nes im Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten», Gesamtausgabe Dornach 1957

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Zu Seite

232 August von Kotzebus (1761-1819),

242 Adolf von Harnack (1851-1930), 1910 S. 102:

244 Koran Das Zitat ist der Übertragung von Max Henning, Reclam-Verlag, Leipzig o. J. entnommen

255 Haggade: Zitiert nach R. Faerber

274 Ein politischer Advokat spricht äber Literatur. Ein Dichter spricht über Politik: Gemeint sind Ravmond Poinearé (1860-1934), 1913-1920 Präsident der Französischen Republik, und der Dichter Maurice Maeterlinck (1862-1949). Siehe Vortrag vom S. November 1914

277 ...aus dem Zyklus ... in Helsingfors: «Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita», Gesamtausgabe Dornach 1962

278 Helene Böhlau (1859-1940) heiratete 1886 in Konstantinopel den zum Islam übergetretenen Schriftsteller Friedrich Arndt (Omar al Raschid Bey)

279 Es wird in der nächsten Zeit von mir ein Buch erscheinen: Siehe Hinweis zu

S. 231

280 Shankaracharya, auch Shankara genannt, (780-820) Reformator der Veden, gilt als bedeutendster Vertreter der Vedanta-Philosophie

Omar al Rasehid Bey,

284 Robert Hamerling, «Homunkulus. Modernes Epos in 10 Gesängen» (1888). Siehe «Mein Lebensgang» Kap. VIII, XIII; Vortrag vom 26. März 1914 «Homunkulus» in «Geisteswissenschaft als Lebensgut». Gesamtausgabe Dornach 1959

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Zu Seite

287 Engelbert Pernerstorler (1850-19l8), neben seinem Jugendfreund Viktor Adler Führer der österreichischen Sozialdemokraten. Vgl. «Mein Lebensgaog» Kap. VIII

287 Karl Renner (1870-1950), sozialdemokratischer Politiker, 1918 Staatskanzler,

1945 Bundespräsident. «Österreichs Erneuerung» 2. Aufl. Wien 1916. Zitate zwischen S. 16 und S. 30

293 Gerhart Hauptmann (1862-1946), «Der Narr in Christo. Emanuel Quint», Erstveröffentlichung 1910

297 Fritz Mauthner (1849-1923) «Beiträge zu einer Kritik der Sprache» 3 Bde.

1901-02; «Wörterbuch der Philosophie» 2 Bde. 1910-11

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.