GA 155

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Christus und die menschliche Seele
Über den Sinn des Lebens
Theosophische Moral
Anthroposophie und Christentum

10 Vorträge, gehalten in
Kopenhagen und Norrköping
vom 23. bis 30. Mai 1912 und 12. bis 16. Juli 1914

GA 155

1994

Inhaltsverzeichnis


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ÜBER DEN SINN DES LEBENS

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ERSTER VORTRAG Kopenhagen, 23. Mai 1912

In diesen beiden Abendbetrachtungen möchte ich zu Ihnen sprechen, von dem Gesichtspunkte der okkulten Forschung aus, über eine oft­mals und eindringlich von den Menschen hingestellte Frage, über die Frage: Was ist der Sinn des Lebens? Nun werden wir, wenn wir uns an diesen beiden Abenden in unseren Betrachtungen nähern wollen dem, was gesagt werden kann über diesen Sinn des Lebens, uns heute erst eine Art von Grundlage, eine Art von Basis schaffen müssen, auf die wir dann sozusagen das Gebäude von Erkenntnissen aufbauen werden, die, wenn auch kurz und skizzenhaft, uns doch eine Antwort geben können auf die gestellte Frage.

Wenn der Mensch zunächst für seine Sinneserkenntnis und für sein gewöhnliches Leben an sich vorübergehen läßt dasjenige, was ihn um­gibt, was er beobachten kann, und wenn er dann auch einen Blick auf das eigene Leben wirft, so kommt eigentlich nicht viel mehr dabei zustande als höchstens eben eine Fragestellung, eine schwere, bange Rätselfrage. Da sieht der Mensch dann entstehen und vergehen die Wesenheiten der äußeren Natur. Er kann ja das jedes Jahr betrachten, wie im Frühling die Erde ihm schenkt, aufgefordert von den Kräften der Sonne und des Kosmos, die Pflanzenwesen, die da grünen und sprießen und ihre Früchte tragen den Sommer hindurch. Gegen den Herbst zu, da sieht der Mensch weiter, wie diese Wesenheiten wieder vergehen. Einige bleiben zwar durch Jahre hindurch, zuweilen sogar recht, recht lange Jahre, wie zum Beispiel unsere lang andauernden Bäume. Aber auch von ihnen weiß der Mensch, daß, wenn sie ihn auch manchmal überdauern in ihrer Lebenszeit, sie doch vergehen, ver­schwinden, hinuntersinken in das, was in der großen Natur das Gebiet des Leblosen ausmacht. Insbesondere weiß er, wie, bis in die allergröß­ten Tatsachen des Naturgeschehens hinein, überall Entstehen und Vergehen

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herrscht, und selbst die Kontinente, die heute den Boden bilden, auf dem sich ausbreiten die Kulturentwickelungen, sie waren, wir wissen das, zu gewissen Zeiten nicht da. Sie haben sich erst im Laufe der Zeit erhoben, und wir wissen genau, daß sie auch wieder in Trüm­mer gehen werden.

So sehen wir Entstehen und Vergehen um uns herum. Sie können es für das Pflanzen- und das Mineralreich sowohl wie auch für das Tierreich verfolgen, dieses Entstehen und Vergehen. Was ist nun der Sinn des Ganzen? Immer entsteht, immer vergeht etwas um uns herum. Was ist der Sinn dieses Entstehens und Vergehens? Wenn wir in unser eigenes Menschenleben hineinblicken und da sehen, wie wir die Jahre und Jahrzehnte hindurch gelebt haben, so haben wir auch in unserem eigenen Leben Entstehen und Vergehen gesehen. Wenn wir uns ent­sinnen an die frühere Zeit der Jugend: dahingeschwunden ist sie, und nur als eine Erinnerung ist sie uns geblieben. Das, was da geblieben ist, ist im Grunde nur eine Anregung zu einer bangen Lebensfrage. Wir fragen ja, wenn wir dieses oder jenes getan haben: Was ist daraus ge­worden, was ist entstanden dadurch, daß wir das oder jenes getan haben? Das Wichtigste dabei ist, daß wir selber dabei ein Stückchen weitergekommen sind, daß wir gescheiter geworden sind. Meist ist die Sache aber so, daß wir erst dann, wenn die Dinge von uns gemacht worden sind, wissen, wie sie hätten gemacht werden sollen. Dann wissen wir, daß alles viel besser hätte gemacht werden können, wenn wir nicht mehr in der Lage sind, es besser zu machen, so daß wir tat­sächlich in unser Leben einschließen all die Fehler, die wir machen. Durch unsere Fehler, durch unsere Irrtümer sammeln wir aber gerade unsere weitgehendsten Erfahrungen.

Eine Frage stellt sich uns dar, und es scheint, als ob das, was wir mit Sinnen erfassen und mit dem Verstande begreifen können, keine Antwort darauf geben könnte. In dieser Lage sind wir Menschen heute, daß dasjenige, was um uns herum ist, uns eine bange Lebens­frage, nämlich die Frage: Was ist der Sinn des ganzen Daseins? auf­erlegt und namentlich auch die Frage: Warum sind wir Menschen in dieses Dasein so hineingestellt? Also für uns Menschen stellt sich zu­nächst diese Frage vor uns hin.

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Eine außerordentlich interessante Legende des hebräischen Alter­tums sagt uns, daß in diesem hebräischen Altertum ein Bewußtsein vorhanden war, daß diese bange Frage, die wir aufgeworfen haben über den Sinn des Lebens und namentlich über den Sinn des Menschen, eigentlich nicht nur den Menschen, sondern noch ganz anderen Wesen aufgeht. Diese Legende ist außerordentlich lehrreich und heißt so: Als die Elohim daran gehen wollten, den Menschen zu schaffen nach ihrem Bilde und Gleichnisse, da fragten die sogenannten Dienst-Engel der Elohim, also gewisse Geister von niederer Art, als die Elohim sel­ber sind, den Jahve oder Jehova: Warum sollen die Menschen nach dem Bilde und Gleichnisse des Gottes geschaffen werden? Da ver­sammelte, so geht die Legende weiter, Jahve die Tiere und die Pflan­zen, die hervorsprießen konnten schon zu einer Zeit, bevor noch der Mensch in seiner Erdengestalt vorhanden war, und dann versammelte Jahve oder Jehova auch die Engel, die sogenannten Dienst-Engel, das heißt diejenigen, die unmittelbar den Dienst bei Jahve oder Jehova verrichteten. Er zeigte diesen nun die Tiere und auch die Pflanzen und fragte sie, wie denn diese Pflanzen und diese Tiere heißen, was sie für Namen haben. Die Engel wußten nicht die Namen der Tiere und die Namen der Pflanzen. Da wurde geschaffen der Mensch so, wie er war vor dem Sündenfalle. Und wieder versammelte Jehova oder Jahve die Engel, die Tiere und die Pflanzen und fragte darauf vor den Engeln den Menschen, wie die Tiere, die er der Reihe nach vor dem Blicke des Menschen vorbeigehen ließ, hießen, welche Namen sie hätten, und siehe da, der Mensch konnte antworten: Dieses Tier trägt diesen Na­men, jenes Tier jenen, diese Pflanze hat diesen Namen, jene Pflanze hat jenen. Und dann fragte Jehova den Menschen: Welches ist dein eigener Name? Da sagte der Mensch: Ich muß eigentlich Adam heißen. - Adam hängt zusammen mit Adama und heißt: aus Erdenschlamm, Erdenwesen; so ist Adam zu übersetzen. - Und wie soll ich selber heißen? fragte dann Jehova den Menschen. Du sollst heißen Adonai, du bist der Herr aller auf der Erde geschaffenen Wesen, antwortete der Mensch, und die Engel hatten nun eine Ahnung, welcher Sinn verbunden war mit dem menschlichen Dasein auf Erden.

Religiöse Überlieferungen und religiöse Ausdrücke stellen die wichtigsten

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Lebensrätsel oft sehr einfach dar, aber die Sache ist deshalb doch schwierig, weil wir erst hinter ihre Einfachheit kommen müssen, weil wir erst einsehen müssen, was dahintersteckt. Gelingt uns dies, dann enthüllen sich uns große Weistümer, dann enthüllt sich uns ein tiefes Wissen. So wird es wohl auch bei dieser Legende sein, die wir zunächst nur vor uns hinstellen wollen, denn die beiden Vorträge werden uns eine Art von Antwort auf die für uns in dieser Legende liegenden Fragen geben.

Nun wissen Sie, daß in einer ganz grandiosen Form eine gewisse Religionsströmung die Frage nach dem Wert und Sinn des Daseins gestellt hat, indem sie ihrem eigenen Religionsstifter in einer über­wältigend großen Form diese Frage in den Mund legte. Sie kennen sie alle, die Mitteilungen über den Buddha, welche besagen, daß, als er aus dem Palaste, in den er hineingeboren war, hinausging und ihm gezeigt worden sind die Ereignisse des Lebens, von denen er innerhalb seines Palastes in der in Betracht kommenden Inkarnation noch keine Ahnung hatte, er im tiefsten bestürzt war über das Leben und das Urteil fällte: Leben ist Leiden, das, wie wir wissen, in die vier Glieder zerfällt: Geburt ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Alter ist Leiden, Tod ist Leiden, wozu noch hinzugefügt wird: Vereint sein mit den­jenigen, die man nicht liebt, ist Leiden, getrennt sein von denen, die man liebt, ist Leiden, nicht erreichen können, was man anstrebt, ist Leiden. - Dann wissen wir, daß der Sinn des Lebens innerhalb dieser Religionsgemeinschaft dadurch herauskommt, daß gesagt wird: Einen Sinn bekommt das Leben, das Leiden, nur dadurch, daß es über­wunden wird, daß es über sich selbst hinausgeht.

Im Grunde genommen sind alle die verschiedenen Religionsbekennt­nisse, auch alle Philosophien und Weltanschauungen, ein Versuch, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten. Nun werden wir nicht in einer philosophisch-abstrakten Weise an die Frage herangehen, sondern einstweilen in einer Art okkulten Form uns etwas vor Augen stellen von den Erscheinungen des Lebens, von den Tatsachen des Lebens. Wir werden versuchen, in diese Tatsachen etwas tiefer hinein-zuschauen, um zu sehen, ob eine tiefere okkulte Lebensbetrachtung etwas liefert zur Beantwortung der Frage über den Sinn des Lebens.

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Greifen wir die Sache wieder da auf, wo wir schon hingedeutet haben auf das jährliche Entstehen und Vergehen in der sinnenfälligen Natur, auf das Leben, auf das Entstehen und Vergehen in der Pflan­zenwelt. Der Mensch sieht im Frühling aus der Erde heraussprießen die Pflanzen. Was da aus der Erde heraussprießt und sproßt, erweckt seine Freude, erweckt seine Lust. Er wird gewahr, daß sein ganzes Dasein zusammenhängt mit der Pflanzenwelt, denn ohne sie könnte er nicht da sein. So fühlt er, wie das, was gegen den Sommer hin aus der Erde alles herauskommt, mit seinem eigenen Leben zusammen­hängt. Er fühlt dann auch, daß im Herbste das, was in gewisser Weise zu ihm gehört, wieder vergeht.

Es liegt nahe, daß der Mensch das, was er da entstehen und ver­gehen sieht, mit seinem eigenen Leben vergleicht. Da ist es für eine äußere, rein sinnenfällige und verstandesmäßige Beobachtung auch recht naheliegend, das frühlingsmäßige Hervorgehen der Pflanzen aus der Erde zu vergleichen, sagen wir, mit dem Aufwachen des Menschen am Morgen, und das Hinwelken und Vergehen der Pflanzenwelt im Herbste zu vergleichen mit dem Einschlafen des Menschen am Abend. Aber ein solcher Vergleich wäre ganz äußerlich. Er würde außer acht lassen die eigentlichen Ereignisse, in die wir schon durch die elemen­taren Wahrheiten des Okkultismus eindringen können. Was geschieht, wenn wir des Abends einschlafen? Wir wissen, wir lassen im Bette zurück unseren physischen Leib und unseren Ätherleib. Mit unserem Astralleibe und unserem Ich ziehen wir uns aus unserem physischen Leibe und unserem Atherleibe heraus. Wir sind dann mit unserem Astralleibe und unserem Ich während der Nacht, vom Einschlafen bis zum Aufwachen, in einer geistigen Welt. Wir holen uns aus dieser geistigen Welt die Kräfte, die wir brauchen. Aber nicht nur unser Astralleib und unser Ich, sondern auch unser physischer Leib und unser Atherleib machen eine Art Wiederherstellung, eine Art Regeneration durch während des nächtlichen Schlafes, wo sie gewöhnlich, vom Astralleibe und Ich getrennt, im Bette liegen.

Wenn man hellseherisch herabblickt vom Ich und dem Astralleib auf den Ather- und physischen Leib, so sieht man, was durch unser Tagesleben zerstört worden ist, sieht, wie das, was sich da in der Ermüdung

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ausdrückt, als Zerstörung vorhanden ist und während der Nacht wiederhergestellt wird. In der Tat, das ganze bewußte Leben des Tages, wenn wir es ins Auge fassen in seinem Zusammenhang mit dem menschlichen Bewußtsein und in seinem Verhältnis zum physi­schen und Ätherleib, ist eine Art Zerstörungsprozeß für den physischen und Ätherleib. Wir zerstören damit immer etwas, und die Tatsache, daß wir zerstören, drückt sich in der Ermüdung aus. Das Zerstörte wird in der Nacht dann wiederhergestellt.

Wenn man nun hinschaut auf das, was da geschieht, wenn wir uns mit dem Astralleibe und Ich herausgehoben haben aus dem Äther- und physischen Leibe, dann ist es so, wie wenn wir ein verwüstetes Feld zurückgelassen hätten. In dem Augenblicke aber, wo wir draußen sind aus dem physischen und Ätherleibe, fängt es an, sich nach und nach wiederherzustellen. Da ist es so, wie wenn die Kräfte, die dem phy­sischen und Ätherleibe angehören, anfangen würden zu blühen und zu sprossen, wie wenn eine ganze Vegetation auf dem Grunde der Zer­störung sich erheben würde. Je weiter es in die Nacht hineingeht, je länger der Schlaf dauert, desto mehr sproßt und sprießt es da im Ätherleibe auf. Je mehr es gegen den Morgen zu geht, je mehr wir mit unserem Astralleibe wieder hineingehen in den physischen und Äther­leib, desto mehr beginnt wieder mit dem physischen und Ätherleibe eine Art Verwelken, eine Art Verdorren.

Kurz, wenn das Ich und der Astralleib am Abend beim Einschlafen des Menschen aus der geistigen Welt herabschauen auf den physischen und Ätherleib, dann sehen sie dieselbe Erscheinung, wie man sie in der großen Welt draußen sieht, wenn die Pflanzen sprossen und sprie­ßen im Frühlinge. Wir müssen daher, wenn wir innerlich vergleichen, unser Einschlafen und den Beginn des Schlafzustandes in der Nacht in Wahrheit vergleichen mit dem Frühling in der Natur, und die Zeit des Aufwachens, die Zeit des Wiederhineinlebens des Ichs und des astralischen Leibes in den physischen und Ätherleib vergleichen mit dem, was der Herbst draußen in der Natur ist. Vergleichen wir so, dann vergleichen wir richtig, nicht aber, wenn wir in umgekehrter Weise vergleichen. Umgekehrt vergleichen wir äußerlich. In uns selbst ent­spricht der Frühling dem Einschlafen und der Herbst dem Aufwachen.

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Wie stellt sich nun die Sache dar, wenn der okkulte Beobachter, derjenige, der wirklich in die geistige Welt sehen kann, den Blick richtet auf die äußere Natur, wie sie verläuft im Laufe des Jahres? Was sich für einen solchen okkulten Blick ergibt, das lehrt uns, daß wir nicht äußerlich, sondern innerlich vergleichen müssen. Was uns die okkulte Beobachtung zeigt, das lehrt uns, daß, ebenso wie mit dem physischen und Ätherleibe des Menschen verbunden sind der Astral­leib und das Ich, mit der Erde verbunden ist dasjenige, was wir das Geistige der Erde nennen. Die Erde ist gleichsam auch ein Leib, ein weit ausgedehnter Leib. Wenn wir sie nur betrachten in bezug auf ihr Physisches, so ist das so, wie wenn wir den Menschen nur in bezug auf das Physische betrachten würden. Vollständig betrachten wir die Erde, wenn wir sie betrachten als den Leib von geistigen Wesenheiten, in derselben Weise, wie wir auch beim Menschen den Geist als zu dem Leibe gehörig betrachten. Ein Unterschied ist jedoch da. Der Mensch hat ein einheitliches Wesen, das seinen physischen und ätheri­schen Leib beherrscht. Ein einheitliches Seelisch-Geistiges entspricht dem, was physischer Menschenleib und ätherischer Menschenleib ist. Viele Geister zunächst entsprechen aber dem Erdenleibe. Was also beim Menschen eine Einheit ist mit Bezug auf das Geistig-Seelische, bei der Erde ist es eine Vielheit. Das ist der nächste Unter­schied.

Wenn wir diesen Unterschied hinnehmen, dann ist gleich darauf alles übrige in gewisser Beziehung ähnlich. Für den okkulten Blick zeigt es sich im Frühling so, daß in demselben Maße, in dem die Pflan­zen aus der Erde herauskommen, in dem das Grün hervorsprießt, die­jenigen Geister, die wir als die Erdengeister bezeichnen, von der Erde fortgehen. Nur ist es dabei wieder so, daß sie nicht wie beim Menschen absolut fortgehen, sondern sie lagern sich in gewisser Weise in der Erde um, sie gehen auf die andere Seite der Erde. Wenn auf der einen Halb­kugel der Erde Sommer ist, ist auf der anderen Winter. Bei der Erde geschieht das so, daß dasjenige, was ihr Geistig-Seelisches ist, von der nördlichen Halbkugel zur südlichen bewegt wird, wenn auf der nörd­lichen Halbkugel Sommer wird. Das ändert daran nichts, daß der okkulte Blick für den Menschen, der auf irgendeinem Teil der Erde

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den Frühling erlebt, sieht, daß die Geister der Erde fortgehen. Er sieht, wie sie sich erheben und hinausgehen ins weite Weltall. Er sieht sie nicht hinübergehen, sondern fortgehen, ebenso wie er, wenn der Mensch einschläft, das Ich mit dem Astralleibe fortgehen sieht. Und ebenso sieht der Hellseher fortgehen die Geister der Erde von dem, womit sie verbunden waren. Während des Winters, als die Erde mit Eis und Schnee bedeckt war, da waren die Kräfte eben mit der Erde in Verbindung. Das Umgekehrte ist der Fall im Herbste. Da sieht der okkulte Blick herankommen die Erdengeister, sieht, wie sie sich wieder mit der Erde verbinden. Und in der Tat tritt dann für die Erde etwas Ähnliches ein wie beim Menschen: eine Art Selbstbewußtsein. Wäh­rend des Sommers weiß der geistige Teil der Erde nichts von dem, was um ihn herum im Weltall vorgeht. Aber im Winter weiß der Geist der Erde, was im Weltall rings um ihn vorgeht, so wie der Mensch, wenn er aufwacht, dasjenige weiß und schaut, was um ihn herum vorgeht. So gilt die Analogie vollständig, nur muß sie umgekehrt gemacht wer­den, wie das äußerliche Bewußtsein sie macht.

Wenn wir allerdings die Sache ganz vollständig betrachten wollen, so dürfen wir nicht nur sagen: Wenn im Frühling aus der Erde heraus­sprießen und sprossen die Pflanzen, dann gehen die Erdengeister fort, denn mit den heraussprießenden und sprossenden Pflanzen kommen in der Tat andere, mächtigere Geister heraus, wie aus den Untergrün­den der Erde, wie aus den Tiefen der Erde, wie aus dem Innern der Erde. Deshalb haben die alten Mythologien recht gehabt, wenn sie zwischen oberen und unteren Göttern unterschieden haben. Nur wenn der Mensch von solchen Göttern gesprochen hat, die im Frühling fort­gehen, im Herbst wiederkommen, sprach er von den oberen Göttern. Es gab mächtigere Götter, ältere Götter. Die Griechen rechneten sie zu den chthonischen Göttern. Die kommen herauf, wenn im Sommer alles sprießt und sproßt, und sie senken sich wieder hinunter, wenn während des Winters die eigentlichen Erdengeister sich mit dem Leibe der Erde vereinigen.

Das sind die Tatsachen. Nun möchte ich gleich hier bemerken, daß ein gewisser Gedanke, der aus der Natur- und okkulten Forschung genommen ist, von ungeheurer Bedeutung ist für das menschliche

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Leben. Durch diese Forschung zeigt sich ja, daß wir im Grunde ge­nommen wirklich, wenn wir den einzelnen Menschen betrachten, etwas vor uns haben wie ein Abbild des großen Erdenwesens selber. Und was sehen wir, wenn wir den Blick hinrichten auf die Pflanzen, die anfangen zu sprossen und sprießen? Da sehen wir genau dasselbe, was der Mensch tut, wenn er in sich lebt im Schlafen. Wir haben genau gesehen, daß das eine vollständig dem andern entspricht. Wie die ein­zelnen Pflanzen zu dem Menschenleibe stehen, was sie für das Men­schenleben bedeuten, das kann man nur erkennen, wenn man einen solchen Zusammenhang überschaut. Denn es ist in der Tat wahr, daß man sieht, wenn man genau zuschaut, wie beim Einschlafen des Men­schen in seinem physischen und ätherischen Leibe alles aufsprießt und sproßt, daß man sieht, wie da eine ganze Vegetation beginnt, sieht, wie der Mensch eigentlich ein Baum ist, oder ein Garten, in dem die Pflanzen wachsen.

Wer das mit okkultem Blick verfolgt, sieht, wie das Sprießen und Sprossen im Innern der Menschen entspricht dem, was draußen in der Natur sprießt und sproßt. Und so können Sie sich einen Begriff ma­chen, was da werden kann, wenn man in Zukunft einmal die Geistes­wissenschaft, die man heute noch größtenteils als eine Narretei an­sieht, aufs Leben anwenden, wenn man sie fruchtbar machen wird. Da haben wir zum Beispiel einen Menschen, dem dieses oder jenes fehlt in seinen äußeren Tatsachen des Lebens. Beobachten wir nun einmal, wenn dieser Mensch einschläft, welche Pflanzenarten aus­bleiben, wenn sein physischer und sein Ätherleib ihre Vegetation zu entwickeln beginnen. Sehen wir, daß auf der Erde an einer Stelle ganze Pflanzengattungen nicht hervorkommen, so wissen wir, daß da etwas nicht ganz stimmt mit dem Wesen der Erde. Ebenso ist es auch mit dem Fortbleiben gewisser Pflanzen im physischen und Ätherleib des Menschen. Um den Fehler beim Menschen nun gutzumachen, brauchen wir nur auf der Erde aufzusuchen die in dem betreffenden Menschen fehlenden Pflanzen und deren Säfte in entsprechender Weise anzu­wenden, entweder in diätetischer Form oder als Arzneimittel, und wir werden dann, aus deren inneren Kräften, die Beziehung von Arznei und Krankheit finden. Daran können wir sehen, wie eingreifen wird

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Geisteswissenschaft in das unmittelbare Leben. Wir stehen aber erst am Anfange dieser Sache.

Damit habe ich Ihnen in einem Gleichnis eine Art Naturgedanken gegeben über den Zusammenhang des Menschen und die Beziehung seines ganzen Wesens zu der Umgebung, in der er ja mit seinem Wesen selber darinnensteckt.

Wir wollen jetzt einmal auf einem geistigen Gebiet die Sache ins Auge fassen. Da möchte ich gleich aufmerksam machen auf eine Sache, die außerordentlich wichtig ist, nämlich, daß unsere geisteswissen­schaftliche Weltanschauung, indem sie den Blick vom Standpunkte des Okkultismus schweifen läßt über die Menschheitsentwickelung, um den Sinn des Daseins zu entziffern, nicht etwa irgendeinem Be­kenntnisse, irgendeiner Weltanschauung einen äußerlichen Vorzug gibt vor irgendeinem anderen Bekenntnisse, vor irgendeiner anderen Weltanschauung. Wie oft ist es betont worden innerhalb unserer okkulten Strömung, daß wir hinweisen können auf dasjenige, was die Erdenmenschheit entwickelt und erlebt hat, unmittelbar nachdem die große atlantische Katastrophe über die Erde hereingebrochen war. Da erlebten wir als erste große nachatlantische Kultur die uralt-heilige indische Kultur. Auch hier, an diesem Orte, haben wir schon über diese uralt-heilige indische Kultur gesprochen und betont, daß es eine so hohe Kultur war, daß es nur ein Nachklang ist, was in den Veden oder schriftlichen Überlieferungen, die auf uns gekommen sind, noch davon vorhanden ist. Die uralte Lehre, die hervorgegangen ist aus jener Zeit, ist nur in der Akasha-Chronik zu erblicken. Da blicken wir auf eine Höhe der Kultur, die seither nicht wieder erklommen wor­den ist.

Die späteren Epochen hatten eine ganz andere Aufgabe. Wir wissen auch, daß ein Hinunterstieg stattgefunden hat seit jenen Zeiten. Wir wissen aber auch, daß wieder ein Aufstieg stattfinden wird und daß, wie wir schon bemerkt haben, Geisteswissenschaft dazu da ist, diesen Aufstieg vorzubereiten. Wir wissen, daß im siebenten nachatlantischen Kulturzeitraum eine Art Erneuerung der uralt-heiligen indischen Kul­tur da sein wird. So ist es also, daß wir nicht einen Vorzug geben irgendeiner religiösen Anschauung oder irgendeinem Bekenntnis. Mit

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gleichem Maße werden sie gemessen, überall werden sie charakterisiert, überall wird der Wahrheitskern gesucht.

Das aber, worauf es ankommt, ist, daß wir das Wesenhafte ins Auge fassen. Wir dürfen uns nicht beirren lassen in der Betrachtung über das Wesen jedes einzelnen Religionsbekenntnisses, und wenn wir so an die Weltanschauungen herangehen, dann finden wir einen Grund-unterschied. Wir finden Weltanschauungen, die mehr orientalisieren­der Art sind, und solche, die mehr die Kultur des Abendlandes durch­drungen haben. Wenn wir uns nun dies besonders klarmachen, dann haben wir etwas, was uns große Aufschlüsse gibt über den Sinn des Daseins. Da finden wir, daß die Alten schon etwas hatten, was wir uns jetzt erst wieder mit Mühe erobern müssen, nämlich die Lehre von der Wiederkunft des Lebens. Die orientalisierenden Richtungen hatten das wie etwas, was aus den tiefsten Gründen des Lebens heraufstieg. Sie sehen noch, wie diese orientalisierenden Richtungen ihr ganzes Leben von diesem Gesichtspunkte aus gestalten, wenn Sie das Verhält­nis des orientalischen Menschen zu seinen Bodhisattvas und seinen Buddhas ins Auge fassen. Wenn Sie ins Auge fassen, wie es dem Orien­talen weniger darauf ankommt, eine einzige Gestalt herauszunehmen mit diesem oder jenem bestimmten Namen als die regierende Macht der Menschheitsentwickelung, so sehen Sie zugleich, wieviel mehr es ihm darauf ankommt, die durch die verschiedenen Leben hindurch-gehende Individualität zu verfolgen.

Die Orientalisten sagen, es gibt soundso viele Bodhisattvas, hohe Wesenheiten, die ausgegangen sind von dem Menschen, aber sich nach und nach hinaufentwickelt haben zu jener Höhe, welche wir damit bezeichnen, daß wir sagen: Eine Wesenheit ist durch viele Inkarna­tionen gegangen und ist dann zu einem Bodhisattva geworden, wie Cautama, der Sohn des Königs Sudhodana, es getan hat. Er war Bodhisattva und wurde Buddha. Der Name Buddha aber wird vielen gegeben dafür, daß sie durch viele Verkörperungen hindurchgegangen, Bodhisattva geworden und dann zur nächst höheren Würde, zur Buddhawürde, aufgestiegen sind. Der Name Buddha ist ein General-name. Er gibt eine menschliche Würde an und ist nicht zu denken, ohne daß man auf das Geistig-Seelische blickt, das durch viele Inkarnationen

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hindurch geht. In dieser Beziehung stimmt der Brahmanismus mit dem Buddhismus völlig überein, daß er den Blick hauptsächlich richtet auf das Individuelle, das durchgeht durch die verschiedenen Persönlichkeiten, und weniger auf die einzelnen Persönlichkeiten, denn es kommt auf dasselbe heraus, wenn der Buddhist sagt: Ein Bodhi­sattva ist dazu bestimmt, zu der höchsten menschlichen Würde auf­zusteigen, zu der man aufsteigen kann, und dazu muß er durch viele Inkarnationen hindurchgehen, das Höchste aber sehe ich in dem Buddha, oder ob der Anhänger des Brahmanentums sagt: Die Bodhi­sattvas sind in der Tat hochentwickelte Wesen und steigen dann zu den Buddhas auf, aber sie sind von den Avataren, den höheren geisti­gen Individualitäten, ausgegangen. Sie sehen, die Betrachtung des Geistigen, das da durchgeht durch viele Inkarnationen, ist etwas, das diesen beiden orientalischen Anschauungen eigen ist.

Nehmen wir aber nun das Abendland und sehen zu, was da das Große und Gewaltige war. Um in dieser Beziehung etwas tiefer zu schauen, müssen wir die alte hebräische Weltanschauung ansehen, müssen die Blicke auf das persönliche Element lenken. Wenn wir von Plato, von Sokrates, von Michelangelo, von Karl dem Großen oder von sonst jemandem reden, so reden wir immer von einem Persön­lichen, wir stellen vor die Menschen das abgeschlossene Leben der Persönlichkeiten hin mit dem, was diese Persönlichkeiten für die Menschheit geworden sind. Wir richten in der abendländischen Kultur nicht den Blick auf das Leben, das von Person zu Person hindurch­gegangen ist; denn das war gerade die Aufgabe der abendländischen Kultur, eine Zeitlang den Blick zu richten auf das einzelne Leben. Wenn man im Oriente von dem Buddha spricht, dann weiß man: Die Bezeichnung Buddha ist eine Würde, die vielen Persönlichkeiten zu­geeignet ist. Wenn man dagegen den Namen Plato nennt, so weiß man, daß es nur eine einzelne Persönlichkeit war. So war die Erziehung des Abendlandes. Das Persönliche sollte zunächst geschätzt und ge­achtet werden.

Nehmen wir nun unsere eigene Zeit. Wie muß sich diese zu dieser ganzen Tatsachenreihe stellen? Die Menschheit ist durch die Kultur des Abendlandes eine Weile erzogen worden in dem Hinschauen auf

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das Persönliche. Jetzt mußte zu dem Persönlichen das Individuelle, die Individualität hinzugefügt werden. Jetzt stehen wir also an dem Punkte, uns wieder zu erobern das Individuelle, aber verstärkt, durch­kraftet von der Betrachtung des Persönlichen.

Nehmen wir einen bestimmten Fall. Wir richten den Blick in dieser Beziehung auf die alte hebräische Weltanschauung, die vorherging der abendländischen. Lenken wir den Blick auf eine so gewaltige Per­sönlichkeit wie diejenige des Propheten Elias. Wir charakterisieren ihn zunächst als Persönlichkeit. Im Abendlande wird wenig Bedacht darauf genommen, ihn anders zu betrachten. Wenn man absieht von allen Einzelheiten und die Persönlichkeit im großen ins Auge faßt, so sieht man, daß Elias im Fortgang der Weltentwickelung etwas Bedeut­sames war. Er drückte aus etwas wie eine Vorläuferschaft für den Christus-Impuls.

Wenn wir zurückblicken in die Zeit des Moses, so sehen wir, wie etwas verkündigt wird dem Volke, wir sehen, daß dem Menschen ver­kündigt wird der Gott im Menschen: Ich, der Gott, der da war, der da ist und der da sein wird. Im Ich muß er erfaßt werden, aber er wird erfaßt im Althebräischen so, wie die Seele des Volkes war. Elias geht nun noch weiter. Durch ihn wird noch nicht klar, daß das Ich in der einzelnen menschlichen Individualität lebt als das höchste Gött­liche; aber er konnte es dem Volke seinerzeit noch nicht klarer machen, als die Welt es aufzunehmen vermochte. Daher sehen wir da sozusagen einen Sprung in der Entwickelung gemacht. Während noch die Moses-kultur bei den Althebräern sich klar war darüber: In dem Ich liegt das Höchste - und dieses Ich wurde in dieser Moseszeit in der Volks­seele ausgedrückt -, wird bei Elias schon auf die einzelne Seele hin-gedeutet. Aber es bedurfte auch hier eines Impulses, und dazu war wieder eine Vorläuferschaft da, die wir als die Persönlichkeit des Johannes des Täufers kennen. Wieder war es ein bedeutsames Wort, in dem diese Vorläuferschaft des Johannes des Täufers zum Ausdruck kommt. Was drückt uns dieses Wort aus? Eine große okkulte Tat­sache. Er weist darauf hin, daß die Menschen einmal, als Urmenschen, ein altes Hellsehen hatten, so daß sie hineinsehen konnten in die gei­stige Welt, in das Göttlich-Wirksame; dann haben sie sich aber mehr

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und mehr dem Materiellen genähert. Es hat sich verschlossen der Blick für die geistige Welt. Darauf weist Johannes der Täufer hin, indem er sagt: Ändert die Seelenverfassung! Blickt nicht mehr auf das, was ihr in der physischen Welt erringen könnt, sondern seid auf­merksam, jetzt kommt ein neuer Impuls! - damit meint er den Chri­stus-Impuls -, deshalb sage ich euch, ihr müßt die geistige Welt suchen mitten unter euch. - Da tritt herein das Geistige, mit dem Christus-Impuls. Dadurch wurde Johannes der Täufer der Vorläufer des Christus-Impulses.

Jetzt können wir eine andere Persönlichkeit, die merkwürdige Per­sönlichkeit des Malers Raffael, ins Auge fassen. Diese merkwürdige Persönlichkeit stellt sich einem, wenn man sie betrachtet, sonderbar dar. Vor allen Dingen braucht man nur Raffael als Maler der lateini­schen Rasse zu vergleichen mit den späteren Malern, meinetwillen mit Tizian. Wer einen Blick hat für solche Dinge und auch nur die Nach­bildungen der Bilder ansieht, wird den Unterschied finden. Werfen Sie einen Blick auf die Bilder von Raffael und auch auf die von Tizi an. Raffael hat so gemalt, daß er die christlichen Ideen in seine Bilder legte. Er hat gemalt für die europäischen Menschen als Christen des Abendlandes. Seine Bilder sind für alle Christen des Abendlandes ver­ständlich, und sie werden es immer mehr und mehr noch werden. Nehmen Sie dagegen die späteren Maler. Die haben fast ausschließlich für die lateinische Rasse gemalt, so daß sogar die kirchlichen Spaltun­gen in ihren Bildern zum Ausdruck kommen.

Welche Bilder sind aber nun Raffael am besten gelungen? Diejeni­gen, mit welchen er ankündigen kann, welche Impulse im Christen­tum liegen! Da, wo er den Jesusknaben hinstellen kann in irgendein Verhältnis zur Madonna, da, wo er dieses Christus-Verhältnis zur Madonna wie etwas, was Empfindungsimpuls ist, hinstellen kann, ge­lingen ihm die Dinge am besten. Er hat auch im Grunde genommen am besten diese Dinge gemalt. Eine Kreuzigung zum Beispiel haben wir nicht von ihm, wohl aber eine Verklärung. Da, wo er das Sprie­ßende und Sprossende, das Sich-Verkündigende malen kann, da malt er mit Freude und malt seine größten und besten Bilder.

Im Grunde genommen geht es auch so mit der Wirkung seiner Bilder.

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Wenn Sie einmal nach Deutschland kommen und in Dresden die Sixtinische Madonna anschauen, da werden Sie sehen, daß das Kunst­werk - von dem man sagt, daß die Deutschen froh sein können, ein so bedeutsames Bild in ihrer Mitte zu haben, ja, daß die Deutschen dieses Bild als die Blüte der Malerei betrachten dürfen - ein Geheimnis des Daseins enthüllt.

Als Goethe seinerzeit von Leipzig nach Dresden fuhr, da hörte er etwas anderes über das Bild der Madonna. Die Beamten der Galerie in Dresden sagten ungefähr so: Da haben wir auch ein Bild von Raffael. Es ist aber nichts Besonderes. Es ist schlecht gemalt. Der Blick des Kindes, das ganze Kind, alles, was da gemalt ist an dem Kinde, ist gemein. Die Madonna selber ebenso. Man kann nur glauben, daß sie gemalt worden ist von einem Stümper. Und nun gar noch unten die Figuren, von denen man nicht weiß, ob es Kinderköpfe oder Engel sein sollen. - Dieses grobe Urteil hat Goethe damals gehört. Daher hatte er auch zunächst keine richtige Schätzung des Bildes. Alles, was wir heute über das Bild hören, das lebte sich erst nachher ein, und der Umstand, daß Raffaels Bilder in den Nachbildungen ihren Siegeszug durch die Welt machten, ist eine Folge dieser besseren Einschätzung. Man braucht nur zu erinnern daran, was gerade Eng-land für die Reproduktion und Verbreitung der Bilder Raffaels getan hat. Was aber bewirkt wurde in England dadurch, daß so gesorgt worden ist für die Reproduktion und Verbreitung Raffaelscher Bilder, das wird man erst erkennen, wenn man die Sache vom geisteswissen­schaftlichen Standpunkt aus mehr betrachten lernen wird.

So ist uns Raffael durch seine Bilder wie ein Vorherverkündiger eines Christentums, das international werden wird. Der spekulative Protestantismus sah die Madonna lange Zeit als spezifisch katholisch an. Heute ist die Madonna auch in die evangelischen Länder überall eingedrungen, und man erhebt sich mehr zu der okkulten Auffassung, zu einem höheren, interkonfessionellen Christentum. So wird es immer weitergehen.

Wenn wir diese Wirkungen für ein interkonfessionelles Christen­tum hoffen dürfen, so wird uns das, was Raffael gemacht hat, auch in der Geisteswissenschaft helfen.

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Es ist merkwürdig - drei Persönlichkeiten treten uns so entgegen, alle drei haben sie zu tun mit einer Vorläuferschaft für das Christen­tum. Und jetzt richten wir den okkulten Blick auf diese drei Persön­lichkeiten. Was lehrt uns der? Der okkulte Blick lehrt uns, daß es dieselbe Individualität ist, die in Elias, die in Johannes dem Täufer, die in Raffael lebte. So unmöglich es scheint, es ist doch dieselbe Seele, die in Elias, in Johannes und in Raffael gelebt hat. Jetzt aber fragen wir uns, wenn der okkulte Blick, der forscht und nicht etwa äußerlich verstandesmäßig vergleicht, nun erforscht, daß es dieselbe Seele ist, die in Elias, in Johannes dem Täufer und in Raffael vorhanden war: Wie kommt es denn, daß Raffael, der Maler, der Träger wird für die Individualität, die in Johannes dem Täufer gelebt hatte? Kann man sich vorstellen, daß diese merkwürdige Seele des Johannes des Täufers in den Kräften lebte, die in Raffael vorhanden waren? Da kommt nun wieder die okkulte Forschung, aber nicht so, daß sie bloß Theo­rien in die Welt setzt, sondern so, daß sie sagt, wie die Dinge sind, wie die Dinge wirklich ins Leben eingepflanzt sind! Wie schreiben die Leute heute noch Raffael-Biographien? Sie können es überall sehen, auch die besten sind heute so geschrieben, daß sie einfach an­geben: Raffael wurde geboren an dem Karfreitage des Jahres 1483. Raffael ist nicht umsonst an einem Karfreitage geboren! Ankündigend schon durch diese Geburt seine Sonderstellung im Christentum, zeigt sich bei ihm, daß er mit den christlichen Geheimnissen in der tiefsten und bedeutungsvollsten Weise zu tun hat. An einem Karfreitag also war Raffael geboren. Sein Vater war Giovanni Santi. Giovanni Santi starb, als Raffael elf Jahre alt war. Als Raffael acht Jahre zählte, hatte er ihn in die Lehre zu einem Maler gegeben, der aber nicht so hervorragend war. Aber wenn man nimmt, was in dem Giovanni Santi, dem Vater Raffaels, war, so hat man einen eigentümlichen Ein­druck, der sich noch erhöht, wenn man die Sache in der Akasha­Chronik betrachtet. Da zeigt sich, daß das, was lebte in der Seele des Giovanni Santi, viel mehr ist, als eigentlich aus ihm herausgekommen war, und man muß der Herzogin recht geben, die bei seinem Tode sagte: Ein Mensch voll Licht und Recht und allerbestem Glauben ist gestorben. Als Okkultist könnte man sagen, daß in ihm ein viel größerer

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Maler gelebt hat, als äußerlich zur Geltung gekommen war. Aber die äußeren Fähigkeiten, die von den physischen und Äther-Organen abhängen, die waren bei Giovanni Santi nicht entwickelt. Das war die Ursache, weshalb die Fähigkeiten seiner Seele sich nicht durch­ringen konnten. Aber in seiner Seele lebte wirklich ein großer Maler.

Da stirbt er, als Raffael elf Jahre alt war. Wenn man nun verfolgt, was da vorliegt, so wird zur Wahrheit, daß der Mensch zwar den Leib verliert, aber das, was seine Sehnsucht war, was die Aspirationen, die Impulse seiner Seele waren, das lebt sich aus, wirkt und wirkt in dem, womit es am meisten zusammenhängt.

Zeiten werden kommen, wo man die Geisteswissenschaft fruchtbar machen wird für das Leben, wie diejenigen sie schon fruchtbar machen können, welche sie lebensvoll beherrschen und nicht bloß theoretisch. Ich darf hier etwas einfügen, bevor ich die Sache mit Raffael fortsetze. Ich spreche so, daß ich in meinen Beispielen nicht etwa Spekulationen gebe. Sie sind im Gegenteil immer aus dem Leben genommen. Nehmen wir nun an, ich hätte Kinder zu erziehen. Wer achtgibt auf die Fähig­keiten, der merkt bei jedem Kinde das Individuelle heraus. Solche Erfahrungen kann man aber nur machen, wenn man Kinder erzieht. Wenn nun bei einem Kinde die Mutter oder der Vater früh gestorben ist und nur der eine Teil des Elternpaares noch lebt, da kann man das Folgende erleben. Es zeigen sich da bei dem Kinde gewisse Nei­gungen, die vorher nicht vorhanden waren und die man sich somit nicht erklären kann. Als Erzieher muß man sich aber mit ihnen be­schäftigen. Der Erzieher täte nun gut, wenn er sich sagte: Das, was in den geisteswissenschaftlichen Büchern steht, betrachten die Men­schen zwar als eine Narrheit. Ich will es aber nicht von vornherein als Narrheit betrachten. Ich will es untersuchen auf seine Richtigkeit. Dann wird er bald sagen können: Ich finde, daß da Kräfte sind, die früher schon vorhanden waren, und wieder andere, die hineinwirken in diejenigen, welche früher schon da waren. Nehmen wir an, der Vater sei durch die Pforte des Todes gegangen, und jetzt kommen mit einer gewissen Stärke bei dem Kinde Eigenschaften heraus, welche in ihm gelebt haben. Macht man diese Voraussetzung und betrachtet man die Sache in dieser Weise, so wendet man die Erkenntnisse, die uns

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durch die Geisteswissenschaft zufließen, in vernünftiger Weise auf das Leben an und kommt dann, wie man bald finden wird, zurecht im Leben, während man vorher nicht zurechtgekommen ist. Der durch die Pforte des Todes Gegangene bleibt also verbunden mit seinen Kräften mit denjenigen, mit welchen er im Leben zusammenhing.

Die Menschen beobachten nur nicht genau genug, sonst würden sie häufiger sehen, daß Kinder bis zum Tode ihrer Eltern ganz anders sind als nach demselben. Man lenkt nur nicht den Blick genügend auf die Sachen; aber die Zeit wird noch kommen, wo man das auch noch tun wird.

Wenn man den Blick auf Raffael richtet und sich sagt: Giovanni Santi, der Vater, starb, als Raffael elf Jahre alt war; er hatte zwar keine besondere Vollendung als Maler erreichen können, aber seine kraftvolle Phantasie blieb ihm, und diese entwickelte sich nun hinein in die Seele des Raffael - so sagen wir nichts Trivalisierendes und Verkleinerndes für Raffael, wenn wir den Blick hinrichten auf Raf­faels Seele und sagen: Giovanni Santi lebte in Raffael weiter, und daher erscheint dieser uns, als ob er eine voll abgeschlossene Persön­lichkeit wäre, er erscheint uns so, als wenn er keiner Steigerung mehr fähig wäre, weil ein Toter seinen Arbeiten Leben gibt.

Jetzt begreift man, da in dem Menschen Raffael, in seiner eigenen Seele, wiedererstanden sind die energischen Kräfte des Johannes des Täufers und nun außerdem auch leben in seiner Seele die energischen Kräfte von Giovanni Santi, daß diese beiden Dinge zusammen das Ergebnis in der Seele des Raffael zeitigen konnten, was als Raffael vor uns steht.

Gewiß, heute kann über so außerordentliche Dinge noch nicht öffentlich geredet werden. In fünfzig Jahren wird das vielleicht schon möglich sein, weil die Entwickelung schnell voranschreitet und die bisherige Anschauung rasch ihrer Dekadenz entgegeneilt.

Derjenige, der also eingeht auf solche Dinge, sieht, daß wir in der Geisteswissenschaft die Aufgabe haben, das Leben von einer neuen Seite überall zu betrachten. Wie man in der Zukunft heilen wird in der Form, wie ich es angedeutet habe, so wird man die eigentümlichen Wunder des Lebens betrachten, indem man zu Hilfe ziehen wird die

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Taten, die aus der Geisterwelt von den Menschen noch kommen, welche durch die Pforte des Todes gegangen sind.

Zwei Dinge möchte ich noch vor Ihre Seele hinstellen, indem ich von den Rätseln des Lebens spreche. Das ist etwas, in dem uns so recht der Sinn des Lebens aufgehen kann. Es ist, wenn wir die Er­scheinung Raffaels ansehen, das Schicksal, dem seine Werke entgegen­gehen. Der, welcher heute die Bilder in Reproduktion ansieht, sieht nicht das, was Raffael gemalt hat, auch der, welcher nach Dresden oder Rom geht, nicht, denn diese Bilder sind auch schon so verdorben, daß man nicht sagen kann, daß man die Bilder von Raffael noch sieht. Leicht ist es ins Auge zu fassen, was aus denselben werden wird, wenn man das Schicksal des Abendmahl-Gemäldes des Leonardo da Vinci betrachtet, welches immer mehr und mehr dem Verfall entgegengeht. Wer sich dieses überlegt, der weiß, daß diese Bilder mit der Zeit pul­verisiert werden. Er wird die traurige Überzeugung bekommen, daß alles das verschwinden wird, was die großen Menschen einst geschaf­fen haben. Da also diese Dinge verschwinden werden, so könnten wir uns fragen: Welcher Sinn liegt denn in dem Entstehen und Vergehen derselben? Wir werden sehen, daß im Grunde genommen nichts bleibt von dem, was von der einzelnen Persönlichkeit geschaffen worden ist.

Und noch eine andere Tatsache möchte ich vor Ihre Seele hinstellen, und das ist diese: Wenn wir heute mit der Geisteswissenschaft als Instrument das Christentum begreifen wollen und begreifen sollen

- es wurde von mir schon früher ausgeführt, wie wir ins Auge fassen das Christentum als einen Impuls, der wirkt für die Zukunft -, dann brauchen wir gewisse Grundbegriffe, durch die wir wissen, wie der Christus-Impuls weiterwirken wird. Das brauchen wir. Nun ist es merkwürdig, daß wir vor der Tatsache hier stehen, daß wir auf ein Werden des Christentums hinweisen müssen; aber wir brauchen dazu die Geisteswissenschaft. Nun gibt es auch eine Persönlichkeit, bei der wir die geisteswissenschaftlichen Wahrheiten in einer eigenartigen Form finden, und zwar in kurzen Sätzen dargestellt. Wenn wir heran­gehen an diese Persönlichkeit, so sehen wir, daß wir bei ihr manches finden können, was bedeutsam ist für die Geisteswissenschaft. Diese

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Persönlichkeit ist der deutsche Dichter Novalis. Wenn wir seine Schriften durchsehen, so finden wir, daß er die Zukunft des Christen­tums aus dessen okkulten Wahrheiten heraus schildert. Die Geistes­wissenschaft lehrt uns, daß wir es dabei mit derselben Individualität zu tun haben wie bei Raffael, derselben Individualität wie bei Johan­nes dem Täufer und Elias.

Wieder haben wir da eine Vorschau der Fortentwickelung des Christentums. Das ist eine Tatsache okkulter Art, denn niemand kommt durch Schlüsse zu diesem Resultat.

Stellen wir die einzelnen Bilder nochmals zusammen. Wir haben da das Tragische des Unterganges in den Geschöpfen und in den Werken der einzelnen Personen. Raffael tritt auf und läßt sein interkonfessio­nelles Christentum hineinströmen in die Menschenseelen. Aber eine Ahnung geht uns auf, daß sein Schaffen zugrunde gehen, seine Werke einst pulverisiert sein werden. Es tritt wieder auf Novalis, um die Lösung der Aufgabe von neuem in Angriff zu nehmen, um fortzu­setzen das, was er begonnen, was er gearbeitet hat.

Jetzt erscheint uns der Gedanke nicht mehr so tragisch, jetzt sehen wir, daß, wie die Persönlichkeit in ihren Hüllen zerrinnt, auch die Werke zerrinnen, daß aber der Wesenskern weiterlebt und weiterführt das, was er begonnen hat. Da werden wir hingewiesen also wieder zur Individualität. Aber weil wir energisch die abendländische Welt­anschauung und damit die Persönlichkeit ins Auge gefaßt haben, wird uns erst die Bedeutung der Individualität so recht klar. So sehen wir, wie bedeutsam es ist, daß das Morgenland auf die Individualität das Auge gerichtet hat, auf die Bodhisattvas, die durch viele Inkarnatio­nen hindurchgegangen sind, und wie bedeutsam es ist, daß das Abend­land zunächst das Auge gerichtet hat auf die Betrachtung der einzelnen Persönlichkeit, um dann erst dazu zu kommen, zu erfassen, was die Individualität ist.

Nun glaube ich, daß es viele Theosophen gibt, die sagen werden:

Nun, das müssen wir eben glauben, wenn so von Elias, von Johannes dem Täufer, von Raffael und Novalis gesprochen wird. Für manche wird es in der Hauptsache auch so sein, daß sie es glauben müssen, denn es ist ebenso wie mit der Tatsache, daß es viele glauben müssen,

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wenn von wissenschaftlicher Seite behauptet wird, daß dieses oder jenes Spektrum sich zeigt, wenn dieses oder jenes Metall oder wenn zum Beispiel der Orionnebel vermittelst der Spektralanalyse unter­sucht wird. Einige haben es gewiß untersucht, aber die andern, die Mehrzahl, die glauben es. Darauf kommt es aber im Grunde gar nicht an. Es kommt darauf an, daß die Geisteswissenschaft am Anfange ihrer Entwickelung steht und immer mehr die Seelen dazu bringen wird, solche Dinge, wie sie heute gesagt worden sind, selber einzu­sehen. In dieser Beziehung wird die Geisteswissenschaft sehr rasch die Menschheitsevolution weiterbringen.

Ich habe einiges, was sich als okkulte Gesichtspunkte über das Leben ergeben hat, angeführt. Nehmen Sie nur die drei Gesichtspunkte, die wir ins Auge gefaßt haben, so sehen Sie, wie man dadurch, daß man sieht, wie das Leben zum Erdgeiste steht, der Heilkunst eine neue Richtung geben kann, ihr neue Impulse zuführt; wie man Raffael nicht so betrachtet, daß die Persönlichkeit des Raffael allein es ist, welche wirksam war, sondern daß auch die Kräfte da hineinragten, die vom Vater stammen, und wie man so diese Persönlichkeit erst recht wird verstehen können. Das dritte ist, daß wir Kinder erziehen können, wenn wir wissen, wie die Sache liegt mit den Kräften, die in sie hineinspielen. Äußerlich geben die Menschen durchaus zu, daß sie selber umringt sind von einer Unzahl von Kräften, die fortwährend auf sie einwirken, daß der Mensch von der Luft, von der Temperatur, von der Umgebung und den anderen Verhältnissen des Klimas, in denen er lebt, fortwährend beeinflußt wird. Und daß seine Freiheit dadurch nicht beeinträchtigt ist, das weiß jeder Mensch. Das sind die Faktoren, mit denen wir schon heute rechnen. Daß aber der Mensch fortwährend umgeben ist von geistigen Kräften und daß man diese geistigen Kräfte zu untersuchen hat, das wird die Menschheit durch die Geisteswissenschaft lernen. Sie wird rechnen lernen mit diesen Kräften, und sie wird mit ihnen zu rechnen haben in wichtigen Fällen von Gesundheit und Krankheit, von Erziehung und Leben. Sie wird solcher Einflüsse, wie sie aus der Umgebung, aus der übersinnlichen Welt kommen, eingedenk sein müssen, wenn zum Beispiel einem ein Freund dahingestorben ist und er sich dann trägt mit diesen oder jenen

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Sympathien und Ideen, die dem Dahingestorbenen eigen waren. Das, was jetzt gesagt worden ist, bezieht sich nicht bloß auf Kinder, son­dern auf alle Lebensalter. Die Menschen brauchen durchaus nicht mit ihrem Oberbewußtsein zu wissen, wie die Kräfte der übersinnlichen Welt tätig sind. Aber ihre gesamte Gemütsverfassung kann es uns zeigen, ja ihre Gesundheits- oder Krankheitszustände können es uns zeigen.

Und noch viel weiter gehen die Dinge, die den Zusammenhang des Menschen in bezug auf das Leben auf dem physischen Plan mit den Tatsachen der übersinnlichen Welt bedeuten. Ich möchte eine einfache Tatsache vor Sie hinstellen, die Ihnen zeigen wird, wie dieser Zu-sammenhang ist, eine Tatsache, die nicht bloß ausgedacht ist, sondern in vielen Fällen beobachtet wurde: Ein Mensch merkt in einer be­stimmten Zeit, daß er Empfindungen hat, die er früher nicht hatte, daß Sympathien und Antipathien auftreten bei ihm, die er früher nicht kannte, daß ihm das oder jenes leicht gelingt, was ihm früher nur schwer gelungen ist. Er kann sich das nicht erklären. Seine Um­gebung kann es ihm nicht erklären. Die Tatsachen des Lebens selber geben ihm auch nicht die Erklärung. Bei einem Menschen, bei welchem wir solches beobachtet haben, wird man erfahren können, wenn man aufmerksam zu Werke geht - man muß allerdings auch einen Blick für solche Dinge haben -, daß er jetzt Dinge weiß und kann, über die er früher nichts gewußt, die er früher nicht gekannt hat. Geht man der Sache weiter nach, wenn man durch die Lehren des Okkultis­mus und der Geisteswissenschaft durchgegangen ist, so wird man von ihm ungefähr folgendes hören können: Ich komme mir jetzt ganz merkwürdig vor. Ich träume jetzt etwas von einer Persönlichkeit, die ich nie im Leben gesehen habe. Sie spielt in meine Träume hinein, ob­gleich ich mich nie mit ihr beschäftigte. - Verfolgt man die Sache nun, so wird man finden, daß er bisher keine Veranlassung gehabt hat, sich mit ihr zu beschäftigen. Nun starb aber die Person, und nun erst tritt sie an ihn heran in der geistigen Welt. Als sie ihm genügend nahe gekommen war, zeigte sie sich ihm noch als Traumgestalt in einem Traume, der mehr war als Traum. Von dieser Person, die er vorher im Leben nicht gekannt hat, die aber, nachdem sie gestorben war,

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Einfluß auf sein Leben gewann, kamen die Impulse, die er vorher nicht gehabt hatte.

Es kommt nicht darauf an, zu sagen: Es ist ja nur ein Traum, der hier vorliegt. Es kommt vielmehr auf das an, was er enthält. Es kann etwas sein, was zwar in Traumform erscheint, aber der Wirklichkeit viel näher ist als das äußere Bewußtsein. Kommt es denn etwa darauf an, ob Edison im Traume oder bei hellem Tagbewußtsein eine Er­findung machte? Es kommt darauf an, ob die Erfindung wahr, brauch­bar ist. So kommt es auch nicht darauf an, ob ein Erlebnis im Traum-bewußtsein oder im äußeren physischen Bewußtsein stattfindet, son­dern darauf, ob das Erlebnis wahr oder nicht wahr ist.

Fassen wir zusammen, was wir uns klarmachen konnten aus dem, was jetzt gesprochen worden ist, so können wir sagen: Wir konnten uns klarmachen, daß, wenn wir die okkulten Erkenntnisse zugrunde legen, das Leben sich uns in einem ganz anderen Zusammenhang dar­stellt, als wenn wir diese okkulten Erkenntnisse nicht haben. In dieser Beziehung sind die in materialistischer Denkweise gescheiten Leute wirklich recht kuriose Kinder. Man kann sich jede Stunde davon überzeugen. Als ich heute mit der Bahn zu Ihnen hierher fuhr, hatte ich eine Broschüre zur Hand genommen, die ein deutscher Physiologe geschrieben hat und die jetzt in zweiter Auflage erschienen ist. Darin sagt er, daß man nicht sprechen könne von einer aktiven Aufmerk­samkeit in der Seele, von einem Hinlenken der Seele auf etwas, son­dern daß alles abhänge von der Funktion der einzelnen Gehirngan­glien, und weil da von den Gedanken die Bahnen gemacht werden müssen, sei alles davon abhängig, wie die einzelnen Gehirnzellen funk­tionieren. Keine Intensität der Seele könne da eingreifen, es hinge eben lediglich davon ab, ob diese oder jene Verbindungsfäden in unserem Gehirn gezogen sind oder nicht gezogen sind. Es sind wirklich rechte Kinder, diese materialistischen Gelehrten. Wenn man so etwas in die Hand bekommt, muß man sich folgendes denken: Arglos sind diese Herren, denn in derselben Broschüre findet sich der Satz, daß man in neuester Zeit gefeiert habe den hundertsten Geburtstag von Darwin und daß dabei Berufene und Unberufene gesprochen hätten. Natür­lich hält sich der Verfasser der Broschüre für einen ganz besonders

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Berufenen. Und dann kommt die ganze Gehirnzellen-Theorie und ihre Verwendung. Wie steht es aber mit der Logik der Sache? Wenn man gewohnt ist, die Dinge in Wahrheit zu betrachten und dann ins Auge faßt, was diese großen Kinder den Menschen über den Sinn des Lebens bieten, da kommt man auf den Gedanken, daß es eigentlich dasselbe ist, wie wenn jemand sagen würde, es sei einfach Unsinn, daß irgend­einmal ein menschlicher Wille eingegriffen hätte in die Art und Weise, wie über die Fläche Europas hin die Eisenbahnen gehen. Denn es ist doch ganz dasselbe, wenn man in einem gewissen Zeitpunkte alle Lokomotiven in ihren Teilen und Funkitonen ins Auge fassen und sagen würde: Die Lokomotiven sind soundso eingerichtet und fahren nach soundso vielen Richtungen, es begegnen sich aber die verschie­denen Richtungen an gewissen Knotenpunkten und somit kann man alle Lokomotiven nach allen Richtungen hin ableiten. - Was dadurch geschehen würde, wäre ein großes Durcheinanderwirbeln der Loko­motiven und Züge auf den europäischen Eisenbahnen. Ebensowenig aber kann man erklären, daß das, was in den Gehirnzellen sich abspielt als menschliches Gedankenleben, lediglich von der Beschaffenheit der Zellen abhängt. Wenn solche Gelehrten dann einmal unvorbereitet einen Vortrag über Okkultismus oder Geisteswissenschaft zu hören bekommen, so sehen sie das, was da gesagt wird, als den heillosesten Unsinn an. Sie sind fest überzeugt, daß niemals ein Wille eingreifen kann in die Art und Weise, wie die europäischen Lokomotiven gehen, sondern daß es abhängt davon, wie sie geheizt und gerichtet sind.

So sehen wir, wie wir in der Gegenwart vor der Frage nach dem Sinn des Lebens stehen. Auf der einen Seite wird sie in uns stark ver­dunkelt, auf der anderen Seite drängen sich uns aber auf die okkulten Tatsachen. Wenn wir zusammenfassen, was heute mitgeteilt worden ist, dann werden wir mit dieser Grundlage die Frage vor unsere Seele so hinstellen, wie man sie sich im Okkultismus stellen kann, nämlich:

Welches ist der Sinn des Lebens und des Daseins, insbesondere des menschlichen Lebens und des menschlichen Daseins?

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ZWEITER VORTRAG Kopenhagen, 24. Mai 1912

Es wäre ein schwerer Irrtum, wenn man glauben wollte, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens und des Daseins einfach so aufgeworfen werden könnte, daß man sagt: Welches ist der Sinn des Lebens und des Daseins? und daß irgend jemand dann eine einfache Antwort geben könnte in ein paar Worten, indem er vielleicht sagt: Dieses ist der Sinn des Lebens und des Daseins oder jenes. Auf diese Art würde niemals eine wirkliche Empfindung entstehen können, niemals eine Vorstellung zustande kommen von dem Großartigen, Majestätischen und Gewaltigen, das sich verbirgt hinter dieser Frage nach dem Sinn des Lebens.

Allerdings, man könnte auch eine abstrakte Antwort geben, und Sie werden durchfühlen, durch das, was ich nachher werde zu sagen haben, wie wenig befriedigend eine solche abstrakte Antwort wäre. Man könnte sagen: Der Sinn des Lebens besteht eigentlich darinnen, daß diejenigen geistigen Wesenheiten, zu denen wir hinaufschauen als göttlichen Wesenheiten, den Menschen allmählich dazu gelangen lassen, mitzuarbeiten an der Entwickelung des Daseins, so daß der Mensch gleichsam im Beginne seiner Entwickelung unvollkommen wäre, nicht mitarbeiten könnte an dem ganzen Bau des Weltalls und im Laufe der Entwickelung allmählich immer mehr und mehr heran­gezogen würde, an dieser Entwickelung mitzuarbeiten.

Das wäre aber eine abstrakte Antwort, die uns außerordentlich wenig sagen wird. Wir müssen vielmehr, um eine Antwort auf eine so bedeutungsvolle Frage auch nur zu ahnen, uns vertiefen in gewisse Geheimnisse des Daseins und des Lebens. Da wollen wir von den Be­trachtungen ausgehen, die sich uns auf der Grundlage derjenigen er­geben, die wir schon gestern angestellt haben. Wir wollen uns heute sozusagen nur noch etwas intensiver hineinarbeiten in diese Geheimnisse

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des Daseins. Wir können uns eigentlich nicht bloß daran genügen lassen, wenn wir die Welt um uns herum betrachten, Entstehen und Vergehen zu sehen. Wir haben schon gestern darauf aufmerksam ge­macht, wie rätselvoll dieses Entstehen und Vergehen an unsere Seele herankommt, wenn wir uns fragen nach dem Sinn, der da ist in all diesem Entstehen und Vergehen. Aber es gibt etwas, was uns eine noch schwierigere Rätselfrage vorlegt.

Wenn wir uns dieses Entstehen und Vergehen einmal genauer be­trachten, wird die Sache noch rätselvoller. Wir sehen dann schon im Entstehen sozusagen etwas höchst Merkwürdiges, etwas höchst Son­derbares, das uns tragisch, traurig stimmen könnte, wenn wir es nur oberflächlich betrachten. Tun wir einen Blick mit den Erkenntnissen, die wir haben aus der physischen Welt, sehen wir in die Weiten des Weltmeeres oder in die Weiten irgendeiner anderen Daseinsform, so wissen wir, daß unzählige Lebenskeime entstehen und daß wenige von diesen Lebenskeimen wirklich zu voll ausgebildeten Wesen wer­den. Denken Sie sich nur einmal, wieviel Keime von verschiedenen Fischen alljährlich im Meere abgelegt werden, die nicht ihr Ziel, näm­lich ausgebildete Wesen zu werden, erreichen, sondern vorher wieder verschwinden, und wie nur eine kleine Anzahl dieser Keime das Ziel, ausgebildete Wesen zu werden, erreichen kann!

Gestern haben wir den Blick hingewendet auf die Tatsache, daß alles, was entsteht, sozusagen wieder zugrunde geht. Nun aber drängt sich uns die andere Tatsache auf, daß aus einem unbegrenzten Reiche unermeßlicher Möglichkeiten nur wenige Wirklichkeiten auftauchen, daß also schon im Entstehen etwas Rätselvolles liegt, indem das, was da scheint sich zum Dasein zu ringen, gar nicht einmal so recht zur Entstehung kommen kann.

Betrachten wir einen konkreten Fall. Wenn wir ein Ackerfeld be­säen, auf dem meinetwillen Weizen oder Korn gedeiht, da sehen wir hervorsprießen eine große Anzahl Weizen- oder Kornähren. Wir wis­sen ganz gut, daß aus jedem einzelnen Korn dieser Kornähren wieder eine neue Weizen- oder Kornähre entstehen kann. Und nun fragen wir uns: Wie viele der Körner der Ähren, die wir da überschauen auf dem Saatfelde, erreichen dieses Ziel? Lassen wir einmal den Gedanken

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schweifen zu den unendlich vielen Körnern, die einen ganz anderen Weg gehen als den, der das Ziel der Körner ist, nämlich wiederum zur Ähre zu werden; da haben wir, was wir bei allen Lebenskeimen sehen, in einem konkreten Falle vor uns. So daß wir sagen müssen: Das Lebendige, das uns umgibt, entsteht schon als solches nur dadurch, daß es in seinem Entstehen unermeßliche Lebenskeime wie in den Abgrund des Ziellosen hinunterzudrängen scheint.

Halten wir das fest, halten wir fest, daß rund in unserer Umgebung das, was da ist, sich auf einem Unterboden der reichsten, unermeßlich reichen Möglichkeiten erhebt, die nie zu Wirklichkeiten werden im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Halten wir fest, daß auf einem sol­chen Boden der Möglichkeiten sich erheben die Wirklichkeiten, und betrachten wir es als die eine Seite des rätselvollen Lebensdaseins, die sich unserem Auge darbietet.

Jetzt wollen wir einmal nach der anderen Seite ausblicken, die auch da ist, die aber allerdings nur durch Vertiefung in die okkulten Wahr­heiten uns bewußt werden kann. Die andere Seite ist diese, die sich dem Menschen darbietet, wenn er den Weg zur okkulten Erkenntnis geht. Dieser Weg zur okkulten Erkenntnis wird zuweilen, wie Sie wissen, als etwas Gefährliches geschildert. Und warum? Einfach aus dem Grunde, weil wir, wenn wir den Pfad zur okkulten Erkenntnis gehen wollen, eintreten in ein Reich, das keineswegs so ohne weiteres, so, wie es sich uns darbietet, hingenommen werden darf.

Nehmen wir an, ein Mensch gehe mit den Mitteln, die Ihnen bekannt sind und die Sie finden in meinem Buche: «Wie erlangt man Erkennt­nis der höheren Welten?» den okkulten Pfad und käme so weit, daß sich aus den Untergründen seiner Seele erhöbe dasjenige, was wir Imaginationen nennen. Wir wissen, was das für Gebilde sind. Es sind visionäre Bilder, die dem Menschen, wenn er den okkulten Pfad ge­gangen ist, als eine ganz neue Welt gegenübertreten. Wenn ein Mensch wirklich ernsthaft diesen okkulten Pfad geht, so gelangt er dazu, daß sich die ganze physische Welt, die um ihn herum ist, verdunkelt. An Stelle dieser physischen Welt tritt eine Welt auf- und abwogender Bilder auf, auf- und abwogender Eindrücke tonartiger, geruchs­artiger, geschmacksartiger, lichtartiger Natur. Das dringt und wirbelt

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in unseren okkulten Gesichtskreis herein, und wir machen die Erfah­rungen, die wir nennen können die Erfahrungen der imaginativen Visionen, die uns von allen Seiten dann umgeben, die unsere Welt sind, in der wir mit unserer Seele leben und weben.

Nehmen wir nun an, ein Mensch würde sich verlassen darauf, daß er in dieser visionären Welt, in die er auf diese Art eintritt, eine volle Wirklichkeit vor sich hätte; dieser Mensch würde sich in einem schweren, sehr schweren Irrtum befinden. Und hier stehen wir an dem Punkte, wo die Gefahr beginnt. Unermeßlich ist das Reich des visio­nären Lebens, solange wir uns nicht von der Imagination, die uns eine visionäre Welt vorzaubert, erheben zu der Inspiration. Diese erst sagt uns: Nach diesem einen Bilde mußt du dich hinwenden, dahin mußt du deinen okkulten Blick richten, dann wirst du eine Wahrheit er­leben, und unzählige andere Bilder, die rings um dieses herum sind, müssen verschwinden in ein wesenloses Nichts. Dann wird dieses eine Bild aus unermeßlich vielen hervorgehen und sich dir bewähren als ein Ausdruck der Wahrheit.

Also, wir treten, wenn wir uns auf dem okkulten Pfade befinden, in ein Reich unermeßlicher Visionsmög­lichkeiten und müssen uns da­zu entwickeln, sozusagen herauszugliedern, auszuwählen aus diesem Reiche der unermeßlichen Visionsmöglichkeiten diejenigen, welche wirklich eine geistige Realität zum Ausdrucke bringen. Es gibt keine andere Möglichkeit der Sicherung als die eben angedeutete, denn wenn jemand käme und sagte: Man tritt also ein in ein Reich unermeßlich reicher Visionen, welche sind wahr, welche sind falsch? Kannst du mir nicht eine Regel geben, wodurch ich die wahren von den falschen unterscheide? - so würde diese Fragen kein Okkultist mit einer Regel beantworten. Jeder Okkultist müßte antworten: Wenn du unter­scheiden lernen willst, dann mußt du dich weiterentwickeln. Dann aber tritt auch für dich die Möglichkeit ein, daß du den Blick hinrich­test auf dasjenige, was deinem Anblicke standhält. Denn diejenigen, welche standhalten, sind solche, die auf deinem Standpunkte sind, diejenigen aber, welche von dir ausgelöscht werden, sind bloß Nebenbilder.

Die Gefahr liegt nun darin, daß viele Menschen sich außerordentlich

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wohl und wohlig befinden in dem Reiche der Visionen und, wenn sie eine visionäre Welt vor sich haben, gar nicht weiter sich entwickeln, gar nicht weiterstreben wollen, da ihnen diese visionäre Welt außer­ordentlich gefällt. Man kann sich nicht zur Wahrheit entwickeln im geistigen Leben, wenn man sich dieser Seligkeit, sozusagen dem Schwelgen in der visionären Welt, einfach hingibt. Man kann sich dann nicht erheben zur Realität, zur Wahrheit. Man muß mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, weiterstreben. Dann sondert sich wirklich aus der unermeßlichen Möglichkeit der Visionen das Geistig-Wirkliche heraus.

Und nun vergleichen Sie die zwei Dinge, die ich Ihnen charakte­risiert habe. Auf der einen Seite draußen die Welt, die unzählige Möglichkeiten der Lebenskeime aus sich hervorgehen und nur wenige davon an ihr Ziel gelangen läßt, und auf der anderen Seite die innere Welt, zu der uns der Erkenntnispfad führt: eine unermeßliche Welt von Visionen, zu vergleichen mit der Welt der Möglichkeiten der Lebenskeime. Wenige davon sind solche Visionen, zu denen wir zu­letzt kommen, die zu vergleichen sind mit dem, was aus den vielen Lebenskeimen als das wenige wirkliche Leben sich erhebt. Diese zwei Dinge entsprechen einander vollständig in der Welt, diese zwei Dinge gehören durchaus in der Welt zusammen.

Nun aber wollen wir den Gedanken ein wenig fortsetzen. Wir wollen fragen: Hat derjenige Mensch recht, der nun kleinmütig und traurig ist über das Leben und das Dasein, weil dieses Leben draußen unzählige Keime sozusagen nur halb entstehen und nur wenige davon ans Ziel gelangen läßt? Haben wir die Möglichkeit, zu trauern dar­über, haben wir die Möglichkeit zu sagen: Draußen ist ein wütender Kampf ums Dasein, dem nur wenige zufällig entkommen? Betrachten Sie unser konkretes Beispiel von dem Saatfelde, dem Korn- oder Weizenfelde. Nehmen wir an, es würden alle Weizenkörner, welche entstehen, wirklich an ihr Ziel gelangen und wieder Ähren werden. Was wäre da die Folge? Es wäre einfach die Welt nicht möglich, denn die Wesenheiten, die sich vom Korn oder Weizen ernähren müssen, hätten keine Nahrung! Damit diejenigen Wesenheiten, die wir nur allzugut kennen, hinaufkommen konnten auf die jetzige Stufe der

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Entwickelung, mußten hinter ihrem Ziele zurückbleiben die Wesen­heiten, die wir eben angeführt haben, die sozusagen in den Abgrund hinuntersinken müssen gegenüber der Sphäre ihres eigenen Zieles. Wir haben aber trotzdem keinen Grund zur Trauer, wenn wir nicht sagen wollen, es liegt uns überhaupt nichts an der Welt; denn wenn uns an der Welt etwas liegt, wenn uns daran liegt, daß sie besteht -und die Welt besteht nur aus Wesenheiten -, so müssen diese Wesen­heiten sich ernähren können. Wenn sie sich ernähren sollen, dann müssen andere Wesenheiten sich opfern. Daher können auch nur wenige von den Lebenskeimen wirklich an ihr Ziel gelangen. Die anderen müssen andere Wege gehen. Sie müssen deshalb andere Wege gehen, weil die Welt bestehen soll, weil wirklich nur dadurch die Welt weise eingerichtet sein kann.

Wir sind also nur dadurch umgeben von einer Welt, wie wir sie haben, daß sich gewisse Wesenheiten opfern, bevor sie zu ihrem Ziele gelangen. Wenn wir den Weg der sich opfernden verfolgen, so finden wir sie in den anderen Wesen, die übergeordnet sind, in den Wesen, die dieses Opfer brauchen, damit sie da sein können. Da haben wir sozusagen an einer Ecke erfaßt den Sinn auch des scheinbar so rätselvollen Daseins, das entstehen und auch in die Vernichtung hinuntersinken kann. Und dennoch haben wir entdeckt, daß gerade darin sich Weisheit im Dasein enthüllt, also Sinn enthüllt, und daß nur unser Nachdenken zu kurz ist, wenn wir jammern darüber, daß so vieles scheinbar ziellos in den Abgrund hinuntersinken muß.

Jetzt gehen wir wieder zu der anderen, zu der geistigen Seite. Nehmen wir einmal das, was wir die unermeßliche Welt der Visionen genannt haben. Da müssen wir allerdings darauf eingehen, was diese unermeßliche Welt der Visionen eigentlich bedeutet. Sie ist nicht ein­fach in dem Sinne falsch, diese unermeßliche Welt der Visionen, daß man sagt: Das ist falsch, was da hinuntersinkt, und das, was da zuletzt bleibt, ist richtig. Nicht in dem Sinne ist diese Welt falsch. Das ist ein ebenso kurzsichtiges Urteil, wie wenn man glaubte, das wären keine Lebenskeime, die nicht zum Leben kommen, und das wären keine richtigen Imaginationen, die für uns im Unermeßlichen untergehen. Geradeso, wie es uns im äußeren, realen Leben entgegentritt, daß nur

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wenige Wesen ihr Ziel erreichen, so kann auch von dem unermeß­lichen Geistesleben nur weniges in unseren Horizont hineintreten. Und warum?

Diese Frage nach dem Warum wird außerordentlich lehrreich für uns sein. Nehmen wir an, der Mensch würde sich den in unermeßlicher Mannigfaltigkeit in ihn einströmenden Visionen einfach hingeben. Wem einmal die visionäre Welt eröffnet ist, in den strömen fort-während Visionen ein, da kommt und geht eine nach der anderen und wogt und webt eine in der anderen. Man kann sich gar nicht erwehren der Bilder und Eindrücke, die da im Geistigen, auf- und abwogend, uns umpulsen. Aber wenn wir genau zusehen, dann finden wir bei so jemandem, der sich einfach dieser visionären Welt hingibt, etwas höchst Eigentümliches. Erstens finden wir, wenn uns so jemand ent­gegentritt, der sich nicht weiterentwickeln, sondern beim Visionären stehenbleiben will, daß er dieses oder jenes erfahren, daß er dieses oder jenes Erlebnis gehabt hat. Gut, sagen wir, du hast geistige Er­lebnisse gehabt, du hast das erlebt, für dich sind es Wirklichkeiten. Schön, das ist eine Kundgebung aus der geistigen Welt. Aber wir werden sehr bald merken, daß, wenn ein anderer kommt und über dieselbe Sache seine Visionen uns mitteilt und er auch nicht weiter ist als der erstere, seine Visionen über dieselbe Sache eine ganz andere Gestalt haben, so daß zwei verschiedene Aussagen vorliegen können über dieselbe Sache. Ja, wir werden noch schlimmere Erfahrungen machen können. Wir werden finden, daß solche Menschen, welche stehenbleiben wollen bei der bloß visionären Welt, selber über ein und dieselbe Sache zu verschiedenen Zeiten verschiedene Aussagen machen, einmal dieses erzählen, das andere Mal jenes. Es ist eben schlimm, daß Visionäre gewöhnlich ein schlechtes Gedächtnis haben und gewöhnlich nicht mehr wissen, was sie das erstemal erzählt haben. Sie sind sich nicht bewußt dessen, was sie da erzählt haben.

Kurz, wir haben es zu tun mit einer unermeßlichen Mannigfaltig­keit der Erscheinungen. Wollten wir als Menschen mit unserem jetzigen Erden-Ich dies alles, was sich uns in der visionären Welt darbietet, richtig beurteilen, dann müßten wir unendlich vieles ver­gleichen. Dabei würde aber gar nichts herauskommen. Als Grundsatz

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muß gelten, daß zunächst diese visionäre Welt allerdings eine Offen­barung des Geistes ist, daß sie aber als Aussage zunächst gar nichts wert ist. Mögen noch so viele Visionen an uns herankommen - sie sind Kundgebungen der geistigen Welt, aber Wahrheiten sind es nicht. Wenn sie Wahrheiten werden sollen, müßte man erst die ver­schiedenen Visionen des einzelnen und mannigfaltiger anderer Men­schen miteinander vergleichen. Das kann aber nicht sein. Ein Ersatz dafür wird geschaffen durch die Weiterentwickelung nach der Inspi­ration hin. Dann aber tritt das Folgende auf: Wir erfahren dann, daß, wenn die Menschen zu dem Standpunkte der Inspiration sich erheben, bei allen die Aussagen gleich sind. Da gibt es keine Verschiedenheiten mehr, nichts, was für den einen sich anders darstellt als für den an­deren. Da sind die Erfahrungen bei allen, die die gleiche Entwicke­lungsstufe erreicht haben, tatsächlich gleich.

Nun gehen wir zu der anderen Frage, die ihr auch in gewisser Weise entspricht: zu dem, was sich uns in der äußeren Welt darge­boten hat. Da werden die wenigen ans Ziel gelangten Lebenskeime in Vergleich gesetzt mit den vielen, die in den Abgrund schon hinuntergesunken sind. Wir wissen, damit die äußere Welt bestehen kann, ist dieser Untergang notwendig. Wie ist es aber mit der geistigen Welt, mit diesen Visionen und Inspirationen? Da müssen wir vor allen Dingen uns klar sein, daß dasjenige, was wir da vor uns haben, wenn wir die Visionen auswählten, dann wirklich als geistige Realitäten vor uns steht, daß wir damit nicht etwa bloße Bilder vor uns haben, die uns nur Erkenntnisse im gewöhnlichen Sinne liefern. So ist es nicht, und die Tatsache, daß es nicht so ist, will ich Ihnen an etwas sehr Bedeutungsvollem klarmachen. Ich will Ihnen klarmachen, wie es mit den ausgewählten Visionen steht im Verhältnis zur Welt, so wie wir uns zuerst klargemacht haben, wie es mit den ausgewählten, ans Ziel gelangten Lebenskeimen im Verhältnis zu den Lebenskeimen überhaupt steht. Diese werden eben als Nahrung benützt von den anderen. Wie ist es nun aber mit den ausgewählten Visionen, mit dem, was im Menschen wirklich als reale Vision lebt?

Auf einiges muß ich hier aufmerksam machen. Sie dürfen nicht glauben, daß derjenige, der es zum Hellsehen gebracht hat, das erreicht

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hat, daß in ihm jetzt die Welt des Geistes lebt und in anderen nicht. Sie dürfen sich das Hellsehen nicht so vorstellen, daß Sie sich etwa sagen: Da ist der Hellseher und da ist der andere Mensch, in der Seele des Hellsehers lebt der Ausdruck geistiger Wirklichkeit, in der Seele des anderen nicht. Das wäre nicht richtig. Sie müßten vielmehr so sagen, wenn Sie es richtig ausdrücken wollten: Da stehen zwei Menschen. Der eine ist ein Hellseher, der andere nicht. Dasjenige, was der Hellseher sieht, lebt in beiden. In dem Nichthellseher sowohl wie in dem Hellseher leben dieselben Dinge, dieselben geistigen Im­pulse. Diese sind auch in der Seele des Nichthellsehers vorhanden. Der Hellseher unterscheidet sich von dem Nichthellseher nur dadurch, daß er sie sieht, während der andere sie nicht sieht. Der eine trägt sie in sich und sieht sie, der andere trägt sie auch in sich und sieht sie nicht. - Wer glauben würde, daß der Hellseher etwas in sich hat, was der andere nicht in sich hat, der würde sich einem großen Irrtum hingeben. So wie das Dasein zum Beispiel einer Rose nicht davon ab­hängt, ob der Mensch sie sieht oder nicht sieht, ebenso ist es auch mit dem Hellsehen: es lebt die Realität in der Seele des Hellsehers und in der Seele des Nichthellsehers, obgleich der letztere sie nicht sieht. Der Unterschied besteht nur darin, daß der eine sie sieht und der andere sie nicht sieht. Es ist also so, daß in der Tat in den Seelen der Men­schen der Erde all die Dinge leben, die der Hellseher durch sein Hellsehen eben wahrnimmt. Dies wollen wir uns einmal recht gut in die Seele schreiben.

Jetzt aber wollen wir auf ein scheinbar ganz anderes Betrachtungs­gebiet übergehen, welches uns mit dem, was wir gesagt haben, später wieder vereinigen wird. Jetzt richten wir den Blick, sagen wir, auf die Tierwelt. Die Tierwelt umgibt uns in den mannigfaltigsten ein­zelnen Formen, in den Formen der Löwen, Bären, Wölfe, Lämmer, Haifische, Walfische und so weiter. Der Mensch unterscheidet diese Tierformen, indem er sich äußere Begriffe davon macht, indem er sich den Begriff des Löwen, des Wolfes, des Lammes und so weiter bildet. Nun darf man aber nicht verwechseln dasjenige, was der Mensch als Begriff bildet, mit dem, was der Löwe, der Wolf in Wirk­lichkeit ist. Sie wissen, darauf brauche ich nur aufmerksam zu machen,

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daß wir in der Geisteswissenschaft sprechen von den sogenann­ten Gruppenseelen. Alle Löwen haben eine gemeinsame Löwen-Grup­penseele, alle Wölfe eine Wolf-Gruppenseele. Gewisse abstrakte Phi­losophen sagen zwar, das Gemeinsame der Tiere existiere nur im Begriffe, es existiere die Wolfheit nicht draußen in der Welt. Das ist aber nicht richtig. Wer das glaubt, daß die Wolfheit als solche, also das, was objektiv in der geistigen Welt die Gruppenseele ist, nicht außer unserem Begriffe existiert, der braucht sich nur das Folgende zu überlegen. Außer uns, draußen in der Welt, gibt es Wesen, die wir Wolf nennen. Nehmen wir nun an, das Seelische, das Charakteri­stische des Wolfes sei eine Folgeerscheinung der Beschaffenheit der Materie, aus welcher der Wolf besteht. Wir wissen, daß sich die Ma­terie des Körpers eines tierischen Wesens fortwährend ändert. Ein Tier nimmt neue Materie auf und gibt die alte ab. Dadurch ändert sich der Bestand der Materie fortwährend. Worauf es aber ankommt, das ist die Tatsache, daß etwas im Wolfe vorhanden ist, was die auf­genommene Materie in Wolfsmaterie umwandelt. Nehmen wir an, man hätte durch alle Finessen der Naturwissenschaft herausgebracht, wieviel Zeit der Wolf braucht, um alle Materie zu erneuern. Nehmen wir ferner an, man sperrte ihn ebensolange ein und fütterte ihn mit lauter Lämmern, so daß er, solange er braucht, um seine Materie, seinen sinnlichen Körper ganz auszutauschen, mit lauter Lamm-Materie gefüttert worden wäre. Wenn der Wolf nichts anderes wäre als die physische Stofflichkeit, aus der sein Körper aufgebaut ist, so müßte er jetzt ein Lamm geworden sein. Aber Sie werden nicht glau­ben, daß der Wolf dadurch, daß er so lange Zeit Lämmer gefressen hat, jetzt auch ein Lamm geworden sein muß. Sie werden sehen, daß den Begriffen, die wir uns bilden von den verschiedenen Tierformen, Realitäten entsprechen, die etwas Übersinnliches sind gegenüber dem, was in der sinnlichen Welt draußen ist.

So ist es nun bei allen Tieren. Die Gruppenseele, das, was der ganzen Tiergattung zugrunde liegt, das macht es, daß das eine Tier Wolf, das andere Lamm, das eine Löwe, das andere Tiger ist. Die Gruppenseele aber macht sich der Mensch klar in seinem Begriffe. Die Begriffe, die sich der Mensch nun gewöhnlich bildet, gerade von

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der Tierwelt, sind eigentlich recht unvollkommen. Daß sie unvoll­kommen sind, das rührt davon her, daß der Mensch in seiner gegen­wärtigen Beschaffenheit recht wenig tief in die Realitäten eindringt, daß der Mensch eigentlich nur an der Oberfläche der Wesenheiten haftet. Würde er tiefer gelangen, so würde er, indem er sich den Begriff des Wolfes bildet, in seiner Seele nicht nur haben den ab­strakten Begriff, sondern er würde den Gemütszustand haben, der diesem Begriffe entspricht. Mit dem Begriffe würde sich ein Gemüts­zustand bilden, und der Mensch würde, indem er sich den Begriff des Wolfes bildet, das durchmachen, was das Wolfsdasein ist. Er würde die Blutgierigkeit des Wolfes fühlen und auch fühlen die Ge­duld des Lammes.

Wenn das heute nicht so ist, so rührt das davon her - ich kann es nur symbolisch sagen, denn sonst würde es zu weit führen, die ent­sprechende Realität wissen Sie ja bereits -, daß der Mensch, nachdem die luziferischen Einflüsse stattgefunden hatten, abgehalten wurde von den Göttern, zu der Erkenntnis auch noch das Leben zu haben. Er sollte nicht essen von dem Baume des Lebens. Er hat daher also nur die Erkenntnis und kann nicht das Wirkliche des Lebens nach­leben. Das kann er nur dann, wenn er Okkultist ist, wenn er in okkulter Weise eindringt in dieses Gebiet. Dann hat er nicht nur den abstrakten Begriff, sondern dann lebt er in dem, was wir mit den Aus­drücken «die Blutgier des Wolfes» , « die Geduld des Lammes» bezeichnen.

Jetzt werden Sie begreifen, wie groß der Unterschied ist zwischen diesen beiden Dingen. Das bekämpft sich alles in uns, da die Begriffe durchdrungen sind von dem innersten Wesen der Seelensubstanz. Aber diese Begriffe muß sich der Okkultist und Hellseher machen, er muß zu diesen Begriffen aufsteigen. Wenn der Hellseher zu diesen Dingen aufgestiegen ist, dann kann man sagen: Da lebt jetzt schon etwas davon in ihm. Und tatsächlich, ein lebendiges Bild der ganzen tierischen Welt draußen lebt in ihm. - Wie gut hat es doch der andere Mensch, der nicht Hellseher geworden ist, könnte man da sagen. Aber ich habe ja gerade schon vorhin darauf hingewiesen, daß der Hell­seher sich in dieser Beziehung nicht unterscheidet von den anderen Menschen! Das, was in dem einen ist, ist auch in dem anderen. Der

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Unterschied besteht nur darin, daß der eine es sieht, während der andere es nicht sieht. Die ganze Welt, von der ich gesprochen habe, ist in Wirklichkeit in der Seele eines jeden Menschen, nur sieht sie der gewöhnliche Mensch nicht. Das ist dasjenige, was aus den verborgenen Untergründen der Seele heraufspielt, was den Menschen in sich un­ruhig macht, was den Menschen in Zweifel hineinreißt, ihn da- und dorthin zieht, das, was das Spiel seiner Begierden und Instinkte aus­macht. Dasjenige, was sich nicht über eine gewisse Schwelle herauf­drängt, sich nur in Schwächen ausdrückt und auslebt, ist doch vor­handen. Wer eine derartige Gemütsveranlagung hat, der hängt so zusammen mit der Welt, daß ihn diese Gefühle erfüllen, ergreifen im Kampfe und im Leben und ihn in schwerwiegende Verhältnisse zu Wesen und Menschen bringen. Das ist einmal so. Und warum?

Wenn das nicht so wäre, dann wäre in gewisser Beziehung die Ent­wickelung unserer Erde mit dem Tierischen am Ende angekommen. Dann wäre das Tierreich so, wie es ist, eine Art von Ende. Es könnte nicht weiterkommen. Die ganzen Gruppenseelen der Tiere, die da um uns herum leben, würden sich nicht in die folgenden Verkörpe­rungen unserer Erde hinüberentwickeln können. Das wäre eine son­derbare Sache. Diese Gruppenseelen der Tiere wären in der Lage -verzeihen Sie mir den Vergleich, aber er wird Ihnen klarmachen, was gemeint ist - eines Amazonenstaates, in den nie ein Mann hinein dürfte. Er würde notwendig aussterben ohne männliche Wesenheit. Er würde zwar geistig nicht aussterben, denn die Seelen würden in andere Reiche übergehen, aber als Amazonenstaat stände ihm dieses Schicksal bevor. So würde auch der Staat der tierischen Gruppen­seelen aussterben, wenn nichts anderes da wäre als er. Das nämlich, was in den tierischen Gruppenseelen lebt, das muß befruchtet werden und kann nicht anders über die Klippe in der Erdenentwickelung, in die nächste Erdenverkörperung, das Jupiterdasein, hinwegkom­men - kann nicht hinübergelangen, wenn es nicht befruchtet wird von dem, was ich geschildert habe. Dadurch gehen die Formen der Erdentiere zugrunde, sie sterben aus, die Gruppenseelen aber werden befruchtet und erscheinen auf dem Jupiter als für ein höheres Dasein ausgebildet, sie gelangen also zu ihrer nächsten Stufe des Daseins.

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Was geschieht also durch den Menschen, indem er da unten die lebendigen Formen der Gruppenseelen abbildet? Er bildet dadurch aus die Befruchtungskeime für die Gruppenseelen, die sich sonst nicht weiterentwickeln könnten. Wenn wir dies ins Auge fassen, dann können wir uns das Folgende sagen: Also sehen wir schon im tieri­schen Reiche, daß der Mensch in sich entwickelt, auf äußere Anregung hin, indem er das Tierreich anschaut, gewisse innere Impulse, die Befruchtungskeime sind für die tierische Gruppenseele. Diese Im­pulse, die da im Leben als Befruchtungskeime für die tierische Grup­penseele entstehen, entstehen auf äußere Anregung. Nicht auf äußere Anregung entstehen die Visionen des Hellsehers und auch nicht die­jenige, welche ausgewählt wird als reale Vision. Die ist nur da in der geistigen Welt und lebt in den Seelen der Menschen.

Glauben Sie nur ja nicht, daß, wenn von einer Anzahl Getreidekörner soundso viele verzehrt werden, während nur wenige sich wieder zur Ähre entwickeln können, daß da nichts vorgeht in der geistigen Welt! Während die Körner aufgezehrt werden, geht das Geistige, das mit den Getreidekörnern verbunden ist, in den Menschen über. Das zeigt sich am besten für den hellseherischen Blick, wenn er hinschaut auf ein Meer, wo soundso viele Fischkeime enthalten sind, und beobachtet, wie wenige sich zu vollgültigen Fischen ent­wickeln. Diejenigen, die zu vollgültigen Fischen sich entwickeln, zeigen in ihrem Innern kleine Flämmchen, diejenigen aber, die sich physisch nicht entwickeln, die physisch in den Abgrund hinuntergehen, entwickeln mächtige Flammen-Lichtbildungen. Da ist das Geistige um so bedeutsamer. So ist es auch mit denjenigen Getreide- und Weizenkörnern, die gegessen werden. Das Materielle davon wird gegessen; indem es zermürbt wird, tritt aus diesen nicht zu ihrem Ziele gelangten Weizenkörnern heraus eine geistige Kraft, die unseren Umkreis erfüllt. Das ist für den Hellseher ebenso, wenn er einen Menschen ansieht, der Reis oder ähnliches ißt. Während der Mensch das Materielle in sich aufnimmt, mit sich vereinigt, sprühen in Strö­men die geistigen Kräfte heraus, die mit dem Korne verbunden waren. Das alles ist keine so einfache Sache für den okkulten Blick, ganz be­sonders nicht, wenn die Nahrung keine Pflanze war. Aber darauf will

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ich heute nicht eingehen, da die Geisteswissenschaft nicht agitieren soll für irgendeine Parteirichtung, also auch nicht für den Vegetarismus.

Es schließen sich also zusammen die geistigen Wesenheiten. Alles, was scheinbar zugrunde geht, gibt ab an die Umgebung das Geistige. Dieses Geistige, das abgegeben wird an die Umgebung, das vereinigt sich tatsächlich mit dem, was im Menschen drinnen, wenn er Hell­seher wird oder auch sonst, in seiner visionären Welt lebt. Und die ausgewählten Visionen, nach der Inspiration, sind dasjenige, was das, ich möchte sagen, aus den nicht zum Ziele gekommenen Lebenskeimen ausgepreßte Geistige befruchtet und weiter zur Evolution bringt.

So steht unser Inneres durch dasjenige, was es da innerlich ent­wickelt, in einem fortwährenden Verhältnisse zu der äußeren Welt, wirkt zusammen mit dieser äußeren Welt. Diese äußere Welt wäre dem Verderben anheimgegeben, könnte sich nicht weiterentwickeln, wenn wir nicht entgegenbrächten die befruchtenden Keime. Draußen in der Welt ist auch eine Geistigkeit, aber sozusagen nur eine halbe Geistigkeit. Damit sie Nachwuchs habe, diese Geistigkeit draußen, muß die andere Geistigkeit zu ihr hinzutreten, die innerhalb uns selbst lebt. Was in uns lebt, ist keineswegs nur ein erkenntnismäßiges Ab­bild des Äußeren, sondern das, was dazu gehört. Es tritt mit dem, was außer uns ist, zusammen und entwickelt sich weiter. Geradeso, wie Nord- und Südpol als Magnetismus oder Elektrizität zusammen­treten müssen, damit etwas geschieht, so muß zusammentreten das­jenige, was sich in unserem Innern ausbildet in der Welt der Visionen, mit dem, was draußen aufsprüht von dem scheinbar Zugrundege­gangenen. Wunderbare Rätsel, die sich aber allmählich aufklären, die uns zeigen, wie Inneres mit dem Äußeren zusammenhängt.

Nun werfen wir einen Blick auf das, was uns draußen umgibt, und auf das, was wir als ausgewählte Visionen haben, auf das, was sich aussondert von den unermeßlichen Möglichkeiten der Visionen. Das­jenige, was wir so erheben zu einer für uns gültigen Vision, dient zu unserer inneren Entwickelung. Was dann hinuntersinkt, wenn wir das ganze unermeßliche Feld des visionären Lebens überblicken, was da einzeln hinuntersinkt, das versinkt nicht in nichts, sodern es dringt in die Außenwelt und befruchtet dieselbe. Was wir ausgewählt haben

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von den Visionen, das dient zu unserer Weiterentwickelung. Die anderen, die gehen von uns weg und vereinigen sich mit dem, was um uns ist, mit dem nicht zum Ziele gelangten Leben.

So, wie das Lebewesen zu seiner Ernährung aufnehmen muß das­jenige, was nicht zum Leben gekommen ist, so müssen wir aufnehmen dasjenige, was wir nicht abgeben an die Außenwelt zur Befruchtung der Außenwelt. Das hat also seinen Zweck. Und ersterben müßte alles in der Welt, was geistig fortwährend entsteht, wenn wir unsere Visionen nicht fallen ließen und nicht nur auswählten diejenigen, welche sich nach der Inspiration ergeben.

Jetzt kommen wir zum zweiten Punkte, der Gefahr des visionären Lebens. Was tut derjenige, welcher alle die unermeßlich vielen und mannigfaltigen Visionen einfach als Wahrheit bezeichnet und nicht auswählt das für ihn Richtige, nicht tilgt die weitaus größere Zahl der Visionen? Was tut der? Der tut geistig dasselbe, was ein Mensch tun würde - wenn Sie es sich ins Physische übersetzen, dann werden Sie gleich sehen, was er tut -, der einem Saatfelde gegenübersteht und nicht einen großen Teil zur Nahrung verwendete, sondern alle Körner wieder zum Aussäen benützte. Es würde nicht lange dauern, so reichte die Erde nicht mehr hin, um all das Korn zu tragen. Das ginge also nicht so weiter, denn alles andere würde aussterben, es würde nichts mehr Nahrung haben. So ist es auch mit dem Menschen, der alles als Wahrheit betrachtet, der keine Vision tilgt und alles in sich darinnen behält. Da wirkt er in sich so, wie wenn er alle Weizenkörner einsammeln und wieder aussäen würde. So, wie die Welt bald mit lauter Weizenfeldern und Weizenkörnern überschüttet sein würde, so würde sich der Mensch überschütten mit Visionen, der nicht unter den Visionen auswählte.

Ich habe Ihnen die Umgebung geschildert, sowohl physisch wie geistig, die Tiere, sowie auch die Begriffe, die der Mensch sich dafür bildet. Aber ich habe auch gezeigt, wie der Mensch seinen Visionen das Ziel zu geben hat und wie diese visionäre Welt sich verbinden muß mit der Welt draußen, damit die Entwickelung vorwärtsschreiten kann. Wie ist es aber, wenn wir den Menschen nun ins Auge fassen? Er steht einem Tiere gegenüber, betrachtet dessen Gruppenseele, sagt

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Wolf, das heißt, er hat sich den Begriff Wolf gemacht, und indem er Wolf sagt, ist in ihm aufgeschossen das Bild, von dem allerdings der Nichthellseher die Gemütssubstanz nicht hat, sondern nur den ab­strakten Begriff. Was in der Gemütssubstanz lebt, das verbindet sich mit der Gruppenseele und befruchtet sie, wenn der Mensch den Namen Wolf ausspricht. Wenn er den Namen nicht aussprechen würde, so würde das Tierreich als solches ersterben. Und dasselbe gilt auch von dem Pflanzenreiche.

Das, was ich charakterisiert habe von dem Menschen, gilt nur für den Menschen. Was ich charakterisiert habe, gilt nicht für die Tiere und auch nicht für die Engel und so weiter. Die haben ganz andere Aufgaben. Der Mensch allein ist dazu da, sein Wesen der Außenwelt gegenüberzustellen, damit Befruchtungskeime entstehen, die sich im «Namen» zum Ausdruck bringen. Damit ist in des Menschen Inneres die Möglichkeit zur Fortentwickelung des Tier- und Pflanzenreiches gelegt.

Gehen wir jetzt zu dem Ausgangspunkte zurück, den wir gestern gewählt haben. Jahve oder Jehova wurde gefragt von den Dienst-Engeln, warum er durchaus den Menschen schaffen wollte. Die Engel konnten es nicht begreifen. Da versammelte Jehova die Tiere und Pflanzen und fragte die Engel, welches die Namen dieser Wesen sind. Sie wußten es nicht. Sie haben andere Aufgaben als die Befruchtung der Gruppenseelen. Der Mensch aber konnte die Namen sagen. Damit zeigt Jahve, daß er den Menschen braucht, weil sonst die Schöpfung ersterben würde. Im Menschen entwickelt sich dasjenige weiter, was in der Schöpfung bis zum Ende gekommen ist und was neu angefacht werde muß, damit die Entwickelung weitergehe. Daher mußte zur Schöpfung hinzukommen der Mensch, damit die Befruchtungskeime entstehen konnten, die sich im «Namen» zum Ausdruck bringen.

So sehen wir, daß wir mit unserem Leben nicht unnötig hineinge­stellt sind in die Schöpfung. Denken wir den Menschen hinweg, so würden sich die Übergangsreiche nicht weiterentwickeln können. Sie würden dem Schicksale verfallen, welchem verfallen würde eine Pflanzenwelt, die nicht befruchtet wird. Einzig und allein dadurch, daß der Mensch hineingestellt ist ins Erdendasein, wird die Brücke

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geschaffen zwischen der Welt, die früher war, und derjenigen, die später ist, und der Mensch selber nimmt dasjenige für sich, für seine Entwickelung, was in der Unsumme von Wesen als Name lebt, und bewirkt dadurch, daß er mit der ganzen Entwickelung aufsteigt.

Da haben wir, nicht in einfacher, abstrakter Weise, die Frage be­antwortet: Welches ist der Sinn des Lebens? obwohl im Grunde ge­nommen die abstrakte Antwort darinnenliegt. Der Mensch ist ge­worden ein Mithelfer der geistigen Wesenheiten. Er ist es geworden durch sein ganzes Wesen. Was in ihm ist, ist geworden der Befruch­tungskeim für die ganze Schöpfung. Er muß da sein, und ohne ihn könnte die Schöpfung nicht da sein. So fühlt sich der Mensch, indem er sich darinnenstehend weiß in der Schöpfung, als ein Teilnehmer an dem göttlich geistigen Schaffen.

Jetzt weiß er auch, warum er in sich ein solches Leben führt, warum draußen die Welt der Sterne, der Wolken, der Naturreiche ist, mit alledem, was geistig dazugehört, und in ihm eine Welt des Seelen­lebens vorhanden ist. Denn jetzt sieht der Mensch: Diese zwei Welten gehören zusammen, und nur indem sie gegenseitig aufeinander wirken, geht die Entwickelung vorwärts. Draußen breitet sich im Raume die unermeßliche Welt aus. Da drinnen in uns ist unsere Seelenwelt. Wir merken es nicht, daß das, was in uns lebt, hinaussprüht und sich ver­bindet mit dem, was draußen lebt. Wir merken es nicht, daß wir der Schauplatz der Verbindung sind. Das, was in uns ist, ist sozusagen der eine Pol, und das, was draußen ist in der Welt, das ist der andere Pol, die beide sich zum Fortgange der Weltentwickelung miteinander verbinden müssen. Und der Sinn, der Sinn des Menschen, liegt dar­innen, daß wir dabei sein dürfen.

Die gewöhnliche Erkenntnis des normalen Bewußtseins weiß nicht viel von diesen Dingen. Aber indem wir in der Erkenntnis dieser Dinge fortschreiten, werden wir immer mehr bewußt, daß in uns gleichsam der Ort ist, wo Nord- und Südpol der Welt - wenn ich es damit vergleichen darf - ihre entgegengesetzten Kräfte austauschen, sich miteinander vereinigen, so daß die Weiterentwickelung vor sich gehen kann. Wir lernen durch die okkulte Wissenschaft, daß in uns der Schauplatz ist für den Ausgleich der Kräfte der Welt. Wir fühlen,

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wie in uns wie in einem Zentrum die göttlich-geistige Welt lebt, wie sie sich mit der Außenwelt verbindet und wie die beiden so sich gegen­seitig befruchten.

Wenn wir uns so als Schauplatz fühlen und wissen, wir sind dabei, dann stellen wir uns richtig hinein in das Leben, erfassen den ganzen Sinn des Lebens und erkennen, daß das, was zunächst unbewußt ist, dadurch, daß wir in der Geisteswissenschaft weiterdringen, uns im­mer mehr bewußt werden wird. Darauf beruht alle Entwickelung der höheren Geisteskräfte. Während es dem normalen Bewußtsein entzogen ist, zu wissen: Da vereinigt sich in dir etwas mit dem, was da draußen ist, ist es dem höheren Bewußtsein erlaubt, zuzuschauen. Dieses ent­wickelt wirklich dasjenige, was zur Außenwelt dazu gehört. Daher ist es notwendig, daß ein gewisser Reifezustand eintritt, daß man nicht in wilder Weise vermischt das, was drinnen ist, und das, was draußen ist. Denn sobald wir zu einem höheren Bewußtsein auf­steigen, ist das eine Wirklichkeit, was in uns lebt. Schein ist es so lange, als man im gewöhnlichen, normalen Bewußtsein lebt.

Teilnehmen werden wir an dem Göttlich-Geistigen. Warum aber werden wir so teilnehmen? Hat denn das Ganze überhaupt einen Sinn, wenn wir sozusagen nur eine Art Ausgleichs-Apparat für die entgegengesetzten Kräfte sind? Könnten diese Kräfte sich nicht auch ohne uns ausgleichen? Eine sehr einfache Überlegung zeigt uns, wie die Sache steht. Nehmen Sie an, es ist das eine Kraftmasse (es wird gezeichnet). Der eine Teil lebt innen, der andere draußen. Daß diese Teile einander gegenüberstehen, das ist ohne uns zustande gekommen. Wir halten sie zunächst auseinander. Daß sie aber überhaupt zusam­menkommen, das hängt von uns ab. Wir bringen sie zusammen in uns. Dieser Gedanke ist ein Gedanke, der die allertiefsten Geheimnisse in uns aufregt, wenn wir ihn richtig überlegen. Als eine Dualität stellen uns die Götter die Welt gegenüber: draußen die objektive Wirklich­keit, in uns das Seelenleben. Wir stehen dabei und sind diejenigen, die den Strom gleichsam schließen und so die beiden Pole zusammen­bringen. Das geschieht in uns, geschieht auf dem Schauplatze unseres Bewußtseins.

Da tritt nun ein dasjenige, was für uns die Freiheit ist. Damit

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werden wir selbständige Wesenheiten. In dem ganzen Weltenbau haben wir nicht bloß einen Schauplatz, sondern ein Feld der Mit­arbeit zu sehen. Damit ist allerdings ein Gedanke angeregt, den die Welt nicht so leicht versteht, nicht einmal, wenn man ihn ihr philo­sophisch vorführt, denn ich habe das vor Jahren versucht in meinem Büchelchen «Wahrheit und Wissenschaft», indem ich dargestellt habe, daß zunächst die Sinnestätigkeit da ist und dann die innere Welt, daß aber das Zusammensein, das Zusammenwirken notwendig ist. Da ist der Gedanke philosophisch durchgeführt. Ich versuchte damals noch nicht die okkulten Geheimnisse dahinter zu zeigen, aber die Welt hat nicht einmal das Philosophische verstanden in jener Zeit.

Nun sehen wir, wie wir den Sinn unseres Lebens zu denken haben. Es kommt Sinn hinein: Wir werden zu Mitakteuren gemacho im Welt-prozeß. Was in der Welt ist, wird in zwei entgegengesetzte Lager getrennt, und wir werden hineingestellt, um diese zusammenzu­bringen. Dabei ist die Sache keineswegs so, daß wir uns vorzustellen haben, diese Arbeit wäre eine engbegrenzte. Ich kenne einen spaßigen Herrn in Deutschland, der viel für deutsche Zeitschriften schreibt. Er schrieb neulich in einer Zeitung, daß es notwendig wäre für die Weltenentwickelung, daß der Mensch immerfort auf dem Stand­punkte bleibe, die gewöhnlichen Weltenrätsel nicht lösen zu können, und daß es nicht richtig wäre, wenn der Mensch dazu käme, dieselben verstandesmäßig zu durchdringen, zu lösen. Denn wenn der Mensch die Verstandesrätsel gelöst hätte, dann wären keine mehr da, und es wäre nichts mehr für ihn zu tun. - Also müssen immer über die Ver­standesrätsel Zweifel da sein, und es müssen immer unvollkommene Dinge geschehen! Dieser Mann hat nämlich keine Ahnung davon, daß, wenn das normale Bewußtsein an seinem Ende angekommen ist, dann das Bewußtsein selber fortschreitet, und daß da eine neue Po­larität auftritt, die eine neue Aufgabe darstellt und wieder zu ver­einigen ist. Wie lange zu vereinigen? So lange, bis der Mensch tat­sächlich erreicht hat, daß sich in seinem Bewußtsein wiederholt hat das göttliche Bewußtsein.

Jetzt können wir uns, nachdem wir uns eine Ahnung verschafft haben von der ganz unermeßlichen Größe des Rätsels, zu der abstrakten

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Antwort erheben, jetzt, da wir wissen, daß in uns aufleben die Befruchtungskeime für eine geistige Welt, die nicht ohne uns vor­wärtsgehen kann. Jetzt wollen wir auch sehen, wie es steht mit dem Sinn des Lebens, denn jetzt arbeiten wir auf breiter Unterlage. Jetzt ist es so, daß wir uns sagen müssen: Einstmals war in der Evolution das göttliche Bewußtsein. Das war in seiner Unermeßlichkeit. Damit stehen wir im Beginne des Daseins. Dieses göttliche Bewußtsein bildet zunächst Abbilder. Wodurch unterscheiden sich nun diese Abbilder von dem göttlichen Bewußtsein? Dadurch, daß sie viele waren, wäh­rend das göttliche Bewußtsein nur eins ist. Dadurch ferner, daß sie leer waren, während das göttliche Bewußtsein voll Inhalt war, so daß die Abbilder erst als Vielheit vorhanden sind, dann aber auch leer, so, wie wir das leere Ich hatten gegenüber dem von einer ganzen Welt erfüllten göttlichen Ich. Aber dieses leere Ich wird zum Schau-platze gemacht, wo sich fortwährend verbinden die göttlichen In­halte, die in zwei entgegengesetzte Lager geteilt werden. Und indem das leere Bewußtsein fort und fort Ausgleiche schafft, erfüllt es sich immer mehr mit dem, was ursprünglich im göttlichen Bewußtsein war. Es geht also die Evolution so vorwärts, daß das einzelne Bewußt-sein erfüllt wird mit dem, was im Beginne das göttliche Bewußtsein an Inhalt hatte. Durch den fortwährenden Ausgleich in den Indivi­dualitäten geschieht das.

Braucht das göttliche Bewußtsein das zu seiner Entwickelung? So fragen viele, die den Sinn des Lebens nicht. ganz verstehen können. Braucht das göttliche Bewußtsein dies zu seiner eigenen Vollkommen­heit, zu seiner eigenen Entwickelung? Nein, das göttliche Bewußtsein braucht das nicht. Es hat alles in sich. Aber das göttliche Bewußtsein ist nicht egoistisch. Es gönnt einer unermeßlich großen Zahl von Wesen denselben Inhalt, den es selber hat. Dafür müssen diese Wesen aber erst das Ganze erwerben, so daß sie das göttliche Bewußtsein in sich haben und das göttliche Bewußtsein dadurch vermannigfaltigt wird. In großer Zahl erscheint dann, was einst in Einheit war im Beginne der Weltentwickelung, was in der Folge aber wieder abfällt auf dem Wege der Durchgöttlichung der Einzel-Bewußtseine.

Diese Entwickelung, wie sie hier geschildert wird, war für den

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Menschen im Grunde genommen immer so. Sie war so während der Saturnzeit, sie war ähnlich während der Sonnen- und Mondenzeit. Für die Erdenzeit haben wir sie heute klar entwickelt. Für die Saturn­zeit macht die erste Anlage des physischen Leibes diese Entwickelung durch und befruchtet anderseits nach außen, für die Sonnenzeit die Anlage des Ätherleibes und so weiter. Der Vorgang ist derselbe, wird nur immer geistiger und geistiger. Immer weniger und weniger bleibt zuletzt draußen übrig, was noch zu befruchten ist. Indem die Men­schen sich weiterentwickeln, wird immer mehr und mehr in ihnen leben und immer weniger draußen sein, was noch zu befruchten ist. Daher wird er am Ende das, was draußen ist, immer mehr in seinem Innern haben. Die Außenwelt wird zu seinem Innern werden. Ver­innerlichung ist die andere Seite der Vorwärtsentwickelung.

Vereinigung des Inneren mit dem Äußeren, Verinnerlichung des Äußeren, das sind die zwei Punkte, nach denen sich die Menschen vorwärtsentwickeln. Sie werden immer ähnlicher werden dem Gött­lichen und zuletzt immer innerlicher. Bei der Vulkanentwickelung wird dann alles befruchtet sein. Alles Äußere wird Inneres geworden sein. Vergöttlichung ist Verinnerlichung. Verinnerlichung ist Vergött­lichung. Das ist das Ziel und der Sinn des Lebens.

Aber wir kommen hinter die Sache erst dann, wenn wir sie uns nicht so vorstellen, daß wir damit nur abstrakte Begriffe hinpfahlen, sondern indem wir wirklich auf die Einzelheiten eingehen. Der Mensch muß sich in die Sache vertiefen und so in die Einzelheiten eingehen, daß, wenn er den Namen der Tiere und Pflanzen bildet, in seinem Innern etwas entsteht, was das, was im Worte ist, verbindet mit dem, was dem Tier- oder Pflanzenkeime zugrunde liegt und dann in der geistigen Welt weiterlebt. Eine Aufbesserung in der Entwickelung braucht schon unsere Weltanschauung, denn was hat denn der Dar­winismus in dieser Richtung geleistet? Er spricht vom Kampfe ums Dasein. Er berücksichtigt aber nicht, daß auch das einer Fortent­wickelung unterliegt, was bei ihm besiegt wird und zugrunde geht. Der Darwinist sieht nur die Wesen, die das Ziel erreichen, und die anderen, die zugrunde gehen. Die zugrunde gehen, die sprühen aber das Geistige aus, so daß sich nicht nur das entwickelt, was im physischen

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Kampfe siegt. Das, was scheinbar zugrunde geht, macht die Entwickelung im Geistigen durch. Das ist das Bedeutsame.

So dringen wir in den Sinn des Lebens ein. Nichts, auch nicht das Besiegte, auch nicht das Aufgegessene, geht zugrunde, sondern wird geistig befruchtet, sprießt geistig wieder hervor. Vieles ist in dem Ganzen der Erden- und Menschheitsentwickelung zugrunde gegangen, ohne daß der Mensch direkt etwas dazu tun konnte. Nehmen wir die ganze vorchristliche Entwickelung. Wir wissen, wie sie war, diese vorchristliche Entwickelung. Der Mensch ist von der geistigen Welt ausgegangen im Beginne. Allmählich ist er dann hinuntergestiegen in die physisch-sinnliche Welt. Was er anfangs besessen, was in ihm ge­lebt hat, das ist verschwunden, ebenso wie verschwunden sind die Lebenskeime, die nicht ihr Ziel erreicht haben. Von dem Stamme der menschlichen Entwickelung sehen wir Unzähliges hinuntersinken in einen Abgrund. Während Unzähliges hinuntersinkt in der äußeren Entwickelung der menschlichen Kultur, des menschlichen Lebens, entwickelt sich oben der Christus-Impuls. So wie im Menschen der befruchtende Keim sich für seine Umwelt entwickelt, so entwickelt sich für das, was im Menschen scheinbar zugrunde geht, der Christus­impuls. Dann tritt das Mysterium von Golgatha ein. Das ist die Be­fruchtung dessen, was zugrunde gegangen ist, von oben herunter. Da tritt tatsächlich mit dem, was scheinbar von dem Göttlichen abge­fallen und in den Abgrund gesunken ist, eine Veränderung ein. Der Christus-Impuls tritt ein und befruchtet es. Und von dem Mysterium von Golgatha an sehen wir im weiteren Verlaufe der Erdenentwicke­lung ein Wiederaufblühen und ein Sich-wieder-Fortsetzen durch die empfangene Befruchtung mit dem Christus-Impulse.

So haben wir das, was wir erkannt haben von der Polarität, auch bei diesem größten Ereignisse der Erdenentwickelung bewahrheitet. Es kommen heraus in unserem Zeitalter die in der alten ägyptischen Kultur zugrundegegangenen Kulturkeime. Denn sie sind in der Erdenentwickelung enthalten. Der Christus-Impuls ist nun da hineinge­fallen und hat sie befruchtet, und, indem er sie befruchtete, trat bei uns die Wiederholung der ägyptisch-chaldäischen Kultur auf. In der Kultur, die der unsrigen folgen wird, tritt die urpersische Kultur auf,

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befruchtet von dem Christus-Keim. Im siebenten Zeitraume tritt auf die urindische Kultur, die hohe spirituelle Kunst, die von den heiligen Rishis gekommen ist, befruchtet von dem Christus-Keime, in neuer Gestalt.

So sehen wir auch in dieser fortlaufenden Entwickelung, daß das­jenige, was wir beim Menschen kennengelernt haben, werden kann zu einer Gegenseitigkeit: Inneres und Äußeres, Seelisches und Phy­sisches, die sich gegenseitig befruchten. So ist oben der Christus-Im­puls und unten die Befruchtung mit dem Christus-Keime vorhanden. Unten die fortschreitende Erdenkultur, von oben, durch das Myste­rium von Golgatha einfallend, der Christus-Impuls.

Jetzt sehen wir auch den Sinn des Christus-Erlebens ein: Miterleben soll die Erde die Weltgeheimnisse, wie miterleben soll der einzelne Mensch die göttlichen Geheimnisse. Dadurch wurde die Polarität in den Menschen gelegt, so wie in die Erde.

Wie zwei entgegengesetzte Pole hat sich entwickelt die Erde und das, was darüber ist, das, was sich erst vereinigt hat mit der Erde durch das Mysterium von Golgatha. Christus und die Erde gehören zusammen. Sie mußten sich, damit sie sich vereinigen konnten, zuerst getrennt voneinander als Polaritäten entwickeln. So sehen wir, daß es notwendig ist, damit überhaupt in der Wirklichkeit die Dinge sich ausleben, daß sie sich in Polaritäten differenzieren, und die Polari-täten vereinigen sich dann wieder zum Fortschritte des Lebens. Das ist der Sinn des Lebens.

Nun ist es nur zu wahr: Wenn wir diese Sache so überblicken, dann fühlen wir uns darinnenstehend in der Welt, fühlen, daß die Welt ohne uns überhaupt nichts wäre. Ein so tiefer Mystiker wie Angelus Silesius hat den merkwürdigen Ausspruch getan, der zunächst die Menschen verdutzt machen könnte: «Ich weiß, daß ohne mich kein Gott kann leben, werd' ich zunicht, müßt' er vor Not den Geist auf­geben.» Konfessionelle Christen können wettern über einen solchen Ausspruch. Sie bedenken aber dabei nicht einmal das Geschichtliche, nämlich daß Angelus Silesius, schon bevor er katholisch geworden ist, um ganz auf dem Boden des Christentums zu stehen nach seiner Meinung, ein recht frommer Mann war und dennoch diesen Aus­spruch getan hat. Wer Angelus Silesius kennt, der wird nicht zugeben,

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daß dieser Ausspruch aus Gottlosigkeit geschehen ist. Was in der Welt ist, stellt sich eines dem andern entgegen, wie Polaritäten, die nicht zusammenkommen können, wenn der Mensch hinweggedacht wird. Der Mensch steht mitten dazwischen und gehört dazu. Wenn der Mensch denkt, denkt die Welt in ihm. Er ist der Schauplatz, er bringt nur die Gedanken zusammen. Wenn der Mensch fühlt und will, so ist es ebenso.

Jetzt können wir ermessen, was es heißt, wenn wir den Blick hinausrichten in die Raumesweiten, wenn wir sagen: Es ist das Göttliche, das ihn erfüllt, und das Göttliche ist das, was sich mit dem Erdenkeim vereinigen muß. In mir ist der Sinn des Lebens, kann der Mensch sagen. Die Götter haben sich Ziele gesetzt. Aber sie haben auch den Schauplatz ausgewählt, wo diese Ziele erreicht werden sollen. Die Menschenseele ist der Schauplatz. Daher, wenn die Menschenseele nur tief genug in sich hineinschaut, nicht bloß die Rätsel im weiten Raume lösen will, dann findet sie da drinnen etwas, wo die Götter ihre Taten verrichten und der Mensch dabei ist. Das versuchte ich auszudrücken in den Worten, die in meinem letzten Mysterienspiele «Die Prüfung der Seele» stehen, wie da im Menscheninnern die Götter wirken, wie der Sinn der Welt sich in der Menschenseele auslebt und wie der Sinn der Welt leben wird in der Menschenseele. Was ist der Sinn des Lebens? Es ist der, daß dieser Sinn im Menschen selber leben wird. Das suchte ich auszudrücken in den Worten, die die Seele in sich selber sagen kann:

«In deinem Denken leben Weltgedanken,

In deinem Fühlen weben Weltenkräfte,

In deinem Willen wirken Weltenwesen.

Verliere dich in Weltgedanken,

Erlebe dich durch Weltenkräfte,

Erschaffe dich aus Willenswesen

Bei Weltenfernen ende nicht

Durch Denkenstraumesspiel - - ,

Beginne in den Geistesweiten

Und ende in den eignen Seelentiefen: -

Du findest Götterziele

Erkennend dich in dir.»

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Wenn man etwas sagen will, was wahr ist, nicht etwas, was einem bloß eingefallen ist, so muß es immer aus den okkulten Geheimnissen heraus gesagt sein. Das ist außerordentlich wichtig. Daher dürfen Sie die Worte, die in okkulten Werken gebraucht sind, gleichgültig, ob sie in Form von Prosa oder in Form von Dichtung auftreten, nicht in demselben Stile denken, in dem andere, äußere Dichtwerke ent­standen sind. Solche Werke, die wirklich der Wahrheit, der Welt und ihren Geheimnissen entsprungen sind, sind so entstanden, daß die Seele in sich wirklich sprechen läßt die Weltgedanken, sich wirklich befeuern läßt von den Weltgefühlen, nicht von den eigenen persön­lichen Gefühlen, und sich wirklich geschaffen hat aus Willenswesen heraus.

Das ist etwas, was zur Mission unserer Geistes-Bewegung gehört, daß man unterscheiden lernt zwischen dem, was aus den Weltgeheim­nissen herausströmt, und dem, was willkürliche Phantasie der Men­schen erfunden hat. Immer mehr und mehr wird sich die Kulturentwickelung so erheben, daß an die Stelle des willkürlichen Erfindens dasjenige treten wird, was in der menschlichen Seele so lebt, daß es die andere Polarität ist des entsprechenden Geistigen. Solche Dinge, die so geschaffen werden, sind selbst wieder befruchtende Keime, die sich verbinden mit dem Geistigen. Die sind zu etwas da im Weltenprozeß. Das ist etwas, was uns ein ganz anderes Verantwortungsge­fühl gibt gegenüber den Dingen, die wir selber machen, wenn wir wissen, daß das, was wir machen, Befruchtungskeime und nicht sterile Keime sind, die einfach verpuffen. Dann müssen wir diese Keime auch aus den Tiefen der Weltenseele heraus entstehen lassen.

Nun können Sie fragen: Ja, wie gelangt man dazu? Durch Geduld. Indem man immer mehr und mehr dazu kommt, einen jeglichen Ehr­geiz persönlicher Art in sich abzutöten. Der persönliche Ehrgeiz ver­führt uns immer mehr und mehr dazu, dasjenige, was nur persönlich ist, produzieren zu können und nicht zu uns sprechen zu lassen das, was Ausdruck des Göttlichen in uns ist. Wodurch können wir wissen, daß das Göttliche in uns spricht? Ertöten müssen wir alles dasjenige, was nur aus uns kommt, und vor allen Dingen müssen wir ertöten ein

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jegliches ehrgeiziges Streben. Das erzeugt dann die richtige Polarität in uns, das gibt wirkliche befruchtende Keime in der Seele. - Unge­duld ist der schlimmste Lebensführer. Sie ist dasjenige, was die Welt verdirbt. - Gelingt uns das, dann werden Sie sehen, wie das ausein­andergesetzt worden ist, daß der Sinn des Lebens erreicht wird auf die angezeigte Art, durch die Befruchtung des Äußeren mit dem Innern. Dann wird uns aber auch klar sein, daß, wenn unser Inneres nicht das richtige ist, wir unrichtige Befruchtungskeime in die Welt hinausstreuen. Was ist die Folge davon? Die Folge davon ist, daß Mißge­burten in der Welt entstehen. Unsere gegenwärtige Kultur ist reich an solchen Mißgeburten. In aller Herren Ländern wird heute zum Bei­spiel, mit Dampfkraft, könnte man sagen, bald wird es mit Luft­ballons gehen, gedichtet und geschrieben, während ein berühmter Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts schon geschrieben hat: Ein einziges Land erzeugt heute fünfmal soviel Bücher, als die Erde zu ihrem Wohle nötig hat. Und heute ist es noch viel schlimmer ge­worden. Das sind Dinge, welche die gegenwärtige Kultur umgeben mit geistigen Wesenheiten, die nicht lebensfähig sind, die nicht ent­stehen sollten und nicht entstehen würden, wenn die Menschen die entsprechende Geduld hätten. Das wird auch, wie eine Art anderer Pol, in der Menschenseele entstehen: Geduld, daß die Menschenseele nicht bloß draufloswütet, was nur Ausfluß von Ehrgeiz und Egois­mus ist.

Das ist nicht aufzufassen als Form einer. moralischen Predigt, son­dern als die Wiedergabe einer Tatsache. Es ist eine Tatsache, daß durch ehrgeizige Produktionen in unserer Seele solche Befruchtungs­keime entstehen, woraus Mißgeburten in der geistigen Welt hervor­gehen. Diese zurückzudrängen, allmählich auch umzugestalten, ist eine fruchtbare Aufgabe für eine ferne Zukunft. Das ist die Mission der Geisteswissenschaft, diese Aufgabe zu lösen, und das ist der Sinn des Lebens, daß die geisteswissenschaftliche Weltanschauung damit sich einreiht in den ganzen Sinn des Lebens, daß überall uns Sinn im Leben entgegenströmt, daß überall im Leben alles sinnvoll ist. Das ist es, was der Okkultismus den Menschen lehren will, daß wir mitten im Sinn darinnenstehen und wir es wirklich so sagen können:

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«In deinem Denken leben Weltgedanken,

In deinem Fühlen weben Weltenkräfte,

In deinem Willen wirken Weltenwesen.

Verliere dich in Weltgedanken,

Erlebe dich durch Weltenkräfte,

Erschaffe dich aus Willenswesen

Bei Weltenfernen ende nicht

Durch Denkenstraumesspiel - - -;

Beginne in den Geistesweiten

Und ende in den eignen Seelentiefen: -

Du findest Götterziele

Erkennend dich in dir.»

Das, meine lieben Freunde, ist der Sinn des Lebens, so, wie ihn der Mensch zunächst zu verstehen nötig hat.

Das ist es, was ich mit Ihnen habe besprechen wollen. Machen wir es uns ganz verständlich, ganz zu eigen, dann werden die Seelen, die göttlich geworden sind, es in Ihrer Seele wirken lassen.

Schreiben Sie das Schwerverständliche dieser Ausführungen dem Umstande zu, daß das Karma es mit sich brachte, daß wir eine so wichtige Angelegenheit, wie den Sinn des Lebens, in zwei kurzen Vorträgen erschöpfen mußten und daß manches bloß angedeutet wer­den konnte, was erst in der eigenen Seele sich ausleben kann. Betrach­ten Sie es auch als eine Polarität, daß eine Anregung gegeben werden muß, die meditierend weiter verarbeitet werden soll, daß durch diese Weiterarbeit all unser Zusammenwirken Sinn bekommen, Inhalt be­kommen, so sinnvoll werden soll, daß unsere Seelen ineinanderspielen. Und das ist das Wesen wirklicher Liebe. Das ist auch ein Ausgleich von Polaritäten. Da, wo theosophische Gedanken zu Seelen dringen sollen, sollen sie die anderen Pole anregen, sollen sich an diesem Pol ausgleichen. Das ist es, was wie eine theosophische Sphärenmusik wirken kann. Wenn wir in dieser Weise mit Harmonie in der geistigen Welt wirken, dann werden wir, wenn wir im theosophischen Leben wirklich sind, im theosophischen Leben auch vereinigt sein.

So hätte ich es gern, daß wir auffassen unser heutiges Zusammensein.

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Diese geistigen Angelegenheiten waren ein Ausdruck des Geistes der Liebe und sind gewidmet dem Geiste der Liebe unter uns Theo­sophen. So wird diese Liebe, durch den Zündstoff, den wir haben, dazu beitragen, die gegenseitigen geistigen Inhalte auszutauschen, so wird diese Liebe etwas sein, durch die wir immer mehr und mehr nicht nur erhalten, sondern immer mehr angefacht werden zu theo­sophischem Streben, und die Geisteswissenschaft wird dann werden eine Verbreiterin dieser das Innerste der Menschenseele berührenden Liebe. Dann lebt sie weiter, diese Liebe. Dann erlangen wir als Men­schen, die räumlich voneinander getrennt sein müssen, innerhalb der Theosophischen Gesellschaft auch das, daß diese Liebe vorhalten wird, von den Zeiten, durch die wir durch Karma zusammengeführt worden sind, auch über die Zeiten hin, in denen wir räumlich auf dem physischen Plane getrennt sind. So bleiben wir zusammen und be­trachten als die rechte Veranlassung, immer zusammenzubleiben mit dem Besten, was wir in unseren Seelen haben, daß wir uns mit unseren besten geistigen Fähigkeiten zu göttlich-geistigen Höhen zusammen hinaufgeschwungen haben. Und so, meine lieben Freunde, wollen wir auch weiter zusammen­bleiben.

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THEOSOPHISCHE MORAL

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ERSTER VORTRAG Norrköping, 28. Mai 1912

Wir haben, folgend einem Impulse, der sich mir ergeben hat, und über den vielleicht noch weiter zu sprechen sein dürfte, in diesen Tagen zu betrachten eines der wichtigsten, eines der bedeutendsten Gebiete unserer theosophischen Lebensanschauung. Es ist ja nicht selten, daß uns der Vorwurf gemacht wird, daß wir uns so gerne erheben in der Betrachtung weit entfernt liegender kosmischer Ent-wickelungen in ihrem Zusammenhange mit dem Menschen, daß wir uns in die Gebiete geistiger Welten gern erheben, indem wir so ent­fernte Ereignisse der Vergangenheit und so weit ausblickende Per­spektiven der Zukunft allzuoft nur betrachten, und fast außer acht lassen dasjenige Gebiet, welches den Menschen am allernächsten liegen müßte: das Gebiet menschlicher Moral und menschlicher Ethik.

An dem, was da so oftmals gesagt wird, wenn uns der Vorwurf gemacht wird, daß wir dieses wichtigste Gebiet menscMichen Seelen­und menschlichen sozialen Lebens weniger berührten als jenes eben weiter abliegende Gebiet, an dem ist richtig, daß dieses Gebiet, das Gebiet menschlicher Moral, uns das allerwesentlichste sein muß. Was aber gesagt werden muß gegenüber diesem Vorwurfe, das ist, daß wir uns diesem Gebiete, gerade wenn wir die ganze Bedeutung und Trag­weite theosophischen Lebens und theosophischer Gesinnung in uns empfinden, nur in heiligster Scheu nähern dürfen, so daß wir uns bewußt sind, daß, wenn es im richtigen Sinne betrachtet sein will, es den Menschen so nahe berührt als nur irgend möglich und die ernst­lichste, die allerwürdigste Vorbereitung erfordert.

Der Vorwurf, der gegen uns von jener Seite in der eben charakteri­sierten Art erhoben wird, könnte vielleicht in die folgenden Worte gekleidet werden. Es könnte gesagt werden: Wozu lange Weltbe­trachtun gen? Wozu Erzählungen über viele Rel nkarnationen vieler

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Wesen, über die komplizierten Verhältnisse des Karma, wenn doch das Allerwichtigste im Leben dasjenige ist, was ein auf der Höhe dieses Lebens angekommener Weiser seinen Bekennern immer und immer wiederholte, als er nach einem reichen Weisheitsieben, schon krank und schwach, sich tragen lassen mußte: Kinder, liebet einander. So sprach bekanntlich der Apostel, der Evangelist Johannes im höch­sten Alter, und oft und oft ist es betont worden, daß mit diesen drei Worten: Kinder, liebet einander! der Extrakt tiefster sittlicher Lebens­weisheit gegeben ist. Und es könnte da mancher sagen: Wozu also alles andere, wenn das Gute, wenn die hehren sittlichen Ideale in einer so einfachen Weise erfüllt werden können, wie es im Sinne dieser Worte des Evangelisten Johannes ist?

Eines berücksichtigt man nicht, wenn man aus der ganz richtigen, oben angeführten Tatsache die Behauptung herleitet, daß es für die Menschen genügte zu wissen, daß sie einander lieben sollen. Eines berücksichtigt man dabei nicht, nämlich den Umstand, daß derjenige, der so als ein Zeuge angeführt wird für diese Worte, diese eben am Ende eines reichen Weisheitslebens gesprochen hat, am Ende eines Lebens, welches in sich faßte die Niederschrift des tiefsten, bedeu­tungsvollsten Evangeliums, und daß der, der sie gesprochen hat, diese Worte, erst dann sich das Recht gab sie zu sprechen, nachdem er dieses reiche Weisheitsleben, das zu so großen und gewaltigen Ergebnissen geführt hat, hinter sich hatte. Ja, wer ein Leben wie er hinter sich hat, der darf alles dasjenige, was Menschenseelen fühlen können bei den tiefen Weisheiten, die im Johannes-Evangelium stehen, zusammen­fassen in die eben angeführten Worte als seiner Weisheit letzten Schluß, der aus unergründlichen Seelentiefen hineinfließt in die Tiefen auch anderer Herzen und anderer Seelen. Wer aber nicht in einer solchen Lage ist, der muß sich eben das Recht, in so einfacher Weise die höchsten sittlichen Wahrheiten auszusprechen, erst dadurch holen, daß er sich in die Gründe der Weltgeheimnisse vertieft. So trivial der viel wiederholte Satz ist: Wenn zwei dasselbe sagen, so ist es doch nicht dasselbe, er gilt in ganz besonderem Maße für das eben Ange­führte. Wenn irgend jemand, der einfach ablehnen will, etwas über die Weltgeheimnisse zu wissen und von ihnen zu verstehen, sagt: Es

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ist doch so einfach, das höchste moralische Leben zu charakterisieren, und die Worte gebraucht: Kinder, liebet einander, so ist das eben etwas anderes, als wenn der Evangelist Johannes diese Worte sagt, und noch dazu am Ende eines so reichen Weisheitslebens. Deshalb sollte gerade derjenige, der diese Worte des Evangelisten Johannes versteht, einen ganz anderen Schluß daraus ziehen, als gewöhnlich daraus gezogen wird. Er sollte den Schluß daraus ziehen, daß man zunächst über solch tief bedeutsame Worte zu schweigen hat, und daß man sie erst aussprechen darf, wenn man die nötige Vorbereitung, die nötige Reife dazu sich erworben hat.

Aber nun, nachdem wir dieses wie eine ganz gewiß manchem doch recht zu Herzen gehende Aussage gemacht haben, wird sich etwas ganz anderes in unserer Seele ergeben, was von einer unendlich tief­greifenden Bedeutung ist. Der Mensch wird sich sagen: Ja, es mag schon so sein, daß die moralischen Prinzipien in ihrer tiefsten Be­deutung erst am Ende aller Weisheit begriffen werden können, brau­chen tut sie der Mensch aber immer. Wie könnte es denn dann in der Welt überhaupt möglich sein, irgendeine moralische Gemeinschaft, ein soziales Werk zu fördern, wenn man warten müßte mit der Er­kenntnis der höchsten moralischen Prinzipien bis ans Ende des Weis­heitsstrebens. Das Notwendigste für das menschliche Zusanimenleben ist die Moral, und nun behauptet da jemand, daß die moralischen Prinzipien erst am Ende des Weisheitsstrebens zu erlangen sind. Da könnte allerdings mancher sagen, daß er verzweifeln möchte an der weisheitsvollen Einrichtung der Welt, wenn das so wäre, wenn das, was man am notwendigsten braucht, erst am Ende des menschlichen Strebens erreicht werden könnte.

Die Antwort auf das, was hiermit charakterisiert worden ist, geben uns reichlich die Tatsachen des Lebens. Sie brauchen nur zwei Tat­sachen des Lebens zusammenzustellen, die Ihnen zweifellos recht gut in der einen oder anderen Form bekannt sind, und Sie werden gleich sehen, daß sowohl das eine richtig sein kann, daß wir zu den höchsten moralischen Prinzipien und ihrem Verständnis erst beim Abschluß des Weisheitsstrebens gelangen, wie auch das andere, daß die Sachen, die eben angedeutet worden sind, moralische und soziale Gemeinschaften

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und Werke, ohne Moral nicht bestehen können. Sie werden das gleich einsehen, wenn Sie sich zwei Tatsachen vor die Seele rücken, die Ihnen in der einen oder anderen Form ganz gewiß bekannt sind. Oder wer hätte nicht schon gesehen, wie ein intellektuell hoch ent­wickelter Mensch, vielleicht sogar ein solcher, der nicht bloß äußere Wissenschaftlichkeit mit einem klugen und intellektuellen Erfassen in sich aufgenommen hat, sondern der auch theoretisch und praktisch viel von okkulten und von spirituellen Wahrheiten begriffen hat, gar kein besonders moralischer Mensch ist. Wer hätte nicht schon gesehen, daß kluge, geistig hoch entwickelte Menschen auf moralische Abwege gekommen sind? Und wer hätte die andere Tatsache nicht erlebt, an der wir so unendlich viel lernen können, daß er zum Beispiel eine Kinderfrau kennengelernt hat mit eng begrenztem Horizonte, mit ge­ringer Intellektualität und wenigen Erkenntnissen, die nicht etwa ihre eigenen Kinder, sondern, in fremden Diensten stehend, anderer Leute Kinder, eines nach dem anderen, erzog von den ersten Wochen des physischen Daseins an, mitgewirkt hat an deren Erziehung und bis vielleicht zu ihrem Tode alles, was sie hatte, für diese Kinder ge­opfert hat in einer absolut liebevollen Weise, in der selbstlosesten Hin­gabe, die sich nur denken läßt. Und ware irgend jemand an die Frau herangekommen mit moralischen Prinzipien, gewonnen an den aller­höchsten Weisheitsschätzen, wahrscheinlich hätte sie sich gar nicht besonders für diese moralischen Prinzipien interessiert. Wahrschein­lich würde sie sie höchst unverständlich und nutzlos gefunden haben. Aber, was sie moralisch gewirkt hat, das bewirkt mehr als eine bloße Anerkennung, das bewirkt oft in einem solchen Falle, daß wir uns in Ehrfurcht beugen vor dem, was aus dem Herzen ins Leben strömt und unendlich viel Gutes schafft.

Tatsachen solcher Art beantworten Rätsel des Lebens oft viel klarer als theoretische Auseinandersetzungen, denn wir sagen uns, daß die weisheitsvolle Schöpfung, die weisheitsvolle Evolution nicht ge­wartet hat, bis die Menschen die moralischen Prinzipien erfunden haben, um moralisches Handeln, moralisches Wirken der Welt mitzuteilen. Deshalb müssen wir sagen: Es ist eben zunächst, wenn wir absehen von den unmoralischen Handlungen, deren Grund wir noch im

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Laufe dieser Vorträge kennen lernen werden, doch etwas vorhan­den, was als ein göttliches Erbteil in der menschlichen Seele liegt, gegeben als ursprüngliche Moralität, die man nennen könnte in­stinktive Moralität, und die es der Menschheit schon möglich macht zu warten, bis die moralischen Prinzipien ergründet werden kön­nen.

Aber es ist vielleicht ganz unnötig, sich viel Sorge zu machen wegen der Ergründung der moralischen Prinzipien. Könnte man denn nicht vielleicht sagen, daß es am besten sei, wenn die Menschen sich ihren ursprünglichen moralischen Instinkten überlassen und sich nicht ver­wirren durch theoretische Auseinandersetzungen über die Moral? Daß auch dieses nicht der Fall ist, das sollen gerade diese Vorträge zeigen; sie sollen zeigen, daß wir zum mindesten in demjenigen Menschheits­zyklus, in dem wir uns gegenwärtig befinden, theosophische Moral suchen müssen, daß theosophische Moral eine Aufgabe sein muß, welche sich ergibt als eine Frucht unseres gesamten theosophischen Strebens und unserer theosophischen Wissenschaft.

Ein neuzeitlicher Philosoph, der gewiß auch im Norden nicht un­bekannte Schopenhauer, hat neben manchem recht Irrtümlichen, das seine Philosophie enthält, einen sehr richtigen Satz ausgesprochen ge­rade in bezug auf die Prinzipien der Moral, nämlich: Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer. Recht wahr ist dieser Ausspruch, denn es gibt eigentlich kaum etwas Leichteres, als in einer Weise, die zu den allernächsten Prinzipien des menschlichen Fühlens und Emp­findens geht, auszusagen, was der Mensch tun oder lassen soll, damit er ein guter Mensch sei. Zwar beleidigt es sogar manche Seele, wenn behauptet wird, daß das leicht sei. Aber es ist einmal leicht, und derjenige, der das Leben, der die Welt kennt, wird auch nicht be­zweifeln, daß wohl kaum über irgend etwas so viel gesprochen wor­den ist als über die richtigen Grundsätze des sittlichen Handelns. Und insbesondere das eine ist auch wahr, daß man im Grunde genommen die allermeiste Zustimmung bei seinen Mitmenschen findet, wenn man von diesen allgemeinen Grundsätzen sittlichen Handelns spricht. Es tut so wohl, möchte man sagen, den zuhörenden Gemütern und man fühlt so sehr, daß man da unbedingt übereinstimmen kann mit dem,

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was der Redner sagt, wenn er die allerallgemeinsten Grundsätze mo­ralischen Verhaltens des Menschen vorbringt.

Aber mit moralischen Lehren, mit moralischen Predigten ist noch keine Moral begründet. Wirklich nicht. Wenn nämlich mit morali­schen Lehren, mit moralischen Predigten Moral überhaupt begründet werden könnte, dann gäbe es heute sicherlich keine unmoralischen Handlungen mehr; dann müßte die ganze Menschheit von moralischen Handlungen, man möchte schon sagen, nur so triefen, denn es hat ja jeder ganz zweifellos oft und oft und immer wieder Gelegenheit ge­habt, die schönsten moralischen Grundsätze zu hören, insbesondere deshalb zu hören, weil sie so gern gepredigt werden. Aber zu wissen, was man tun soll, was das moralisch Richtige ist, das ist das Aller­wenigste auf moralischem Boden. Das Allerwichtigste auf morali­schem Boden dagegen ist, daß in uns Impulse leben können, welche durch ihre innere Stärke, ihre innere Gewalt in moralische Hand­lungen sich umsetzen, welche also nach außen hin moralisch sich aus-leben. Das tun bekanntlich moralische Perdigten oder die Resultate moralischer Predigten durchaus nicht. Das aber heißt Moral begrün­den, wenn der Mensch hingeführt wird zu den Quellen, aus denen er jene Impulse nehmen muß, aus denen ihm die Kräfte zuteil werden, die zum moralischen Handeln führen.

Wie schwer diese Kräfte zu finden sind, das zeigt uns die einfache Tatsache, daß es eigentlich wirklich unzählige Male versucht worden ist, von philosophischer Seite zum Beispiel eine Ethik, eine Moral zu begründen. Wieviel verschiedene Antworten gibt es nicht in der Welt auf die Frage: Was ist das Gute? oder: Was ist die Tugend? Schreiben Sie sich einmal zusammen, was gesagt haben die Philo­sophen, von Plato und Aristoteles angefangen, durch die Epikuräer, die Stoiker, die Neu-Platoniker, die ganze Reihe herauf bis in die neu­zeitlichen philosophischen Anschauungen hinein; schreiben Sie sich einmal all das zusammen, was da gesagt worden ist, ich will nur sagen von Plato bis Herbert Spencer, über die Natur und das Wesen des Guten und der Tugend, und Sie werden sehen, wieviel verschiedene Ansätze gemacht worden sind, um zu den Quellen des moralischen Lebens, zu den Quellen der moralischen Impulse vorzudringen.

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Die Vorträge, die ich hier halten will, sollen Ihnen zeigen, daß in der Tat erst die okkulte Vertiefung des Lebens, das Eindringen in die okkulten Geheimnisse des Lebens es möglich macht, nicht bloß zu moralischen Lehren, sondern zu moralischen Impulsen, zu den mora­lischen Quellen des Lebens vorzudringen.

Da allerdings zeigt uns ein einziger Blick, daß dies Moralische in der Welt durchaus nicht immer so einfach sich darlebt, als man von einem gewissen bequemen Standpunkte aus glauben möchte. Lassen wir für einige Zeit dasjenige, was man heute unter dem Moralischen anspricht, zunächst außer acht und betrachten wir das Leben der Menschen einmal auf solchen Gebieten, auf denen wir vielleicht für eine moralische Lebensanschauung viel gewinnen können.

Unter den mancherlei Dingen, die uns der Okkultismus schon ge­bracht hat, wird die Erkenntnis, daß bei den verschiedenen Völkern in den verschiedenen Erdgebieten die mannigfaltigsten Anschauungen, die mannigfaltigsten Impulse sich geltend gemacht haben, nicht das Geringste sein. Vergleichen wir einmal zwei zunächst weit vonein­ander abstehende Menschheitsgebiete. Gehen wir zurück in das ehr­würdige Leben des alten Indiens und betrachten wir, wie es sich nach und nach entwickelt hat bis in die neuesten Zeiten herauf; denn Sie wissen ja, für keines der Gebiete des eigentlichen Lebens auf der Erde, die uns bekannt sind, gilt in so hohem Maße wie für Indien die Tat­sache, daß dasjenige, was Charakteristikum uralter Zeiten war, sich erhalten hat bis in die neuesten Zeiten herauf. Für kein Gebiet gilt das mehr als für das Leben innerhalb der indischen und einiger an­deren asiatischen Kulturen. Bis in die neuesten Zeiten herauf haben sich die Gefühle, die Empfindungen, die Gedanken, die Anschauungen erhalten, die wir schon finden in diesen Volksgebieten in ururalten Zeiten. Das ist das Eindrucksvolle, daß sich in diesen Kulturen er­halten hat ein Abglanz uralter Zeiten, daß, wenn wir das betrachten, was sich bis in unsere Zeit herein erhalten hat, wir sozusagen in die alten Zeiten zugleich hineinschauen.

Nun kommen wir aber mit konkreten, bestimmten Volksgebieten nicht weit, wenn wir etwa von vornherein nur unseren eigenen mo­ralischen Maßstab anlegen. Deshalb wollen wir heute das, was man

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über die moralischen Dinge dieser Zeiten sagen könnte, zunächst aus­geschlossen sein lassen und nur fragen: Was hat sich herausgebildet aus diesen charakteristischen Eigentümlichkeiten der uralten, ehr­würdigen indischen Kultur?

Zunächst finden wir da, aufs höchste verehrt, aufs höchste geheiligt, dasjenige, was man nennen kann die Andacht, die Hingabe an das Geistige. Und um so mehr geheiligt und gewürdigt finden wir diese Hingabe an das Geistige, je mehr der Mensch in der Lage ist, in sich selbst Einkehr zu halten, still in sich zu leben und das Beste, was in ihm ist, abgesehen von aller Wirksamkeit in der äußeren Welt, ab­gesehen von allem, was der Mensch sein kann auf dem physischen Plane, hinzulenken zu den Urgründen der geistigen Welten. Als höchste Pflicht sehen wir diese andächtige Hinlenkung der Seele zu den Urgründen des Daseins bei denjenigen, welche zur obersten Kaste des indischen Lebens gehört haben oder gehören, bei den Brahminen. Alles, was sie tun, alle ihre Impulse sind hingeordnet nach dieser An­dacht; und es gibt nichts, was das sittliche Empfinden und Fühlen dieser Menschen tiefer beeindruckt, als diese Hinlenkung nach dem Göttlich-Geistigen in einer alles Physische vergessenden Andacht, in einer intensiv tiefen Selbstbeobachtung und Selbstentäußerung. Und wie das sittliche Leben dieser Menschen von dem eben Bezeichneten durchdrungen wird, das können Sie aus der anderen Tatsache ersehen, daß diejenigen, welche, namentlich in älteren Zeiten, anderen Kasten angehört haben, es als selbstverständlich ansehen, daß die Kaste der Andacht, die Kaste des religiösen und rituellen Lebens als etwas Ehr­würdiges und Ausgesondertes betrachtet wird. So war das ganze Leben durchzogen von diesen eben charakterisierten Impulsen der Hinlenkung auf das Göttlich-Geistige. Das ganze Leben stand in dem Dienste dieser Hinlenkung, und mit allgemeinen Moralprinzipien, die irgendeine Philosophie begründet, kann man das nicht verstehen, um was es sich hier handelt. Man kann es nicht verstehen aus dem Grunde, weil in den Zeiten, in denen im alten Indien sich diese Dinge ent­wickelt haben, sie zunächst bei anderen Völkern unmöglich gewesen sind. Diese Impulse brauchten das Temperament, den Grundcharakter gerade dieses Volkes, damit sie sich in dieser Intensität entwickeln

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konnten. Dann gingen sie im Verlaufe der äußeren Kulturströmung von da aus und verbreiteten sich über die übrige Erde hin. Wenn wir das, was unter dem Göttlich-Geistigen gemeint ist, verstehen wollen, so müssen wir zu dieser Urquelle gehen.

Und jetzt wenden wir den Blick weg von diesem Volkstum und wenden ihn zu einem anderen. Wenden wir ihn nach dem europäischen Gebiete. Lenken wir den Blick zu den europäischen Völkern in den Zeiten, als noch nicht das Christentum eingedrungen war in die euro­päische Kultur, als es eben anfing einzudringen. Ihnen allen ist be­kannt, daß gleichsam dem Christentum, das von Osten und Süden her nach Europa eindrang, sich entgegenlegte das europäische Volks­tum mit ganz bestimmten Impulsen, mit ganz bestimmten inneren Werten und Kräften. Und wer die Geschichte der Einführung des Chri­stentums in Europa, in Mitteleuropa und auch hier im Norden, studiert, namentlich wer sie mit okkulten Mitteln studiert, der weiß, was es auf dem einen oder anderen Gebiete gekostet hat, um mit diesem oder jenem christlichen Impulse den Ausgleich zu finden mit dem, was von Nord- und Mitteleuropa dem Christentum entgegengebracht worden ist.

Und fragen wir jetzt, wie wir gefragt haben beim indischen Volks­tum, welches die hervorragendsten sittlichen Impulse waren, was da von den Völkern, deren Nachkommen die gegenwärtige europäische Bevölkerung namentlich des Nordens, Mitteleuropas und Englands ist, als moralisch Gutes, als moralisches Erbstück entgegengebracht worden ist dem Christentum. Wir brauchen nur eine einzige der Haupttugenden zu nennen, und sogleich wissen wir, daß wir etwas recht Charakteristisches f;ir diese nordische Bevölkerung, für die mitteleuropäische Bevölkerung sagen. Wir brauchen nur das Wort Tapferkeit, Starkmut zu sagen, das Eintreten mit der ganzen persön­lichen Menschenkraft, um in der physischen Welt zu verwirklichen, was der Mensch aus seinen innersten Impulsen heraus wollen kann, dann haben wir die allerhauptsächlichsten Tugenden genannt, die entgegengebracht wurden von den Europäern dem Christentum. Und die anderen Tugenden sind im Grunde genommen - wir finden dieses um so mehr, je weiter wir in die alten Zeiten zurückgehen - die Folgen dieser Tugenden.

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Betrachten wir die eigentliche Starkmut, die eigentliche Tapferkeit nach einigen ihrer Grundeigenschaften, so finden wir, daß sie besteht aus einer inneren Lebensfülle, die ausgeben kann. Das ist es, was uns in alten Zeiten, gerade bei den europäischen Völkern am meisten auf-fällt. Solch ein Mensch, wie er der alten europäischen Bevölkerung angehört, hat in sich mehr, als er fur seinen persönlichen Gebrauch bedarf. Aber er gibt aus das Mehr, weil er den Impuls dazu hat, das auszugeben. Er folgt ganz instinktiv dem Impulse, das, was er zuviel hat, auszugeben. Man möchte sagen: Mit nichts mehr war der alte europäische Norden verschwenderischer als mit seinem moralischen Überfluß, mit seiner Tüchtigkeit, seiner Tauglichkeit, Lebensimpulse in den physischen Plan hinausströmen zu lassen. Es war wirklich so, wie wenn die Menschen der europäischen Urzeit, jeder einzelne, mit­bekommen hätte eine ganz bestimmte Fülle von Kraft, die mehr be­deutete, als der Mensch für seinen persönlichen Gebrauch bedurfte, von der er ausströmen hat können, mit der er verschwenderisch hat sein können, die er hat verwenden können zu seinen kriegerischen Taten, zu den Taten jener uralten Tugend, welcher die neuere Zeit unter den Untugenden zu nennenden menschlichen Eigenschaften einen Platz gegeben hat; die er verwendet hat zum Beispiel zu dem, was man bezeichnet hat als Großmut. Handeln aus Großmut, das ist wieder etwas, was so charakteristisch ist für die uralte europäische Bevölkerung, wie charakteristisch ist das Handeln aus Andacht für die uralt indische Bevölkerung.

Mit Prinzipien, mit theoretischen Moralgrundsätzen hätte man der europäischen Bevölkerung der Urzeiten nicht dienen können, denn sie hätte wenig Verständnis dafür bewiesen. Einem Menschen der europäischen Urzeit moralische Predigten zu halten, das wäre so ge­wesen, wie wenn man einem Menschen, der das Rechnen nicht liebt, den Rat geben wollte, er solle mit aller Präzision aufschreiben seine Einnahmen und Ausgaben. Wenn er das nicht liebt, dann bedarf es nur des einzigen Umstandes, daß er das Aufschreiben nicht nötig hat, daß er also genug besitzt, um ausgeben zu können. Dann kann er das sorgfältige Rechnungführen vermeiden, wenn er einen unerschöpf­lichen Quell hat. Es ist ein nicht unerheblicher Umstand, er gilt theoretisch

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durchaus mit Beziehung auf das, was der Mensch für das Leben wert hält, mit Beziehung auf die persönliche Tüchtigkeit, auf das persönliche Eintreten. Für die Einrichtung der Welt gilt das von den moralischen Gefühlen der alten europäischen Bevölkerungen. Jeder hatte sozusagen sein göttliches Erbstück mitbekommen, fühlte sich voll davon und gab aus, gab aus im Dienste des Stammes, im Dienste der Familie, im Dienste auch größerer Volkszusammenhänge. So wurde gewirkt, so wurde gewirtschaftet, so wurde gearbeitet.

Nun haben wir hier zwei Menschheitsgebiete bezeichnet, die recht sehr voneinander verschieden sind, denn das Andachtsgefühl, wie es beim Indier zu Hause war, das fehlte der europäischen Bevölkerung absolut. Deshalb war es dem Christentum so schwer, dieses Andachtsgefühl der europäischen Bevölkerung zu bringen. Ganz andere Vor­aussetzungen waren da.

Und nun, nachdem wir diese Dinge vor unsere Augen hingestellt haben, fragen wir uns einmal, abgesehen von allen Einwendungen eines moralischen Begriffs, nach dem moralischen Effekt. Da bedarf es nicht vieler Überlegung, um zu wissen, daß dieser moralische Effekt da, wo die beiden Weltanschauungen und Gesinnungsrichtungen in ihrer reinsten Form sich getroffen haben, ein unendlich großer war. Unendliches ist der Welt gegeben worden durch dasjenige, was nur hat errungen werden können dadurch, daß ein Volkstum vorhanden war wie das alte indische, mit der Hinordnung alles Empfindens nach der Andacht, mit der Hinlenkung zum Höchsten. Aber Unend­liches ist auch der Welt gegeben worden, das könnte man mit Einzel­heiten belegen, durch das, was die Tapferkeit, die Starkinut der euro­päischen Menschen der älteren vorchristlichen Zeit bewirken sollte. Beide Dinge mußten zusammenwirken, und beide Dinge gaben den moralischen Effekt, von dem wir sehen werden, wie er heute noch fortwirkt und wie er heute nicht nur einem Teile der Menschheit, sondern der ganzen Menschheit von beiden Seiten zugute gekommen ist, wie er lebt in allem, was die Menschheit als Höchstes betrachtet, sowohl der Effekt aus dem Indiertum als auch der Effekt aus dem uralten Germanentum.

Können wir so ohne weiteres nun sagen, dasjenige, was diesen moralischen

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Effekt für die Menschheit hat, sei das Gute? Das dürfen wir ohne Zweifel sagen. In beiden Kulturströmungen muß es das Gute sein, und es muß irgendein Ding sein, was wir als das Gute bezeichnen können. Aber wenn wir sagen sollen: Was ist das Gute? so stehen wir wieder vor einer Rätselfrage. Was ist das Gute, das gewirkt hat in dem einen und in dem anderen Falle?

Ich möchte Ihnen nicht moralische Predigten halten, denn das be­trachte ich nicht als meine Aufgabe. Ich betrachte es vielmehr als meine Aufgabe, die Tatsachen Ihnen vorzuführen, welche zu einer theosophischen Moral führen. Daher habe ich Ihnen zunächst zwei Systeme bekannter Tatsachen angeführt, von denen ich nichts anderes zu berücksichtigen bitte, als daß die Tatsache der Andacht und die Tatsache der Starkmut moralische Effekte für die Kulturentwicke­lung der Menschheit haben.

Nun wenden wir den Blick zu noch anderen Zeiten. Sie werden, wenn Sie unser gegenwärtiges Leben mit seinen sittlichen Impulsen in Betracht ziehen, sich selbstverständlich sagen: Wir können heute nicht so sein, wenigstens nicht in Europa, wie das reinste Ideal des Indiertums es erfordert, denn man kann nicht europäische Kultur mit indischer Andacht pflegen. Aber ebensowenig wäre es möglich, das­jenige, was heute unsere Kultur ist, mit der alten, aufs höchste zu preisenden Starkmut-Tugend der europäischen Bevölkerung zu er­reichen. Und ohne weiteres zeigt sich uns, daß in den Tiefen der mo­ralischen Empfindung der europäischen Bevölkerung noch etwas an­deres liegt. Wir müssen also noch etwas anderes aufsuchen, um be­antworten zu können die Frage: Was ist das Gute? Was ist die Tugend?

Ich habe öfter darauf hingewiesen, daß wir zu unterscheiden haben diejenige Epoche, die wir den griechisch-lateinischen, den vierten nachatlantischen Kulturzeitraum nennen, und diejenige, die wir nen­nen den fünften nachatlantischen Kulturzeitraum, in dem wir gegen­wärtig leben. Eigentlich soll das, was ich zu sagen habe in bezug auf das moralische Wesen, die Entstehung des fünften nachatlantischen Kulturzeitraums charakterisieren. Beginnen wir mit einer Sache, die Sie zunächst für anfechtbar halten können, da sie aus der Welt der

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Dichtung, der Welt der Sage genommen ist. Aber sie ist doch bezeich­nend für die Art und Weise, wie neue moralische Impulse wirksani geworden sind, wie sie hineingeflossen sind in die Menschen, als nach und nach die Entwickelung unseres fünften nachatlantischen Kultur­zeitraums einsetzte.

Es gab einen Dichter, der gelebt hat Ende des zwölften und Anfang des dreizehnten Jahrhunderts. Er starb im Jahre 1213 und heißt Hartmann von Aue. Dieser Dichter hat ganz aus der Denkweise und den Tatsachen der damaligen Zeit heraus seine bedeutendste Dichtung geschaffen, und zwar aus der Anschauung heraus, die dazumal im Volke überall gelebt hat: die Dichtung «Der arme Heinrich». Diese Dichtung drückt im eminentesten Sinne aus, wie man in gewissen Kreisen und Volksgebieten dazumal über gewisse moralische Impulse dachte. In dieser Dichtung ist folgendes enthalten: Da lebte der arme Heinrich als ein reicher Ritter, denn ursprünglich war er kein armer Heinrich, sondern ein wohlbestallter Rittersmann, der aber außer acht ließ, daß die sinnenfälligen Dinge des physischen Planes hin­fällig, vergänglich sind, der also in den Tag hineinlebte und dadurch sich so schnell als möglich schlimmes Karma schaffte. Daher wird er befallen von dem, was man damals nannte die Miselsucht, eine Art Aussatz, und da er zu den berühmtesten Ärzten der ganzen damaligen Welt geht und keiner ihm helfen kann, so gibt er sein Leben verloren und verkauft seine Güter. Unter die Menschen konnte er mit seiner Krankheit nicht gehen. Er lebte daher abseits von ihnen einsam auf einem Meierhofe, treu gepflegt von einem alten ergebenen Diener, der den Wirtschaftshof führte, und dessen Tochter. Eines Tages wird der Tochter und überhaupt der Familie des ganzen Wirtschaftshofes die Kunde zuteil, daß nur eines helfen kann dem Ritter, der dieses Schick­sal hat. Kein Arzt, keine Arznei kann ihm helfen, nur wenn eine reine Jungfrau in Liebe ihr Leben für ihn opfert, sollte eine Gesundung wieder möglich sein. Trotz aller Ermahnungen der Eltern und des Ritters Heinrich selber kommt etwas über die Tochter, das sie glauben macht, daß sie es wäre, die sich opfern müsse. Da begibt sich die Toch­ter nach Salerno, der berühmtesten medizinischen Schule der dama­ligen Zeit. Nicht schreckt sie zurück vor dem, was die Ärzte von ihr

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verlangen. Sie ist bereit, ihr Leben zu opfern. Der Ritter läßt es aber nicht so weit kommen, er verhindert es und zieht mit ihr nach Hause. Aber die Dichtung erzählt uns, daß der Ritter, als er nach Hause kam, wirklich nach und nach gesund zu werden begann und daß er dann mit derjenigen, die seine Erlöserin hat werden wollen, noch lange Zeit lebte und einen glücklichen Lebensabend hatte.

Ja, Sie können sagen: Zunächst ist das eine Dichtung, und wir brauchen nicht wörtlich an die Tatsachen, die da mitgeteilt sind, zu glauben. Aber die Sache wird schon anders, wenn wir das, was Hart­mann von Aue, der mittelalterliche Dichter, dazumal in seinem «Armen Heinrich» gedichtet hat, vergleichen mit etwas, was wirklich geschehen ist, wie wir gut wissen, mit dem Leben eines Ihnen wohl­bekannten Menschen und den Taten desselben. Ich meine, wenn wir das, was darstellen hat wollen Hartman von Aue, vergleichen mit dem Leben des damals in Italien lebenden, im Jahre 1182 geborenen Franz von Assisi.

Nun lassen wir einmal, um zu charakterisieren, was da, wie kon­zentriert in der einen Persönlichkeit des Franz von Assisi, an Mora­lisch-Persönlichem vor sich geht, die Sache so vor unserer Seele vor-überziehen, wie sie sich dem Okkultisten darstellt, selbst wenn wir für närrisch und abergläubisch gehalten werden sollten. Nehmen wir die Dinge ernst, weil sie in jener Übergangszeit auch so ernst gewirkt haben.

Wir wissen, daß Franz von Assisi der Sohn des italienischen, in Frankreich viel herumreisenden und Geschäfte treibenden Kaufmanns Bernardone und seiner Frau war. Wir wissen auch, daß der Vater des Franz von Assisi ein auf äußerliches Ansehen viel gebender Mensch war. Die Mutter war eine den frommen Tugenden und feinen Cha­raktereigenschaften des Herzens zugängliche, andächtige, ihren reli­giösen Empfindungen lebende Frau. Die Dinge, die nun umspielen in Form von Sagen die Geburt des Franz von Assisi und sein Leben, entsprechen durchaus okkulten Tatsachen. Wenn auch okkulte Tat­sachen häufig von der Geschichte in Bilder und Legenden gehüllt werden, so entsprechen diese Legenden aber doch okkulten Tatsachen. So ist es durchaus wahr, daß einer ganzen Anzahl von Personen,

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bevor Franz von Assisi geboren wurde, wie eine visionäre Offen­barung, wie ein Wissen, eine Erkenntnis zugekommen ist, daß eine wichtige Persönlichkeit werde geboren werden. Herausgehoben ist von der äußeren Geschichte aus der großen Anzahl von den Personen, die das geträumt haben, das heißt die in prophetischer Vision gesehen haben, daß eine wichtige Persönlichkeit geboren werden wird, heraus­gehoben ist da die heilige Hildegard. - Ich betone hier nochmals die Wahrheit der aus den Erforschungen der Akasha-Chronik zu recht­fertigenden Tatsachen. - Sie träumte, daß ihr erschien ein Weib mit einem zetschundenen, blutüberströmten Antlitz und daß dieses Weib zu ihr sagte: Die Vögel haben ihre Nester hier auf der Erde, die Füchse haben ihre Höhlen auf der Erde, ich aber habe in der Gegenwart nichts, nicht einmal einen Stab, auf den ich mich stützen kann. Als Hildegard erwachte von diesem Traume, da wußte sie, daß die wahre Gestalt des Christentums mit dieser Persönlichkeit gemeint ist. Und so träumten noch viele andere Persönlichkeiten. Diese Persönlichkeiten sahen dazumal aus dem, was sie wissen konnten, daß die äußere Ein­richtung und Institution der Kirche nicht ein Behälter, eine Hülle für das wirkliche Christentum sein konnte. Das sahen sie ein.

Ein Pilger, wieder haben wir eine wahre Tatsache vor uns, kehrte einstmals, als der Vater des Franz von Assisi in Handelsgeschäften in Frankreich war, in dem Hause von Pica ein, zu der Mutter des Franz von Assisi, und sagte ihr direkt: In diesem Hause, wo Überfluß ist, darfst du das Kind, das du erwartest, nicht zur Welt bringen! Du mußt es gebären im Stalle, denn es muß liegen auf Stroh, um seinem Meister nachzufolgen! Diese Aufforderung ist wirklich an die Mutter des Franz von Assisi ergangen, und es ist keine Legende, sondern Wahrheit, daß die Mutter, weil der Vater auf Geschäftsreisen in Frankreich war, dieses auch ausführen konnte, so daß die Geburt des Franz von Assisi sich tatsächlich im Stalle und auf Stroh vollzogen hat.

Und auch das andere ist wahr: In den keineswegs so bevölkerten Ort kam, nachdem das Kind einige Zeit alt war, ein sonderbarer Mensch, ein Mann, der niemals vorher gesehen worden war und nie­mals später in dem Orte wiedergesehen wurde. Er zog wiederholt durch die Straßen und sagte: Ein wichtiger Mensch ist in dieser Stadt

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geboren worden. In jener Zeit haben die Leute, die noch ein gutes visionäres Leben führen konnten, auch Glocken läuten gehört wäh­rend der Geburt des Franz von Assisi.

Eine ganze Reihe von Erscheinungen könnte noch angeführt wer­den. Wir begnügen uns aber mit diesen, die nur dazu angeführt wer-den, um zu zeigen, wie bedeutsam alles aus der geistigen Welt heraus konzentriert war gegenüber der Erscheinung einer einzelnen Persön­lichkeit der damaligen Zeit. Besonders interessant wird uns das alles, wenn wir noch etwas anderes betrachten. Die Mutter hatte den be­sonderen Gedanken: Johannes soll das Kind heißen. Daher wurde ihm auch der Name Johannes beigelegt. Erst als der Vater von Frankreich zurückkam, gab er, aus seiner Gesinnung heraus, weil er gute Ge­schäfte dort gemacht hatte, seinem Sohn den Namen Franziskus. Ur­sprünglich hieß das Kind aber Johannes.

Nun brauchen wir nur einzelnes hervorzuheben aus dem Leben dieses sonderbaren Menschen, vor allen Dingen seine Jugendzeit. Was tritt uns in Franz von Assisi für ein Mensch entgegen, wenn wir ihn als Knaben betrachten? Es tritt uns, wie uns das bei den vielen Völker-mischungen nach den Einwanderungen von Norden her nicht aufzu­fallen braucht, ein Mensch entgegen, der sich ausnimmt wie ein Nach­komme des alten germanischen Rittertums. Tapfer, kriegerisch, von dem Ideale erfüllt, mit den Kriegswaffen Ruhm und Ehre zu erwer­ben, das war es, was sich wie ein Erbstück bei ihm ergab, was wie eine Rasseneigenschaft in der einzelnen Pörsönlichkeit des Franz von Assisi vorhanden war. Mehr äußerlich, möchte man sagen, treten bei ihm diejenigen Eigenschaften auf, die in einer mehr seelischen, herz-haften Art im alten Germanentum da waren; denn nichts anderes wurde da Franz von Assisi als das, was man einen Verschwender nennt. Verschwenderisch verfuhr er mit den reichen Gütern des Vaters, des damaligen reichen Handelsherrn. Wohin er ging, die Güter, die Früchte der Arbeit seines Vaters, verschwendete er reich­lich. Er hatte alle Hände voll übrig für alle seine Kameraden und seine Spielgenossen. Kein Wunder, daß er bei den kindlichen Kriegs­zügen von seinen Kameraden immer zum Anführer gewählt wurde und daß er dann so heranwuchs, daß man in ihm etwas sah wie einen

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richtigen kriegerischen Knaben. Als solcher war er auch in der ganzen Stadt bekannt. Zwischen den Knaben der Ortschaften Assisi und Perugia gab es allerlei Streitigkeiten. Daran nahm er nun auch Anteil, und es ereignete sich, daß er mit seinen Kameraden gefangen ge­nommen und gefangen gehalten wurde. Er war es nun, der nicht nur die Gefangenschaft ritterlich ertrug, sondern auch alle anderen auf­munterte, auszuhalten in ritterlicher Weise, bis sie nach einem Jahre wieder nach Hause gehen konnten. Und als ein im Dienste der Ritter­lichkeit notwendiger Kriegszug gegen Neapel unternommen werden sollte, da ereignete es sich, daß diesem jungen Menschen eine Traum-vision erschien. Er sah einen großen Palast. Darinnen waren überall Schilder und Waffen. Er sah etwas von einem Gebäude, in welchem überall Stücke von Waffen aufbewahrt waren. Diesen Traum hatte er, der nur allerlei Tuche im Geschäfte und im Hause seines Vaters gesehen hatte. Er sagte sich daher: Das ist die Aufforderung an dich, ein Kriegsmann zu werden! und er entschloß sich daraufhin, sich dem Kriegszuge gegen Neapel anzuschließen. Schon auf dem Hin-Wege, und noch mehr als er sich dem Kriegszuge angeschlossen hatte, bekam er spirituelle Eindrücke, spirituelle Impressionen. Er hörte etwas wie eine Stimme, die sprach: Nun gehe nicht weiter, du hast das für dich bedeutsame Traumbild falsch gedeutet. Gehe zur ück nach Assisi, und du wirst vernehmen, wie du es richtig zu deuten hast.

Er folgte diesen Worten, ging zurück nach Assisi, und siehe da, er hatte etwas wie ein inneres Zwiegespräch mit einem Wesen, das spi­rituell zu ihm sprach und ihm sagte: Nicht im äußeren Dienst hast du zu suchen deine Ritterschaft. Du bist bestimmt, alle Kräfte, welche du anwenden kannst, umzugestalten zu Kräften des Seelischen, um­zugestalten als Waffen, die du seelisch gebrauchen sollst. Alle Waffen, die dir erschienen sind im Palaste, bedeuten dir seelisch-geistige Waf­fen des Erbarmens, des Mitleids und der Liebe. Alle Schilder bedeuten dir die Vernunft, die du anzuwenden hast, um festzustehen gegenüber den Mühsalen eines in Erbarmen, Mitleid und Liebe zugebrachten Lebens. - Nachher folgte eine kurze, wenn auch nicht ungefährliche Krankheit, von der er aber genas. Danach ergab sich für ihn etwas wie eine Rückschau auf das ganze frühere Leben, in der er mehrere

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Tage lebte. Wie umgeschmiedet war der ganze Rittersmann, der in seinen kühnsten Träumen sich nur danach gesehnt hatte, ein Kriegs­held zu werden, zu einem Manne, der nun alle moralischen Impulse des Erb armes, des Mitleids und der Liebe bis in das letzte hinein suchte. Alle Kräfte, die er im Dienste des physischen Planes verwenden wollte, waren umgewandelt zu moralischen Impulsen des inneren Lebens.

Da sehen wir, wie gewissermaßen in einer einzelnen Persönlichkeit ein moralischer Impuls ausgelöst wird. Es ist nicht bedeutungslos, daß wir gerade einen großen moralischen Impuls betrachten, denn wenn auch der einzelne nicht immer zu den höchsten Höhen der moralischen Impulse sich aufschwingen kann, lernen kann man von ihnen doch nur da, wo die Impulse sich radikal aussprechen und wo wir sie wirken sehen in ihrer größten Macht. Gerade wenn wir unsere Aufmerksamkeit richten auf das Radikale, und das Kleine in dem Lichte betrachten, das uns aus dem Radikalen, dem Großen erscheint, kommen wir zu einer richtigen Anschauung über die moralischen Impulse des Lebens.

Aber, was ist nun mit Franz von Assisi geschehen? Es ist unnötig, die Kämpfe auseinanderzusetzen, die er mit seinem Vater gehabt hat, als er zu einer ganz anderen Art, zu einer ganz anderen Methode der Verschwendung überging. Die Verschwendung, bei der auch das Haus des Vaters zur Geltung kam, weil es durch diese Verschwendung des Sohnes zur Berühmtheit und zum Ansehen gekommen war, die ver­stand der Vater noch; nicht aber verstand er, daß der Sohn nach seiner Umwandlung seine besten Kleider von sich warf bis auf das Notwendigste und sie dem gab, der sie brauchte. Er konnte es nicht begreifen, als seinen Sohn die Anwandlung überkam, in der er sich sagte: Merkwürdig, wie wenig geachtet diejenigen sind, durch welche die christlichen Impulse im Abendlande so Großes erhalten haben. Danach pilgerte Franz von Assisi nach Rom und eine große Summe Geldes legte er nieder an den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus. Diese Dinge verstand der Vater nicht. Ich brauche nicht zu schildern die Kämpfe, die es da gab, ich brauche nur anzudeuten, daß sich für Franz von Assisi darin zusammengedrängt haben die ganzen mora­lischen Impulse. Die so zusammengedrängten Impulse hatten dann in

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Seelisches umgewandelt die Tapferkeit. Sie hatten sich so entwickelt, daß sie eine besondere Verstärkung erfuhren in den Meditationen und ihm erschienen als das Kreuz mit dem Crucifixus daran. In diesen Zuständen fühlte er eine innere, persönliche Beziehung zu dem Kreuze und zu dem Christus, und davon kamen ihm dann die Kräfte, durch die er so ins Unermeßliche steigern konnte die moralischen Impulse, die ihn jetzt durchströmten.

Eine merkwürdige Verwertung fand er für das, was jetzt in ihm sich entwickelte. In der damaligen Zeit waren nämlich die Schrecken des Aussatzes tatsächlich über viele europäische Länder hereinge­brochen. Das äußere Kirchenbekenntnis fand für diese Aussätzigen, die damals so zahlreich waren, eine merkwürdige Art von Heilungs­prozeß. Es ließ nämlich der Priester diese Aussätzigen zu sich kom­men und sagte dann zu ihnen; Du bist nun einmal mit dieser Krank­heit geschlagen in diesem Leben; aber gerade dadurch, daß du jetzt für das Leben verloren bist, bist du für Gott gewonnen, du bist gott­geweiht. Dann aber wurde er hinausgeschickt in von Menschen ent­fernte Stätten, wo er in der angedeuteten Weise einsam und verlassen sein Leben beschließen mußte.

Ich will keinen Tadel aussprechen über diese Kur. Man wußte keine andere, keine bessere. Aber Franz von Assisi wußte eine bessere. Und aus diesem Grunde wird es erwähnt, weil es uns aus den unmittelbaren Erfahrungen heraus leiten wird zu den moralischen Quellen. Sie wer­den schon sehen in den nächsten Tagen, warum wir diese Dinge durchnehmen. Nun, sie führten Franz von Assisi gerade dazu, alle die Aussätzigen überall aufzusuchen, nichts zu scheuen im Umgang mit diesen Leuten. Und tatsächlich, was nichts von all den Mitteln der damaligen Zeit heilen konnte, was notwendig machte, daß man die Leute aus der menschlichen Gesellschaft ausstieß, das heilte in zahlreichen Fällen Franz von Assisi, weil er sich an diese Leute heran­machte, allerdings mit den Kräften, die er hatte in seinen moralischen Impulsen, die ihn vor nichts zurückschrecken ließen, ihm vielmehr den Mut gaben, nicht nur sorgfältig zu reinigen die einzelnen wunden Stellen, die an solchen Menschen vorhanden waren, sondern mit den letzteren zu leben, sie intensiv zu pflegen, ja sie zu küssen und sie zu

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durchströmen mit seiner Liebe. - Es ist nicht bloß eine Dichtung, wie die Heilung des armen Heinrich durch die Tochter des treuen Dieners, es ist damit ausgedrückt, was in der damaligen Zeit in zahlreichen Fällen geschehen ist durch die historisch wohlbekannte Persönlichkeit des Franz von Assisi. Und legen Sie sich zurecht dasjenige, was da geschehen ist. Geschehen ist, daß in einem Menschen wie Franz von Assisi vorhanden war ein ungeheurer Fonds psychischen Lebens als etwas, was wir gefunden haben in der alten europäischen Bevölkerung als Starkmut und Tapferkeit, die sich umgewandelt haben in Geistig­Seelisches und die hinterher geistig-seelisch gewirkt haben. Wie in den alten Zeiten das, was da gewirkt hatte als Großmut und Tapfer­keit, zur persönlichen Verschwendung geführt hatte und sich noch bei Franz von Assisi in seiner jugendlichen Verschwendungssucht zeigte, so führte es ihn jetzt dazu, daß er ein Verschwender an mora­lischen Kräften wurde. Er strotzte von moralischer Kraft, und es ging in der Tat über dasjenige, was er in sich hatte, auf diejenigen, denen er seine Liebe zuwandte.

Fühlen Sie ganz, daß darin eine Realität ist, eine ebensolche Reali­tät, wie sie in der Luft ist, die wir einatmen und ohne die wir nicht leben können. Eine ebensolche Realität ist es, was durch alle Glieder des Franz von Assisi und von da in alle Herzen strömte, denen er sich widmete, denn Franz von Assisi verschwendete eine Fülle von Kräf­ten, die von ihm ausströmten. Und es ist dieses etwas, was in das ganze, reife Leben von Europa ein- und zusammengeströmt ist, was sich in Seelisches verwandelt hat und so gleichsam gewirkt hat in der Wirklichkeit draußen.

Versuchen Sie über diese Tatsachen, die vielleicht zunächst schein­bar nichts mit den aktuellen moralischen Fragen zu tun haben, nach­zudenken. Versuchen Sie zu erfassen, was in dem liegt, was indische Andacht und nordische Starkmut ist. Versuchen Sie die Heilwirkung solcher moralischen Kräfte, die von Franz von Assisi angewendet wurden, einmal zu überdenken. Dann werden wir morgen sprechen können über das, was reale moralische Impulse sind, und wir werden sehen, daß es nicht nur Worte, sondern Realitäten sind, die in der Seele schaffen und Moral begründen.

ZWEITER VORTRAG Norrköping, 29. Mai 1912

#G155-1960-SE085 Christus und die menschliche Seele

#TI

ZWEITER VORTRAG

29. Mai 1912

#TX

Ich habe bereits gestern bemerkt, daß dasjenige, was hier wird zu sagen sein über theosophische moralische Grundsätze und Impulse, gestützt werden soll auf Tatsachen, und deshalb war es, daß wir ver­sucht haben, einige Tatsachen vor uns hinzustellen, welche im emi­nenten Sinne moralische Impulse zeigen können.

Es war wohl am auffallendsten, am einleuchtendsten, daß bei einer solchen Persönlichkeit wie Franz von Assisi starke, gewaltige mora­lische Impulse gewirkt haben müssen, damit diese Persönlichkeit hat zu ihren Taten gelangen können. Denn was sind das für Taten, meine lieben theosophischen Freunde? Es sind das bei Franz von Assisi Taten, welche das Moralische im allerhöchsten Sinne des Wortes zeigen. Umgeben war zunächst Franz von Assisi von Menschen mit sehr schweren Krankheiten, für welche die übrige Welt dazumal keine Hilfe hatte. Bei ihm wirkten seine moralischen Impulse nicht nur so, daß viele von diesen schwer Kranken in ihrer Seele eine moralische Stütze, einen großen Trost hatten. Das war gewiß für viele allein zu erreichen. Aber es war für manche immerhin auch zu erreichen, daß die moralischen Impulse, die moralischen Kräfte, die ausströmten von Franz von Assisi, sogar heilende, gesundheitbringende Wirkung hatten, wenn der Glaube, das Vertrauen der Kranken hinlänglich groß war.

Nun müssen wir, damit wir noch tiefer eindringen können in die Frage: Woher stammen die moralischen Impulse? gerade bei einer solch ausgezeichneten Persönlichkeit wie Franz von Assisi uns fragen:

Woher kam es, daß er solche moralischen Kräfte entwickeln konnte? Was war mit ihm eigentlich geschehen? Wir werden uns etwas weiter umblicken müssen, wenn wir verstehen wollen, was eigentlich in der Seele dieses außerordentlichen Menschen gewirkt hat. Erinnern Sie

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sich, daß die uralte indische Kultur im Zusanimenhange stand mit einer gewissen Einteilung der Menschen, mit einer Einteilung in vier Kasten, und daß die höchste Kaste bei den Indern die der Brahminen, die der Pfleger der Weisheit war. Es war die Absonderung der Kasten im alten Indien eine so starke, daß zum Beispiel die heiligen Bücher nur gelesen werden durften von den Brahminen und nicht etwa von den Mitgliedern der anderen Kasten. Die zweite Kaste, die Krieger, durften sie nur hören, die Lehren, welche in den Veden enthalten waren oder in dem Auszug aus den Veden, in der Vedanta. Erklären irgendeine Stelle aus den Veden, also eine Meinung haben über das, was die Veden bedeuten, das durften nur die Brahminen. Den anderen Menschen war es strenge verboten, eine Meinung zu haben über das­jenige, was als Weisheitsschatz in den heiligen Büchern enthalten war.

Die zweite Kaste waren diejenigen Menschen, welche das Kriegs-handwerk und die Verwaltung des Landes zu besorgen hatten. Dann gab es eine dritte Kaste, die Handel und Gewerbe zu treiben hatte, und eine vierte, eigentlich arbeitende Kaste; endlich aber eine ganz verachtete Bevölkerungsschicht, die Parias, welche so wenig geachtet wurde, daß zum Beispiel ein Brahmine sich schon verunreinigt fühlte, wenn er nur auf den Schatten trat, der geworfen wurde von einem Paria. Er mußte sich sogar gewissen Reinigungsmaßregeln unter­ziehen, wenn er auf den Schatten eines solchen verunreinigten Men­schen, wofür die Parias gehalten wurden, getreten war. So sehen wir, wie merkwürdig hier die Menschen eingeteilt sind in vier sozusagen anerkannte Kasten und in eine ganz und gar nicht anerkannte Kaste. Wenn wir uns nun fragen: Wurden solche strengen Regeln im alten Indien auch eingehalten? so müssen wir antworten: In einer völligen Strenge wurden sie eingehalten. Und es hätte gewiß in der Zeit, in welcher in Europa schon die griechisch4ateinische Kultur waltete, kein Angehöriger der Kriegerkaste in Indien es gewagt, eine eigene Meinung zu haben über dasjenige, was in den heiligen Büchern, in den Veden stand.

Wodurch war es nun geschehen, daß eine solche Gliederung der Menschen eingetreten war? Warum war diese Gliederung der Men­schen eigentlich in die Welt gekommen? Es ist doch merkwürdig,

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daß wir diese Gliederung der Menschen finden gerade bei dem aller­hervorragendsten Volke der menschlichen Urzeit, bei demjenigen Volke, welches aus der alten Atlantis schon in verhältnismäßig früher Zeit nach Asien herübergewandert war, welches sich bewahrt hatte die größten Weisheiten und Wissensschätze aus der alten atlantischen Zeit. Das scheint merkwürdig zu sein. Wie können wir so etwas ver­stehen, wie können wir es begreifen? Es scheint ja fast, als ob es aller Weisheit und Güte der Weltenordnung, der Weltenlenkung wider­sprechen würde, daß ausgesondert wurde eine Gruppe von Menschen, die das höchste eingesehene Gut allein bewahren sollte, und daß die anderen Menschen zu untergeordneten Stellungen von vornherein durch ihre Geburt bestimmt werden sollten.

Begreifen kann man dies nur, wenn man in die Geheimnisse des Daseins einen Blick wirft, denn das Dasein, die Entwickelung ist nur möglich durch Differenzierung, durch Gliederung. Und wenn zu jener Ausbildung von Weisheit, zu welcher es gekommen war in der Kaste der Brahminen, hätten alle Menschen kommen wollen, dann hätte gar keiner dazu kommen können. Man darf nämlich nicht sagen: Es widerspricht der göttlichen Weltenordnung, der göttlichen Welten-lenkung, daß nicht alle Menschen in gleicher Weise zur höchsten Weisheit gelangen, denn das würde nicht mehr Sinn haben, als wenn jemand fordern würde von der unendlich weisen und unendlich mächtigen Gottheit, daß sie ein Dreieck aus vier Ecken bilde. Keine Gottheit könnte ein Dreieck anders als aus drei Ecken machen. Das, was innerlich, was im Geiste geordnet und bestimmt ist, das muß ein­gehalten werden auch von der göttlichen Weltenregelung, und ein ebenso strenges Gesetz der Entwickelung, wie es das Gesetz für die Raumesgrenzen ist, nämlich, daß ein Dreieck nur drei Ecken haben kann, ist es, daß die Entwickelung durch Differenzierung geschehen muß, daß gewisse Gruppen von den Menschen abgesondert werden müssen, damit eine besondere Eigenschaft der menschlichen Entwicke­lung Platz greifen kann. Da müssen zunächst für eine gewisse Zeit die anderen Menschen ausgeschlossen sein. Das ist nicht nur ein Ge­setz für die Entwickelung des Menschen im großen, sondern das ist ein Gesetz für die Entwickelung überhaupt. Betrachten Sie die menschliche

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Gestalt. Sie werden ohne weiteres sich gestehen, daß die vor­züglichsten, die am meisten schätzbaren Teile an der menschlichen Gestalt die Kopfknochen sind. Aber wodurch konnten die Kopf­knochen nur Kopfknochen und die Umhüller des edlen Organes des Gehirns werden? Der Anlage nach kann jeder Knochen, den der Mensch an sich hat, Kopfknochen werden. Damit einige Knochen von dem gesamten Knochensystem diese Höhe der Entwickelung durchmachen können, Vorder- oder Hinterhaupthülle zu sein, mußten die Hüftknochen oder die Gelenkknochen zurückbleiben auf einer untergeordneten Stufe der Entwickelung, denn jeder Hüftknochen oder Gelenkknochen hat in sich die Anlage, geradeso Kopfknochen zu werden, wie diejenigen, die es geworden sind. So ist es überhaupt in der Welt: nur dadurch, daß das eine zurückbleibt, das andere vor-rückt und sogar über einen gewissen Punkt der Entwickelung hinaus-rückt, ist eine Fortentwickelung möglich. So daß man sagen kann:

Die Brahminen sind über einen gewissen mittleren Punkt der Ent­wickelung hinausgerückt, die niedersten Kasten dagegen sind dahinter wieder zurückgeblieben.

Als die atlantische Katastrophe eingetreten war, da wanderten von der Atlantis, von jenem alten Kontinente, welcher an der Stelle war, wo heute der Atlantische Ozean ist, die Menschen allmählich nach Osten hinüber und bevölkerten die Länder, welche heute unter dem Namen Europa, Asien und Afrika bekannt sind. Wir sehen ab davon, daß einige westwärts zogen, deren Nachkommen dann von den Ent­deckern Amerikas in Amerika aufgefunden worden sind. Als nun die atlantische Katastrophe hereingebrochen war, da waren es nicht bloß die vier Kasten, welche in Indien sich niederließen, die da auswan­derten. Es wanderten nicht nur die vier Kasten aus, die allmählich in Indien sich differenzierten, sondern es waren sieben Kasten, welche von der alten Atlantis nach Osten wanderten, und die vier Kasten, welche sich in Indien geltend machten, das sind schon die vier höheren Kasten. Es gibt außer der fünften, die schon ganz verachtet war und die in Indien gleichsam eine Zwischensubstanz der Bevölkerung bil­dete, es gibt also außer diesen Parias noch andere Kasten, welche nur nicht mitzogen nach Indien, welche zurückblieben an den verschiedenen

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Stätten in Europa, Vorderasien und namentlich auch in Afrika. Es lag also die Sache so, daß nur die auserlesensten Kasten nach Indien hinüberzogen und in Europa zurückgeblieben waren diejenigen, wel­che ganz andere Eigenschaften hatten als die Menschen, welche bis nach Indien hingezogen waren.

Ja, man versteht dasjenige, was später in Europa vorgegangen ist, nur dann, wenn man weiß, daß die dazumal vorzüglichsten Teile der Menschheit eben nach Asien vorgerückt waren, und in Europa als große Masse der Bevölkerung zurückgeblieben waren diejenigen Men­schen, welche die Möglichkeit für ganz besondere Inkarnationen ab­gaben. Wenn wir verstehen wollen, was für ganz besondere Verkör­perungen von Seelen in den urältesten Zeiten Europas bei der großen Masse der Bevölkerung gewesen sind, dann müssen wir uns an ein eigentümliches Ereignis der atlantischen Zeit erinnern. In einer ge­wissen Zeit der alten atlantischen Entwickelung war es nämlich vor­gekommen, daß große Geheimnisse des Daseins, große Wahrheiten des Daseins, Wahrheiten, die viel bedeutsamer sind als alle diejenigen, zu denen sich die nachatlantische Bevölkerung noch aufgeschwungen hat, nicht, wie es damals notwendig gewesen wäre, geheim gehalten worden sind in engen Zirkeln, in engen Schulen, sondern verraten wurden an große Massen der atlantischen Bevölkerung. Diese großen Massen der atlantischen Bevölkerung bekamen dadurch ein Wissen von Mysterien und okkulten Wahrheiten, für das sie nicht reif waren. Ihre Seelen wurden damals in hohem Grade hineingetrieben in einen Zustand, welcher ein moralischer Niedergang war, so daß nur die­jenigen geblieben waren auf der Bahn des Guten, auf der Bahn des Moralischen, welche dann später hinüber nach Asien zogen.

Aber auch das dürfen wir uns nicht so vorstellen, als ob nun etwa die gesamte europäische Bevölkerung nur aus solchen Menschen be­standen hätte, in deren Seelen solche Individuen waren, welche unter der Verführung der atlantischen Zeit eine moralische Niederlage er­litten hatten, sondern es waren überall hineingestreut in diese euro­päische Bevölkerung andere, welche zurückgeblieben waren bei der großen Wanderung nach Asien, aber eine leitende, eine führende Rolle hatten. Die Sache war also so, daß wir weit, weit über Europa, Vorderasien

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und Afrika hin Menschen haben, die einfach sozusagen zu solchen Kasten oder Rassen gehörten, die es gestatteten, daß verführte Seelen in deren Körpern lebten. Dann aber waren auch andere zu­rückgeblieben, die nicht mitgingen nach Asien, welche aber die Füh­rung übernehmen konnten und welche besser, höher entwickelte Seelen waren.

Die besten Orte für diese Seelen, die die Führung zu übernehmen hatten, waren dazumal in den alten Zeiten, in den Zeiten, während welcher sich die indische und die persische Kultur entwickelten, die mehr nördlichen Gegenden Europas, diejenigen Gegenden, in denen auch die ältesten Mysterien Europas gewesen sind. Da gab es nun eine Art Schutzeinrichtung gegenüber dem, was in der alten Atlantis früher geschehen war. In der alten Atlantis war ja für die charakterisierten Seelen dadurch eine Versuchung eingetreten, daß man ihnen Weis­heiten, Mysterien, okkulte Wahrheiten gegeben hatte, für die sie nicht reif waren. Daher mußte in den europäischen Mysterien umsomehr das Weisheitsgut geschützt und gehütet werden. Diejenigen, die daher in der nachatlantischen Zeit die eigentlichen Weisheitsführer in Eu­ropa waren, hielten sich ganz zurück, bewahrten wie ein strenges Geheimnis dasjenige, was sie erhalten hatten. So daß man sagen kann:

Es gab auch innerhalb Europas solche Menschen, welche sich ver­gleichen lassen mit den Brahminen Asiens. Aber diese europäischen Brahminen waren von niemandem äußerlich als solche gekannt. Sie hielten im strengsten Sinne des Wortes in den Mysterien abgeschlossen die heiligen Geheimnisse, damit dasjenige sich nicht wiederholen konnte, was mit der Bevölkerung, unter welche eben diese Führer hineingestreut waren, schon einmal in der atlantischen Zeit geschehen war. Nur dadurch, daß das Weisheitsgut in der allerernstesten Weise geschützt und gehütet wurde, kam es zustande, daß die Seelen sich in gewisser Weise heben konnten. Denn die Differenzierung geschieht nicht so, daß von vornherein irgendein Menschheitsteil bestimmt wäre, einen niedrigeren Rang einzunehmen als ein anderer, sondern was erniedrigt wird zu einer bestimmten Zeit, soll wieder in die Höhe sich entwickeln zu einer anderen Zeit.

Dazu müssen aber die Bedingungen geschaffen werden. Daher kam

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es, daß in Europa vorhanden waren versuchte Seelen, welche den moralischen Zusammenhalt verloren hatten, und daß unter ihnen wirkte eine Weisheit aus tief verborgenen Quellen heraus. Aber auch die anderen Kasten, die nach Indien gezogen waren, hatten Ange­hörige zurückgelassen in Europa. Die Angehörigen der zweiten in­dischen Kaste, der Krieger, das waren diejenigen, welche in Europa vorzugsweise jetzt zur Macht gelangten. Während sich die Weisen, also diejenigen, die den Brahminen in Indien entsprechen, ganz zu­rückhielten und von verborgenen Stätten aus ihre Ratschläge gaben, zogen jene in das Volk hinaus, um es zu verbessern nach den Rat­schlägen jener uralten europäischen Priester. Es zogen in das Volk hinaus diejenigen, die kriegerischen Sinn hatten. Diese zweite Kaste hatte die größte Macht in den uralten Zeiten in Europa, aber sie lebten so, daß sie ihre Führung von den verborgen bleibenden Weisen erhielten. So kam es, daß gerade die tonangebenden, die wichtigsten Persönlichkeiten in Europa diejenigen waren, die durch solche Eigen­schaften glänzten, wie sie gestern besprochen wurden, durch Stark-mut und Tapferkeit. Während also in Indien die Weisheit aufs höchste glänzte bei den Brahminen, dadurch, daß sie auslegten die heiligen Schriften, war es in Europa so, daß die Starkmut, die Tapfer­keit am meisten geschätzt wurde und die Menschen nur wußten, wo sie die göttlichen Geheimnisse zu holen hatten, von denen sie dann die Tapferkeit, die Starkmut durchströmen lassen mußten.

So sehen wir Jahrtausende und Aberjahrtausende die Kultur Eu­ropas dahinfließen und sehen, wie die Seelen nach und nach verbessert und emporgehoben werden. Nun konnte sich aber innerhalb Europas, wo Seelen existierten, welche im Grunde genommen Nachkommen waren jener Bevölkerung, die die Versuchung durchgemacht hatte, kein rechter Sinn für das Kastenwesen Indiens entwickeln. Die Seelen kamen durcheinander. Eine Gliederung, eine Differenzierung in Ka­sten, wie sie in Indien war, trat nicht ein. Vielmehr trat nur eine Gliederung ein in solche, die führend waren, in einen oberen Stand, einen leitenden Stand, was später sich in den verschiedensten Rich­tungen als die führenden Stände kundgab, und in solche, die ge­führt wurden, in den geführten Stand. Der geführte Stand bestand

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hauptsächlich aus solchen Seelen, welche sich einporzuringen hatten.

Wenn wir solche Seelen suchen, welche sich nach und nach aus diesem niederen Stande emporgerungen haben, welche sich aus ver­suchten Seelen entwickelt haben hinauf zu höheren, dann finden wir sie vorzugsweise in derjenigen europäischen Bevölkerung, von der heute die Geschichte wenig meldet, von der nicht viel in den Ge­schichtsbüchern steht. Jahrhunderte und Aberjahrhunderte hindurch entwickelte diese Bevölkerung sich, um hinaufzukommen auf eine höhere Stufe, um sich sozusagen wieder zu erholen von dem Schlage, den sie in der alten atlantischen Zeit erlitten hatte. In Asien drüben hatte man es mit einem kontinuierlichen Fortlaufen der Kultur zu tun, in Europa dagegen hatte man es zu tun mehr mit einer Besserung, mit einem Umschlag der moralischen Niederlage in eine allmähliche moralische Besserung. So war es lange Zeit geblieben, und nur dadurch ist diese Besserung zustande gekommen, daß in den Menschenseelen ein außerordentlicher Nachahmungstrieb vorhanden ist und daß die­jenigen, die als tapfere Menschen unter dem Volke gewirkt haben, als die Ideale und Musterbilder angesehen wurden, als die Ersten, als diejenigen, die man die Fürsten nennt, denen dann nachgeahmt haben die anderen, so daß eben durch diese Menschenseelen, welche sich so als Führer unter das Volk gemischt haben, die Moralität von ganz Europa gehoben worden ist.

Dadurch aber war noch etwas anderes notwendig geworden in der europäischen Entwickelung. Wir müssen, wenn wir das verstehen wollen, genau unterscheiden zwischen der Rassenentwickelung und der Seelenentwickelung. Diese beiden dürfen durchaus nicht mitein­ander verwechselt werden. Eine Menschenseele kann sich so ent­wickeln, daß sie in einer Inkarnation in einer bestimmten Rasse sich verkörpert. Wenn sie sich da bestimmte Eigenschaften erwirbt, so kann sie sich in einer späteren Inkarnation in einer ganz anderen Rasse wieder verkörpern, so daß wir durchaus erleben können, daß heute innerhalb der europäischen Bevölkerung solche Seelen verkör­pert sind, die in ihrer früheren Inkarnation in Indien, Japan oder China verkörpert waren. Die Seelen bleiben durchaus nicht bei den

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Rassen. Die Seelenentwickelung ist etwas ganz anderes als die Rassenentwickelung. Die Rassenentwickelung geht ihren ruhigen Gang vor­wärts. Nun war es bei der alten europäischen Entwickelung so, daß die Seelen versetzt waren in europäische Rassen, weil sie nicht in die asiatischen Rassen hinüber konnten; deshalb waren die Seelen in jener Zeit immer wieder gezwungen, sich in europäischen Rassen zu ver­körpern. Aber sie wurden immer besser und besser, und das führte dann dazu, daß die Seelen allmählich in höhere Rassen übergingen, daß also Seelen, die in ganz untergeordneten Rassen früher verkörpert waren, auf eine höhere Stufe hinauf sich entwickelten und sich später verkörpern konnten in den leiblichen Nachkommen der führenden Bevölkerung Europas. Die leiblichen Nachkommen der führenden Bevölkerung Europas vermehrten sich, wurden zahireicher als sie ur­sprünglich waren, weil die Seelen nach dieser Richtung sich vermehr­ten. Da verkörperten sie sich also, nachdem sie besser geworden waren, in der führenden Bevölkerung Europas, und die Entwickelung ge­schah nun so, daß überhaupt als physische Rasse die leibliche Gestalt, in welcher sich die älteste europäische Bevölkerung ursprünglich ver­körpert hatte, ausstarb; daß also gleichsam die Seelen verließen be­stimmt geformte Leiber, die dann ausstarben. Das war der Grund, daß in den untergeordneten Rassen immer weniger Nachkommen waren, in den übergeordneten immer mehr und mehr. Nach und nach starben dann die untersten Schichten der europäischen Bevölkerung ganz aus.

So etwas ist eben ein ganz bestimmter Vorgang, den wir verstehen müssen. Die Seelen entwickeln sich weiter, die Leiber sterben dahin. Deshalb müssen wir so genau unterscheiden zwischen Seelen- und Rassenentwickelung. Die Seelen erscheinen dann in den Körpern, die von höheren Rassen abstammen. Solch ein Vorgang geschieht nicht ohne Wirkung. Wenn nämlich so etwas geschieht, daß über große Gebiete hin etwas gleichsam verschwindet, so verschwindet es nicht im Nichts, sondern es löst sich auf und ist dann in einer anderen Form vorhanden. Sie werden verstehen, als was es geblieben ist, wenn Sie ins Auge fassen, daß im Grunde genommen in den Urzeiten bei dem Aussterben der Schlechteren der Bevölkerung, von denen ich hier

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gesprochen habe, sich allmählich das ganze Gebiet mit dämonischen Wesen anfüllte, welche die Auflösungsprodukte, die Verwesungspro­dukte dessen darstellten, was da ausgestorben war.

Es war also ganz Europa und auch Vorderasien angefüllt von den vergeistigten Verwesungsprodukten der ausgestorbenen Schlechteren der Bevölkerung. Diese Verwesungsdämonen hatten eine lange Dauer und sie wirkten später auf die Menschen ein, und so war es gekommen, daß diese Verwesungsdämonen, die da gleichsam in der geistigen At­mosphäre enthalten waren, einen Einfluß auf die Menschen gewannen und bewirkten, daß die Gefühie und die Empfindungen, die später die Menschen hatten, von ihnen durchsetzt wurden. Das zeigt sich am besten darin, daß, als von Asien später große Völkermassen nach Europa herüberkamen zur Zeit der Völkerwanderung, unter ihnen Attila mit seinen Scharen, und die Leute in Europa in großen Schreck versetzten, dieser Schrecken die Menschen geeignet machte, in Be­ziehung zu kommen mit dem, was von früher her noch vorhanden war als dämonische Wesenheiten. Nach und nach entwickelten sich durch diese dämonischen Wesenheiten als eine Folge von dem Schrek­ken, der durch die herüberkommenden Scharen aus Asien entstanden war, das, was als die Seuche des Mittelalters auftrat, als die Misel-sucht, als der Aussatz. Diese Krankheit war nichts anderes als die Folge der Schreckens- und Furchtzustände, die die Menschen damals durchmachten. Die Schreckens- und Furchtzustände konnten zu die­sem Ziele aber nur führen bei solchen Seelen, welche ausgesetzt waren den dämonischen Kräften von ehemals.

Jetzt habe ich Ihnen geschildert, wodurch die Menschen ergriffen werden konnten von einer Sucht, die später aus Europa in der Haupt­sache wieder ausgerottet worden ist, und warum sie gerade in der gestern bezeichneten Zeit in so hohem Grade vorhanden war. So sehen wir zwar, wie jetzt in Europa ausgestorben waren die Schichten, die aussterben sollten, weil sie sich nicht nach oben entwickelt hatten, wie wir aber jetzt noch die Nachwirkung in Form von Krankheiten haben, die an den Menschen herantreten können. Die betreffende Krankheit, die sogenannte Miselsucht oder der Aussatz, stellt sich uns dar als die Folge von geistig-seelischen Ursachen.

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Dieser ganzen Sache sollte nun entgegengewirkt werden. Sie konnte nur dann eine weitere Entwickelung erfahren, wenn das, was jetzt geschildert worden ist, sozusagen von der europäischen Entwickelung ganz hinweggenommen wurde. Ein Beispiel, wie sie hinweggenommen wurde, haben wir gestern geschildert, indem wir zeigten, wie, wäh­rend auf der einen Seite die Nachwirkungen des Unmoralischen als Krankheitsdämonen da sind, auf der anderen Seite die starken mo­ralischen Impulse auftreten wie in Franz von Assisi. Dadurch, daß er die starken moralischen Impulse hatte, hat er wieder andere um sich versammelt, die, wenn auch im minderen Maße, doch in seinem Sinne wirkten. Eigentlich waren es recht viele, die in seinem Sinne damals gewirkt haben. Es hat nur nicht lange gedauert.

Wie war nun wieder in Franz von Assisi hineingekommen eine solche Seelenkraft? Da wir nicht versammelt sind, um äußere Wissen­schaft zu treiben, sondern um die menschliche Moral aus den okkulten Untergründen heraus zu verstehen, so müssen wir uns auf einige okkulte Wahrheiten einlassen, müssen einige okkulte Wahrheiten ins Auge fassen. Da müssen wir uns schon einmal fragen: Woher kam denn eigentlich eine solche Seele wie die des Franz von Assisi? Ver­stehen können wir eine solche Seele, wie wir sie in Franz von Assisi vor uns haben, nur dann, wenn wir ein wenig in sie hineinschauen, wenn wir uns bekümmern um das, was in ihren verborgenen Tiefen war. Da muß ich Sie daran erinnern, daß die alte Kasteneinteilung Indiens eigentlich ihren ersten Stoß, ihre erste Erschütterung erfahren hat durch den Buddhismus, denn der Buddhismus hat unter mancher­lei, was er hineingebracht hat in das Leben Asiens, auch das gebracht, daß er die Kasteneinteilung nicht als etwas Berechtigtes anerkannte, daß er, soweit es für Asien möglich war, die Anwartschaft eines jeden Menschen zu dem Höchsten, was der Mensch erreichen kann, aner­kannt hat. Wir wissen auch, daß dies nur möglich war durch die her­vorragend große und gewaltige Persönlichkeit des Buddha, und wir wissen auch, daß der Buddha ein Buddha geworden ist in jener In­karnation, von der uns gewöhnlich erzählt wird, daß er früher ein Bodhisattva war, was die nächstuntergeordnete Würde unter dem Buddha darstellt. Dadurch, daß jener Königssohn des Sudhodana im

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neunundzwanzigsten Jahre seines Lebens durchmachte, in sich fühite die große Wahrheit vom Leben und Leiden, dadurch hatte er die Größe sich errungen, das zu verkündigen innerhalb der Welt Asiens, was wir kennen als den Buddhismus.

Nun war aber etwas anderes, was wir nicht aus dem Auge verlieren dürfen, verbunden mit dieser Hinaufentwickelung des Bodhisattva zu dem Buddha. Das war nämlich die Tatsache, daß diejenige In­dividualität, welche durch viele Inkarnationen hindurchgegangen war als Bodhisattva und dann zu der Buddhawürde aufstieg, nun, als sie Buddha geworden war, zum letztenmal im physischen Leibe auf der Erde zu verweilen hatte. Derjenige also, der vom Bodhisattva zum Buddha erhoben wird, ist damit in eine Inkarnation eingetreten, die die letzte für ihn ist. Von da ab wirkt eine solche Individualität nur noch von geistigen Höhen herunter, wirkt nur noch geistig. So haben wir also die Tatsache vor uns, daß die Individualität des Buddha nach dem fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung nur noch aus den geistigen Höhen heruntergewirkt hat.

Aber der Buddhismus findet seine Fortsetzung. Der Buddhismus findet die Möglichkeit, in einer gewissen Weise nicht nur das Leben Asiens, sondern das geistige Leben der ganzen damals bekannten Welt zu beeinflussen. Wie der Buddhismus sich in Asien ausgebreitet hat, Sie wissen es. Sie wissen, wie groß die Zahl der Bekenner ist, die er in Asien gefunden hat. Aber in einer mehr verborgenen und verschleier­ten Gestalt findet derselbe auch seine Ausbreitung innerhalb des europäischen Geisteslebens; und wir haben vor allen Dingen darauf hinzuweisen, daß jener Teil der großen Lehre des Buddha, der sich bezog auf die Gleichheit der Menschen, in ganz besonderem Maße geeignet war, von der europäischen Bevölkerung aufgenommen zu werden, weil eben die europäische Bevölkerung nicht hingeordnet war auf eine Kasteneinteilung, sondern mehr auf eine Unterschiedslosig­keit und Gleichheit der Menschen.

An den Ufern des Schwarzen Meeres wurde in den Jahrhunderten, die noch weit in die christliche Zeit hineingingen, eine Art Geheim-schule begründet. Diese Geheimschule wurde geleitet von Menschen, welche vorzugsweise den eben charakterisierten Teil der Buddha-Lehre

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sich zum höchsten Ideal gesetzt hatten. Aber sie hatten die Möglichkeit, in dieser Geheimschule dasjenige, was der Buddha den Menschen gebracht hatte, gleichsam bescheinen zu lassen, mit einem neuen Lichte versehen zu lassen in den nachchristlichen Jahrhunder­ten dadurch, daß sie den christlichen Impuls zugleich in sich aufge­nommen hatten. Wenn ich Ihnen schildern wollte, wie der Okkultist sie ansieht, und Sie werden mich am besten verstehen, wenn ich das tue, so muß ich die Geheimschule am Schwarzen Meere in der folgen­den Weise schildern: Da fanden sich Menschen zusammen, welche zunächst äußerlich Lehrer auf dem physischen Plane hatten. Da wurden sie unterrichtet in den Lehren und Grundsätzen, wie sie vom Buddhismus ausge­gangen sind, die aber durchzogen waren von den Impulsen, wie sie durch das Christentum in die Welt gekommen sind. Dann, wenn sie in gehöriger Weise vorbereitet waren, wurden sie dazu gebracht, daß die tiefer in ihnen liegenden Kräfte, die tieferen Weisheitskräfte aus ihnen herauf- und herausgeholt werden konnten, so daß sie zu einem hellseherischen Erschauen der geistigen Welt gebracht wurden, daß sie hineinzuschauen vermochten in die geistigen Welten. Das erste, was die Schüler dieser Geheimschule erlangten, war, daß sie zum Beispiel, nachdem die auf dem physischen Plan verkörperten Lehrer sie daran gewöhnt hatten, auch diejenigen erkennen konnten, welche nicht mehr auf den physischen Plan herunterkamen. So zum Beispiel den Buddha. Diese Geheimschüler lernten also wirklich, wenn man das Geistige von ihm so nennen darf, von Angesicht zu Angesicht vorzugsweise den Buddha kennen. Auf diese Weise wirkte er geistig fort in den Geheimschülern, und so wirkte er durch seine Kraft her­unter auf den physischen Plan, da er selber nicht mehr auf den phy­sischen Plan zur physischen Verkörperung herunterstieg.

Nun gruppierten sich diejenigen, die in dieser Geheimschule waren, in zwei Abteilungen, je nach ihrem Reifezustand. Es wurden ja nur diejenigen gewählt, die eine Art größerer Vorbereitung, eine Art größerer Reife hatten. Daher konnten auch die meisten dieser Schüler es dazu bringen, wirklich so hellsichtig zu werden, daß sie ein Wesen, das mit allen seinen Kräften dahin strebte, seine Impulse durchzubringen

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bis zum physischen Plan, trotzdem es selber nicht in die phy­sische Welt hinunterstieg, daß sie den Buddha in allen seinen Geheim­nissen und in alledem, was er wollte, kennenlernen konnten. Eine ge­wisse größere Anzahl von diesen Schülern blieben solche Hellseher, andere aber hatten ganz besonders neben den Eigenschaften des Er­kennens, neben den Eigenschaften der psychischen Hellsichtigkeit, das spirituelle Element ausgebildet, das nicht zu trennen ist von einer gewissen Demut, von einer gewissen hochentwickelten Andachtsfähig­keit. Diese gelangten dann dazu, daß sie gerade in dieser Geheim-schule in hervorragendem Maße den Christus-Impuls empfangen konnten. Sie konnten auch hellsichtig in der Weise werden, daß sie die besonders auserlesenen Nachfolger des Paulus wurden und den Christus-Impuls unmittelbar im Leben empfingen. Aus dieser Schule gingen also sozusagen zwei Gruppen hervor: eine Gruppe, die den Impuls hatte, überall hineinzutragen die Lehren des Buddha, wenn sie auch dessen Namen dabei nicht nannten, und eine zweite Gruppe, die noch dazu den Christus-Impuls empfing.

Nun zeigte sich der Unterschied zwischen diesen beiden Gattungen nicht so stark in der einen Inkarnation, sondern erst in der nächsten. Diejenigen Schüler, welche den Christus-Impuls nicht empfangen hatten, aber bis zum Buddha-Impuls gekommen waren, die wurden Lehrer jener Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen. Diejenigen Schüler aber, welche den Christus-Impuls empfangen hatten, waren in der nächsten Inkarnation so, daß dieser Christus-Impuls in ihrer physischen Inkarnation weiterwirkte, so daß sie nicht nur lehren konnten und dies auch nicht als ihre Hauptaufgabe betrachteten, sondern daß sie durch ihre moralische Kraft namentlich wirkten. Ein solcher Schüler der genannten Geheimschule am Schwarzen Meer wurde später in seiner nächsten Inkarnation als Franz von Assisi ge­boren. Kein Wunder also, daß in ihm die Weisheit, die er empfangen hatte, die Weisheit von der menschlichen Verbrüderung, von der Gleichheit aller Menschen, von der Notwendigkeit, alle Menschen gleich zu lieben, lebte, daß diese Lehre seine Seele durchpulste und diese Seele durchkraftet wurde mit dem Christus-Impulse. Wie wirkte nun dieser Christus-Impuls in seiner nächsten Inkarnation weiter?

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Er wirkte so in dieser nächsten Inkarnation weiter, daß, als Franz von Assisi hineinversetzt wurde in eine Bevölkerung, in welcher ganz besonders wirkten die alten Krankheitsdämonen, von welchen wir vorhin gesprochen haben, daß dieser Christus-Impuls an die Krank­heitsdämonen durch ihn herankam und das, was schlechte Substanz an den Krankheitsdämonen war, aufsog, an sich zog und von den Menschen hinwegnahm. Bevor er das tat, verkörperte er sich in dieser Substanz so, daß der Christus-Impuls in Franz von Assisi zuerst Vision wurde in jener Vision, wo ihm der Palast erschien, und in jener Vision, wo er aufgefordert wurde, die Last der Armut auf sich zu nehmen. Da war in ihm der Christus-Impuls wieder lebendig ge­worden, und er strömte aus ihm heraus und ergriff diese Krankheits­dämonen. Dadurch wurden seine moralischen Kräfte so stark, daß sie wegnehmen konnten die geistigen schädlichen Stoffe, welche die charakterisierte Krankheit nach sich gezogen hatte. Dadurch allein war die Möglichkeit geschaffen, dasjenige, was ich Ihnen geschildert habe als Nachwirkung des alten atlantischen Elementes, zu einer höheren Entwickelung zu bringen, wegzufegen von der Erde die schlimmen Substanzen, zu reinigen die europäische Welt von diesen Substanzen.

Sehen Sie sich das Leben von Franz von Assisi an: beachten Sie, wie eigentümlich es verläuft. Im Jahre 1182 ist er geboren. Wir wissen, daß die ersten Lebensjahre eines Menschen hauptsächlich der Ent­wickelung des physischen Leibes dienen. Im physischen Leibe ent­wickelt sich vorzugsweise das, was durch äußere Vererbung zutage tritt. Daher tritt in ihm auf, was von der äußeren Vererbung der europäischen Bevölkerung stammt. Die Eigenschaften kommen all­mählich heraus dadurch, daß er vom siebten bis zum vierzehnten Jahre, wie jeder Mensch, seinen Atherleib entwickelt. Aus diesem Atherleib tritt vorzugsweise die Eigenschaft zutage, die als Christus-Impuls direkt in ihm gewirkt hatte in den Mysterien am Schwarzen Meere. Als dann sein astralisches Leben zutage trat vom vierzehnten Jahre an, da wurde insbesondere dadurch die Christus-Kraft in ihm lebendig, daß dasjenige, was mit der Atmosphäre der Erde verbunden geblieben war seit jenem Ereignisse des Mysteriums von Golgatha,

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selbst in den astralischen Leib einzog. Denn Franz von Assisi war eine solche Persönlichkeit, die auch durchsetzt wurde von der äußeren Christus-Kraft, weil sie in der vorigen Inkarnation nach der Christus-Kraft da gesucht hatte, wo sie zu finden war: in jener besonderen Einweihungsstätte.

So sehen wir, wie die Differenzierungen in der Menschheit wirken. Es muß Differenzierung eintreten. Dasjenige aber, was durch die früheren Ereignisse in die Untergründe hinuntergedrängt worden ist, wird durch ganz besondere Ereignisse im Verlaufe der menschlichen Entwickelung wieder heraufgeholt. An einer anderen Stelle ist schon einmal ein ganz besonderes Heraufholen geschehen, ein Heraufholen, das exoterisch immer unbegreiflich bleiben wird. Daher haben die Menschen in Wahrheit es eigentlich auch aufgegeben, darüber nach­zudenken. Esoterisch kann dasselbe aber durchaus seine Aufklärung finden. Diejenigen, welche sich am schnellsten hinaufentwickelt haben aus jenen Schichten der westlichen Bevölkerung, die überwunden haben nach und nach den Durchgang durch die untersten Schichten, aber nicht sehr weit in der intellektuellen Entwickelung hinaufge-kommen sind, sondern verhältnismäßig schlichte und einfache Men­schen geblieben sind - gleichsam die Auserlesensten davon, die nur durch einen kräftigen Impuls, der sich in ihnen spiegelte, hinaufge­hoben werden konnten zu bestimmter Zeit, das waren diejenigen, welche uns als die zwölf Apostel des Jesus geschildert sind. Das war der verschlagene Extrakt der unteren Kasten, die nicht nach Indien gekommen sind. Aus ihnen mußte die Substanz für die Jünger des Christus-Jesus genommen werden. - Damit soll nichts gesagt sein über vorhergehende oder nachfolgende Inkarnationen der Apostel-Indivi­dualitäten, sondern lediglich über die physische Vorfahrenschaft der­jenigen Körper, in welchen die Apostel-Persönlichkeiten inkarniert waren. Man muß überall die Inkarnationslinie und die physische Ver­erbungslinie auseinanderhalten.

So haben wir sozusagen den Ursprung der moralischen Kraft bei jener auserlesenen Persönlichkeit, bei Franz von Assisi gefunden. Sagen Sie nicht, daß es den gewöhnlichen menschlichen Regeln gegen­über unangemessen hoch wäre, bei einer solchen Person die Ideale zu

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suchen, wie sie bei Franz von Assisi vorhanden waren. Gewiß wird das nicht aus dem Grunde gesagt, weil etwa irgend jemandem emp­fohlen werden sollte, ein Franz von Assisi zu werden. Das ist durchaus nicht gemeint. Man wollte nur an einem besonders hervorragenden Punkte zeigen, wie moralische Kraft in den Menschen hineinkommt, woher sie stammen kann, wie sie als etwas ganz Besonderes, im Men­schen ursprünglich Vorhandenes aufgefaßt werden muß. Aber aus dem ganzen Geiste dessen, was ich bisher vorgetragen habe, können Sie das eine entnehmen, was wir in bezug auf andere Entwickelungs­kräfte des Menschen schon hervorgehoben haben, nämlich, daß die Menschheit durchgemacht hat einen Abstieg und nun wieder einen Aufstieg unternommen hat.

Wenn wir zurückgehen in der Menschheitsentwickelung, so kom­men wir durch die nachatlantische Zeit bis zur atlantischen Kata­strophe, kommen dann in die atlantische Zeit hinein, kommen dann weiter hinauf bis zur lemurischen Zeit. Wenn wir dann zum Aus­gangspunkt der Erdenmenschheit kommen, so kommen wir nicht nur in eine Zeit, in welcher die Menschen in bezug auf ihre geistigen Eigenschaften noch näher der Gottheit gestanden haben, sich erst herausentwickelt haben aus dem geistigen Leben, sondern auch aus der Moralität, so daß wir im Anfange der Erdenentwickelung nicht etwa Unmoralität zu verzeichnen haben, sondern Moralität. Die Moralität ist ein ursprünglich göttliches Geschenk und liegt ursprüng­lich in der menschlichen Natur, so wie die geistige Kraft, als der Mensch noch nicht so weit heruntergestiegen war, überhaupt in der menschlichen Natur lag. Im Grunde genommen ist ein großer Teil des Unmoralischen gerade auf die geschilderte Weise in die Menschheit hineingekommen, nämlich durch den Verrat höherer Geheimnisse in der alten atlantischen Zeit.

So ist die Moral etwas, von dem man nicht so sprechen kann, als ob es in der Menschheit erst ausgebildet worden sei, sondern etwas, was auf dem Grunde der menschlichen Seele liegt, was nur durch die spätere Kultur verdeckt, hinuntergedrängt worden ist. Wenn wir die Sache im richtigen Lichte besehen, so können wir nicht einmal sagen, daß die Unmoralität in die Welt gekommen ist durch Dummheit.

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Sie ist vielmehr in die Welt gekommen dadurch, daß die Menschen, als sie noch unreif waren, die Geheimnisse der Weisheit verraten er­hielten. Gerade dadurch sind die Menschen versucht worden, sind unterlegen und heruntergekommen. Es bedarf daher zum Hinauf­gehen vor allen Dingen desjenigen, und das können Sie auch entneh­men aus der heutigen Darstellung, welches alles, was sich gegen die moralischen Impulse in der menschlichen Seele vorgelagert hat, hin­wegräumt. Sagen wir das in etwas anderer Form.

Nehmen wir an, wir hätten einen Verbrecher vor uns, einen Men­schen, den wir im eminentesten Sinne unmoralisch nennen, so dürfen wir durchaus nicht glauben, daß in diesem unmoralischen Menschen keine moralischen Impulse sind. Die sind in ihm, und wir werden sie finden, wenn wir ihm auf den Grund seiner Seele gehen. Es gibt keine Menschenseele - mit Ausnahme von Schwarzmagiern, die uns hier nichts angehen -, in welcher nicht die Grundlage des moralisch Guten wäre. Wenn ein Mensch schlecht ist, so ist er es dadurch, daß das­jenige, was als geistige Verirrung im Laufe der Zeit eingetreten ist, sich über das moralisch Gute darüberlagert. Nicht die menschliche Natur ist schlecht. Sie war ursprünglich wirklich gut, und gerade eine konkrete Betrachtung der Menschennatur zeigt uns, daß sie im tiefsten Wesen gut ist, und daß die geistigen Verirrungen es waren, die den Menschen von dem moralischen Pfade abgebracht haben. Da­her müssen die moralischen Verirrungen im Laufe der Zeit bei den Menschen wieder gut gemacht werden. Die Verirrungen selber und auch ihre Wirkungen müssen wieder gut gemacht werden. Wo aber so starke Nachwirkungen des moralisch Bösen da sind, daß schon Krankheitsdämonen existieren, da müssen auch übermoralische Kräfte wirken, wie es diejenigen des Franz von Assisi gewesen sind.

Aber überall ist das Bessermachen eines Menschen darin begründet, daß wir seine geistige Verirrung wegschaffen. Und wessen bedarf es dazu? Fassen Sie jetzt dasjenige, was ich Ihnen erzählt habe, in eine Grundempfindung zusammen. Lassen Sie die Tatsachen sprechen, lassen Sie sprechen Ihre Gefühle und Ihre Empfindungen, und ver­suchen Sie dieselben in einer Grundempfindung zusammenzufassen, dann werden Sie sich sagen: Was braucht der Mensch dem Menschen

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gegenüber zu seinem Verhalten? Das ist es gerade, daß er den Glau­ben braucht an das ursprünglich Gute des Menschen und einer jeg­lichen menschlichen Natur! Das ist das Erste, was wir sagen müssen, wenn wir überhaupt in Worten von Moral sprechen wollen, daß es ein unermeßlich Gutes ist, was auf dem Grunde der Menschennatur vorhanden ist. Das sagte sich Franz von Assisi. Und wenn ihm dann entgegentraten einige derjenigen, die mit der charakterisierten schreck­lichen Krankheit behaftet waren, dann sagte sich Franz von Assisi als guter Christ der damaligen Zeit etwa das Folgende: Eine solche Krankheit ist in gewisser Beziehung Folge der Sünde, aber weil Sünde geistige Verirrung ist, weil die Krankheit Folge geistiger Verirrung ist, daher muß sie durch eine starke und große entgegengesetzte Kraft aufgehoben und weggeschafft werden. Daher sah Franz von Assisi an dem Sünder, wie in gewisser Beziehung die Strafe der Sünde sich äußerlich zeigt. Er sah aber auch das Gute der Menschennatur, sah, was an göttlich-geistigen Kräften auf den Grund jeder Menschen-natur gelegt ist. Der grandiose Glaube an das Gute in jeder Menschen-natur, auch der gestraften Menschennatur, das war es, was Franz von Assisi ganz besonders auszeichnete.

Dadurch war es möglich, daß die entgegengesetzte Kraft auftrat in seiner Seele, und dieses ist die Kraft moralisch gebender, moralisch helfender, ja sogar heilender Liebe. Und niemand kann, wenn er wirklich den Glauben an das ursprünglich Gute der Menschennatur zum vollen Impulse entwickelt, zu etwas anderem kommen als dazu, diese Menschennatur als solche zu lieben.

Diese zwei Grundimpulse sind es zunächst, welche ein wirklich moralisches Leben begründen können: Erstens der Glaube an das Göttliche auf dem Grunde einer jeden Menschenseele, zweitens die aus diesem Glauben hervorsprießende maßlose Liebe zum Menschen. Denn nur diese maßlose Liebe war es, die Franz von Assisi hinführen konnte zu den Siechen, den Gebrechlichen, den Seuchenbehafteten. Ein Drittes, das noch dazukommt, das notwendig sich auf diesen zwei Grundlagen aufbaut, ist, daß ein solcher Mensch, der die Grundlagen des Glaubens an das Gute der menschlichen Seele und die Liebe zu der menschlichen Natur hat, nicht anders kann als sich sagen: Dasjenige,

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was wir aus dem Zusammenwirken des ursprünglich guten Grundes der menschlichen Seele und der werktätigen Liebe hervor­gehen sehen, das berechtigt zu einer Perspektive für die Zukunft, die sich dahin aussprechen kann, daß eine jegliche Seele, auch wenn sie iioch so weit herabgestiegen ist aus der Höhe des geistigen Lebens, für dieses geistige Leben wiedergefunden werden kann. Das ist der dritte Impuls, das ist die Hoffnung für jede Menschenseele, daß sie den Weg wieder zurückfinden kann zu dem Göttlich-Geistigen. Diese drei Impulse, wir können sagen, daß sie Franz von Assisi unendlich oft hat aussprechen hören, daß sie ihm unendlich oft vor Augen ge­treten sind während seiner Einweihung in die kolchischen Mysterien. Wir können aber auch sagen, daß er in dem Leben, das er als Franz von Assisi zu führen hatte, wenig predigte von Glauben, von Liebe, daß er aber selber die Verkörperung war dieses Glaubens und dieser Liebe. In ihm waren sie gleichsam verleiblicht. In ihm traten sie wie ein lebendiges Sinnbild vor die damalige Welt. In der Mitte von allem steht natürlich doch dasjenige, was wirkte. Es wirkte nicht der Glaube, es wirkte nicht die Hoffnung. Die muß man zwar haben, aber wirk­sam ist nur die Liebe. Sie steht mitten darinnen, sie ist dasjenige, was die wirkliche Weiterentwickelung der Menschheit zum Göttlichen im Sinne des Moralischen eigentlich getragen hat in der einzelnen In­karnation bei Franz von Assisi.

Wie haben wir diese Liebe, von der wir wissen, daß sie ein Ergebnis seiner Einweihung in die kolchischen Mysterien war, an ihn heran­kommen sehen, wie haben wir sie sich entwickeln sehen? Wir haben gesehen, daß in ihm die ritterlichen Tugenden des alten europäischen Geistes zutage getreten sind. Er war ein ritterlicher Knabe. Starkmut, Tapferkeit haben sich umgewandelt in seiner Individualität, die von dem Christus-Impulse durchpulst war, in wirksame, werktätige Liebe. So sehen wir gleichsam wieder auferstehen die alte Tapferkeit, die alte Starkmut in der Liebe, wie sie uns bei Franz von Assisi entgegen­tritt. Vergeistigte alte Tapferkeit ins Spirituelle umgesetzt, Starkmut ins Spirituelle umgesetzt ist Liebe!

Interessant ist es, einmal zu sehen, wie sehr das, was jetzt gesagt worden ist, auch dem äußeren historischen Verlaufe der Menschheitsentwickelung

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entspricht. Gehen wir ein paar Jahrhunderte zurück in die vorchristliche Zeit. Da finden wir bei demjenigen Volke, das vor­zugsweise den Namen gegeben hat dem vierten nachatlantischen Zeit-raume, also bei den Griechen, den Philosophen Plato. Plato hat unter anderen Dingen geschrieben auch über die Moral, über die Tugend des Menschen, und er hat so über die Tugend geschrieben, daß wir darin erkennen können, daß er zwar mit den höchsten Dingen, den eigentlichen Geheimnissen zurückgehalten hat, daß er aber das, was er hat sagen dürfen, seinem Sokrates in den Mund gelegt hat. Da schildert nun Plato, also für eine Zeit der europäischen Entwickelung, in welcher der Christus-Impuls noch nicht gewirkt hatte, die höchsten Tugenden, die er anerkannte, die Tugenden, die der Grieche als die­jenigen angesehen hat, die der moralische Mensch vor allen Dingen haben soll. Nun schildert Plato zunächst vorzugsweise drei Tugenden. Eine vierte werden wir noch kennen lernen. Drei Tugenden schildert Plato. Die erste ist die der Weisheit. Weisheit als solche sieht Plato als Tugend an. Wir haben sie in der verschiedensten Weise gerechtfertigt als dem moralischen Leben zugrunde liegend. In Indien lag zugrunde dem Menschenleben die Weisheit der Brahminen. In Europa trat sie zwar zurück, aber sie lebte in den nordischen Mysterien, wo die euro­päischen Brahminen das wieder gut zu machen hatten, was durch jenen Verrat in der alten atlantischen Zeit schlecht gemacht worden war. Weisheit steht, wie wir morgen sehen werden, hinter aller Mo­ralität. Und als Tugend schildert Plato, seinen Mysterien entspre­chend, auch die Starkmut, also dasjenige, was uns überhaupt bei der europäischen Bevölkerung entgegentritt. Als dritte der Tugenden be­zeichnet er die Besonnenheit oder die Mäßigkeit, das heißt den Gegen­satz des leidenschaftlichen Pflegens der niederen menschlichen Triebe. Das sind die drei Haupttugenden Platons: Weisheit, Starkmut oder Tapferkeit, und Mäßigkeit oder Besonnenheit - das ist die Zügelung der sinnlichen Triebe, die im Menschen wirken. Dann schildert Plato als vierte der Tugenden den harmonischen Ausgleich der drei genann­ten Tugenden, was er die Gerechtigkeit nennt.

Da haben Sie geschildert von einem der hervorragendsten euro­päischen Geister der vorchristlichen Zeit dasjenige, was man dazumal

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als das Wichtigste ansah der menschlichen Natur. Die Starkmut, die Tapferkeit wird durchzogen für die europäische Bevölkerung von dem Christus-Impulse und von dem, was wir unser Ich nennen. Die Starkmut, die bei Plato auftritt als Tugend, wird hier durchgeistigt, und es wird die Liebe daraus. Das ist das Wichtigste, daß wir sehen, wie die moralischen impulse in das Menschengeschlecht eintreten, wie das, was früher so angesehen worden ist, wie es heute geschildert wurde, zu etwas ganz anderem wird. Wir dürfen, wenn wir nicht ins Gesicht schlagen wollen der christlichen Moral, die Tugenden nicht so aufzählen: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit, denn man könnte uns antworten: Wenn ihr alle diese Tugenden hättet und ihr hättet die Liebe nicht, ihr würdet niemals in die Reiche der Himmel kommen.

Halten wir fest die Zeit, in welcher, wie wir gesehen haben, aus­gegossen worden ist in die Menschheit eine solche Strömung, ein sol­cher Impuls, daß Weisheit und Starkmut spirituell geworden sind und uns als Liebe wiedererscheinen. Wir wollen aber noch an die Frage herantreten: Wie sind gebildet worden Weisheit, Mäßigkeit oder Besonnenheit, und Gerechtigkeit, und dadurch wird sich uns dann zeigen, was die besondere moralische Mission der theosophischen Bewegung in der Gegenwart ist.

DRITTER VORTRAG Norrköping, 30. Mai 1912

#G155-1960-SE107 Christus und die menschliche Seele

#TI

DRITTER VORTRAG

30. Mai 1912

#TX

In dem, was gestern gesagt worden ist, lag die Anerkennung der mo­ralischen Impulse in der Menschennatur, so daß wir versuchten, die Behauptung zu erhärten, zu beweisen aus den vorher angeführten Tatsachen, daß eigentlich der Grund des Moralischen, der Grund des Guten auf dem Boden der menschlichen Seelennatur liegt, und daß eigentlich der Mensch nur im Laufe der Evolution, in seinem Gange von Inkarnation zu Inkarnation, abgeirrt ist von den ursprünglichen, man möchte sagen, instinktiv guten Anlagen und dadurch das Böse, das Unrichtige, das Unmoralische erst in die Menschheit hineinge­kommen ist.

Wenn das aber so ist, so müssen wir erst recht verwundert darüber sein, daß das Böse überhaupt möglich ist, daß es entstehen kann, und eine Antwort erheischt die Frage: Wie ist das Böse im Laufe der Evo­lution möglich geworden?

Eine gründliche Antwort erhält man eigentlich nur, wenn man hinblickt zu dem moralischen Elementarunterricht, der schon in alten Zeiten den Menschen gegeben worden ist. Die Schüler der Mysterien, die als ihr höchstes ideal anstrebten, allmählich zu den vollen spiri­tuellen Wahrheiten und Erkenntnissen vorzudringen, mußten überall da, wo zu Recht gearbeitet wurde im Mysteriensinne, aus einer mo­ralischen Grundlage heraus arbeiten, so daß die Eigentümlichkeit der moralischen Natur des Menschen gerade den Mysterienschülern in einer ganz besonderen Weise gezeigt wurde.

Wenn wir kurz charakterisieren wollen, wie das geschah, so können wir sagen: Es wurde dem Mysterienschüler gezeigt, daß die mensch­liche Natur nach zwei Seiten hin Verheerungen, Übles anrichten kann, und daß nur dadurch der Mensch in der Lage ist, einen freien Willen zu entwickeln, daß er nach zwei Seiten hin imstande ist, Übles anzurichten;

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daß ferner das Leben in richtigem, in gunstigem Sinne nur dann verlaufen kann, wenn man diese zwei Seiten der Abirrung be­trachtet wie zwei Waagschalen, von denen bald die eine, bald die andere hinauf- und hinuntergeht. Das richtige Gleichgewicht ist nur dann vorhanden, wenn der Waagebalken horizontal liegt.

So wurde den Mysterienschülern gezeigt, daß das richtige Verhalten des Menschen gar nicht in der Weise aufgezeigt werden kann, daß man sagt: Dies ist richtig, und das ist unrichtig. Das richtige Verhalten kann nur dadurch gewonnen werden, daß der Mensch in jedem Augen­blicke seines Lebens in die Lage kommt, sowohl nach der einen als auch nach der anderen Seite gezogen zu werden, und daß er selbst das Gleichgewicht, die Mitte herstellen muß zwischen diesen beiden.

Nehmen wir die Tugenden, von denen wir gesprochen haben: die Tapferkeit, die Starkmut. Die eine Seite, nach der die menschliche Natur dabei ausschlagen kann, ist die Seite der Tollkühnheit, das ist das zügellose Drauflosarbeiten in der Welt mit den Kräften, die einem zur Verfügung stehen, und das Anspannen derselben aufs äußerste. Das ist die eine Seite, die der Tollkühnheit. Die andere Seite, die andere Waagschale, ist die der Feigheit. Nach beiden Seiten kann der Mensch sozusagen ausschlagen, und es wurde den Schülern in den Mysterien gezeigt, daß der Mensch sich verliert, daß der Mensch sein Selbst ablegt und von den Rädern des Lebens zerrieben wird, wenn er in Tollkühnheit ausartet. Das Leben zerfetzt ihn, wenn er nach der Seite der Tollkühnheit ausschlägt. Wenn er dagegen nach der Seite der Feigheit abirrt, dann verhärtet er sich und reißt sich heraus aus dem Zusammenhange der Dinge und Wesenheiten. Dann wird er ein in sich abgeschlossenes Wesen, das herausfällt aus dem Zusammenhang, da er seine Taten und Handlungen nicht in Einklang bringen kann mit dem Ganzen. Das wurde den Mysterienschülern gezeigt mit Bezug auf alles, was der Mensch tun kann. Er kann so ausarten, daß er zer­fetzt, verrädert wird von der objektiven Welt, weil er dadurch sein Selbst verliert, und er kann nach der anderen Seite, nicht bloß bei der Tapferkeit, sondern bei jeder Tat, so ausarten, daß er in sich selbst verhärtet. Daher stand über dem Moralkodex der Mysterien überall geschrieben das bedeutungsvolle Wort: Du mußt die Mitte finden,

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so daß du dich durch deine Taten nicht an die Welt verlierst und daß auch die Welt nicht dich verliert.

Das sind die zwei möglichen Dinge, in die der Mensch hineinge­raten kann: Entweder kann er verloren gehen für die Welt, die Welt ergreift ihn, zermürbt ihn, wie bei der Tollkühnheit, oder die Welt kann verloren gehen für ihn, weil er sich verhärtet in seinem Egoismus, wie es bei der Feigheit der Fall ist. So sagte man den Schülern in den Mysterien: Es kann überhaupt kein Gutes geben, das als ein ein­maliges, ruhiges Gutes bloß angestrebt zu werden braucht, vielmehr entsteht ein Gutes nur dadurch, daß der Mensch fortwährend, wie ein Pendel, nach zwei Seiten ausschlagen kann und durch seine innere Kraft die Möglichkeit des Gleichgewichts, des mittleren Maßes findet.

Sehen Sie, da haben Sie alles, was Sie in die Möglichkeit versetzt, die Freiheit des Willens und die Bedeutung der Vernunft und Weis­heit im menschlichen Handeln zu verstehen. Wenn es dem Menschen angemessen wäre, ewige Moralprinzipien einzuhalten, dann brauchte er diese Moralprinzipien sich nur anzueignen und er könnte gleichsam mit gebundener Marschroute durch das Leben gehen. So ist das Leben aber niemals. Die Freiheit des Lebens besteht vielmehr darinnen, daß der Mensch immer die Möglichkeit hat, nach zwei Seiten abzuirren. Dadurch ist dann auch die Möglichkeit des Schlechten, die Möglich­keit des Bösen gegeben. Denn was ist denn das Böse? Das Böse ist dasjenige, was entsteht, wenn der Mensch sich entweder an die Welt verliert oder wenn die Welt den Menschen verliert. In der Vermei­dung von beiden besteht dasjenige, was wir das Gute nennen können. Dadurch ist das Böse im Laufe der Evolution, indem der Mensch von Inkarnation zu Inkarnation ging, möglich geworden, daß die Men­schen einmal nach der einen Seite, einmal nach der anderen Seite ab-irrten, und weil sie nicht immer das Gleichgewicht fanden, genötigt waren, in einer zukünftigen Zeit karmisch den Ausgleich zu schaffen. Was eben nicht erreicht werden kann in einem Leben, weil man nicht immer die Mitte trifft, das wird erreicht im Laufe der Evolution, indem der Mensch einmal nach der einen Seite abirrt, dann aber ge­zwungen wird, im nächsten Leben vielleicht nach der anderen Seite wiederum auszuschlagen und so den Ausgleich zu schaffen.

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Das, was ich Ihnen erzählt habe, ist eine goldene Regel der alten Mysterien gewesen. Wie so vielfach, finden wir auch in diesem Falle bei den Philosophen des Altertums noch einen Nachklang von diesem Mysteriengrundsatz, und wir finden bei Aristoteles, da wo er von der Tugend spricht, einen Ausspruch, den wir nicht anders verstehen können, als wenn wir wissen, daß das, was jetzt gesagt worden ist, ein alter Mysteriengrundsatz war, den Aristoteles überliefert bekom­men und seiner Philosophie einverleibt hat.

Daher die merkwürdige Definition des Aristoteles von der Tugend, die da heißt: Tugend ist eine von vernünftigen Einsichten geleitete menschliche Fertigkeit, die mit Bezug auf den Menschen die Mitte hält zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig.

Damit ist in der Tat von Aristoteles gegeben die Definition der Tugend, wie sie von keiner Philosophie später wieder erreicht worden ist. Weil Aristoteles die Tradition aus den Mysterien hatte, daher vermochte er wirklich das Richtige zu treffen. Das ist also die be­rühmte Mitte, die eingehalten werden muß, wenn der Mensch wirk­lich tugendhaft sein soll, wenn moralische Kraft die Welt durch­pulsen soll.

Aber jetzt können wir uns auch die Frage beantworten, warum überhaupt Moral da sein soll. Was ist denn dann der Fall, wenn keine Moral da ist, wenn das Schlechte geschieht, wenn das Zuviel oder das Zuwenig, das Sichverlieren des Menschen an die Welt durch das Zermalmen oder das Verlieren des Menschen von Seite der Welt ge­schieht? In jedem dieser Fälle wird immer etwas zerstört. Jedes Schlechte, jedes Unmoralische ist eine Zerstörung, ein Zerstörungs­prozeß, und in dem Augenblicke, wo der Mensch einsieht, daß er gar nicht anders kann, als etwas zerstören, als der Welt etwas nehmen, wenn er das Schlechte tut, wirkt das Moment des Guten in über­wältigendem Sinne auf den Menschen ein. Dies aber ist besonders die Aufgabe der theosophischen Weltanschauung, die jetzt eigentlich erst beginnt in die Welt ihren Einzug zu halten: klar zu machen, daß alles Böse einen Zerstörungsprozeß bewirkt, etwas hinwegnimmt aus der Welt, auf das gerechnet ist.

Wenn wir nun im Sinne unserer theosophischen Weltanschauung

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uns halten an dieses Prinzip, das wir eben geltend gemacht haben, so führt uns dasjenige, was wir wissen über die Natur des Menschen, zu einer besonderen Ausgestaltung des Guten und auch des Bösen. Wir wissen, daß die Empfindungsseele sich vorzugsweise entwickelt hat in der alten chaldäischen Entwickelungsepoche, im dritten nachatlan­tischen Zeitraume. Was diese Entwickelungsepoche damals war, da­von hat das heutige Leben wenig Ahnung. Kaum gelangt man in der äußeren Geschichte weiter zurück als in die ägyptische Zeit. Wir wissen, daß die Verstandes- oder Gemütsseele in dem vierten Zeit-raume, in der griechisch-lateinischen Zeit sich entwickelt hat, und daß wir jetzt in unserer Zeit dabei sind, die Bewußtseinsseele zu ent­wickeln. Das Geistselbst wird erst im sechsten Zeitraum der nach-atlantischen Entwickelung zur Geltung kommen.

Fragen wir uns zunächst einmal: Wie kann die Empfindungsseele nach der einen oder anderen Seite abirren von dem Richtigen? Die Empfindungsseele ist dasjenige, was den Menschen in die Lage ver­setzt, die Welt der Dinge zu empfinden, sie in sich aufzunehmen, An­teil zu nehmen an den Dingen, nicht durch die Welt zu gehen und unwissend zu bleiben bezüglich der Dinge, sondern so, daß wir ein Verhältnis zu denselben bekommen. Das alles bewirkt die Empfin­dungsseele. Die eine Seite, nach der der Mensch abirren kann, werden wir finden für die Empfindungsseele, wenn wir uns fragen: Was ist es denn überhaupt, was es dem Menschen möglich macht, zu den Dingen rings herum eine Beziehung zu haben? Was dem Menschen eine Beziehung zu den Dingen rings herum verschafft, ist dasjenige, was wir nennen können das Interesse an den Dingen. Mit diesem Wort Interesse ist etwas in moralischem Sinne ungeheuer Bedeutungsvolles ausgesprochen. Es ist viel wichtiger, daß man die moralische Bedeu­tung des Interesses ins Auge faßt, als daß man sich hingibt an tausend und abertausend schöne, wenn auch vielleicht nur scheinheilige, klein­liche Moralgrundsätze. Unsere moralischen Impulse werden in der Tat durch nichts besser geleitet, als wenn wir ein richtiges Interesse nehmen an den Dingen und Wesenheiten. Machen Sie sich das nur einmal klar. Wir haben im tieferen Sinne von der Liebe als Impuls im gestrigen Vortrage so gesprochen, daß wir nicht mißverstanden

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werden können, wenn wir jetzt das Folgende sagen: Selbst das ge­wöhnliche öftere Deklamieren von Liebe und Liebe und Liebe kann nicht ersetzen den moralischen Impuls, der in dem liegt, was man mit dem Worte Interesse bezeichnen kann.

Nehmen wir an, wir haben ein Kind vor uns. Was ist die Vorbe­dingung, daß wir uns dem Kinde widmen, was ist die Vorbedingung dazu, daß wir das Kind vorwärts bringen? Die Vorbedingung ist, daß wir Interesse an seinem Wesen nehmen. Es gehört schon eine Ungesundheit der menschlichen Seele dazu, wenn der Mensch sich zurückzieht vor etwas, woran er Interesse nehmen soll. Immer mehr und mehr wird man es erkennen, daß der Impuls des Interesses ein ganz besonders goldener Impuls in moralischem Sinne ist, je weiter man vorschreiten wird zu den wirklichen moralischen Grundlagen und nicht bloß moralische Predigten halten will. Daß wir unser Interesse erweitern, daß wir die Möglichkeit finden, uns verständnisvoll hinein zu versetzen in die Dinge und Wesen, das ruft unsere Kräfte im Innern auf, auch den Menschen gegenüber.

Selbst das Mitleid wird in entsprechend richtiger Weise wachge­rufen, wenn wir Interesse an einem Wesen haben. Und wenn wir als Theosophen uns die Aufgabe stellen, unser Interesse immer mehr und mehr zu erweitern, unseren Horizont immer größer und größer zu machen, dann wird auch die allgemeine menschliche Brüderlichkeit dadurch gehoben werden. Nicht durch Predigen von allgemeiner Menschenliebe können wir vorwärts kommen, sondern dadurch, daß wir unsere Interessen immer weiter und weiter treiben, so daß wir es immer mehr dazu bringen, uns für Seelen mit den verschiedensten Temperamenten, mit den verschiedensten Charakteranlagen, Rassen-eigentümlichkeiten, Nationaleigentümlichkeiten, mit den verschieden­sten religiösen und philosophischen Bekenntnissen zu interessieren und ihnen Verständnis entgegenzubringen. Das richtige Verständnis, das richtige Interesse ruft aus der Seele heraus die richtige moralische Tat.

Hier ist es auch so, daß der Mensch sich in der Mitte zwischen zwei Extremen halten muß. Das eine Extrem ist der Stumpfsinn, der an allem vorbeigeht und das ungeheure moralische Unglück in der Welt

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anrichtet, der nur in sich selber lebt und eigensinnig auf seinen Prin­zipien besteht, der nur immer sagt: Das ist mein Standpunkt. Das Standpunkthaben ist in moralischer Beziehung überhaupt etwas Schlimmes. Ein offenes Auge haben für alles, was uns umgibt, das ist das Wesentliche für uns. Stumpfsinn hebt uns heraus aus der Welt, während das Interesse uns in dieselbe hineinversetzt. Die Welt verliert uns durch unseren Stumpfsinn und wir werden unmoralisch. So sehen wir, daß Stumpfsinn und Interesselosigkeit an der Welt im höchsten Grade moralische Übel sind.

Nun ist die Theosophie aber gerade eine solche Sache, die den Geist immer reger und reger macht, die uns hilft, das Geistige besser zu denken, es in uns aufzunehmen. So wahr es ist, daß Wärme entsteht aus Feuer, wenn wir im Ofen einheizen, so wahr ist es, daß Interesse an allem Menschlichen und an allen Wesen entsteht, wenn wir uns theosophische Weisheit aneignen. Weisheit ist das Heizmaterial für das Interesse, und wir können einfach sagen, wenn es auch nicht gleich sichtbar ist, daß die Theosophie, wenn sie jene entfernteren Dinge, die Lehre von Saturn, Sonne und Mond, von Karma und so weiter studiert, in uns dann wiedererstehen läßt dieses Interesse. Es geschieht wirklich so, daß das Interesse es ist, was als Umwandlungsprodukt ersteht aus den theosophischen Erkenntnissen, während aus materia­listischen Erkenntnissen dasjenige entsteht, was wir heute leider so blühen sehen und was in radikaler Art als der Stumpfsinn bezeichnet werden muß, der, wenn er allein gelten würde in der Welt, ungeheures Unheil anrichten müßte.

Sehen Sie einmal, wie viele Menschen durch die Welt gehen, wie sie diesen oder jenen Menschen begegnen, aber im Grunde genommen die Menschen nicht kennen lernen, denn sie sind ganz in sich beschlos­sen, diese Menschen. Wie oft erfahren wir es, daß zwei Menschen seit längerer Zeit Freundschaft geschlossen haben und es dann plötzlich zu einem Bruche kommt. Das rührt daher, daß die Impulse zu der Freundschaft materialistischer Art waren, und nach längerer Zeit stellt sich dann erst für die Beteiligten heraus, daß sie die gegenseitigen unsympathischen Charaktereigenschaften bis jetzt nicht bemerkt hatten. Die wenigsten Menschen haben ein offenes Auge heute für

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das, was von Mensch zu Mensch spricht. Gerade das ist es aber, was die Theosophie bewirken soll: unseren Sinn dahin zu erweitern, daß wir ein offenes Auge und eine offene Seele bekommen für alles, was Menschliches um uns herum ist, damit wir nicht stumpf, sondern mit richtigem Interesse durch die Welt gehen.

Das andere Extrem vermeiden wir auch hier, indem wir unter­scheiden zwischen dem wirklichen, richtigen Interesse und dem fal­schen, und dabei die richtige Mitte halten. Sich jedem Wesen, das sich darbietet, sogleich in die Arme werfen, ist leidenschaftliches Sich­selbstverlieren an die Wesen und kein wirkliches Interesse. Wenn wir das tun, dann verlieren wir uns an die Welt. Durch den Stumpfsinn verliert die Welt uns, durch sinnlose Leidenschaftlichkeit, die sich benebelt in der Hingabe, verlieren wir uns an die Welt. Durch das gesunde Interesse stehen wir moralisch fest auf dem Standpunkt der Mitte, des Gleichgewichts.

Sehen Sie, in der dritten nachatlantischen Kulturperiode, also in der ägyptisch-chaldäischen Zeit, da war eine gewisse Kraft noch in der Majorität der Erdenbevölkerung vorhanden, die man nennen kann den Impuls zur Erhaltung des Gleichgewichts zwischen Stumpfsinn und leidenschaftlich sich betäubender Hingabe an die Welt; und das ist es, was man in alten Zeiten und auch noch bei Plato und Aristoteles genannt findet: die Weisheit. Aber die Menschen sahen das als Gabe übermenschlicher Wesen an, denn es waren bis in jene Zeiten hinein regsam die alten Impulse der Weisheit. Daher können wir von diesem Gesichtspunkte aus, namentlich in bezug auf die moralischen Impulse, die dritte nachatlantische Kulturepoche diejenige Epoche nennen, wo die Weisheit instinktiv wirkt. Daher, wenn wir zurückgehen in diesen Zeitraum, sprechen wir auch so, daß wir empfinden: Es ist wahr, was in ganz anderer Absicht im vorigen Jahre dargestellt worden ist in den Kopenhagener Vorträgen, deren Inhalt vorliegt in dem Büchel­chen: «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit»; es ist wahr, was wir dadurch ausdrückten, daß die Menschen damals noch näher standen den göttlich-geistigen Mächten. Und wodurch die Menschen noch näher standen den göttlich-geistigen Mächten, das war für die dritte nachatlantische Epoche die instinktive Weisheit.

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Es war also eine Göttergabe dazumal, zu finden die richtige Mitte im Handeln, der damaligen Zeit angemessen, zwischen Stumpfsinn und sinnlos leidenschaftlicher Hingabe. Dieser Ausgleich, dieses Gleichgewicht wurde durch die äußeren Einrichtungen in jener Zeit noch aufrecht erhalten. Es war noch nicht jenes völlige Unterein­andermischen der Menschheit vorhanden, das im vierten Zeitraum der nachatlantischen Entwickelung durch den Völkerwanderungs­prozeß eingetreten ist. Es waren die Menschen noch abgeschlossen in Völker- und Stammessysteme. Da waren die Interessen von Natur aus weisheitsvoll geregelt und so weit rege, daß die richtigen mora­lischen Impulse durchdringen konnten; und auf der anderen Seite war durch das Gegebensein der Blutsbrüderschaft bei den Stämmen ein Riegel vorgeschoben der sinnlosen Leidenschaft. Sie werden es schon bei der Betrachtung des Lebens zugeben, daß man am leichte­sten, auch in unserer Zeit noch, ein Interesse innerhalb dessen findet, was Blutsverwandtschaft oder Abstammung betrifft. Da ist aber auch nicht vorhanden, was man sinnlose Leidenschaft nennt. Weil aber die Menschen auf einem kleineren Gebiete vereinigt waren in der ägyp­tisch-chaldäischen Zeitperiode, war die weisheitsvolle Mitte leicht da. Das ist aber der Sinn der Vorwärtsentwickelung der Menschheit, daß das, was ursprünglich instinktiv, was nur göttlich-geistig war, all­mählich verschwindet, und daß die Menschen selbständig werden gegenüber den göttlich-geistigen Mächten.

Daher sehen wir, daß schon in der vierten nachatlantischen Kultur-periode, im griechisch-lateinischen Zeitraume, die Philosophen Plato und Aristoteles, aber auch die öffentliche Meinung in Griechenland, die Weisheit als etwas betrachteten, was errungen werden muß, als etwas, was nicht mehr Göttergabe ist, sondern erstrebt werden muß. Die erste Tugend bei Plato ist die Weisheit, und derjenige ist un­moralisch bei Plato, der nicht Weisheit anstrebt.

Wir sind jetzt im fünften nachatlantischen Kulturzeitraum. Da sind wir noch weit entfernt von dem Punkte, wo die Weisheit, die wie ein göttlicher Impuls der Menschheit instinktiv eingepflanzt ist, derselben wieder bewußt sein wird. Daher ist in unserer Zeit ganz besonders die Möglichkeit vorhanden, daß von den Menschen abgeirrt

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wird nach den beiden angeführten Richtungen. Daher besteht auch besonders in unserer Zeit die Notwendigkeit, daß den großen Ge­fahren, die in diesem Punkte zu finden sind, entgegengearbeitet wird durch eine spirituelle, durch eine theosophische Weltanschauung, da­mit das, was die Menschen einstmals als instinktive Weisheit gehabt haben, jetzt zur bewußten Weisheit werden kann. Das ist das Wesen der theosophischen Bewegung, daß das, was die Menschen früher in­stinktiv hatten, jetzt errungen wird als bewußtes Weisheitsgut. Was ist es anderes, als daß die Götter der unbewußten Menschenseele die Weisheit einst als etwas wie Instinktives gegeben haben, während wir jetzt die Weisheiten über den Kosmos und über die Menschheitsent­wickelung uns erst aneignen müssen? Die alten Sitten waren ja auch nach den Gedanken der Götter gemacht. Wir sehen die Theosophie im richtigen Sinne an, wenn wir sie als die Erforschung der Götter-gedanken ansehen. Dazumal waren sie instinktiv in die Menschen ein­geflossen; heute müssen wir sie erforschen, zu unserem Wissen er­heben. In dieser Beziehung muß uns also Theosophie etwas Göttliches sein. Wir müssen in einer ehrfürchtigen Stimmung sein können dar­über, daß die Gedanken, die uns durch die Theosophie vermittelt werden, wirklich etwas Göttliches sind, etwas, was wir Menschen denken dürfen, was wir nachdenken dürfen, nachdem es die göttlichen Gedanken waren, nach denen die Welt eingerichtet worden ist. Wenn uns Theosophie das ist, dann stehen wir den Dingen so gegenüber, daß wir begreifen: sie sind uns gegeben zur Ausführung unserer Mis­sion. Wenn wir studieren das, was uns mitgeteilt worden ist über die Saturn-, Sonnen- und Mondenentwickelung, über Reinkarnation, über die Entwickelung einzelner Rassen und so weiter, so werden uns gewaltige Aufschlüsse zuteil werden. Aber nur dann stellen wir uns in der richtigen Weise dem gegenüber, wenn wir uns sagen: Die Gedan­ken, die wir suchen, sind die Gedanken, nach denen die Götter die Evolution geleitet haben. Wir denken die Evolution der Götter. Ver­stehen wir das richtig, dann kommt aber auch über uns etwas tief Moralisches. Das kann nicht ausbleiben. Dann sagen wir uns: In alten Zeiten haben die Menschen von den Göttern instinktive Weisheit ge­habt. Die Götter haben ihnen die Weisheit, nach denen sie die Welt

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gestaltet haben, mitgegeben. Dadurch war moralisches Handeln mög­lich. Nun aber verschaffen wir uns die Weisheit bewußt in der Theo­sophie. Also dürfen wir auch das Vertrauen haben, daß diese Weisheit sich umsetzen wird in uns in moralische Impulse, so daß wir auf­nehmen nicht bloß theosophische Weisheit, sondern mit der Theo­sophie auch moralische Impulse.

In was für moralische Impulse wird sich nun umsetzen das theo­sophische Streben, gerade auf dem Gebiete des Weisheitsdaseins? Da müssen wir nun einen Punkt berühren, dessen Entwickelung aller­dings der Theosoph voraussehen kann, dessen tiefe moralische Be­deutung, dessen moralisches Gewicht der Theosoph sogar voraussehen soll, einen Punkt der Entwickelung, der weit entfernt ist von dem, was heute üblich ist, nämlich das, was Plato noch nannte das Weis­heitsideal. Weil er es nannte mit den Worten, die üblich sind da, wo Weisheit noch instinktiv in den Menschen drinnen lebte, so tun wir gut, diesen Ausdruck durch ein anderes Wort zu ersetzen. Wir tun gut, es zu ersetzen durch das Wort Wahrhaftigkeit, weil wir indivi­dueller geworden sind, weil wir uns entfernt haben von dem Gött­lichen und daher wieder zu ihm zurückstreben müssen. Wir müssen lernen, das volle Gewicht des Wortes Wahrhaftigkeit zu empfinden, und es wird dies in moralischer Beziehung ein Ergebnis theosophischer Weltanschauung und theosophischer Gesinnung werden. Die Men­schen werden die Wahrhaftigkeit durch die Theosophie empfinden lernen.

Die Theosophen von heute aber werden verstehen, wie notwendig es ist, dieses Moralische der Wahrhaftigkeit vollständig zu fühlen in einer Zeit, wo es der Materialismus dahin gebracht hat, daß man von der Wahrhaftigkeit zwar noch reden kann, daß aber das allgemeine Kulturleben weit davon entfernt ist, das Richtige dabei zu empfinden, das Richtige zu verspüren. Das kann heute nicht anders sein. Wahr­heit ist etwas, was der gegenwärtigen Kultur im hohen Maße fehlen muß, wegen einer bestimmten Eigenschaft, die die gegenwärtige Kul­tur erhalten hat. Ich frage: Was findet ein Mensch heute noch dabei, wenn er in einer Zeitung oder in einer Druckschrift bestimmte Mit­teilungen findet, und es stellt sich nachher heraus, daß es einfach nicht

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wahr ist, was da gesagt wird? Ich bitte sehr, denken Sie nach dar­über. Man kann nicht sagen, daß es auf Schritt und Tritt geschieht, sondern man muß sagen, daß es sogar auf Viertelschritt und Viertel­tritt passiert. Überall, wo es modernes Leben gibt, ist die Unwahr­haftigkeit eine Eigenschaft unserer gegenwartigen Kulturepoche ge­worden, und es ist unmöglich, daß Sie die Wahrhaftigkeit als eine Eigenschaft unserer Epoche nennen können.

Nehmen Sie einen Menschen, von dem Sie wissen, daß er selber etwas Falsches geschrieben oder gesagt hat, und halten Sie ihm das vor. Sie werden finden, daß er heute in der Regel gar keine Empfin­dung dafür hat, daß das Unrecht ist. Er wird sofort die Ausrede gebrauchen: Ja, ich habe es im guten Glauben gesagt. Die Theosophen dürfen es nicht als moralisch ansehen, wenn jemand sagt, daß er etwas Unrichtiges im guten Glauben gesagt hat. Die Menschen werden immer mehr verstehen lernen, daß man dazu kommen muß, zu wissen, daß das auch wirklich geschehen ist, was man behauptet. Man darf also nur dann etwas sagen oder mitteilen, nachdem man die Ver­pflichtung gefühlt und ausgeführt hat, zu prüfen, ob es auch so ist, zu vergleichen mit den Mitteln, die zu benutzen möglich sind. Erst wenn man dieser Verpflichtung inne wird, kann man die Wahrhaftig­keit als moralischen Impuls empfinden. Dann wird aber niemand mehr sagen, wenn er etwas Unrichtiges in die Welt gesetzt hat: Ich habe es so gemeint, ich habe es im guten Glauben gesagt. Denn er wird lernen, daß man nicht bloß verpflichtet ist, zu sagen, was man als richtig zu erkennen glaubt, sondern daß man verpflichtet ist, nur das zu sagen, was wahr ist, was richtig ist. Das wird nicht anders gehen, als daß in gewisser Beziehung eine radikale Anderung nach und nach in unserem Kulturleben eintreten muß. Die Schnelligkeit des Verkehrs, die Sensationslust der Menschen, überhaupt alles, was ein materialistisches Zeitalter im Gefolge hat, sind Gegner der Wahr­haftigkeit. Auf moralischem Gebiete wird die Theosophie eine Er­zieherin der Menschheit zur Pflicht der Wahrhaftigkeit sein.

Es ist heute nicht meine Aufgabe, davon zu sprechen, inwiefern die Wahrhaftigkeit heute schon in der Theosophischen Gesellschaft verwirklicht ist, aber es ist zu sagen, daß dasjenige, was heute ausgesprochen

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worden ist, im Prinzip ein hohes theosophisches Ideal sein muß. Genug wird die moralische Evolution innerhalb der theosophi­schen Bewegung zu tun haben, wenn nach allen Richtungen durch­dacht, durchfühlt und empfunden werden wird das moralische Ideal der Wahrhaftigkeit.

Dieses moralische Ideal der Wahrhaftigkeit wird heute dasjenige sein, was die Tugend in der Empfindungsseele des Menschen in der richtigen Weise bewirkt.

Das zweite Seelenglied, das wir in der Theosophie aufzählen müssen, ist das, was wir gewöhnlich nennen die Verstandes- oder Gemütsseele. Sie wissen, daß es besonders in der vierten nachatlan-tischen Kulturepoche, in der griechisch-lateinischen Zeit seine Geltung gefunden hat. Die Tugend, die da besonders maßgebend ist für dieses Seelenglied, haben wir schon öfter angeführt, es ist die Starkmut, die Tapferkeit, das Mutvolle. Sie haben zu ihren Extremen die Tollkühn­heit und die Feigheit. Das Mutvolle, die Starkmut, die Tapferkeit ist in der Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit. Das Wort der ger­manischen Sprache, das im Deutschen heißt Gemüt, drückt schon im Wortanklang aus, daß es in Beziehung dazu steht. Mit dem Worte Gemüt wird gerade der mittlere Teil der menschlichen Seele gemeint, das, was darin das Mutvolle, das Starke, das Kräftige ist. Das war auch die mittlere Tugend bei Plato und Aristoteles. Das war diejenige Tugend, die in der vierten nachatlantischen Kulturperiode noch als ein göttliches Geschenk bei den Menschen vorhanden war, während die Weisheit eigentlich nur noch in der dritten nachatlantischen Kul­turperiode wie instinktiv da war. Instinktive Tapferkeit und Stark-mut, das können Sie aus den ersten Vorträgen entnehmen, war wie ein Göttergeschenk vorhanden bei den Menschen, die als Angehörige der vierten nachatlantischen Kulturperiode entgegengekommen sind der Ausbreitung des Christentums nach Norden. Sie zeigten, daß die Tapferkeit noch ein Göttergeschenk bei ihnen war. Während bei den Chaldäern die Weisheit, das weisheitsvolle Eindringen in die Geheim­nisse der Sternenwelt wie ein Göttergeschenk, als etwas Inspiriertes vorhanden war, so war bei den Menschen des vierten nachatlantischen Kulturzeitraumes Tapferkeit und Starkmut vorhanden, namentlich

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bei den Griechen und Römern, und auch bei den Völkern, denen die Ausbreitung des Christentums übergeben war. Diese Tapferkeit ist später verloren gegangen als die Weisheit.

Wenn wir uns jetzt umsehen im fünften nachatlantischen Kultur-zeitraum, dann müssen wir sagen: Wir sind in bezug auf diese Tapfer­keit und diese Starkmut in einer Lage, wie die Griechen mit Bezug auf die Weisheit es waren den Chaldäern und Agyptern gegenüber. Wir sehen zurück auf dasjenige, was ein Göttergeschenk im unmittel­bar vorhergehenden Zeitraum war und was wir in gewisser Weise wieder anstreben können. Aber nun haben uns ja gerade die zwei vorangegangenen Vorträge gezeigt, daß bei diesem Anstreben in ge­wisser Beziehung eine Umwandlung vor sich gehen muß. Von dem, was als Starkmut und Tapferkeit als ein Göttergeschenk einen äußer­lichen Charakter hat, haben wir die Umwandlung gesehen bei Franz von Assisi. Wir haben die Umwandlung gesehen als Folge einer inne­ren moralischen Kraft, die wir gestern als die Kraft des Christus-Impulses erkannt haben. Die Umwandlung von Starkmut und Tapfer­keit ergibt dann dasjenige, was echte Liebe ist. Diese echte Liebe muß aber geleitet werden von der anderen Tugend, von dem Interesse, von der Teilnahme an demjenigen Wesen, auf das wir die Liebe anwenden. Shakespeare hat in seinem «Timon von Athen» gezeigt, wie auch Liebe oder Gutherzigkeit, wenn sie leidenschaftlich auftritt, wenn sie bloß als Eigenschaft der menschlichen Natur erscheint, ohne von Weisheit und Wahrhaftigkeit geleitet zu werden, Schaden anrichtet. Wir fin­den da eine Persönlichkeit geschildert, die nach allen Seiten Güter verschwendet. Freigebigkeit ist eine Tugend; aber Shakespeare zeigt uns auch, daß lauter Parasiten geschaffen werden durch das, was da verschwendet wird.

So müssen wir also sagen: Wie die alte Tapferkeit und die Stark-mut geleitet wurden aus den Mysterien heraus von den europäischen Brahminen, von den sich zurückgezogen haltenden Weisen, so muß auch in der menschlichen Natur eine Leitung, ein Zusammenklingen der Tugend stattfinden mit dem Interesse. Das Interesse, das uns in der richtigen Weise mit der Außenwelt zusammenführt, das muß uns leiten und lenken, wenn wir uns mit unserer Liebe an die Außenwelt

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wenden. Im Grunde geht auch das aus dem charakteristischen, wenn auch radikalen Beispiele des Franz von Assisi hervor. Es war bei Franz von Assisi nicht ein Mitleid für die Menschen, das leicht auch etwas Aufdringliches und Beleidigendes haben kann, denn auch solche Menschen sind durchaus nicht immer von den richtigen moralischen Impulsen beseelt, die die anderen Menschen überschütten wollen mit ihrem Mitleide. Wie viele Menschen gibt es, die sich durchaus nichts aus Mitleid geben lassen wollen. Verständnisvolles Entgegenkommen ist aber etwas, das nichts Beleidigendes hat. Bemitleidet werden ist unter Umständen etwas, was der Mensch zurückweisen muß. Ver­ständnis finden für sein Wesen ist etwas, das kein gesunder Mensch zurückweisen kann. Daher kann auch das Verhalten eines anderen Menschen nicht getadelt werden, der sich diesem Verständnis ent­sprechend in seinem Handeln verhält. Dieses Verständnis ist es, das uns leiten kann in bezug auf die zweite Tugend: die Liebe. Sie ist dasjenige, was durch den Christus-Impuls namentlich die Tugend der Verstandes- oder Gemütsseele geworden ist; sie ist diejenige Tugend, die wir als die von menschlichem Verständnis begleitete, menschliche Liebe bezeichnen können.

Das Mitleid, die Mitfreude ist diejenige Tugend, welche in Zukunft die schönsten und herrlichsten Blüten im menschlichen Zusammen­leben treiben muß, und in gewisser Weise werden bei demjenigen, welcher den Christus-Impuls in der richtigen Weise versteht, dieses Mitgefühl und diese Liebe, dieses Mitleiden und diese Mitfreude in entsprechender Weise entstehen, denn es wird daraus ein Gefühl wer­den. Gerade durch das theosophische Begreifen des Christus-Impulses wird diese Tatsache eintreten, daß es ein Gefühl werden wird.

Der Christus ist durch das Mysterium von Golgatha herabgestiegen in die Erdenentwickelung. Seine Impulse, seine Wirkungen sind da. Überall sind sie da. Warum ist er nun herabgestiegen auf diese Erde? Damit durch das, was er der Welt zu geben hat, die Evolution im richtigen Sinne vorwärts gehe, damit die Evolution der Erde mit dem aufgenommenen Christus-Impuls sich in der richtigen Weise voll­ziehen kann. Zerstören wir jetzt, nachdem der Christus-Impuls in der Welt ist, etwas durch das Unmoralische, durch das interesselose

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Vorbeigehen an unseren Mitmenschen, dann nehmen wir aus der Welt, in die der Christus-Impuls hineingeflossen ist, einen Teil her­aus. Wir zerstören also an dem Christus-Impulse direkt etwas, weil er nun einmal da ist. Indem wir aber dasjenige der Welt geben, was durch die Tugend, die schaffend ist, der Welt gegeben werden kann, bauen wir auf. Wir bauen auf eben dadurch, daß wir hingeben. Es ist nicht umsonst gesagt worden oft und oft, daß der Christus zu­nächst gekreuzigt worden ist auf Golgatha, daß er aber fort und fort immer wieder gekreuzigt wird durch die Taten der Menschen. Da der Christus-Impuls durch die Tat auf Golgatha eingeflossen ist in die Erdenentwickelung, so beteiligen wir uns jederzeit durch das Un­moralische, das wir durch Lieblosigkeit, Interesselosigkeit und so weiter verüben, an den Leiden und Schmerzen, die dem auf die Erde gekommenen Christus zugefügt werden. Daher ist es immer und immer wieder gesagt worden: Stets aufs neue wird der Christus ge-kreuzigt, solange Unmoralität, Lieblosigkeit und Interesselosigkeit bestehen; da der Christus-Impuls die Welt durchdrungen hat, so ist es dieser, dem das Leid zugefügt wird.

Ebenso wie es wahr ist, daß wir durch das zerstörende Böse dem Christus-Impuls etwas entziehen und gleichsam die Kreuzigung auf Golgatha weiter fortsetzen, so ist es auch wahr, wenn wir in Liebe handeln, daß wir überall da, wo wir diese Liebe gebrauchen, dem Christus-Impulse Geltung verschaffen, ihm zum Leben verhelfen. «Was ihr einem der Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan» (Matthäus 25, 40), das ist das bedeutungsvollste Wort der Liebe, und dieses Wort muß der tiefste moralische Impuls werden, wenn es einmal theosophisch verstanden wird. Das tun wir, wenn wir verständnisvoll unseren Mitmenschen gegenüberstehen und ihnen dieses oder jenes zufügen, was aus dem Verständnisse ihres Wesens heraus unsere Handlungen, unsere Tugenden, unser Verhalten zu ihnen bedingt. Wir verhalten uns, insofern wir gegenüber dem Mit­menschen uns verhalten, gegenüber dem Christus-Impulse selber.

Das ist ein starker, moralischer Impuls, das ist etwas, was wirklich Moral begründet, wenn wir fühlen: Das Mysterium von Golgatha hat sich für alle Menschen vollzogen, und es ist ausgestreut von da

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ein Impuls in die ganze Welt. Stehst du deinen Mitmenschen gegen­über, so versuche sie zu verstehen in allen ihren Unterschieden, sei es nach Rasse, Farbe, Nationalität, sei es nach Religionsbekenntnis, Weltanschauung und so weiter. Stehst du ihnen gegenüber und tust ihnen dieses oder jenes, so tust du es dem Christus. Was du auch dem Mitmenschen tust, du tust es in der gegenwärtigen Erdenentwickelung dem Christus. Dieses Wort «Was ihr einem meiner Bruder getan habt, das habt ihr mir getan» wird für den, der die fundamentale Bedeu­tung des Mysteriums von Golgatha versteht, zugleich zu einem kräf­tigen moralischen Impulse. So daß wir sagen können: Während die Götter der vorchristlichen Zeit dem Menschen gegeben haben instink­tive Weisheit, instinktive Starkmut und Tapferkeit, strömt herunter von dem Symbolum des Kreuzes die Liebe, jene Liebe, die aufgebaut ist auf dem gegenseitigen Interesse von Mensch zu Mensch.

Dadurch wird dieser Christus-Impuls in mächtiger Weise in der Welt wirken. Wenn einmal nicht nur der Brahmine den Brahminen, der Paria den Paria, der Jude den Juden, der Christ den Christen lieben und verstehen wird, sondern wenn der Jude den Christen, der Paria den Brahminen, der Amerikaner den Asiaten als Mensch zu verstehen und sich in ihn zu versetzen vermag, dann wird man auch wissen, wie tief christlich empfunden es ist, wenn wir sagen: Ohne Unterschied eines jeglichen äußeren Bekenntnisses muß Brüderlichkeit unter den Menschen sein. Gering soll man achten dasjenige, was uns sonst verbindet. Vater, Mutter, Bruder, Schwester, selbst das eigene Leben sollen wir geringer achten als dasjenige, was von Menschenseele zu Menschenseele spricht. Wer nicht in diesem Sinne gering achtet, was die Zugehörigkeit zu dem die menschlichen Unterschiede aus­gleichenden Christus-Impuls beeinträchtigt, wer nicht gering achtet die Differenzierungen, der kann nicht mein Jünger sein. Das ist der Impuls der Liebe, der ausströmt von dem Mysterium von Golgatha, den wir in dieser Beziehung wie eine Erneuerung dessen empfinden, was als ursprüngliche Tugend dem Menschen gegeben worden ist.

Wir haben jetzt nur noch zu betrachten das, was wir als Tugend der Bewußtseinsseele ansprechen können: die Mäßigkeit, die Beson­nenheit. Insofern wir im vierten nachatlantischen Kulturzeitraum uns

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befinden, sind diese Tugenden noch immer instinktiv. Plato und Ari­stoteles haben sie genannt die hauptsächlichsten Tugenden der Be­wußtseinsseele, indem sie sie wiederum als Gleichgewichtszustände aufgefaßt haben, als die Mitte von dem, was so in der Bewußtseins-seele vorhanden ist. Die Bewußtseinsseele besteht dadurch, daß sich der Mensch durch seine Körperlichkeit der Außenwelt bewußt wird. Der sinnliche Leib ist zunächst das Werkzeug der Bewußtseinsseele, und der sinnliche Leib ist es auch, durch den der Mensch sogar zum Ich-Bewußtsein kommt. Der sinnliche Leib muß daher erhalten wer­den. Würde der sinnliche Leib des Menschen für die Erdenmission nicht erhalten werden, dann könnte die Erdenmission nicht erfüllt werden.

Aber eine Grenze besteht auch hier. Wenn der Mensch alle Kräfte, die er in sich hat, nur benützte, um zu genießen, dann schlösse er sich in sich ab, dann würde ihn die Welt verlieren. Der bloße Genuß­mensch, der alle Kraft, die er in sich hat, nur dazu gebraucht, so meinen Plato und Aristoteles, um sich Genüsse zu verschaffen, der schließt sich von der Welt ab, die Welt verliert ihn. Der Mensch, welcher sich alles versagt, macht sich immer schwächer und schwächer und wird endlich ergriffen von dem äußeren Weltprozeß, er wird zermürbt von dem äußeren Weltengang. Der, welcher hinausgeht über die Kräfte, die ihm als Mensch zugemessen sind, sie übertreibt, wird von dem Weltenprozeß ergriffen und verliert sich an die Welt. Das also, was der Mensch entwickelt hat zur Ausbildung der Bewußt­seinsseele, kann zermürbt werden, so daß er in die Lage kommt, die Welt zu verlieren. Die Tugend, welche diese beiden Extreme ver­meidet, ist die Mäßigkeit. Mäßigkeit ist also weder Askese noch Schwelgerei, sondern die richtige Mitte zwischen beiden. Und das ist die Tugend der Bewußtseinsseele.

In bezug auf diese Tugend sind wir auch noch nicht über den in­stinktiven Standpunkt hinausgekommen. Ein leichtes Nachdenken wird Sie lehren können, daß im Grunde die Menschen gar sehr auf das Probieren, auf das Hin und her Pendeln zwischen den Extremen angewiesen sind. Wenn Sie absehen von den wenigen Menschen, die sich heute schon bemühen, eine Bewußtheit auf diesem Gebiete anzustreben,

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so werden Sie finden, daß die große Mehrzahl der Menschen gar sehr nach einem bestimmten Muster lebt, das man in Mitteleuropa oft damit bezeichnet, daß man sagt: Es gibt in Berlin gewisse Men­schen, welche den ganzen Winter hindurch schwelgen und immer wieder schwelgen und sich vollpfropfen mit allerlei Delikatessen und Leckereien, und dann im Sommer nach Karlsbad gehen, um das da­durch hervorgerufene Übel nach der Methode des anderen Extrems zu beseitigen. Da haben Sie das Ausschlagen der Waagschale nach der einen und nach der anderen Seite hin. Das ist nur ein radikaler Fall. Wenn das Geschilderte auch nicht überall in diesem Maße statt­findet, dieses Pendeln zwischen Genuß und Entziehung ist überall vorhanden. Das ist hinlänglich klar. Daß das Übermaß nach der einen Seite eintritt, dafür sorgen die Menschen selber, und sie lassen sich dann von den Arzten sogenannte Entziehungskuren vorschreiben, das heißt das andere Extrem, damit das Falsche wieder gut gemacht werde.

Sie sehen daraus, daß die Menschen auf diesem Gebiete noch recht sehr in einem instinktiven Zustande sind und daß wir sagen müssen:

Es liegt eine Art Göttergeschenk bei dem Menschen vor, der ja ein instinktives Gefühl dafür hat, nicht zuviel nach der einen und nicht zuviel nach der anderen Seite zu tun. Aber ebenso, wie die anderen instinktiven Eigenschaften des Menschen verloren gegangen sind, wird auch diese verloren gehen beim Übergange von dem fünften in den sechsten nachatlantischen Kulturzeitraum. Als Naturanlage wird das verloren gehen, und jetzt werden Sie ermessen können, wie sehr theosophische Weltanschauung und Gesinnung dazu wird beitragen müssen, Bewußtsein auf diesem Gebiete nach und nach zu entwickeln.

Wir haben heute noch wenige, vielleicht selbst entwickelte Theo­sophen, denen es einleuchtet, daß die Theosophie das Rezept ist, um auch auf diesem Gebiete die richtige Bewußtheit zu erzielen. Wenn die Theosophie auf diesem Gebiete mehr zur Geltung kommt, dann wird sich nämlich einstellen, was ich nur in folgender Weise werde schildern können: Die Menschen werden allmählich immer mehr und mehr Sehnsucht haben nach den großen geistigen Wahrheiten. Wenn auch heute die Theosophie noch verspottet wird, sie wird es nicht

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immer werden. Sie wird sich ausbreiten, wird besiegen alle äußere Gegnerschaft und auch alles übrige, was ihr noch entgegensteht, und die Theosophen werden sich nicht damit begnügen, bloß allgemeine Menschenliebe zu predigen. Die Menschen werden begreifen, daß man ebensowenig an einem Tage sich Theosophie aneignen kann, wie sich der Mensch an einem Tage für sein ganzes Leben zu nähren vermag, und daß es dazu gehört, immer Weiteres und Weiteres von der Theo-sophie sich anzueignen. Es wird immer seltener werden innerhalb der theosophischen Bewegung, daß die Menschen sagen: Das sind unsere Grundsätze, und wenn wir diese Grundsätze haben, dann sind wir eben Theosophen. Das Immer-darin-Stehen in der Gemeinschaft, das Lebendige der Theosophie fühlen und erleben, das Zusammenerleben wird immer weiter und weiter sich ausbreiten. Indem aber die Men­schen die eigentümlichen Gedanken, die eigentümlichen Empfindun­gen und Impulse, wie sie von der theosophischen Weisheit kommen, in sich verarbeiten, was geschieht denn da? Nicht wahr, es ist uns allen bekannt, daß die Theosophen niemals eine materialistische An­schauung haben können. Sie haben gerade das Gegenteil der mate­rialistischen Anschauung. Materialistisch denkt jemand, der sagt:

Wenn der Mensch diesen oder jenen Gedanken hat, so geht eine Be­wegung der Gehirnmoleküle oder Atome vor sich, und weil diese Be­wegung vor sich geht, deshalb hat der Mensch den Gedanken. Der Gedanke geht gleichsam wie ein feiner Rauch aus dem Gehirn hervor, ähnlich wie die Flamme aus der Kerze. So ist die materialistische Anschauung. Die entgegengesetzte ist die theosophische. Da sind es die Gedanken, die seelischen Erlebnisse, welche das Gehirn, das Ner­vensystem in Bewegung bringen. Die Art und Weise, wie unser Gehirn sich bewegt, hängt davon ab, welche Gedanken wir denken. Das ist aber gerade das Umgekehrte von dem, was der Materialismus meint. Willst du wissen, wie das Gehirn eines Menschen beschaffen ist, so mußt du erforschen, welche Gedanken er gedacht hat; denn geradeso, wie die Schriftzüge nichts anderes sind als die Folge der Gedanken, so sind auch die Bewegungen des Gehirns nichts anderes als die Folge der Gedanken.

Müssen Sie so nicht dazu kommen, zu sagen, die Gehirne werden

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anders bearbeitet jetzt in diesem Momente, wo Sie theosophische Gedanken durchleben, als in einer Gesellschaft, die Karten spielt? Andere Vorgänge spielen sich ab in diesen Ihren Seelen, wenn Sie theosophischen Gedanken folgen, als wenn Sie sich in einer Gesell­schaft befinden, welche Karten spielt oder der Vorstellung in einem Kinematographentheater folgt. Im menschlichen Organismus ist aber nichts, das isoliert, das einzeln dasteht. Alles ist im Zusammenhang; es wirkt eines auf das andere. Die Gedanken wirken auf das Gehirn und das Nervensystem; dieses steht mit unserem gesamten Organis­mus in Verbindung. Ist es auch noch jetzt für viele Menschen verdeckt - wenn einmal die vererbten Eigenschaften, die heute noch in den Leibern stecken, überwunden sein werden, so wird das Folgende ein­treten. Die Gedanken werden vom Gehirne aus sich mitteilen, sie werden auf den Magen übergehen, und die Folge davon wird sein, daß die Dinge, welche heute noch den Menschen schmecken, den­jenigen, die theosophische Gedanken aufgenommen haben, nicht mehr schmecken werden. Dafür sind die Gedanken, welche die Theosophen aufgenommen haben, Gottesgedanken. Diese bearbeiten den ganzen Organismus so, daß er das Richtige schmeckt. Was nicht für ihn passend ist, das riecht und empfindet der Mensch dann als unsym­pathisch. Eine eigentümliche Perspektive, eine Perspektive, die viel­leicht materialistisch genannt werden kann. Sie ist aber gerade das Gegenteil davon. Diese Art von Appetit, daß Sie das eine lieben und beim Essen bevorzugen, das andere hassen und nicht werden essen wollen, das wird sich als eine Folge des theosophischen Arbeitens er­geben. Sie können das an sich selber beurteilen, wenn Sie beobachten, daß Sie heute vielleicht einen Ekel haben vor gewissen Dingen, wel­chen Sie nicht hatten in Ihrer vortheosophischen Zeit.

Das wird sich immer mehr und mehr verbreiten, wenn der Mensch in selbstloser Weise an seiner Höherentwickelung so arbeiten wird, daß die Welt das Richtige von ihm haben kann. Man darf mit den Worten Selbstlosigkeit und Egoismus nur nicht Verstecken spielen. Man kann tatsächlich sehr leicht diese Worte mißbrauchen. Es ist nicht bloß selbstlos, wenn der Mensch sagt: «Ich will nur tätig sein in der Welt und für die Welt; was liegt an meiner eigenen geistigen

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Entwickelung? Ich will nur arbeiten, nicht egoistisch streben .. .» Es ist nicht Egoismus, wenn der Mensch sich höher entwickelt, weil der Mensch sich dadurch doch tauglicher macht, an der Weiterentwicke­lung der Welt tätig teilzunehmen. Wenn man die eigene Weiterent­wickelung versäumt, macht man sich untauglich für die Welt; man entzieht der Welt seine Kraft. Es muß nämlich auch für diese das Richtige getan werden, um das, was die Gottheit mit uns beabsichtigt hat, an uns selber zur Entwickelung zu bringen.

So wird ein Menschengeschlecht durch die Theosophie, oder sagen wir besser, ein Kern der Menschheit durch die Theosophie entwickelt werden, der nicht bloß instinktiv die Mäßigkeit als leitendes Ideal empfindet, sondern auch bewußte Sympathie zu dem hat, was den Menschen in würdiger Weise zu einem Baustein der göttlichen Welt­ordnung macht, und bewußte Abneigung hat gegen das, was den Menschen zerstört als Baustein der Weltordnung.

So sehen wir, wie auch in dem, was an dem Menschen selber ge­arbeitet wird, die moralischen Impulse vorhanden sind, und so finden wir dasjenige, was wir nennen können die Lebensweisheit, als die um-gestaltete Mäßigkeit. Das für die nächste, sechste nachatlantische Kulturperiode in Anspruch zu nehmende Ideal der «Lebensweisheit» wird diejenige ideale Tugend sein, die Plato nennt die «Gerechtig­keit». Das ist die harmonische Zusammenstimmung dieser Tugenden. Indem die Tugenden sich etwas verschoben haben in der Menschheit, ist auch anders geworden dasjenige, was in der vorchristlichen Zeit als Gerechtigkeit angesehen worden ist. Eine solche einzelne Tugend, welche das Zusammenstiminen bewirkt, ist in jener Zeit nicht da. Die Zusammenstimmung steht als Ideal fernster Zukunft vor den Augen der Menschen. Starkmut, von ihr haben wir gesehen, daß sie sich um­gewandelt hat in die Liebe als moralischer Impuls. Wir haben auch gesehen, daß Weisheit geworden ist zur Wahrhaftigkeit. Wahrhaftig­keit ist zunächst dasjenige, was als Tugend auftritt, die den Menschen hineinstellen kann in würdiger Weise und in richtiger Beziehung in das äußere Leben. Wenn wir aber zur Wahrhaftigkeit kommen wollen den geistigen Dingen gegenüber, wie können wir dann das den gei­stigen Dingen gegenüber einrichten? Wir kommen zur Wahrhaftigkeit,

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wir kommen zu demjenigen, was unsere Empfindungsseele als Tugend durchglühen kann, durch das richtige Verständnis, das rich­tige Interesse, die entsprechende Teilnahme. Was ist nun diese Teil­nahme gegenüber der geistigen Welt? Wenn wir der physischen Welt, und zwar zunächst dem Menschen, uns gegenüberstellen wollen, dann müssen wir uns ihm gegenüber öffnen, wir müssen ein offenes Auge für sein Wesen haben. Wie gewinnen wir aber der geistigen Welt gegenüber ein offenes Auge? Wir gewinnen der geistigen Welt gegen­über ein offenes Auge dann, wenn wir eine ganz bestimmte Gefühlsart entwickeln, eine Gefühlsart, die auch aufgetaucht ist, als die alte Weisheit; die instinktive Weisheit, hinuntergesunken war in die Tie­fen des Seelenlebens. Es ist diejenige Gefühlsart, die wir oftmals bei den Griechen bezeichnen hören durch das Wort: Alles philosophische Denken beginnt mit dem Verwundern, mit dem Erstaunen. Mit dem Verwundern und Erstaunen als Ausgangspunkt unseres Verhältnisses zur übersinnlichen Welt ist in der Tat auch etwas bedeutungsvoll Moralisches gesagt. Der wilde, unkultivierte Mensch ist zunächst durch die großen Erscheinungen der Welt wenig in Verwunderung zu setzen. Gerade durch die fortschreitende Vergeistigung kommt der Mensch dazu, Rätsel zu finden in den alltäglichen Erscheinungen und ein Geistiges hinter denselben zu ahnen. Die Verwunderung ist es, die unsere Seele hinauflenkt in die geistigen Gebiete, damit wir in die Erkenntnisse derselben eindringen, und nur dann können wir in diese Erkenntnisse eindringen, wenn unsere Seele angezogen wird durch die zu erkennenden Gegenstände. Diese Anziehung ist es, die die Ver­wunderung, das Erstaunen, den Glauben auslöst. Eigentlich ist es immer diese Verwunderung und dieses Erstaunen, welche uns hin-lenken zu dem Übersinnlichen, und es ist zugleich auch dasjenige, was man gewöhnlich als Glaube bezeichnet. Glaube, Verwunderung und Erstaunen sind die drei Seelenkräfte, welche uns über die ge­wöhnliche Welt hinausführen.

Wenn wir dem Menschen gegenüber in Erstaunen stehen, so suchen wir sein Verständnis. Durch das Verständnis seines Wesens kommen wir zu der Tugend der Brüderlichkeit, und diese werden wir dann am besten verwirklichen, wenn wir dem Menschen mit Ehrfurcht

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gegenübertreten. Wir werden dann sehen, daß Ehrfurcht zu etwas wird, was wir jedem Menschen entgegenbringen müssen. Tun wir das, dann werden wir dazu kommen, immer wahrhafter und wahr­hafter zu werden. Wahrheit wird uns etwas werden, wozu wir uns verpflichtet fühlen. Die übersinnliche Welt wird uns etwas werden, wozu wir, wenn wir sie ahnen, uns hinneigen, und durch das Wissen werden wir erlangen das, was als übersinnliche Weisheit schon hin­untergegangen ist in die unterbewußten Seelengebiete. Erst als die übersinnliche Weisheit hinuntergesunken war, trat das Wort auf, das besagt, daß die Philosophie beginne mit dem Erstaunen und dem Verwundern. Dieses Wort kann Ihnen klarmachen, daß Erstaunen und Verwunderung erst hereingetreten sind in die Weltenentwicke­lung in der Zeit, als der Christus-Impuls in die Welt gekommen war.

Nun blicken wir, da wir schon die zweite der Tugenden als die Liebe angeführt haben, einmal zu dem, was wir als Lebensweisheit für die kommenden Zeiten, und für die gegenwärtigen Zeiten noch als instinktive Mäßigkeit angeführt haben. In diesen Tugenden steht der Mensch sich selbst gegenüber. Da handelt er sozusagen so, daß er durch die Handlungen, die er in der Welt ausführt, für sich sorgt. Daher ist es nötig, daß für ihn ein objektiver Wertmaßstab gewonnen wird.

Nun sehen wir etwas heraufkommen, was sich entwickelt immer mehr und mehr, und wovon ich auch schon in anderem Zusammen-hange öfter gesprochen habe, etwas, was auch in der griechischen Zeit, in der vierten nachatlantischen Kulturperiode zuerst aufgeht. Wir können geradezu nachweisen, wie in der alten griechischen Dra­matik, wie zum Beispiel bei Aeschylos, die Erinnyen und Furien eine Rolle spielen, die sich dann umgewandelt zeigen bei Euripides in das Gewissen. Daraus ersehen wir, daß in den älteren Zeiten überhaupt noch nicht vorhanden war, was wir Gewissen nennen. Gewissen ist insbesondere das, was wie ein Normativ für unsere eigenen Hand­lungen da steht, wo wir in unseren Ansprüchen zu weit gehen, zu sehr unseren eigenen Vorteil suchen. Als Normativ wirkt da das Gewissen, das zwischen unsere Antipathien und Sympathien sich hineinstellt.

Damit gewinnen wir sozusagen dasjenige, was mehr objektiv ist,

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was mehr nach außen hin wirkt, gegenüber der Tugend der Wahr­haftigkeit, der Liebe und der Lebensweisheit. Liebe steht hier in der Mitte, und die wirkt wie etwas, was alles Leben, auch alles soziale Leben, regelnd durchdringen muß. Ebenso wirkt sie regelnd auf das, was der Mensch als innere Impulse entwickelt hat. Das aber, was der Mensch als Wahrhaftigkeit entwickelt hat, wird sich zeigen in dem Glauben an ein übersinnliches Wissen. Lebensweisheit, das, was auf uns selbst zurückgeht, müssen wir wie einen göttlich-geistigen Regu­lator fühlen, der sicher führt den Weg der richtigen Mitte, in ähn­licher Weise wie das Gewissen.

Es wäre natürlich außerordentlich leicht, den verschiedenen Ein­sprüchen, die an dieser Stelle gemacht werden können, zu begegnen, wenn wir Zeit dazu hätten. Nur auf einen wollen wir etwas näher eingehen. Es könnte zum Beispiel gesagt werden: Da behauptet je­mand, daß Gewissen und Erstaunen etwas sind, was in die Menschheit erst eingetreten ist, während es doch ewige Eigenschaften der mensch­lichen Natur sind. Das sind sie eben nicht. Wer behaupten wollte, daß sie ewige Eigenschaften der menschlichen Natur sind, der zeigte damit nur, daß er die einschlägigen Verhältnisse nicht kennt. Es wird immer mehr sich herausstellen, daß in den alten Zeiten die Menschen noch nicht so weit heruntergestiegen waren auf den physischen Plan, daß sie noch mehr zusammenhingen mit den göttlichen Impulsen, daß der Mensch in einem Zustande war, den er bewußt wieder anstreben wird, wenn er mehr beherrscht sein wird von Wahrhaftigkeit, Liebe und Lebenskunst in bezug auf den physischen Plan, und in bezug auf das geistige Erkennen, wenn er beherrscht sein wird von dem Glauben an die übersinnliche Welt. Es braucht kein Glaube zu sein, der in die übersinnliche Welt unmittelbar hinaufführt. Er wird sich aber zuletzt in ein übersinnliches Wissen verwandeln.

Wie mit dem Glauben, so ist es auch mit der Liebe, die äußerlich wirkt. Das Gewissen ist dasjenige, was in die Bewußtseinsseele regelnd eingreifen wird. Glaube, Liebe, Gewissen, diese drei Kräfte werden die drei Sterne der moralischen Kräfte sein, die insbesondere durch die theosophische Weltanschauung in die Menschenseelen einziehen werden. Die moralische Perspektive der Zukunft kann sich nur denjenigen

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eröffnen, die die genannten Tugenden sich immer mehr und mehr gesteigert denken. Die theosophische Weltanschauung wird das sittliche Leben in das Licht dieser Tugenden stellen, und diese werden aufbauende Kräfte sein in die Zukunft hinein.

Etwas, was nur in längeren Auseinandersetzungen gewiß werden könnte, was ich daher nur mitteilen kann, soll unsere Betrachtung abschließen. Wir sehen den Christus-Impuls einziehen in die Mensch­heitsevolution durch das Mysterium von Golgatha. Wir wissen, daß dazumal mit dem Ereignisse des Mysteriums von Golgatha ein menschlicher Organismus, bestehend aus physischem Leib, aus dem Atherleibe und dem Astralleib, den Ich-Impuls von oben herunter, als Christus-Impuls, aufgenommen hat. Dieser Christus-Impuls war es, der von der Erde aufgenommen worden und in das Erdenkultur-leben eingeflossen ist. Er war jetzt darinnen als das Ich des Christus. Wir wissen ferner, daß geblieben sind bei Jesus von Nazareth der physische Leib, der Atherleib und der Astralleib. Der Christus-Impuls war ja wie das Ich darinnen. Jesus von Nazareth trennte sich von dem Christus-Impulse auf Golgatha, der dann einfloß in die Erden-entwickelung. Dieser Impuls bedeutet in seiner Entwickelung die Erdenentwickelung selber.

Nehmen Sie ernst diejenigen Dinge, die oft erwähnt werden, so daß der Mensch sie leichter einsehen kann. Die Welt ist Maja oder Illusion, wie wir oft gehört haben. Der Mensch muß aber nach und nach zu der Wahrheit, dem Realen dieser äußeren Welt kommen. Die Erden-entwickelung besteht nun im Grunde darin, daß in bezug auf alle äußeren Dinge in der zweiten Periode der Erdenentwickelung, in der wir jetzt sind, alles sich auflöst, was in der ersten sich gebildet hat, so daß alles, was wir äußerlich physisch sehen, von der Menschheits­entwickelung abfallen wird, wie von dem Menschen sein physischer Leib abfällt.

Was bleibt dann da noch übrig? so könnte man fragen. Die Kräfte, die als reale Kräfte den Menschen einverleibt werden durch den Ent­wickelungsprozeß der Menschheit auf der Erde. Und der realste Im­puls darin ist der, welcher durch den Christus eingeflossen ist in die Erdenentwickelung. Dieser Christus-Impuls findet nun aber auf der

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Erde nichts, womit er sich bekleiden könnte. Er muß daher erst durch die weitere Entwickelung der Erde eine Hülle bekommen, und wenn die Erde an ihrem Ende angekommen sein wird, dann wird der voll­entwickelte Christus der Endmensch sein, wie Adam der Anfangs-mensch war, um den sich die Menschheit in ihrer Vielheit gruppiert hat.

In dem Worte «Was ihr einem meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan» liegt ein bedeutungsvoller Hinweis für uns. Was ist denn da getan worden für den Christus? Die Handlungen, die ver­richtet werden im Sinne des Christus-Impulses unter dem Einflusse des Gewissens, unter dem Einflusse des Glaubens und im Sinne der Erkenntnis, sie gliedern sich heraus aus dem bisherigen Erdenleben, und indem der Mensch durch seine Handlungen und sein moralisches Verhalten seinen Brüdern etwas gibt, gibt er zugleich dem Christus. Wie eine Richtschnur soll es hier aufgestellt werden: Alles, was wir an Kräften, an Handlungen des Glaubens und Vertrauens, an Hand­lungen, die durch Verwunderung und Erstaunen getan werden, er­schaffen, das ist, indem wir es damit zugleich hingeben an das Chri­stus-Ich, etwas, was sich wie eine Hülle um den Christus schließt, die zu vergleichen ist mit dem astralischen Leibe des Menschen. Wir for­men den astralischen Leib zu dem Christus-Ich-Impulse hinzu durch alle moralischen Handlungen der Verwunderung, des Vertrauens, der Ehrfurcht, des Glaubens, kurz durch alles, was zur übersinnlichen Erkenntnis den Weg gründet. Wir fördern durch alle diese Hand­lungen die Liebe. Das ist schon im Sinne des angeführten Ausspruches:

«Was ihr einem meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan.»

Wir formen den Ä therleib dem Christus durch die Handlungen der Liebe, und wir formen durch das, was durch die Impulse des Ge­wissens gewirkt wird in der Welt, dasjenige für den Christus-Impuls, was dem physischen Leibe des Menschen entspricht. Wenn die Erde einst an ihrem Ziele angelangt sein wird, wenn die Menschen ver­stehen werden die richtigen moralischen Impulse, durch die alles Gute bewirkt wird, dann wird gelöst sein, was durch das Mysterium von Golgatha als Christus-Impuls in die Menschheitsentwickelung einge-flossen ist wie ein Ich. Er wird dann umhüllt sein von einem Astral­leibe, der gebildet ist durch den Glauben, durch alle Taten der Verwunderung

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und des Erstaunens der Menschen, von etwas, was wie ein Ätherleib ist, der gebildet ist durch die Taten der Liebe, von etwas, was um ihn ist wie ein physischer Leib, der gebildet ist durch die Taten des Gewissens.

So wird die zukünftige Menschheitsevolution sich vollziehen durch das Zusammenarbeiten der moralischen Impulse der Menschen mit dem Christus-Impulse. Wie eine ganz große organische Gliederung sehen wir perspektivisch vor uns die Menschheit. Indem die Menschen verstehen werden, ihre Handlungen diesem großen Organismus ein­zugliedern, ihre Impulse durch ihre eigenen Taten wie Hüllen darum zu formieren, so werden die Menschen durch die Erdenentwickelung die Grundlage bilden für eine große Gemeinschaft, die durch und durch von dem Christus-Impulse durchzogen, durchchristet sein kann.

So sehen wir, daß Moral nicht gepredigt zu werden braucht, daß sie wohl aber begründet werden kann, indem man zeigt, was wirklich geschieht, was wirklich geschehen ist und was wahr macht solche Dinge, wie sie besonders geistig veranlagte Naturen empfinden. Es wird einen immer eigentümlich berühren, wenn man ins Auge faßt, wie Goethe in dem Augenblicke, wo er seinen Freund, den Herzog Karl August, verlor, in Weimar in einem längeren Briefe allerlei Dinge schreibt, und dann an demselben Tage - es war im Jahre 1828, dreieinhalb Jahre vor seinem Tode, sozusagen am Ende seiner Lebens-bahn - ein wunderbar merkwürdiges Wort in seinem Tagebuch niederschreibt: «Die ganze vernünftige Welt ist als ein großes un­sterbliches Individuum anzusehen, das unaufhörlich das Notwendige bewirkt und sich dadurch sogar über das Zufällige zum Herrn macht.» Wie könnte ein solcher Gedanke mehr an Konkretheit gewinnen als dadurch, daß wir uns dieses Individuum unter uns wirkend und schaffend vorstellen und uns mit demselben wirkend und schaffend verbunden denken? Durch das Mysterium von Golgatha ist das größte Individuum eingezogen in die menschliche Entwickelung, und die Menschen werden sich, indem sie vorsätzlich ihr Leben so ein­richten, wie es vorhin geschildert worden ist, herumgliedern um den Christus-Impuls, so daß um ihn etwas gebildet wird, was wie eine Hülle um das Wesen, um den Kern sein wird.

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Vieles hätte ich noch zu sagen über dasjenige, was von der Theo-sophie her als Tugend sich ergibt. Insbesondere könnten ja lange und wichtige Betrachtungen über jene Wahrhaftigkeit noch angeknüpft werden, die sich ergeben würde mit Beziehung auf das Karma. Durch die theosophische Weltanschauung wird die Karma-Idee immer mehr und mehr in die Menschheitsentwickelung einziehen müssen. Immer mehr und mehr wird der Mensch dadurch auch lernen müssen, sein Leben so anzusehen und so einzurichten, daß seine Tugenden dem Karma entsprechen. Auch das wird der Mensch erkennen lernen müs­sen durch die Karma-Idee, daß er durch seine folgenden Taten nicht verleugnen darf seine vorhergehenden Taten. Eine gewisse Konse­quenz des Lebens, ein Auf-uns-Nehmen dessen, was wir getan haben, das wird sich noch aus der Menschheitsentwickelung ergeben müssen. Wie weit entfernt noch der Mensch davon ist, das sehen wir, wenn wir die Menschen näher betrachten. Daß ein Mensch sich entfaltet an den Dingen, die er vollbracht hat, ist eine bekannte Tatsache. Wenn es nun scheint, daß die Folge einer Tat nicht mehr da ist, dann wird doch getan, was man eigentlich nur tun dürfte, wenn man die erste Tat nicht getan hätte. Daß der Mensch sich verantwortlich fühlt für das, was er getan hat, daß er Karma auch in sein Bewußtsein auf­nimmt, das ist etwas, was sich noch als Gegenstand der Betrachtung ergeben könnte.

Vieles werden Sie aber noch durch die angegebenen Richtlinien dieser drei Vorträge selber finden; Sie werden finden zum Beispiel, wie fruchtbar diese Ideen werden können, wenn Sie sie weiter aus-führen. Daß der Mensch für den Rest der Erdenentwickelung in immer erneuten Inkarnationen leben wird, das liegt in der Aufgabe:

alles dasjenige, was in bezug auf die geschilderten Tugenden nach der einen oder der anderen Seite versehen wurde, durch freie Gestaltung, durch Gestaltung nach seinem freien Willen zu ändern, so daß das Gleichgewicht, der mittlere Zustand, eintreten und damit allmählich das Ziel erreicht werden kann, das charakterisiert worden ist mit der Schilderung der Hüllenbildung gegenüber dem Christus-Impulse.

So sehen wir vor uns nicht bloß ein abstraktes Ideal allgemeiner menschlicher Brüderlichkeit, das zwar auch starke Impulse bekommt,

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wenn wir die theosophische Weltanschauung zugrunde legen, sondern wir sehen, daß in unserer Erdenentwickelung etwas Reales steckt, daß darin ein Impuls steckt, der durch das Mysterium von Golgatha in die Welt gekommen ist. Wir sehen uns dann aber auch in die Not­wendigkeit versetzt, so auf die Empfindungsseele, auf die Verstandes-und Bewußtseinsseele einzuwirken, daß diese ideale Wesenheit wirk­lich wird und wir verbunden sind mit diesem Wesen wie mit einem großen unsterblichen Individuum. Der Gedanke, daß nur darin die Möglichkeit der weiteren Evolution, die Möglichkeit der Erreichung der Erdenmission liegt, mit diesem großen Individuum zusammen ein Ganzes zu bilden, der verwirklicht sich in dem zweiten moralischen Grundsatz: Was du tust so, wie wenn es herausgeboren wäre allein aus dir, das schiebt dich weg, entfernt dich von dem großen Indivi­duum, dadurch zerstörst du etwas; dasjenige aber, was du tust, um aufzubauen dieses große unsterbliche Individuum in der vorhin an­geführten Weise, das tust du zur Fortentwickelung, zum Fortleben des garwen Weltenorganismus.

Das sind zwei Gedanken, die wir uns nur vorzulegen brauchen, um als Wirkung zu sehen, daß sie die Moral nicht nur predigen, sondern sie begründen. Denn schreckens- und schauervoll und alle entgegen­gesetzten Gelüste hinunterdrängend ist der Gedanke: Du zerstörst durch deine Taten dasjenige, was du aufbauen sollst. Befeuernd aber zu guten Taten, sogar zu intensiv moralischen Impulsen, ist der Ge­danke: Du baust auf an diesem unsterblichen Individuum, du machst dich zum Gliede dieses unsterblichen Individuums. Damit ist nicht nur Moral gepredigt, sondern es ist damit auf Gedanken hingewiesen, die selber moralische Impulse sein können, auf Gedanken, die Moral zu begründen vermögen.

Eine solche Moral wird um so schneller theosophische Weltan­schauung und theosophische Gesinnung werden, je mehr die Wahr­haftigkeit gepflegt werden wird. Dies auszusprechen in diesen drei Vorträgen, habe ich mir zur Aufgabe gesetzt. Manches hat zwar nur angedeutet werden können, aber Ihre eigenen Seelen werden manchen Gedanken, der in diesen drei Abenden angeschlagen worden ist, weiter ausbilden. So werden wir auch den allermeisten Zusammenhalt haben

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über die Erde hin. Wenn wir uns zusammenfinden, wie wir das jetzt als mitteleuropäische Theosophen und als Theosophen des Nordens getan haben, in gemeinsamer Betrachtung, und wenn wir weiter in uns dasjenige nachklingen lassen, was als Gedanken uns bei solchen Zusammenkünften aufgestiegen ist, so werden wir am allerbesten es wahrmachen, daß Theosophie begründen soll, auch schon in der Gegenwart, wirklich spirituelles Leben. Wenn wir auch wieder aus­einandergehen müssen, wir wissen doch, daß wir am meisten beiein­ander sind in unseren theosophischen Gedanken, und dieses Wissen ist zugleich auch ein moralischer Impuls. Zu wissen, unter denselben Idealen vereint zu sein mit Menschen, die in der Regel räumlich weit voneinander entfernt sind, mit denen man aber ab und zu bei beson­deren Gelegenheiten zusammenkommen kann, ist ein stärkerer mora­lischer Impuls als das stete Beisammensein.

Daß wir so denken über unser Zusammensein, daß wir unsere ge­meinsamen Betrachtungen so auffassen, das erfüllt insbesondere am Schlusse dieser Vorträge auch meine Seele als etwas, womit ich sozu­sagen Ihnen den Abschiedsgruß sagen möchte, und von dem ich über­zeugt bin, wenn es im richtigen Lichte verstanden wird, daß es das sich so entwickelnde theosophische Leben auch spirituell begründen wird. Mit diesem Gedanken, mit diesen Gefühlen wollen wir diese Betrachtungen heute abschließen.

CHRISTUS UND DIE MENSCHLICHE SEELE

ERSTER VORTRAG Norrköping, 12. Juli 1914

#G155-1960-SE141 Christus und die menschliche Seele

#TI

CHRISTUS

UND DIE MENSCHLICHE SEELE

ERSTER VORTRAG

12. Juli1914

#TX

Die Freunde aus Norrköping haben gewünscht, daß ich bei dieser Anwesenheit, bei deren Beginn ich Sie, meine lieben Freunde, herz­lichst begrüße, über ein Thema spreche, das in Beziehung steht zu jener Wesenheit, die uns ja auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft vor allen Dingen naheliegt und nahegeht: zur Wesenheit des Christus. Und ich habe versucht, diesem Wunsche dadurch nachzukommen, daß ich mir vorgenommen habe, zu sprechen über das Aufleben und die Bedeutung dieses Auflebens der Christus-Wesenheit in der mensch-lichen Seele. Wir werden gerade bei diesem Thema Gelegenheit haben, von dem geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte aus gewissermaßen über die menschlichste, über die uns am meisten zu Herzen gehende Bedeutung des Christentums zu sprechen.

Diese menschliche Seele! Wir haben, insofern wir geisteswissen­schaftlich sprechen, ein kurzes Wort, welches zwar nicht alles umfaßt, was menschliche Seele uns bedeutet, welches aber doch auf dasjenige hindeutet, was gewissermaßen für uns Erdenmenschen das Seelische in seinen weiten Grenzen ausfüllt und durchdringt - wir haben das kurze Wort Ich. Unsere Ich-Wesenheit geht so weit, insofern wir Erdenmenschen sind, als unser Seelisches. Indem wir nun den Namen der Ich-Wesenheit aussprechen, erinnern wir uns ja sogleich, daß wir mit dieser Ich-Wesenheit eines der vier uns zunächstliegenden Glie­der der Menschenwesenheit bezeichnen. Wir sprechen von vier Glie­dern der Menschenwesenheit zunächst: von dem physischen Leibe, dem Ätherleibe, dem Astralleibe und dem Ich. Und wir brauchen uns nur einiges ins Gedächtnis zu rufen, um Ausgangspunkte zu gewinnen für die Betrachtung, die wir in diesen Tagen anstellen wollen. Wir brauchen uns nur ins Gedächtnis zu rufen, daß wir des Menschen physischen Leib nicht so ansehen, als ob für uns seine Gesetze - das

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Wesenhafte, das er enthält - zu erkennen wären aus demjenigen, was unsere Erdenumgebung zunächst darbietet. Wir wissen, daß wir, wenn wir den physischen Menschenleib verstehen wollen, zurückgehen müssen zu drei vorhergehenden Verkörperungen unserer Erde, zur Saturn-, Sonnen- und Mondenverkörperung; wir wissen, daß in urfer­ner Vergangenheit, während der Saturnverkörperung unserer Erde, der physische Leib bereits seine Veranlagung gewonnen hat; wir wissen dann, daß während der Sonnenverkörperung der Ätherleib seine Ver­anlagung erfahren hat, und während der Mondenverkörperung der Astralleib. Und was ist im Grunde genommen unsere Erdenentwicke-lung anderes, als in allen ihren Phasen, in allen ihren Epochen das­jenige, was dem Ich die Möglichkeit gibt, sich in allen seinen Weiten zu verwirklichen!

Wir können sagen: So wie der physische Leib auf einer gewissen, für ihn bedeutungsvollen Stufe seiner Entwickelung angelangt war am Ende der Saturnentwickelung, wie der Ätherleib ebenso auf einer für ihn bedeutungsvollen Stufe angelangt war arn Ende der Sonnen-entwickelung, und der Astralleib ebenso am Ende der Mondenent­wickelung, so wird unser Ich am Ende der Erdenentwickelung an einem bedeutungsvollen Punkte seiner Entwickelung angelangt sein. Und wir sprechen davon, daß unser Ich sich hindurchentwickelt durch drei seelische Glieder: durch die Empfindungsseele, die Verstandes-oder Gemütsseele und die Bewußtseinsseele. Alle die Welten, die um­schlossen sind von diesen drei Seelengliedern, haben auch mit unserem Ich etwas zu tun. Diese drei Seelenglieder sind es, welche im Verlauf unserer Erdenentwickelung sich zuerst die drei äußeren leiblichen Glieder, den physischen Leib, den Ätherleib und den Astralleib zu­bereitet haben, durch lange Erdenzeiten hindurch zubereitet haben, und die nun in aufeinanderfolgenden Kulturepochen der nachatlan­tischen Zeit in gewisser Weise sich weiterentwickeln, die in zukünf­tigen Erdenzeiten sich wieder anpassen werden an Astralleib, Ä ther­leib und physischen Leib, so daß die Erde sich bereiten kann, zur Jupiterentwickelung hinüberzugehen.

Wir könnten geradezu auch, wenn wir den Ausdruck umfassend genug nehmen, die Erdenentwickelung des Menschen seine Seelenent­wickelung

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nennen. Man könnte sagen: Als die Erde begonnen hat, da begann auch im Menschen das Seelische gesetzmäßig sich zu regen. Es arbeitete zunächst an den äußeren Hüllen, dann arbeitete es sich selbst heraus und bereitet sich nunmehr vor, wiederum an den äuße­ren Hüllen zu arbeiten, damit die Jupiterentwickelung vorbereitet werden könne. Nun müssen wir uns vor Augen halten, was der Mensch während der Erdenentwickelung in seiner Seele werden soll. Er soll werden dasjenige, was man bezeichnen könnte mit dem Ausdruck Persönlichkeit. Diese Persönlichkeit bedarf erstens dessen, was man nennen kann den freien Willen; aber sie bedarf auf der anderen Seite auch der Möglichkeit, in sich den Weg zu finden zu dem Göttlichen in der Welt. Freier Wille auf der einen Seite, die Möglichkeit zu wäh­len zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen dem Schönen und dem Häßlichen, dem Wahren und dem Falschen, dieser freie Wille auf der einen Seite, und die Erfassung des Göttlichen so, daß es in unsere Seele eindringt und wir uns innerlich erfüllt wissen, frei erfüllt wissen mit dem Göttlichen auf der andern Seite, das sind die zwei Zielpunkte der menschlichen Seelenentwickelung auf Erden.

Diese menschliche Seelenentwickelung auf Erden hat nun, man möchte sagen, zu diesen zwei Zielpunkten zwei religiöse Gaben emp­fangen. Die eine religiöse Gabe ist dazu bestimmt, in die menschliche Seele hineinzuverlegen die Kräfte, die zur Freiheit, zur Unterschei­dung von Wahr und Falsch, von Schön und Häßlich, von Gut und Böse führen. Und auf der anderen Seite hat eine andere religiöse Gabe dem Menschen werden müssen während seiner Erdenentwickelung, um in die Seele hineinzuverlegen jenen Keim, durch den die Seele das Göttliche in sich, mit sich vereinigt fühlen kann.

Die erste religiöse Gabe ist dasjenige, was uns im Beginn des alten Testamentes als das grandiose Bild von dem Sündenfall, von der Ver­suchung, entgegentritt. Die zweite religiöse Gabe ist das, was uns ent­gegentritt in alledem, was wir umschließen mit dem Wort Mysterium von Golgatha.

Ebenso wie Sündenfall und Versuchung es zu tun haben mit dem, was in den Menschen hineinpflanzte Freiheit, Unterscheidungsgabe zwischen Gut und Böse, Schön und Häßlich, Wahr und Falsch, so hat

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das Mysterium von Golgatha es damit zu tun, daß die Seele des Men­schen den Weg wiederfinden könne zu dem Göttlichen, daß sie wissen könne: in ihr kann das Göttliche leuchten, es kann das Göttliche sie durchdringen. Gewissermaßen ist in diese zwei religiösen Gaben ein­geschlossen alles Wichtigste der Erdenevolution, alles dasjenige aus der Erdenevolution heraus, was zu tun hat mit dem, was die Seele in ihren tiefsten Tiefen erleben kann, was zusammenhängt im tiefsten mit Wesen und Werden der Menschenseele.

Inwiefern hängt dasjenige, was mit diesen beiden religiösen Gaben bezeichnet worden ist, und Wesen und Werden der Menschenseele, inneres Erleben der Menschenseele zusammen?

Nun, ich möchte nicht bloß abstrakt Ihnen schildern, was ich zu sagen habe, ich möchte ausgehen zunächst von einer ganz konkreten Betrachtung. Ausgehen möchte ich davon, wie uns eine gewisse Szene des Mysteriums von Golgatha in geschichtlicher Überlieferung vor Augen steht, so wie sie sich eingeprägt hat und noch viel mehr ein­prägen sollte in die Herzen und in die Seelen der Menschen. Setzen wir einen Augenblick voraus, daß wir vor uns haben in dem Christus Jesus diejenige Wesenheit, die wir öfter im Verlauf unserer geistes-wissenschaftlichen Betrachtungen besprochen und charakterisiert ha­ben; setzen wir voraus, daß wir in dem Christus Jesus dasjenige vor dem geistigen Auge haben, was uns Menschen im ganzen Weltenall als das Wichtigste erscheinen muß. Und dann stellen wir gegenüber dieser Empfindung, diesem Gefühl, das Schreien, das Wüten der auf­geregten Menge von Jerusalem vor der K?euzigung, bei der Verur­teilung. Stellen wir uns vor das geistige Auge die Tatsache, daß der Hohe Rat in Jerusalem vor allen Dingen es für sehr wichtig hält, an den Christus Jesus die Frage zu stellen nach dem, wie er es mit dem Göttlichen halte, ob er sich bekenne als den Sohn des Göttlichen. Und fassen wir ins geistige Auge, daß der Hohe Rat dieses für die größte Lästerung hält, die der Christus Jesus hat aussprechen können. Halten wir uns weiter vor Augen, daß eine Szene vor uns steht, geschichtlich, in der das Volk schreit und wütet nach dem Tode des Christus Jesus. Und versuchen wir nun einmal, uns zu vergegenwärtigen, was dieses Schreien und Wüten des Volkes historisch eigentlich bedeutet. Fragen

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wir uns einmal: Was hätte denn dieses Volk erkennen sollen in dem Christus Jesus?

Erkennen hätte es sollen in dem Christus Jesus diejenige Wesenheit, die dem Erdenleben Sinn und Bedeutung gibt. Erkennen hätte es sollen in dem Christus Jesus diejenige Wesenheit, die zu vollbringen hat die Tat, ohne welche die Erdenmenschheit den Weg zum Göttlichen nicht wiederfinden kann. Erkennen hätte es sollen, daß der Sinn des Erden-menschen nicht da ist ohne diese Wesenheit. Ausstreichen hätten die Menschen müssen von der Erdenentwickelung das Wort «Mensch», wenn sie hätten ausstreichen wollen das Christus-Ereignis.

Nun stellen wir uns vor, daß diese Menge diejenige Wesenheit ver­urteilt, über diejenige Wesenheit wütet, welche den Menschen auf Erden eigentlich zum Menschen macht, welche der Erde ihr Ziel und ihren Sinn geben soll. Was liegt darinnen? Liegt darinnen nicht, daß die Menschheit in ihrer Erdenentwickelung damals angekommen war an einem Punkt, gegenüber dem man sagen kann: In denjenigen, die dazumal in Jerusalem die Vertretung der menschlichen Erkenntnis über das wahre Wesen der Menschen hatten, war verdunkelt die Er­kenntnis des Menschen, die wußten nicht, was der Mensch ist, was der Mensch soll auf der Erde. Nichts Geringeres ist uns gesagt, als daß die Menschheit an einem Punkt angekommen war, wo sie sich selbst verloren hatte, wo sie dasjenige verurteilte, was ihr Sinn und Bedeutung in der Erdenentwickelung gibt. Und aus dem Schreien der aufgeregten Menge könnte man heraushören das, was allerdings nicht aus Weisheit, sondern aus Torheit gesprochen ist: Wir wollen nicht mehr Mensch sein, wir wollen von uns stoßen, was uns weiter Sinn gibt als Menschen.

Wenn man dies alles so bedenkt, dann steht uns doch in einer etwas anderen Weise als sonst vor dem geistigen Auge das, was man zum Beispiel im Sinne des Paulinischen Christentums «das Verhältnis des Menschen zur Sünde und zur Schuld» nennt. Daß der Mensch im Verlauf seiner Entwickelung in Sünde und Schuld verfallen konnte, die er nicht selbst von sich wiederum wegwaschen konnte, das meint ja Paulus. Und daß es dem Menschen möglich werde, Sünde und Schuld und damit alles dasjenige, was für ihn mit Sünde und Schuld

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zusammenhängt, von sich abzuwaschen, dazu mußte der Christus auf die Erde kommen, das ist des Paulus Meinung. Und man möchte sage: Braucht diese Meinung irgendeinen wirklichen Beleg, so ist die­ser Beleg gegeben in dem Wüten und Schreien derjenigen, die da rufen:

«Kreuziget ihn !» Denn in diesem Rufe liegt, daß die Menschen nicht wußten, was sie selbst auf Erden zu bedeuten haben, daß ihre frühere Entwickelung dahin gezielt war, Finsternis zu verbreiten über ihr Wesen.

Damit sind wir aber auch bei dem angekommen, was man nennen könnte «die vorbereitende Stimmung der Menschenseele zu der Chri­stus-Wesenheit». Diese vorbereitende Stimmung der Menschenseele zu der Christus-Wesenheit, sie besteht darinnen, daß die Seele - wenn sie das auch nicht mit klaren Worten aussprechen kann - fühlt durch das, was sie in sich erleben kann: Ich habe mich so entwickelt seit Erdenanbeginn, daß ich durch das, was ich in mir selbst habe, mein Entwickelungsziel nicht erreichen kann. Wo ist etwas, woran ich mich klammern kann, was ich in mich hereinnehmen kann, damit ich mein Entwickelungsziel erreiche? Sich so fühlen, als ob das mensch­liche Wesen weit über das hinausginge, was die Seele durch ihre Kraft zunächst wegen ihrer bisherigen Erdenentwickelung erreichen kann, das ist die vorbereitende christliche Stimmung. Und wenn dann die Seele das findet, was sie mit ihrer Wesenheit notwendig verbunden wissen muß, wozu sie aber die Kraft nicht in sich selbst findet, wenn dann die Seele das findet, was ihr diese Kräfte gibt, dann ist dieses Gefundene der Christus. Dann entwickelt die Seele ihr Verhältnis zu dem Christus, dann steht die Seele auf der einen Seite so, daß sie sich sagt: Im Erdenanbeginn ist mir eine Wesenheit vorherbestimmt ge­wesen, die in mir verfinstert worden ist im Laufe der Erdenentwicke­lung, und blicke ich jetzt in diese verfinsterte Seele, so fehlen mir die Kräfte, diese Wesenheit zu verwirklichen. Aber ich wende den gei­stigen Blick hin zu dem Christus, der gibt mir diese Kräfte. - Da steht denn die menschliche Seele, indem sie einerseits in der geschil­derten Art dasteht, und auf der anderen Seite den Christus an sich herankommen fühlt, wie in einem unmittelbaren persönlichen Ver­hältnis zu dem Christus. Da sucht sie den Christus und weiß, daß sie

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ihn nicht finden kann, wenn er sich nicht durch die menschliche Ent­wickelung der Menschheit selbst gibt, wenn er nicht von außen an sie herankommt.

Es gibt einen christlichen Kirchenvater, der ziemlich allgemein an­erkannt ist, und der nicht davor zurückscheute, Heraklit, den grie­chischen Philosophen, Sokrates und Plato Christen zu nennen, Chri­sten, die es waren, bevor das Christentum begründet worden ist. War­um tut das dieser Kirchenvater? Ja, dasjenige, was sich heute Kon­fession nennt, verdunkelt so manches auch von dem, was ursprünglich leuchtende christliche Lehren waren. Hat doch Augustinus selbst gesagt: «In allen Religionen war etwas Wahres, und dasjenige, was in allen Religionen wahr war, das war das Christliche in ihnen, bevor es ein Christentum dem Namen nach gab.» Augustinus durfte das noch sagen. Heute würde mancher verketzert, der innerhalb einer christlichen Konfession das gleiche sagen würde.

Wir kommen am schnellsten zum Verständnis dessen, was dieser Kirchenvater damit sagen wollte, daß er auch die alten griechischen Philosophen Christen nannte, wenn wir einmal versuchen uns hinein­zuversetzen in das Gemüt derjenigen Seelen, die in den ersten Jahr­hunderten verständnisvoll ihr persönliches Verhältnis zu dem Christus zu bestimmen suchten. Diese dachten den Christus nicht so, als ob er vor dem Mysterium von Golgatha ohne Verbindung mit der Erdenentwickelung gewesen wäre. Der Christus hatte immer mit der Erdenentwickelung etwas zu tun. Durch das Mysterium von Golgatha ist nur seine Aufgabe, seine Mission in bezug auf die Erdenentwickelung eine andere geworden, als sie früher war. Den Christus in der Erdenentwickelung erst seit dem Mysterium von Golgatha zu suchen, das ist nicht christlich! Wahre Christen wissen, daß der Christus immer mit der Erdenentwickelung zu tun hatte.

Wenden wir zunächst den Blick zum jüdischen Volke. Kannte das jüdische Volk den Christus? Ich spreche jetzt nicht davon, ob das jüdische Volk den Christus-Namen kannte, nicht davon, ob das jü­dische Volk ein Bewußtsein hatte von all dem, was ich Ihnen zu sagen habe, sondern davon spreche ich, ob ein wirklich das Christentum Verstehender sagen kann: Das Judentum hatte den Christus, das

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Judentum kannte den Christus. - Man kann ja auch irgendeinen Menschen in seiner Mitte haben, den man sozusagen seiner äußeren Gestalt nach sieht, aber dessen Wesenheit man nicht erkennt, den man nicht charakterisieren könnte, weil man nicht sich zu seiner Erkennt­nis aufgeschwungen hat. Ich möchte sagen: Im richtig christlichen Sinne hatte das alte Judentum den Christus, nur erkannte es ihn nicht seiner Wesenheit nach. - Ist das, was ich eben sagte, christlich? Es ist christlich, so wahr als es paulinisch ist.

Wo war für das alte Judentum der Christus? Es wird gesagt im Alten Testament, daß, als Moses die Juden aus Ägypten in die Wüste führte, bei Tag eine Wolkensäule, bei Nacht eine Feuersäule ihnen voranzog. Es wird gesagt, daß die Juden durch das Meer zogen und daß das Meer sich ihnen teilte, so daß sie es durchwaten konnten, während die Ägypter hinterher ertranken, da das Meer sich schloß. Es wird erzählt, daß die Juden murrten, weil sie kein Wasser hatten, daß aber auf die Aufforderung ihres Gottes Moses zu einem Fels gehen konnte, daß er aus dem Felsen Wasser herausschlagen konnte mit seinem Stabe und daß dieses Wasser die Juden labte.

Wollten wir auf eine menschlich-verständliche Weise diese Führung der Juden durch Moses aussprechen, so würden wir sagen: Moses führte die Juden, indem er selbst geführt ward von seinem Gotte. Welches war dieser Gott?

Antworten wir zunächst nicht selbst. Lassen wir Paulus antworten, wer der Gott war, der die Juden durch die Wüste führte. Wir lesen im ersten Korintherbrief, Kapitel 10, Vers 1-4, als die Worte des

Paulus: «Ich will euch aber, lieben Brüder, nicht verhalten, daß unsere Väter sind alle unter der Wolke gewesen» - er meint die Wolken- und Feuersäule - «und sind alle durchs Meer gegangen, und sind alle auf Mose getauft mit der Wolke urid mit dem Meer, und haben alle einer­lei geistige Speise gegessen, und haben alle einerlei geistigen Trank ge­trunken; sie tranken aber von dem geistigen Fels, der mitfolgte, welcher war Christus.»

Wer also war bei Paulus derjenige, der die Juden geführt hat, der mit Moses gesprochen hat, der das Wasser aus dem Felsen laufen ließ,

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der das Meer ablenkte von den Pfaden der Juden? Nur derjenige, der behaupten wollte, der Paulus sei kein Christ, der dürfte behaupten, daß es unchristlich sei, in dem führenden Gott des Alten Testaments, in dem Herrn des Moses den Chrisus zu sehen.

Eine Stelle muß, wie ich glaube, im Alten Testament wirklich für ein tieferes Nachdenken große Schwierigkeiten bereiten. Es ist eine Stelle, an die sich derjenige, der nicht gedankenlos das Alte Testament liest, sondern der es im Zusammenhang verstehen will, immer wieder und wieder wendet. Was mag diese Stelle bedeuten? sagt er sich. Es ist die folgende Stelle:

«Und Moses hob seine Hand auf und schlug den Felsen mit dem Stabe zweimal. Da ging viel Wasser heraus, daß die Gemeinde trank und ihr Vieh. Der Herr aber sprach zu Moses und Aaron: Darum, daß ihr nicht an mich geglaubt hat, mich zu heiligen vor den Kindern Israels, sollt ihr diese Gemeinde nicht in das Land bringen, das ich ihnen geben werde.»

Nehmen Sie diese Stelle im Zusammenhang im Alten Testament. Der Herr befiehlt Moses, als das Volk murrt, mit dem Stabe an den Fels zu schlagen. Moses schlägt mit seinem Stabe an den Fels, Was­ser kommt heraus. Alles geschieht durch Moses und Aaron, was der Herr befohlen hat, und gleich darauf werden wir unterrichtet, daß der Herr dem Moses den Vorwurf macht - wenn es ein Vorwurf ist -, daß er nicht an ihn geglaubt habe. Was bedeutet das? Nehmen Sie alles durch, was an Kommentaren zu dieser Stelle geschrieben worden ist, und versuchen Sie mit diesen Kommentaren die Stelle zu verstehen. Man versteht sie eben so, wie man vieles in der Bibel versteht, nämlich eigentlich nicht, denn hinter dieser Stelle birgt sich ein gewaltiges Geheimnis. Dasjenige birgt sich an dieser Stelle, was uns da besagen will: Der, der den Moses führte, der dem Moses im brennenden Dorn­busch erschien, der das Volk durch die Wüste führte, der Wasser aus dem Felsen herausfließen ließ, das war der Herr, Christus! Aber die Zeit war noch nicht gekommen, Moses erkannte ihn selbst nicht, Moses hielt ihn noch für einen anderen. Das bedeutet es: daß Moses nicht geglaubt habe an den, der ihm befohlen hat, mit dem Stabe an den Felsen zu schlagen.

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Wie erschien der Herr - Christus - dem Judenvolk? Nun, wir hören es ja, «bei Tage in einer Wolkensäule, bei Nacht in einer Feuer-säule», dadurch daß er zu ihrem Heile das Wasser trennte; und vieles tat er noch, wir brauchen es nur nachzulesen im Alten Testament. Wir möchten sagen: In Wolken- und Feuererscheinungen, in der Luft, in den elementaren Ereignissen der Natur, da war er wirksam, aber niemals war den alten Juden aufgegangen: Dasjenige, was in der Wolkensäule, in der Feuersäule erschien, was Wunder wirkte wie etwa durch die Teilung des Meeres, das erscheint in seiner ureigensten Form auch in der Menschenseele. Warum war das den alten Juden niemals aufgegangen? Weil die Menschenseele die Kraft verloren hatte, ihr tiefstes Wesen in sich zu erfühlen, ihre Kraft verloren hatte durch den Hergang, den die Entwickelung der Menschheit genommen hatte. So konnte die Judenseele in die Natur schauen, sie konnte die Herrlichkeit der Elementarereignisse auf sich wirken lassen. Da über­all konnte sie ihren Gott und Herrn vermuten, in sich selbst, so wie sie war, unmittelbar, konnte sie ihn nicht finden.

Da haben wir im Alten Testament den Christus, da wirkte er, aber die Menschen haben ihn nicht erkannt. Wie wirkte er, der Christus? Nun, sehen wir denn nicht, wenn wir das Alte Testament durchgehen, wie er wirkte? Das Bedeutsamste, was Moses durch Jahves Mund seinem Volke zu geben hatte, waren die Zehn Gebote. Er hatte sie erhalten aus der Kraft der Elemente heraus, aus der Jahve zu ihm sprach. Nicht stieg Moses in die Tiefen seiner eigenen Seele hinab, nicht fragte Moses etwa in einsamer Meditation: Wie spricht der Gott im eigenen Herzen? Hinauf ging er auf den Berg, durch die Kraft der Elemente enthüllte sich ihm der göttliche Wille. Wille, das ist der Grundcharakter des Alten Testaments. Man nennt diesen Grund-charakter auch oftmals den Gesetzes-Charakter. Wille wirkt durch die Menschheitsentwickelung, und er spricht sich aus in den Gesetzen, zum Beispiel im Dekalog, in den Zehn Geboten. Seinen Willen hat durch die Elemente der Gott den Menschen kundgegeben. Wille waltet in der Erdenevolution. Das ist gleichsam der Sinn des Alten Testa­mentes, und Unterwerfung unter diesen Willen fordert das Alte Testa­ment seinem ganzen Sinne nach von den Menschen.

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Stellen wir das vor unsere Seele, was wir eben betrachtet haben, dann können wir das Ergebnis, das Resultat von alledem zusammen­fassen mit den Worten: Es ward gegeben den Menschen des Herrn Wille, aber die Menschen haben den Herrn, haben das Göttliche nicht erkannt; nicht so haben sie es erkannt, daß sie es mit der eigenen Menschenseele verbunden gehabt hätten.

Und nun wenden wir den Blick von den Juden hinweg zu den Heiden. Haben die Heiden den Christus gehabt? Ist es christlich, da­von zu sprechen, daß etwa auch die Heiden den Christus gehabt ha­ben? Die Heiden hatten ihre Mysterien. Die in den Mysterien Ein­geweihten wurden dahin gebracht, daß ihre Seele aus ihrem Leibe her­austrat, daß das Band, durch welches Leib und Seele verknüpft sind, gelöst wurde. Und wenn die Seele außerhalb des Leibes war, dann vernahm die Seele in der geistigen Welt die Geheimnisse des Daseins. Vieles war mit diesen Mysterien verbunden, mancherlei Kenntnisse stiegen den Einzuweihenden in den Mysterien auf. Wenn man aber prüft, was das Höchste war, das der Mysterienschüler in sich auf­nehmen konnte, so war es das, daß er außerhalb seines Leibes hinge-stellt wurde vor den Christus. Wie Moses hingestellt worden ist vor den Christus, so wurde der Mysterienschüler in den Mysterien mit seiner Seele außerhalb des Leibes hingestellt vor den Christus. Der Christus war auch da für die Heiden, aber er war für sie nur da in den Mysterien; er enthüllte sich ihnen nur, wenn die Seele außerhalb des Leibes war. Und wenn auch die Heiden ebensowenig wie die Juden, bei denen auch der Christus war, die Wesenheit, von der jetzt eben gesprochen worden ist, die Wesenheit, vor welche die Mysterien­schüler hingestellt worden sind, als den Christus erkannt haben, der Christus war für die Heiden da! Man könnte sagen: Für die Heiden waren Mysterien eingerichtet. In die Mysterien wurden diejenigen aufgenommen, die bereit und reif waren. Durch diese Mysterien wirkte der Christus auf die heidnische Welt. Warum wirkte er so? Er wirkte so, weil ja die Seele der Menschen in ihrer Entwickelung seit dem Erdenanbeginn in sich die eigene Kraft verloren hatte, durch sich ihre wahre Wesenheit zu finden. Es mußte diese wahre Wesenheit sich der Menschenseele enthüllen, wenn sie nicht in den Banden der

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Menschheit, das heißt, wenn sie nicht mit dem Leibe verbunden war. Da mußte der Christus die Menschen dadurch führen, daß der Mensch gleichsam seiner Menschlichkeit entkleidet wurde als Eingeweihter in den Mysterien. Der Christus war auch für die Heiden da. Er führte sie in den Einrichtungen der Mysterien. Aber niemals war es so, daß der Mensch hätte sagen können: Wenn ich meine eigenen Kräfte ent­falte, dann finde ich der Erde Sinn. Dieser Sinn war verloren, war verfinstert. Die Kräfte der Menschenseele waren in zu tiefe Regionen hinuntergedrängt worden, als daß die Seele durch ihre eigenen Kräfte sich den Sinn der Erde hätte geben können.

Wenn wir auf uns wirken lassen, was in den heidnischen Mysterien den Einzuweihenden, den Mysterienschülern, gegeben wurde, dann ist es Weisheit. Den Juden wurde der Wille gegeben durch die Gesetze, den heidnischen Mysterienschülern wurde die Weisheit gegeben.

Allein, blicken wir hin auf dasjenige, was diese heidnische Weisheit charakterisiert, können wir das nicht zusammenfassen in den Worten:

durch Weisheit konnte der Erdenmensch als solcher - wenn er nicht aus seinem Leibe hinausging, indem er Mysterienschüler wurde - sei­nen Gott nicht als solchen erkennen? Durch Weisheit ebensowenig wie durch Wille konnte sich die Gottheit für den Menschen enthüllen. Ja, wir finden ein Wort, das ganz wunderbar hallt durch das grie­chische Altertum wie eine gewaltige Forderung an die Menschheit, aber dieses Wort stand am Eingang des Apollinischen Heiligtums, also einer Mysterienstätte, das Wort: «Erkenne dich selbst.» Was be­sagt uns die Tatsache, daß an dem Mysterien-Heiligtum dieses Wort «Erkenne dich selbst» wie eine Aufforderung an den Menschen stand? Das besagt es uns, daß man überall draußen, wo der Mensch als Mensch bleibt, was er seit Erdenanbeginn geworden ist, die Forderung «Erkenne dich selbst» nicht erfüllen könne, daß man etwas anderes werden müsse als Mensch, nämlich, daß man in den Mysterien die Bande lösen müsse, durch welche die Seele an den Leib gebunden ist, um sich selbst zu erkennen. So weist uns dieses Wort, das wie eine wunderbare Forderung am Apollinischen Heiligtum stand, ebenfalls darauf hin, daß Verfinsterung eingetreten war für die Menschheit, mit anderen Worten, daß der Gott nicht durch Weisheit zu erreichen

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war, ebensowenig wie er sich als Wille unmittelbar enthüllen konnte.

Wie die einzelne Menschenseele fühlen kann, daß sie in sich selbst nicht die Kräfte aufbringen kann, die ihr den Erdensinn geben, so sehen wir im historischen Verlauf die Menschenseele dastehen in den Juden so, daß selbst Moses, der Führer der Juden, den nicht erkannte, der ihn führte. Und wir sehen an den Heiden, daß die Forderung «Erkenne dich selbst» nur in den Mysterien erfüllt werden konnte, weil der Mensch, wie er geworden ist im Laufe der Erdenentwickelung mit seinem Zusammenhang von Leib und Seele, die Kraft nicht zu entfalten vermag, durch die er sich selbst erkennen kann. Es tönt her­über das Wort zu uns: «Nicht durch Wille und nicht durch Weisheit ist der Gott zu erkennen.» Durch was sollte der Gott erkannt werden?

Wir haben ja den Zeitpunkt in seiner Wesenheit öfter charakteri­siert, in dem der Christus in die Entwickelung der Erdenmenschheit eintrat. Wir wollen uns jetzt einmal ganz genau den Sinn vor Augen führen, den es hat, wenn man davon spricht, daß eine gewisse Ver­finsterung der Menschenseele eingetreten war, daß weder durch Wille noch durch Weisheit zu enthüllen war das eigentlich Göttliche. Wel­chen Sinn hat denn das eigentlich?

Ja, man spricht von so mancherlei Beziehungen des Menschlichen zu dem Göttlichen. Man spricht, wenn man von den Beziehungen des Menschlichen zu dem Göttlichen spricht und von dem Sinn, den das Menschliche in dem Göttlichen hat, so, daß wirklich oftmals nicht zu unterscheiden ist, wie das Menschliche zu dem Göttlichen sich ver­hält, und wie irgendein anderes Irdisches zum Beispiel sich zu dem Göttlichen verhält. Heute finden wir ja noch immer, daß Philosophen sich durch reine Philosophie zu dem Göttlichen erheben wollen. Aber durch reine Philosophie kann man nicht zu dem Göttlichen kommen. Gewiß kommt man durch reine Philosophie dazu, zu wissen, daß ein Göttliches in der Welt waltet, und sich verbunden zu fühlen mit dem Weltenall; gewiß kommt man dazu, zu wissen, daß die menschliche Wesenheit mit dem Tode irgendwie mit dem Weltenall verbunden werden müsse, allein wie sie verbunden wird, dazu kann man durch reine Philosophie nicht kommen. Warum nicht? Ja, wenn Sie den

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ganzen Sinn desjenigen, was wir heute schon besprochen haben, neh­men, so werden Sie sich sagen können: Das, was sich zunächst dem Erdenmenschen in seiner Seele enthüllt zwischen Geburt und Tbd, das ist eben in seinen Kräften zu schwach, um irgend etwas wahrzu­nehmen, das über das Irdische hinausgeht, das in das Göttlich-Geistige hineinführt. Wir wollen, um uns das ganz deutlich zu machen, einmal forschen nach dem Sinn der Unsterblichkeit.

Viele Menschen wissen heute schon gar nicht mehr, welches eigent­lich der Sinn menschlicher Unsterblichkeit sein kann. Viele Menschen reden heute vor allen Dingen von Unsterblichkeit auch dann, wenn sie nur zugeben können, daß die Menschenseele mit ihrer Wesenheit durch die Pforte des Todes hindurchgeht und dann etwa irgendwel­chen Platz im All findet. Das aber tut jedes Wesen. Dasjenige, was mit dem Kristall vereinigt ist, wenn er sich auflöst, geht in das All über; die Pflanze, die hinwelkt, geht in das All über; das Tier, das abstirbt, geht in das All über. Für den Menschen verhält sich die Sache doch noch anders. Unsterblichkeit hat für den Menschen nur einen Sinn, wenn er durch die Pforte des Todes sein Bewußtsein tragen kann. Denken Sie sich eine unsterbliche Menschenseele, die etwa nach dem Tode unbewußt wäre. Solche Unsterblichkeit hätte keinen Sinn, hätte nicht den geringsten Sinn. Bewußtsein muß die Menschenseele durch den Tod tragen, wenn sie von ihrer Unsterblichkeit sprechen soll. So wie die Seele mit dem Leibe vereint ist, kann sie nichts in sich finden, von dem sie sagen könnte: Das ist so, daß ich es bewußt durch den Tod trage. Denn das Bewußtsein des Menschen ist eingeschlossen zwischen Geburt und Tod, es reicht ja nur bis zum Tode. So wie es die menschliche Seele zunächst hat, dieses Bewußtsein, so reicht es nur bis zum Tode. In dieses Bewußtsein leuchtet hinein der göttliche Wille, zum Beispiel in den Zehn Geboten. Lesen Sie im Buch Hiob, ob dieses Hineinleuchten den Menschen so weit hat bringen können, daß sein Bewußtsein etwa aufgerüttelt worden wäre und solche Kräfte aus sich herausgetrieben hätte, daß er sich hätte sagen können: Ich gehe mit Bewußtheit durch die Pforte des Todes. Oh, wie mutet uns an das Wort, das zu dem Hiob gesprochen worden ist: «Sage Gott ab und stirb!» Wir wissen, der Mann ist unsicher, ob er mit Bewußtsein

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durch die Pforte des Todes geht. Und stellen wir dazu das grie­chische Wort, das uns des Griechen Furcht vor dem Tode vorstellt: Besser ein Bettler in der Oberwelt als ein König im Reiche der Schat­ten - dann haben wir auch aus dem Heidentum heraus den Beleg, wie unsicher man geworden war über menschliche Unsterblichkeit. Und wie unsicher sind selbst heute noch viele Menschen. Alle die Menschen, die da sprechen, daß der Mensch, indem er durch die Pforte des Todes geht, in dem All aufgehe, sich mit irgendeinem All­wesen verbinde, achten nicht darauf, was die Seele, wenn sie von ihrer Unsterblichkeit sprechen will, sich selbst zuschreiben muß.

Wir brauchen nur ein Wort auszusprechen, und wir werden er­kennen, wie der Mensch zu seiner Unsterblichkeit stehen muß. Dieses Wort ist das Wort Liebe. Und all dasjenige, was wir über die Unsterb­lichkeit gesagt haben, können wir jetzt mit dem in Zusammenhang bringen, was das Wort Liebe bezeichnet. Liebe ist nichts, was wir uns aneignen durch den Willen. Liebe ist nichts, was wir uns aneignen durch Weisheit. Liebe sitzt in der Region der Gefühle. Aber wir wissen und müssen es uns gestehen, daß die menschliche Seele, wie sie sein sollte, nicht sein könnte, wenn diese menschliche Seele nicht er­füllt sein könnte von Liebe. Ja, man kommt darauf, wenn man in das Wesen der Seele eindringt, daß unsere Menschenseele nicht mehr Menschenseele sein würde, wenn sie nicht lieben könnte.

Nun aber denken wir uns einmal, wir gingen durch die Pforte des Todes so, daß wir verlören unsere Menschen-Individualität, daß wir uns vereinigen würden mit einer Allgöttlichkeit. Dann wären wir in dieser Göttlichkeit darinnen, wir gehörten dazu. Wir könnten den Gott nicht mehr lieben, wir wären in ihm selbst. Liebe hätte keinen Sinn, wenn wir in dem Gotte wären. Zugeben müssen wir, wenn wir unsere Individualität nicht durch den Tod tragen könnten, daß wir im Tode die Liebe verlieren müßten, daß die Liebe in dem Augenblick aufhören müßte, wo die Individualität aufhört. Lieben kann nur ein Wesen das andere, das von dem andern getrennt ist. Wollen wir unsere Gottesliebe durch den Tod tragen, dann müssen wir durch den Tod unsere Individualität tragen, dann müssen wir durch den Tod tragen dasjenige, was in uns die Liebe entzündet. Sollte dem Menschen

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der Sinn der Erde gebracht werden, dann mußte ihm Aufschluß ge­bracht werden über seine Unsterblichkeit so, daß sein Wesen als un­zertrennlich mit der Liebe gedacht werde. Nicht Wille und nicht Weisheit können dem Menschen geben, was er braucht; geben kann dem Menschen das, was er braucht, allein die Liebe.

Was war denn verdunkelt worden im Laufe des Entwickelungs­ganges des Menschen über die Erde? Nehmen wir den Juden oder nehmen wir den Heiden: verdunkelt war worden das Bewußtsein über den Tod hinaus. Bewußtsein zwischen Geburt und Tod; außer­halb von Geburt und Tod Dunkelheit, nichts verbleibt vom Bewußt­sein innerhalb des Erdenleibes. «Erkenne dich selbst!» am Eingang des griechischen Heiligtumes: heiligste Forderung dieses griechischen Heiligtums an die Menschheit. Aber der Mensch konnte sich nur die Antwort geben: Ja, ich kann mich, wenn ich so verbunden bleibe in meinem Leibe mit meiner Seele, wie ich es als Erdenmensch bin, nicht in jener Individualität erkennen, die über den Tod hinaus lieben kann. Das kann ich nicht! Erkenntnis, daß man über den Tod hinaus als Individualität lieben kann, das war es, was den Menschen verloren gegangen war.

Tod ist nicht das Aufhören des physischen Leibes. Dieses kann nur der Materialist sagen. Man denke sich nur einmal, daß der Mensch sein Bewußtsein in jeder Stunde, in der er im Leibe lebt, so hätte, daß er so gewiß wissen würde, was über den Tod hinaus liegt, wie er heute weiß, daß morgen die Sonne aufgehen und über den Himmel gehen wird, dann hätte der Tod keinen Stachel für den Menschen, dann wäre der Tod nicht dasjenige, was wir den Tod nennen, dann wüßten die Menschen im Leibe, daß der Tod nur eine Erscheinung ist, die von einer Form zur anderen führt. Unter «Tod» verstand auch Paulus nicht das Aufhören des physischen Leibes, sondern unter «Tod» ver­stand er die Tatsache, daß das Bewußtsein nur bis zum Tode reicht, daß der Mensch, insofern er an den Leib gebunden war im damaligen Erdenleben, innerhalb seines Leibes sein Bewußtsein nur bis zu dem Tode hindehnen konnte. Wir können überall hinzusetzen, wo Paulus vom Tode spricht: Mangel eines Bewußtseins über den Tod hinaus.

Was gab dem Menschen das Mysterium von Golgatha? Stand mit

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dem Mysterium von Golgatha eine Summe von Naturereignissen vor der Menschheit, eine Wolkensäule, eine Feuersäule? Nein, ein Mensch stand vor den Menschen, der Christus Jesus. Erfüllte sich etwa mit dem Mysterium von Golgatha aus der geheimnisvollen Natur heraus so etwas, daß ein Meer sich spaltete, damit das Volk Gottes durch­ziehen könne? Nein, ein Mensch stand da vor den Menschen und machte Lahme gehend und Blinde sehend. Von einem Menschen ging das aus.

Der Jude hatte in die Natur schauen müssen, wenn er denjenigen hat sehen wollen, den er seinen göttlichen Herrn nennt. Einen Men­schen konnte man jetzt sehen, von einem Menschen konnte man so reden, daß der Gott in ihm lebe. Der Heide hatte eingeweiht werden müssen, er hatte die Seele aus dem Leibe herausziehen müssen, um der Wesenheit gegenüberzustehen, die der Christus ist. Er hat auf der Erde den Christus nicht vermuten können, er konnte nur wissen, daß der Christus außerhalb der Erde ist. Das aber, was außerhalb der Erde war, es ist auf die Erde gekommen, es hat einen Menschen-leib angenommen.

In dem Christus Jesus stand als Mensch vor den Menschen diejenige Wesenheit, die sonst vor der leibbefreiten Seele in den Mysterien ge­standen hatte. Und was ist dadurch geschehen? Der Anfang ist damit gemacht worden, daß die Kräfte, die der Mensch verloren hat in der Erdenentwickelung seit Erdenanbeginn, diese Kräfte, durch die ihm seine Unsterblichkeit verbürgt wird, durch das Mysterium von Gol­gatha wieder an ihn herankommen. In der Überwindung des Todes auf Golgatha haben die Kräfte den Ursprung genommen, die in der Menschenseele wieder anfachen können die verlorengegangenen Kräfte. Und des Menschen Weg durch die Erdenentwickelung wird weiter so sein, daß, indem der Mensch den Christus immer mehr und mehr auf­nehmen wird, er in sich entdecken wird dasjenige, was in ihm über den Tod hinaus lieben kann, das heißt, daß er als unsterbliche In­dividualität seinem Gott gegenüberstehen kann. Darum ist erst seit dem Mysterium von Golgatha das Wort wahr geworden: «Liebe Gott über alles und deinen Nächsten als dich selbst.»

Wille wurde gegeben aus dem brennenden Dornbusch. Wille wurde

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gegeben durch die Gebote. Weisheit wurde gegeben durch die Myste­rien. Die Liebe aber wurde gegeben, indem der Gott Mensch geworden ist in dem Christus Jesus. Und die Bürgschaft, daß wir über den Tod hinaus lieben können, daß eine Liebesgemeinschaft gestiftet werden kann durch die wiedergewonnenen Kräfte unserer Seele zwischen dem Menschen und Gott und allen Menschen untereinander, die Bürgschaft dafür geht von dem Mysterium von Golgatha aus. Die Menschenseele hat in dem Mysterium von Golgatha dasjenige gefunden, was sie seit Erdenurbeginn verloren hat, indem ihre Kräfte immer schwächer und schwächer geworden sind.

Drei Kräfte in drei menschlichen Seelengliedern: Wille, Weisheit und Liebe! In dieser Liebe erlebt die Seele ihr Verhältnis zum Christus.

Von einer gewissen Seite her wollte ich Ihnen das vor Augen führen. Was aphoristisch geklungen hat in der heutigen Auseinandersetzung, es wird seinen Zusammenhang in den Betrachtungen der folgenden Tage finden. Das aber, glaube ich, können wir tief in unsere Seele schreiben, daß ein Fortschritt in der Christus-Erkenntnis ein realer Erwerb für die Menschenseele ist, und daß auch dann, wenn wir die Beziehung der Menschenseele zu dem Christus betrachten, uns wieder­um so recht klar wird, wie gleichsam eine Hülle war zwischen der Menschenseele und dem Christus vor dem Mysterium von Golgatha, wie diese Hülle durchbrochen worden ist durch das Mysterium von Golgatha, und wie wir mit Recht sagen können: Durch das Mysterium von Golgatha ist eingeflossen eine kosmische Wesenheit in das Erden-leben, eine überirdische Wesenheit verband sich mit der Erde.

Gestatten Sie, meine lieben Freunde, auch heute - vielleicht werden die nächsten Tage nochmals Gelegenheit dazu geben - eine Bemer­kung, die ich aber auch unter Ihnen machen möchte:

Die Vorwürfe, die Gegnerschaften gegenüber unserer geisteswissen­schaftlichen Lehre, sie werden immer stärker und stärker. Mit viel Wahrheit kämpfen allerdings diese Gegnerschaften nicht, aber diese Gegnerschaften sind immerhin da. Überlegen wir uns einmal ein Wort, das Sie in den letzten Tagen auch hier haben lesen können, das von anderer Seite gesprochen worden ist und das hier wiederholt worden ist, überlegen wir uns dieses Wort am Schlusse dieser Betrachtungen,

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die uns wiederum von einer anderen Seite her gezeigt haben, wie eine kosmische Wesenheit im Christus eine irdische Wesenheit wird - ich meine das Wort, das da gesprochen worden ist, als ob es irgend etwas Unchristliches hätte, von dem Christus als von einer kosmischen We­senheit zu sprechen. Ja, sogar so ist das Wort gesprochen worden, daß gesagt worden sein soll: «Diese theosophische oder anthroposophische Lehre, die sieht gar nicht, wie es unchristlich ist, von einem kosmischen Prinzip, von einer kosmischen Wesenheit zu sprechen, während ge­rade dasjenige die Menschen gewonnen hat, was die Evangelien in ihren Einzelheiten über das Menschliche des Jesus erzählen.» Men­schen, die so etwas sagen, sie dünken sich recht christlich. Aber viele, die sich christlich dünken, bemerken gar nicht, daß sie mit ihrer Christlichkeit alle Augenblicke der wahren Christlichkeit ins Gesicht schlagen. Unchristlich soll es sein, von Christus als einer Wesenheit zu sprechen, die eine kosmische Wesenheit ist, das heißt die nicht für die Erde bloß, sondern für den Kosmos Bedeutung hat! Das wurde gesagt von einer Seite, die das Christentum verteidigen will gegenüber der Geistesforschung. Gesagt wurde: «Der Christus, so wie er uns entgegentritt, ohne daß wir auf das Kosmische Rücksicht nehmen, der wird in Menschenseelen leben, solange die Erde steht.» Ich glaube nicht, daß viele Leute merken, wie sonderbar unevangelisch die Zunge redet gerade mit solch einem Wort. Man wird vielleicht zuweilen merken: Da spricht Gegnerschaft gegen die Geisteswissenschaft -nun ja, man kann das verstehen. Das ist eben so, daß da vom «christ­lichen Standpunkt» aus gesprochen wird. - Dieser christliche Stand­punkt aber, ist er ein wirklich christlicher Standpunkt? Er verketzert uns - denn Verketzerung darf das schon genannt werden -, er nimmt das als sein Privilegium in Anspruch; er verketzert uns. Er findet unser Christentum oder, besser gesagt, unsere Anthroposophie als Christentum bedenklich. In ihm lebt nicht nur in seinem Begriff das wirkliche Christentum nicht mehr, sondern auch in seinen Seelen-lebensgewohnheiten lebt nicht das richtige Christentum. Denn die Seele, die richtig christlich ist, sie wird niemals sagen: Solange die Erde steht, wird der Christus, der da gemeint ist, in den Herzen der Men­schen leben. - Warum nicht? Weil ein Christ, der das sagt, einfach

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vergessen hat die Worte der Evangelien: Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.» Damit aber ist auch der Christus als kosmische Wesenheit hingestellt. Und derjenige, der wahr macht ein Wort, wie «Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen», der spricht christlich. Dem aber im Augenblick gleich die Zunge ausgleitet, wenn er sein Christen­tum gegen die Anthroposophie richten will, der sündigt gegen das Wort «Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen», indem er sagt: Wir wollen einen Christus, der da wirkt, solange die Erde steht; - der versteht nichts von dem wahren Chri­stentum, das nicht bloß in den Büchern, sondern auch in den Sternen steht.

Wir müssen uns schon zuweilen verständigen, wessen Geistes man­che Angriffe sind, die heute von da oder dort gegen die Christlichkeit unserer Anthroposophie vorgebracht werden. Man merkt an dem Zungenausgleiten manchmal viel mehr, zu was das Christentum in solchen Seelen geworden ist, als durch das Lesen, wie es heute üblich ist.

Was die Menschenseele erleben kann mit ihrem Christus in sich, wir wollen dann in den allernächsten Tagen davon sprechen.

ZWEITER VORTRAG Norrköping, 14. Juli 1914

#G155-1960-SE161 Christus und die menschliche Seele

#TI

ZWEITER VORTRAG

14. Juli 1914

#TX

Wenn wir den Tag über leben und wissen, zum Beispiel, was wir diesen Tag über der Sonne zu verdanken haben, wie unsere Lebens­aufgabe zusammenhängt mit dem Sonnenlicht, so denken wir nicht daran, daß, gewissermaßen unbewußt, durch diesen ganzen Genuß des Sonnenlichtes, durch die Befriedigung, die wir von dem Sonnen­licht haben, eines hindurchgeht: Wir wissen ganz gewiß, daß am nächsten Morgen, wenn wir die Nacht hindurch geruht haben, uns die Sonne wieder aufgehen werde. Das ist ein Zeichen von dem, wie in unserer Seele ein Vertrauen lebt in die fortdauernde Wirklichkeit der Weltenordnung. Wir machen es uns vielleicht nicht immer klar, aber gefragt, würden wir ganz gewiß in dem Sinne antworten, der hier gemeint ist. Wir geben uns unserer Arbeit heute hin, weil wir wissen, daß die Früchte dieser Arbeit für morgen gesichert sind, weil nach durchruhter Nacht die Sonne wieder erscheinen wird, und die Früchte der Arbeit ausreifen können.

Wir wenden den Blick hin auf die Pflanzendecke der Erde. Wir bewundern in diesem Jahr, was die Pflanzendecke der Erde uns dar­bietet. Wir erhalten uns von den Früchten der Erde. Wir wissen, daß es in der Wirklichkeit der Weltenordnung begründet ist, daß aus dem Keim dieses Jahres die Pflanzen- und Früchtedecke des nächsten Jah­res hervorgehen werde. Und wiederum würden wir, gefragt, warum wir denn so sicher dahinleben, in entsprechender Lage die Antwort geben: Uns erscheint die Wirklichkeit der Weltenordnung verbürgt, uns erscheint verbürgt, daß dasjenige, was als Keim heranreifte in den alten Saaten, auch im Reiche der Wirklichkeit wieder erscheint. -Aber es gibt etwas, dem gegenüber wir eine Stütze brauchen, wenn wir an die Verbürgung durch die Wirklichkeit denken. Und das ist etwas, was für unser inneres Seelenleben von ganz besonderer Bedeutung

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ist. Und es braucht nur ein einziges Wort ausgesprochen zu wer­den, dann fühlen wir alsogleich, wie es etwas im Leben gibt, wofür wir eine solche Bürgschaft brauchen, weil es unmittelbar eine solche Bürgschaft für den real Denkenden, für den real Fühlenden doch nicht in sich trägt. Das ist das Wort: unsere Ideale. Was alles schließt dieses Wort ein: unsere Ideale! Unsere Ideale, sie gehören zu dem, was unserer Seele, wenn wir in einem höheren Sinne denken und fühlen, wichtiger ist als die äußere Wirklichkeit. Unsere Ideale sind dasjenige, was unsere Seele innerlich befeuert, was unserer Seele in vieler Be­ziehung das Leben wertvoll und teuer macht.

Und wenn wir in das äußere Leben blicken, wenn wir hinblicken auf das, was uns die Realität des Lebens verbürgt, dann werden wir oftmals von dem Gedanken gequält: Enthält denn diese Wirklichkeit etwas, was uns gerade dieses Wertvollste im Leben, die Verwirk­lichung unserer Ideale, verbürgt?

Unzählige Konflikte der Menschenseele gehen daraus hervor, daß die Menschen mehr oder weniger stark oder schwach zweifeln an der Verwirklichung dessen, an dessen Verwirklichung sie doch hängen möchten mit allen Fasern ihrer Seele: an der Verwirklichung ihrer Ideale. Wir brauchen ja nur die Welt des physischen Planes zu be­trachten, und wir werden, wenn wir unbefangen diesen physischen Plan betrachten, unzählige Menschenseelen finden, welche die stärk­sten, die herbsten Seelenkämpfe durchmachen an dem Nichterreichten, das sie doch im idealen Sinne für wertvoll halten. Denn nicht in dem­selben Sinne können wir gleichsam herauss augen aus der Evolution der Wirklichkeit, daß sich unsere Ideale im Leben so als Keime für eine zukünftige Realität erweisen werden, wie sich zum Beispiel die Pflanzenkeime dieses Jahres als Anlage für die Pflanzendecke des nächsten Jahres erweisen. Richten wir den Blick hin auf diese Pflan­zenkeime, so wissen wir: In sich tragen sie dasjenige, was im nächsten Jahre in ausgebreitetstem Maße Wirklichkeit sein wird. Richten wir nun den Blick hin auf unsere Ideale, dann können wir zwar den Glauben in unserer Seele hegen, daß diese Ideale irgendeine Bedeutung, daß sie irgendeinen Wert für das Leben haben werden; aber in glei­chem Sinne eine Sicherheit haben, das können wir in bezug auf diese

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Ideale nicht. Wir möchten als Menschen, daß sie die Keime seien für spätere Zukunft, aber wir blicken vergeblich aus nach dem, was ihnen die sichere Realität geben kann. So finden wir unsere Seele, schon wenn wir auf den physischen Plan blicken, mit ihrem Idealismus oft­mals in einer verzweifelten Lage.

Und gehen wir aus der Welt des physischen Planes in die Welt des Okkulten, in die Welt der verborgenen Geistigkeit: Derjenige, der ein Geistesforscher geworden ist, lernt erkennen die Seelen in der Zeit, die sie durchzumachen haben zwischen Tod und neuer Geburt. Und es ist bedeutungsvoll, den geistigen Blick hinzuwerfen auf diejenigen Seelen, welche gesättigt waren in dem Erdenleben mit hohen Idealen, mit Idealen, die sie aus dem Feuer und aus dem Licht ihres Herzens heraus geboren hatten.

Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes hindurchgegangen ist und das uns wohlbekannte Lebenstableau, das eine Erinnerung an das verflossene Erdenleben darstellt, vor sich hat, dann ist einge­woben diesem Lebenstableau auch die Welt der Ideale. Und diese Welt der Ideale, sie kann dem Menschen in einer solchen Weise nach dem Tode vor die Seele treten, daß er ihr gegenüber etwas fühlt, das man in die Worte kleiden möchte: Ja, diese Ideale, die mein Herz im Innersten befeuert und durchleuchtet haben, die ich als das Teuerste, als das innerste Gut meines Herzens betrachtet habe, diese Ideale, sie haben jetzt ein gar fremdartiges Ansehen. Sie sehen so aus, als ob sie nicht recht hingehörten zu alledem, dessen ich mich erinnere als wirklicher Erdenerlebnisse des physischen Planes. Und dennoch fühlt sich der Tote wiederum wie magnetisch hingezogen zu diesen seinen Idealen, er fühlt sich gleichsam gebannt an diese Ideale. Sie können etwas merkwürdig Anziehendes für den Toten haben, diese Ideale. Aber sie können etwas haben, was ihn wie mit einem gelinden Schrek­ken erfüllt, von dem er fühlt, daß es ihm gefährlich werden kann, daß es ihn entfremden kann der Erdenevolution und dem, was auch für die Erdenevolution zusammenhängt in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt.

Um mich ganz deutlich auszusprechen, möchte ich an konkrete Erlebnisse anknüpfen, möchte anknüpfen an Erlebnisse, die einige

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von den Freunden, die hier sitzen, ja schon kennen, aber die gerade von einer gewissen Seite her am heutigen Abend noch besonders be­leuchtet werden sollen, damit sie zusammengestellt werden können mit dem, was ich eben über die Natur der menschlichen Ideale aus­gesprochen habe.

Uns hatte sich in den letzten Jahren eine dichterische Natur an-geschlossen. Aus einem Leben heraus, das gewidmet war dem reinsten Idealismus, das schon eine mystische Vertiefung durchgemacht hatte, kam der betreffende Mann herein in unsere anthroposophische Be­wegung. Mit Herz und Seele widmete er sich, trotzdem seine Seele weilte in einem morschen, zerfallenden Leibe, unserer geistigen Be­wegung. Im Frühling dieses Jahres haben wir ihn für das Erdenleben verloren: er ist durch die Pforte des Todes hindurchgegangen. Er hat der Menschheit hinterlassen eine Serie wunderbarer Gedichte, die in einem Band veröffentlicht worden sind, der vor kurzem, nach seinem Tode, erschienen ist. In gewisser Beziehung war er durch die Schwie­rigkeiten seines äußeren Leibeslebens viele Zeiten räumlich getrennt von unserer Bewegung, in einem einsamen schweizerischen Gebirgs­orte oder sonst irgendwo, wo er für seine Gesundung sorgen mußte. Aber er hing auch entfernt von uns an unserer Bewegung, und seine Dichtungen, die ja auch in gewissen anthroposophischen Kreisen im­mer wiederum und wiederum vorgetragen wurden, gerade in der letz­ten Zeit, sind gleichsam die dichterische Widerspiegelung dessen, was wir uns anthroposophisch erarbeitet haben durch mehr als ein Jahr­zehnt hindurch. Nun ist er durch die Pforte des Todes gegangen, und ein Merkwürdiges stellt sich heraus der okkulten Betrachtung der Seele dieses Mannes. Man kann sagen, die Bedeutung des Lebens der Seele in diesem morschen Körper lernt man erst nach dem Tode kennen. Dasjenige, was diese Seele aufnahm, während sie geistig treu mitarbeitete an dem Fortgang der anthroposophischen Bewegung, das entwickelte größere Kraft, möchte man sagen, unter der Oberfläche des allmählich hinsterbenden Leibes. Der morsche Leib verdeckte das, solange die Seele selbst in diesem Leibe war. Und jetzt, wenn man mit dieser Seele zusammenkommt nach dem Tode, jetzt leuchten auf, so wie sie eben nur im geistigen Leben aufleuchten können, die Inhalte

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des Lebens, die diese Seele aufgenommen hat; und wie ein gewaltiges kosmisches Tableau ist, ich möchte sagen, die Wolke vorhanden, in der unser Freund nun, nachdem er die Pforte des Todes durchschritten hat, lebt. Für den okkulten Betrachter ist das ein eigenartiger Anblick. Man kann ja nun vielleicht sagen: Der okkulte Betrachter kann ja auch die Blicke umherschweifen lassen in dem ganzen weiten Umkreis der geistig-kosmischen Welt. Aber es ist noch etwas anderes, den Blick umherschweifen zu lassen in dem ganzen Umkreis der kosmischen psychischen Welt und dann noch abgesondert zu sehen aus einer be­sonderen Menschenseele heraus etwas, was sich wie ein gewaltiges Tableau ausnimmt, wie ein Gemälde desjenigen, was sonst sich selbst in der geistigen Welt zeigt. Wie wenn man die Welt des physischen Planes um sich herum hat und dann sie widergespiegelt sieht in den großartigen Gemälden eines Raffael, eines Michelangelo, so ist es in der geistigen Welt in dem Falle, von dem hier gesprochen wird. Wie man niemals sagt, wenn man einem Gemälde von Raffael oder Michelangelo gegenübersteht: Ach, dieses Gemälde gibt mir nichts mehr, denn ich habe ja die große Wirklichkeit vor mir, so sagt man nicht, wenn man das Tableau betrachtet, das in einer Seele wider­spiegelt, was man sonst im Anschauen der geistigen Wirklichkeit sieht, daß das gewaltige Aufleuchten dieses Seelentableaus uns nicht eine unendliche Bereicherung sei. Und gesagt werden darf, daß man unendlich mehr noch lernt, als man aus dem unmittelbaren Anblick der weiten geistigen Wirklichkeit lernen kann, wenn man vor sich hat den Freund, der gestorben ist, der in seiner eigenen Seele nach dem Tode eine Widerspiegelung enthält alles dessen, was geschildert werden durfte seit vielen Jahren aus den geistigen Welten heraus.

Dieses ist ein okkulter Tatbestand. Diesen okkulten Tatbestand habe ich ja unseren anthroposophischen Freunden schon wiederholt an anderen Orten auseinandergesetzt. Ich habe das jetzt herausge­hoben, was für unsere heutige Betrachtung wichtig sein kann. So, wie sich dieser okkulte Tatbestand dargestellt hat an Christian Morgen­stern, zeigt er mir noch etwas anderes. Man kann oftmals, wenn man sieht, welchen Widerstand heute die Verkündigung der okkulten Lehre, wie wir sie meinen, noch findet, vielleicht die Frage stellen,

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ich will nicht sagen zweifeln, aber die Frage stellen: Welchen Fort­gang in den menschlichen Herzen, in den menschlichen Seelen wird diese okkulte Lehre finden? Gibt es eine Garantie, eine Bürgschaft dafür, daß das, was wir uns heute erarbeiten innerhalb unserer An­throposophischen Gesellschaft, fortwirken werde im Verlauf der gei­stigen Menschheitsentwickelung? Der Anblick dessen, was die Seele unseres Freundes geworden ist, der gibt aus der okkulten Welt heraus eine solche Bürgschaft. Warum? Unser Freund, der uns die Dichtun­gen hinterlassen hat «Wir fanden einen Pfad», er lebt in dem gewaltigen kosmischen Tableau, das wie eine Art Seelenleib ist für ihn nach dem Tode. Er hat aber, während er mit uns verbunden war innerhalb unserer anthroposophlschen Strömung, aufgenommen dasjenige, was wir zu sagen haben über den Christus. Indem er aufnahm die anthro­posophische Lehre, indem er diese anthroposophische Lehre mit seiner Seele so verband, daß sie wirklich das geistige Herzblut seiner Seele wurde, hat er diese Lehre auch so in seiner Seele aufgenommen, daß diese anthroposophische Lehre für ihn den Christus als Substanz in sich enthielt. Er hat sie mit der Christus-Wesenheit zugleich aufge­nommen. Der Christus, wie er in unserer Bewegung lebt, ist in seine Seele zugleich übergegangen.

Und nun stellt sich bei der Betrachtung des okkulten Tatbestandes das Folgende dar. Der Mensch, der durch die Pforte des Todes geht, ja, er kann in einem solchen kosmischen Tableau leben, er wird mit ihm schreiten durch das Leben, das zwischen dem Tod und einer neuen Geburt liegt; das wird wirken in seiner ganzen Wesenheit, das wird sich einverleiben seiner ganzen Wesenheit, besser würde ich sagen «einverseelen» seiner ganzen Wesenheit, und es wird sein neues Erden-leben durchdringen, wenn er zu einem solchen Erdenleben wieder her-untersteigt. Es trägt insofern. dazu bei, daß eine solche Seele selbst einen Keim von Vollkommenheit aufnimmt für das eigene Leben, daß diese Seele selbst weiterschreitet in der Evolution des Erdendaseins. Das alles geschieht dadurch, daß eine solche Seele so etwas aufge­nommen hat, wie es gesagt worden ist. Aber nun hat diese Seele, wie es eben angeführt worden ist, das alles aufgenommen durchtränkt und durchgeistigt von der Christus-Wesenheit, von den Vorstellungen, die

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wir uns über die Christus-Wesenheit aneignen können. Dadurch aber ist das, was eine solche Seele aufgenommen hat, nicht bloß ein Gut, das zur Weiterentwickelung dieser Seele allein dient, sondern ein Gut, das durch den Christus, der der ganzen Menschheit gemeinschaftlich ist, auf die ganze Menschheit wiederum wirkt. Und jenes Seelen­tableau, das sich dem hellsichtigen Auge entwickelt in der Seele, die diesen Frühling durch die Pforte des Todes gegangen ist, jenes Seelen­tableau, so wie es sich darstellt, durchchristet, es ist mir Bürgschaft dafür, daß das, was heute gesprochen werden darf aus den geistigen Welten, herunterleuchten wird durch die Liebe des Christus in Seelen, die in späterer Zeit kommen werden; diese Seelen, sie werden davon durchfeuert, sie werden davon inspiriert werden. Nicht allein wird unser Freund in seinem eigenen Leben die durchchristete Anthroposo­phie zur eigenen Vervollkommnung weiter tragen, sondern dadurch, daß er durchchristet sie aufgenommen hat, wird sie aus der geistigen Welt heraus ein Impuls den Seelen werden, die in den kommenden Jahrhunderten aufleben; in sie hineinstrahlen wird dasjenige, was durchchristet ist. Eure Seelen können das, was sie aus der durchchriste­ten Anthroposophie bekommen als ihr bestes Gut, nicht nur für sich selbst aufnehmen, sondern es durch spätere Evolutionszeiten tragen. Durchchristen sie es, so fließt es, weil der Christus das Wesen ist, das der ganzen Menschheit gehört, als eine Saat hinein in die ganze Menschheit. Wo der Christus dabei ist, vereinzeln sich nicht die Güter des Lebens; sie bleiben fruchtbar für den Einzelnen, aber sie nehmen zugleich den Charakter eines Gutes für die ganze Mensch­heit an.

Das ist es, was wir uns klar vor die Seele zu stellen haben. Dann sehen wir, welch bedeutender Unterschied waltet, ob wir Weisheit aufnehmen nicht durchchristet, oder ob wir Weisheit aufnehmen durchleuchtet von dem Christus-Licht. Wir sind ja nicht, wenn wir auf dem Felde unserer engeren Gemeinschaft zusammenkommen, dazu da, abstrakte Betrachtungen anzustellen, meine lieben Freunde, wir sind da, um ungescheut gegenüber demjenigen, was die heutige Welt gegen den Okkultismus, gegen den wahren Okkultismus hat, diesen Okkultismus wirklich zu treiben. Daher darf auch dasjenige

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berührt werden, was eben nur durch das Forschen im Geistigen wirk­lich zu unserer Kenntnis kommen kann.

Ein zweiter Fall soll angeführt werden. Wir waren veranlaßt, in den letzten Jahren in München mancherlei, was wir Mysterien nennen, aufzuführen, und auch unsere schwedischen Freunde haben vielfach teilgenommen an diesen Mysterienaufführungen. Auch das, was ich jetzt sage, habe ich von einer gewissen Seite her schon manchen Freun­den mitgeteilt. Ja, bei diesen Mysterienaufführungen mußte manches anders getan werden als bei anderen Aufführungen. Es mußte ge­wissermaßen die Verantwortung gefühlt werden gegenüber der gei­stigen Welt. Man konnte nicht wie an eine Theateraufführung an diese Mysterienaufführung gehen. Gewiß, was man macht in einem solchen Fall, das muß gemacht werden aus den eigenen Seelenkräften heraus. Aber machen wir uns nur einmal klar, daß wir angewiesen sind auch im physischen Leben, wenn wir dieses oder jenes durch den Willen unserer Seele durchführen wollen, unsere Muskelkraft, die uns auch von außen zukommt, die aber doch uns gehört, dazu zu gebrau­chen. Haben wir sie nicht, diese Muskelkraft, die uns von außen zu­kommt, so können wir gewisse Dinge ja nicht ausführen. In gewisser Weise gehört die Muskelkraft zu uns und doch wiederum nicht zu uns. So ist es mit unseren geistigen Fähigkeiten, nur daß uns dabei nicht helfen physische Kräfte, Muskelkraft, wenn diese Fähigkeiten im Geistigen sich betätigen sollen, sondern daß uns da die Kräfte der geistigen Welt selbst zu Hilfe kommen müssen, daß uns da gleichsam durchstrahlen und durchsetzen müssen die Kräfte, die aus der geistigen Welt in unsere physische Welt hineindringen. Und wahrhaftig, es mögen andere solche Unternehmungen, wie sie unsere Münchener Spiele waren, mit einem anderen Bewußtsein beginnen, für mich selbst wurde es klar, daß die Sache nur ausgeführt werden durfte im Laufe der Jahre, daß die verschiedenen Initiativen nur ergriffen werden durften, wenn ganz bestimmte, gerade nach dieser Richtung hin gehende geistige Kräfte in unsere Menschenkräfte hineinfließen, wenn gewissermaßen geistige Schutzengelkräfte in unsere menschlichen Kräfte hineinfließen.

Es war in den allerersten Zeiten, als wir begannen, in einem kleinen

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Kreise noch, geisteswissenschaftlich zu arbeiten. Es war ein sehr kleiner Kreis, und man konnte ihn immer, wenn wir zusammenkamen im Beginn unseres Jahrhunderts in Berlin, seiner Kopfzahl nach leicht überzählen. Aber eine treue Seele war für kurze Zeit immer unter diesen, eine Seele, die durch ihr Karma ausgestattet war mit einem ganz besonderen Talent für Schönheit und Kunst. Diese Seele hat, wenn auch nur kurze Zeit, aber doch mit uns gearbeitet, gerade in bezug auf alles Intimste, was dazumal zu durcharbeiten war auf dem geisteswissenschaftlichen Felde. Mit Innigkeit und mit einem abge­klärten inneren Feuer arbeitete diese Seele unter uns und nahm ins-besondere die Lehren auf, die dazumal aus der Geisteswissenschaft namentlich über gewisse kosmologische Zusammenhänge gegeben wer­den konnten. Und ich weiß heute noch, wie dazumal eine Tatsache zum Beispiel vor meine Seele trat, die vielleicht unbedeutend erschei­nen könnte, die aber doch hier angeführt werden darf: Als unsere an­throposophische Bewegung begann, da begann sie auch damit, daß eine Zeitschrift, die damals aus wohlerwogenen Gründen heraus «Luzifer» genannt wurde, den Anfang machte. Ich schrieb dazumal einen Artikel unter dem Titel «Luzifer», einen Artikel, der enthalten sollte, wenig­stens der Anlage nach, die Richtlinien, unter denen wir arbeiten woll­ten. Ich darf wohl sagen, schon dieser Artikel ist, wenn es auch nicht in Worten ausgesprochen ist, in denjenigen Linien gehalten, in denen unsere Anthroposophische Gesellschaft gehalten werden muß, und ich darf sagen: Auch dieser Artikel ist durchchristet. Man nimmt das­jenige, was christliches Lebensblut ist, auf, wenn man den Artikel aufnimmt. Ich darf heute vielleicht erwähnen, daß dieser Artikel dazumal auch in dem Kreise der Wenigen, die aus der alten theo­sophischen Bewegung heraus sich an uns angeschlossen hatten, die heftigste Opposition erfuhr. Allüberall wurde dieser Artikel für etwas genommen, was eigentlich ganz untheosophisch sei. Die Persönlichkeit, von der ich eben sprach, war mit dem allerwärmsten Herzen und mit der tiefsten Innigkeit gerade bei diesem Artikel, und ich konnte mir sagen: Diese Zustimmung wiegt mehr für den Fortgang der an­throposophischen Bewegung als die ganze übrige Opposition, wenn es auf die Wahrheit ankommt. Kurz, ganz verwoben war diese Seele

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mit dem, was in unsere Geistesströmung hineinfließen sollte. Sie starb bald; sie ging durch die Pforte des Todes schon 1904. Sie hatte einige Zeit sich durchzuringen in der geistigen Welt nach dem Tode zu dem, was sie eigentlich war. Und noch nicht 1907, aber von unseren Spielen in München, den Mysterienspielen von 1909 ab, dann immer steigend durch die folgenden Zeiten, da war es diese Seele, die immer hinter demjenigen schützend und klärend stand, was ich vornehmen durfte für unsere Münchener Festspiele. Was diese Seele durch ihre Anlage in bezug auf Schönheit für die künstlerische Verwirklichung unserer geistigen Ideale geben konnte, das wirkte herab aus der geistigen Welt wie von dem Schutzengel unserer Mysterienspiele kommend, so daß man Kraft in sich fühlte, diejenige Initiative zu ergreifen, die not­wendig war, weil, wie im Physischen unsere Muskelkraft uns unter­stützt, so die geistige Kraft, die aus den geistigen Welten herunter­strdmt, in die eigene geistige Kraft hineinfloß.

So wirken die Toten mit uns. So sind sie mit uns. Das war wieder ein Fall - und jetzt kommt die Wendung, von der ich insbesondere heute sprechen muß -, das war wieder ein Fall, wo nicht bloß für die betreffende Persönlichkeit zu ihrem eigenen Fortschritt in ihrem in­dividuellen Leben das sichtlich beitrug, was sie aufgenommen hatte auf dem anthroposophischen Felde, sondern es floß uns ja wiederum zurück in etwas, was wir tun durften für die ganze anthroposophische Bewegung. Es waren zwei Möglichkeiten vorhanden: die eine, daß eben diese Persönlichkeit aufgenommen hatte das, was sie aufnehmen konnte, daß sie es in ihrer Seele hatte und daß sie es nun in ihrem weiteren Fortschreiten durch das Leben, auch durch das Leben nach dem Tode, für sich verwenden konnte. Das ist so recht, das soll so geschehen, denn die Menschenseele muß, wenn sie ihr göttliches Ziel erreichen soll, immer vollkommener und vollkommener werden; sie muß alles tun, was zu dieser Vervollkommnung beitragen kann. Weil aber auch diese Seele schon die ganze Gesinnung der Durchchristetheit in sich aufgenommen hatte, konnte das, was sie aufgenommen hatte, nicht nur für sie selbst wirken, sondern es konnte herunterfließen zu uns, es konnte eine Art Gemeingut werden, Gemeingut in seiner Wirksamkeit.

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Das ist es, was der Christus macht, wenn er unsere Erkenntnis­früchte durchdringt. Er nimmt nicht weg, was diese Erkenntnisfrüchte für unsere Individualität darstellen, aber der Christus ist gestorben für alle Seelen, und wenn wir uns aufschwingen zu der Erkenntnis, welche die Erkenntnis des richtigen Erdenmenschen sein muß: «Nicht ich, sondern der Christus in mir»; wenn wir gleichsam den Christus in uns wissen bei allem, was wir selbst wissen, wenn wir dem Christus zuschreiben die Kräfte, die wir selbst verwenden, dann wirkt das, was wir in uns aufnehmen, nicht nur für uns allein, sondern für die ganze Menschheit. Dann wird es fruchtbar für die ganze Menschheit. Wo wir hinblicken auf dem Erdenrund zu Menschenseelen: für alle ist der Christus gestorben, und dasjenige, was sie in seinem Namen aufnehmen, das nehmen sie zu ihrer eigenen Vervollkommnung, aber auch als teure Wirkensgüter für die ganze Menschheit auf.

Nunmehr blicken wir zurück zu dem, was in den Einleitungsworten des heutigen Abends gesprochen worden ist.

Gesagt worden ist: Wenn wir nach dem Tode zurückblicken in unserem Lebenstableau auf dasjenige, was wir durchlebt haben, dann kommt es uns vor, als ob unsere Ideale etwas Fremdes haben könnten. Die Empfindung, die wir da durchmachen, ist diese, daß wir diesen Idealen es anfühlen: sie tragen uns eigentlich nicht hin zu dem allgemeinen Menschenleben, sie haben keine Eigenbürgschaft für Realität in dem allgemeinen Menschenleben; sie führen uns hinweg von dem allgemeinen Menschenleben. Es ist eine starke Gewalt, welche Luzifer hat gerade über unsere Ideale, weil sie so schön aus der mensch­lichen Seele herausquillen, aber eben nur aus der menschlichen Seele, und nicht in der äußeren Wirklichkeit wurzeln. Deshalb hat Luzifer eine solche Gewalt, und es ist eigentlich der magnetische Zug des Luzifer, den wir in unseren Idealen nach dem Tode spüren. Luzifer kommt an uns heran, und gerade wenn wir Ideale haben, sind sie ihm besonders wertvoll, er kann uns auf dem Umweg durch diese Ideale zu sich hinziehen. Aber wenn wir dasjenige, was wir geistig durch­dringen, mit dem Christus durchziehen, wenn wir den Christus in uns erfühlen, und wenn wir wissen: Dasjenige, was wir aufnehmen, nimmt der Christus mit in uns auf - «Nicht ich, sondern der Christus

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in mir» -, dann ist es, wenn wir durch die Pforte des Todes treten, nicht so, daß wir auf unsere Ideale so zurückblicken, als ob sie uns der Welt entfremden wollten, sondern dann haben wir unsere Ideale gleichsam dem Christus übergeben; dann erkennen wir, daß der Christus es ist, der unsere Ideale zu seiner eigenen Sache macht. Er nimmt unsere Ideale auf sich. Und der Einzelne kann sich sagen: Nicht ich kann meine Ideale allein so auf mich nehmen, daß sie ebenso sichere Keime für die Menschheit der Erde sind, wie die Pflanzenkeime des heutigen Sommers sichere Keime für die Pflanzendecke des nächstens Sommers sein werden; aber der Christus in mir kann es. Der Christus in mir durchzieht meine Ideale mit der Realität der Substanz. - Und die Ideale, die wir so in uns hegen, daß wir uns sagen: Ja, als Mensch fassen wir sie, die Ideale, auf diesem Erdenrund, aber in uns lebt der Christus, und er übernimmt unsere Ideale - diese Ideale sind reale Keime für zukünftige Wirklichkeit. Durchchristeter Idealismus ist mit dem Keim der Realität durchsetzt. Und derjenige, der den Chri­stus wirklich versteht, der sieht auf diese Ideale so hin, daß er sagt: Jetzt haben Ideale noch nicht etwas in sich, was ihnen ihre Realität, ihren Wirklichkeits-Charakter so verbürgt, wie dem Pflanzenkeim der Wirklichkeits-Charakter für das nächste Jahr verbürgt ist, aber wenn wir unsere Ideale so auffassen, daß wir sie dem Christus in uns über­geben, dann sind sie reale Keime. Und derjenige, der ein wirkliches Christus-Bewußtsein hat, der das Paulinische Wort «Nicht ich, son­dern der Christus in mir - ist der Träger meiner Ideale» zu seiner Lebenssubstanz macht, der sieht so darauf hin, daß er sagt: Ja, da sind die reifen Saaten mit ihren Keimen, da sind Flüsse und Meere, da bilden sich Berge und Täler. Aber daneben ist die Welt des Idealis­mus; diese Welt des Idealismus ist von dem Christus übernommen, und sie ist wie in der gegenwärtigen Welt der Keim zur zukünftigen Welt. Denn der Christus trägt unsere Ideale so hinüber in die zukünf­tige Welt, wie hinüberträgt der Gott der Natur die Pflanzenkeime dieses Jahres in das nächste Jahr.

Das gibt dem Idealismus Realität, das benimmt der Seele jene her­ben, jene düsteren Zweifel, die in ihr aufsteigen können, wenn sie be­schlichen wird von dem Gefühl: Was wird aus der Welt der Ideale.

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die innig mit der äußeren Realität verknüpft sind, die verknüpft sind mit all dem, was ich für wertvoll halten muß? Das, was in der mensch­lichen Seele als Idealismus, als Weisheitsgut heranreift, das verspürt derjenige, der den Christus-Impuls in sich aufnimmt, mit Realität durchdrungen, mit Realität durchsättigt. Und ich habe Ihnen die zwei Beispiele angeführt, um Ihnen daran zu zeigen aus der okkulten Welt heraus, wie anders wirkt dasjenige, was durchchristet der Seele an­vertraut wird, als das, was nur als Weisheit, die nicht durchchristet ist, der Seele anvertraut ist. Wahrhaftig, ganz anders dringt zu uns herunter das, was die Seele sich in diesem Erdenleben durchchristet hat, als das, was sie nicht durchchristet hat.

Es macht einen erschütternden Eindruck, wenn das hellsichtige Bewußtsein hinaufschaut in die geistige Welt und sieht für ihre Ideale die Seelen kämpfen, in denen in der letzten Inkarnation noch nicht das volle Christus-Bewußtsein aufgegangen ist, sieht die Seelen kämp­fen für ihr Teuerstes, weil in ihren Idealen Luzifer eine Gewalt über sie hat, so daß er sie abtrennen kann von den Früchten, die als reale Früchte die ganze Welt genießen soll. Anders ist der Anblick bei denjenigen, die ihr Weisheitsgut, ihr Seelengut haben durchchristet sein lassen, die, wie einen Abglanz in uns hervorrufend, seelenbelebend schon in dieses Leben im Leibe herunterwirken.

Was so empfunden werden kann wie teuerste innere Seelenwärme, wie Trost in den schwersten Lagen des Lebens, wie Stütze in den schwersten Abgründen des Lebens, das ist eben das Durchdrungensein mit dem Christus-Impuls. Und warum? Weil derjenige, der wirklich durchdrungen ist mit dem Christus-Impuls, fühlt, wie in den Er­oberungen seiner Seele, mögen sie noch so unvollkommen sich aus­nehmen gegenüber dem Erdenleben, dieser Christus-Impuls als die Gewähr und Bürgschaft für die Verwirklichung darinnen liegt. Des­halb ist der Christus ein solcher Trost in den Zweifeln des Lebens, eine solche Stütze der Seele. Wie vieles bleibt den Seelen auf der Erde unerfüllt in dem Leben, wie vieles erscheint ihnen wertvoll, ohne daß sie es anders ansehen können gegenüber der äußeren physischen Welt als wie oftmals zerstörte Lenzeshoffnungen. Was wir aber so aufrichtig in unserer Seele fühlen, was wir mit unserer Seele vereinigen

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as ein wertvoll gedachtes Gut, das können wir dem Christus über­geben. Und wie es auch aussehen mag für die Verwirklichung: wenn wir es dem Christus übergeben haben, dann trägt er es auf seinen Flügeln in die Wirklichkeit hinein. Man braucht das nicht immer zu wissen, aber die Seele, die den Christus in sich fühlt, so wie der Leib sein Blut als belebendes Element in sich fühlt, die fühlt das Wärmende, das Realisierende dieses Christus-Impulses gegenüber alledem, was die Seele in der äußeren Welt nicht realisieren kann, aber realisieren möchte, berechtigterweise realisieren möchte.

Daß das hellsichtige Bewußtsein diese Dinge sieht, wenn es die Seelen betrachtet nach dem Tode, das ist eben nur ein Beweis dafür, wie berechtigt das Gefühl iSt der Menschenseele, wenn sie bei allem, was sie tut, bei allem, was sie denkt, sich durchchristet fühlt, den Christus als ihren Trost, als ihre Stütze, als dasjenige in sich auf­nimmt, von dem sie sagt in diesem Erdenleben: «Nicht ich, sondern der Christus in mir.» Man sage dies «Nicht ich, sondern der Christus in mir» in diesem Erdenleben!

Erinnern Sie sich an eine Stelle, die im Anfang meiner «Theosophie» steht, die einen derjenigen Punkte zeigen soll, wo verwirklicht wird auf einer gewissen Stufe des geistigen Lebens, was in dieser Welt des Erdenlebens die Seele durchdringt. Ich habe an einer bestimmten Stelle meiner «Theosophie» darauf aufmerksam gemacht, daß das «Tat twam asi», «Das bist du», das die morgenländischen Weisen medi­tieren, wie eine Wirklichkeit vor sie hintritt gerade in dem Momente, wo der Übergang aus der sogenannten Seelenwelt in die Geisteswelt geschieht. Sehen Sie nach an der betreffenden Stelle.

Aber noch etwas anderes kann Wirklichkeit werden, Wirklichkeit werden in einer menschlich ungeheuer bedeutungsvollen Art, von dem, was diese Menschenseele, die sich durchchristet fühlt, sich in diesem Leben sagen kann: das paulinische Wort «Nicht ich, sondern der Christus in mir». Weiß man es so zu denken, daß es innere Wahrheit ist, dieses Wort «Nicht ich, sondern der Christus in mir», dann ver­wirklicht es sich nach dem Tode in einer gewaltigen, in einer bedeut­samen Weise. Denn was wir unter diesem Lebensgesichtspunkte in der Welt aufnehmen, unter dem Lebensgesichtspunkte des «Nicht ich,

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sondern der Christus in mir», das wird so unser Eigentum, das wird so unsere innere Natur zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, daß wir durch das, was so unsere innere Natur geworden ist, es als Frucht der ganzen Menschheit zuerteilen dürfen. Was wir so auf­nehmen, daß wir es aufnehmen unter dem Gesichtspunkte «Nicht ich», das macht der Christus zum Gemeingut der ganzen Menschheit. Was ich aufnehme unter dem Gesichtspunkte «Nicht ich», von dem darf ich nach dem Tode sagen und fühlen: nicht mir allein, sondern allen meinen Menschenbrüdern! Und dann allein darf ich das Wort aussprechen: Ja, ich habe ihn geliebt über alles, auch über mich selbst, deshalb habe ich gehorcht dem Gebote: «Liebe deinen Gott über alles.»

«Nicht ich, sondern der Christus in mir.»

Und ich habe es erfüllt, das andere Gebot: «Liebe deinen Nächsten als dich selbst.» Denn dasjenige, was ich mir selbst erworben habe, das wird dadurch, daß es der Christus in die Realität trägt, Gemein-gut der ganzen Erdenmenschheit.

Man muß solche Dinge auf sich wirken lassen, dann erfährt man, was der Christus in der Menschenseele zu bedeuten hat, wie der Chri­stus der Menschenseele Träger und Stütze, der Menschenseele Tröster und Durchleuchter sein kann. Und man fühlt sich allmählich hinein in dasjenige, was man nennen kann die Beziehung des Christus zur menschlichen Seele.

DRITTER VORTRAG Norrköping, 15. Juli1914

#G155-1960-SE176 Christus und die menschliche Seele

#TI

DRITTER VORTRAG

15. Juli1914

#TX

Einer derjenigen Begriffe, die uns aufstoßen müssen, wenn die Rede ist von den Beziehungen des Christus zur menschlichen Seele, ist zweifellos der Begriff von Schuld und Sünde. Wir wissen ja, welch einschneidende Bedeutung die Begriffe von Schuld und Sünde haben etwa im Christentum des Paulus. Wir müssen allerdings sagen, unser gegenwärtiges Zeitalter ist wenig geneigt, ein wirklich tiefes inneres Verständnis zu haben für den weiteren Zusammenhang auch, der uns bei Paulus entgegentritt zwischen den Begriffen Schuld und Sünde und Tod und Unsterblichkeit. Aber das liegt im Materialismus unserer Zeit begründet. Wir brauchen uns nur an die Worte zu erinnern, die ich in der ersten Betrachtung, die ich hier anstellte, gesagt habe: daß ja eine Unsterblichkeit der Menschenseele ohne die Fortsetzung des Bewußtseins hinaus in die Zustände nach dem Tode keine wahre Un­sterblichkeit bedeuten würde. Eine Beendigung des Bewußtseins mit dem Tode würde gleichbedeutend sein mit der Tatsache, die man dann annehmen müßte: daß eben der Mensch eigentlich nicht unsterblich sei. Denn des Menschen Wesenheit unbewußt fortbestehend nach dem Tode würde bedeuten, daß das Allerwichtigste, das, was den Menschen zum Menschen macht, nach dem Tode nicht bestehen würde. Und eine unbewußte Menschenseele, die den Tod überdauern würde, würde ja sozusagen nicht viel mehr bedeuten als die Summe von Atomen, welche auch der Materialismus annimmt, die bleiben sollen, auch wenn der menschliche Leib zerstört wird.

Für Paulus stand eben noch felsenfest, daß man von Unsterblich­keit nur reden könne bei Aufrechterhaltung des individuellen Bewußt­seins. Und da er das individuelle Bewußtsein von Sünde und Schuld abhängig denken mußte, so konnte Paulus selbstverständlich denken:

Wenn des Menschen Bewußtsein umnebelt wird nach dem Tode von

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Sünde und Schuld oder von den Folgen von Sünde und Schuld, wenn also das Bewußtsein nach dem Tode gestört wird von Sünde und Schuld, so bedeutet das, daß Sünde und Schuld den Menschen wirklich töten, den Menschen als Seele töten, als Geist töten. Weit entfernt davon ist natürlich das materialistische Bewußtsein unserer Zeit, auch dasjenige vieler philosophischen Forscher der Gegenwart, die zufrie­den sind, von einem Fortleben der Menschenseele zu sprechen oder sprechen zu können, während menschliche Unsterblichkeit nur iden­tifiziert werden darf mit bewuj'tem Fortbestehen der Menschenseele nach dem Tode.

Nun entsteht ja gewiß, insbesondere für die anthroposophische Weltanschauung, leicht eine Schwierigkeit. Um auf diese Schwierig­keit zu kommen, braucht man nur aufmerksam zu machen auf das gegenseitige Verhältnis der Begriffe «Schuld und Sünde» und «Kar­ma». Das wird ja von manchen Anthroposophen so erledigt, daß sie einfach sagen: Wir glauben an Karma, das heißt: eine Schuld, die ein Mensch in irgendeiner Verkörperung begeht, die trägt er mit, mit seinem Karma, und trägt sie später ab; es wird also im Verlauf der Inkarnationen ein Ausgleich geschaffen. - Und nun beginnt hier die Schwierigkeit. Die Anthroposophen sagen dann leicht: Wie kann das vereinbar sein mit dem als christlich angenommenen Begriff zum Bei­spiel von der Sündenvergebung durch Christus? Und dennoch wieder­um, mit wahrem Christentum ist der Begriff der Sündenvergebung durchaus verbunden. Man braucht zum Beispiel nur an das eine zu denken: Christus am Kreuz, zwischen den beiden Verbrechern. Der Verbrecher links spottet über Christus: «Wenn du Gott sein willst, hilf dir und uns!» Der Verbrecher rechts sagt darauf: der andere solle nicht so sprechen, denn sie beide hätten eben ein Schicksal mit dem Kreuzestod verdient, das ihren Taten angemessen sei, der aber sei unschuldig und müsse das gleiche Schicksal erleben. Und es fügt hinzu der Verbrecher rechts: «Wenn du in deinem Reiche bist, dann gedenke meiner.» Und es antwortet ihm Christus: «Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.» Dieses Wort läßt sich gewiß aus den Evangelien nicht einfach wegleugnen, auch nicht wegdisputieren, sondern es ist ein wichtiges, ein bedeutungsvolles

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Wort. Der Anthroposoph hat nun die Schwierigkeit, die ihm aus der Frage entsteht: Wenn der Verbrecher rechts dasjenige, was er angestellt hat, mit seinem Karma abzuwaschen hat, was soll es dann heißen, daß Christus, gleichsam ihm verzeihend, ihm vergebend sagt: «Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein»? Der Anthroposoph kann sagen: Der Verbrecher rechts wird mit seinem Karma seine Schuld abzuwaschen haben wie der Verbrecher links.

Warum wird da durch Christus ein Unterschied gemacht zwischen dem Verbrecher rechts und dem Verbrecher links? Es ist ganz zweifel­los, daß hier für die anthroposophische Karma-Auffassung eine Schwierigkeit vorliegt. Diese Schwierigkeit ist auch nicht leicht zu lösen; sie löst sich aber, wenn man gerade mit geisteswissenschaftlicher Forschung tiefer in das Christentum hineinschürft, wenn man tiefer hineinzukommen versucht in das Christentum. Und ich will jetzt von einer ganz anderen Seite her die Sache angreifen, von einer Seite, deren Wesen Ihnen zwar schon bekannt ist, die uns aber doch nahe­bringen kann eigentümliche Verhältnisse, die da vorliegen.

Erinnern Sie sich nur einmal, meine lieben Freunde, wie wir oftmals sprechen von Luzifer und Ahriman, und erinnern Sie sich dabei, wie in meinen Mysteriendramen Luzifer und Ahriman dargestellt sind. In dem Augenblick, wo man beginnt, ich möchte sagen, menschlich­anthropomorphistisch die Sache anzusehen und einfach aus Luzifer so eine Art inneren und aus Ahriman eine Art äußeren Verbrecher macht, in diesem Augenblick wird man schwer zurechtkommen; denn ver­gessen wir nur nicht, daß gesagt werden muß, daß Luzifer neben dem Bringer des Übels und so weiter in die Welt, des inneren Übels, das durch die Leidenschaften entsteht, auch der Bringer der Freiheit ist, daß Luzifer eine wichtige Rolle spielt im Weltenganzen. Ebenso muß von Ahriman gesagt werden, daß er eine wichtige Rolle spielt im Weltenganzen. Wir haben es ja, als begonnen wurde zuerst mehr über Luzifer und Ahriman zu sprechen, erlebt, daß Anthroposophen in einer gewissen Weise unruhig geworden sind. Sie haben auf der einen Seite, ich möchte sagen, noch solch ein Nachgefühl von dem, was man immer aus Luzifer gemacht hat: daß das eigentlich ein schrecklicher Verbrecher in der Welt ist, vor dem man sich nur hüten müsse. In

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dieses Gefühl gegenüber Luzifer kann natürlich der Anthroposoph nicht so ohne weiteres einstimmen, weil er Luzifer eine wichtige Rolle zuerteilen muß im Weltenganzen. Und dennoch wiederum, man muß Luzifer hinstellen als einen Gegner der fortschreitenden Götter, als einen Geist also, der den Schöpfungsplan in einer gewissen Weise durchkreuzt, als einen Feind derjenigen Götter, die wir eigentlich ver­ehren müssen. Wir schreiben also im Grunde genommen, wenn wir so über Luzifer sprechen, einem Götterfeind eine wichtige Rolle zu im Weltenganzen. Und in ähnlicher Weise müssen wir es ja auch bei Ahriman machen.

Es ist begreiflich auf der einen Seite, daß nun das menschliche Ge­müt kommt und sagt: Ja, was soll ich nun eigentlich mit diesem Luzi­fer und mit Ahriman anfangen; soll ich sie nun hassen oder lieben? Ich weiß nicht recht, was ich mit ihnen anfangen soll! - Woher kommt das alles? Nun, wenn man von Luzifer und Ahriman spricht, dann muß doch deutlich werden aus der Art, wie man über sie spricht, daß man von ihnen spricht als von Wesen, die eigentlich in ihrer ganzen Eigentümlichkeit nicht dem physischen Plan angehören, die gewisser­maßen ihre Mission und Aufgabe in der Welt haben außerhalb des physischen Planes, in den geistigen Welten. Insbesondere das letzte­mal bei den Münchener Vorträgen habe ich stark hervorgehoben, daß das Wesen dieser Sache darinnen liegt, daß Luzifer und Ahriman ihre ihnen von den fortschreitenden Göttern zuerteilte Rolle in den gei­stigen Welten haben, und daß eine Diskrepanz, eine Disharmonie nur auftritt, wenn sie ihre Rolle hineintragen in den physischen Plan und sich Rechte anmaßen, die ihnen eigentlich nicht zugeteilt sind. Aber wir müssen uns zu einem bequemen, meine lieben Freunde, zu dem die menschliche Seele sich nicht gerne bequemt, wenn man über diese Dinge redet, nämlich dazu, daß unser Urteil, unser menschliches Ur­teil, wie wir es fällen, eigentlich wirklich nur für den physischen Plan gilt, und daß dieses Urteil, wie es für den physischen Plan richtig ist, nicht einfach übertragen werden kann auf die höheren Welten. Des­halb müssen wir uns ja langsam und allmählich in die Anthroposophie hineinfinden, um unser Urteil zu erweitern, um unsere ganze Begriffs-und Ideenwelt zu erweitern. Deshalb können die materialistisch denkenden

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Menschen der Gegenwart, trotzdem alles an der Anthroposo­phie zu begreifen ist, sie so schwer begreifen, weil sie ihr Urteil nicht erweitern wollen, sondern stehenbleiben wollen bei dem Urteil, das für den physischen Plan gilt.

Wenn wir sagen: Eine Macht tritt der anderen feindlich gegenüber, so ist es ganz richtig, wenn man auf dem physischen Plan stehen blei­ben will, zu sagen: Feindschaft ist etwas Ungehöriges, etwas, was nicht sein soll. Aber dasselbe gilt nicht für die höheren Plane. Da muß das Urteil sich erweitern. Damit die Welt in ihrer Gänze möglich ist, ist - ebenso wie zum Beispiel auf dem Gebiet der Elektrizität positive und negative Elektrizität notwendig ist - auch geistige Gegnerschaft notwendig. Notwendig ist es, daß sich die Geister gegenüberstehen. Hier wird wahr das Wort des Heraklit, daß nicht nur die Liebe, sondern auch der Streit das Weltall konstituiert. Nur wenn auf die Menschenseele Luzifer wirkt und durch die Menschenseele in die phy­sische Welt der Streit hineingetragen wird, dann ist dieser Streit un­recht. Aber es gilt nicht mehr dasselbe für die höheren Welten; da ist auch Gegnerschaft der Geister etwas, was zum ganzen Gefüge, zur ganzen Evolution der Welt dazugehört. Das heißt, wir müssen, sobald wir in die höhere Welt hinaufkommen, andere Maßstäbe anlegen, andere Färbungen des Urteils uns zu eigen machen. Daher ist es so schockierend, wie oftmals über Luzifer und Ahriman gesprochen wer­den muß, auf der einen Seite sie als Göttergegner hinstellend und auf der anderen Seite sie hinstellend wiederum so, daß sie im ganzen Gang der Weltenordnung notwendig sind.

Also es muß vor allen Dingen das ins Auge gefaßt werden, daß der Mensch mit der Weltenordnung in Kollision kommt, wenn er das Urteil, das für den physischen Plan gilt, für die höheren Welten gültig sein läßt.

Nun, das ist aber gerade der Grundnerv, der immer betont worden ist: daß der Christus als Christus nicht zu den anderen Wesen des physischen Planes gehört, daß von dem Augenblick an, als die Jo­hannestaufe im Jordan eintritt, ein Wesen, das vorher nicht auf der Erde war, ein Wesen, das nicht zu den irdischen Wesen gehört, in die Leiblichkeit des Jesus von Nazareth eingezogen ist. Wir haben es also

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zu tun in dem Christus mit einem Wesen, das mit Recht zu den Jün­gern sagen konnte: «Ich bin von oben, ihr aber seid von unten», das heißt: Ich bin aus dem himmlischen Reich, ihr aus dem irdischen Reich. Und nun nehmen wir dasjenige, was daraus folgt. Was daraus folgt, ist dieses: Was irdisches Urteil ist, was ganz berechtigt ist als irdisches Urteil, was jeder auf der Erde fällen muß als Urteil, sofern er ein Erdenwesen ist, muß das auch das Urteil jenes kosmischen Wesens sein, das in den Jesusleib als Christus eingezogen ist? Jenes Wesen, das bei der Taufe im Jordan in den Jesusleib eingezogen ist, das hat nicht ein irdisches, das hat ein himmlisches Urteil, das muß anders urteilen, als Menschen urteilen müssen.

Und nun nehmen wir das ganze Schwergewicht des Wortes, das da auf Golgatha gesprochen wird. Der Verbrecher links glaubt nicht daran, daß mit dem Christus nicht nur eine irdische Wesenheit da ist, sondern eine Wesenheit eines besonderen Reiches, das nicht das irdi­sche Reich ist. Dem Verbrecher rechts aber kommt unmittelbar vor dem Tode das Bewußtsein: Dein Reich, o Christus, ist ein anderes; gedenke meiner, wenn du in deinem Reiche bist. In diesem Augen­blick zeigt der Verbrecher rechts, daß er eine Ahnung davon hat, daß der Christus zu einem anderen Reiche gehört, wo ganz andere Urteilskraft herrscht als auf der Erde. Da kann der Christus ant­worten, aus dem Bewußtsein heraus, daß er in seinem Reich steht:

Wahrlich, dadurch daß du etwas ahnst von meinem Reiche, wirst du am heutigen Tage - nämlich mit dem Tode - mit mir in meinem Reiche sein. Da haben wir den Hinweis auf die überirdische Christus­Kraft, die hinaufzieht die menschliche Individualität in ein geistiges Reich. Irdisches Urteil, menschliches Urteil muß selbstverständlich sagen: In bezug auf das Karma wird der Verbrecher rechts seine Schuld abzutragen haben wie der Verbrecher links. - Aber für das himmlische Urteil gilt ein anderes. Das ist aber erst der Anfang der Sache, denn selbstverständlich können Sie nun sagen: Ja, dann steht einfach das himmlische Urteil mit dem irdischen Urteil in Wider­spruch. Wie kann der Christus verzeihen, wo das irdische Urteil eine karmische Gerechtigkeit fordert?

Ja, meine lieben Freunde, dies ist eine schwierige Frage, wir wollen

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sie aber doch in der Betrachtung des heutigen Abends einmal uns näherbringen. Aber ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, daß wir damit eine der allerschwierigsten Fragen der okkulten Wissen­schaft streifen. Wir müssen nämlich eine Unterscheidung machen, welche die menschliche Seele nicht gerne machen wird, weil sie nicht gern bis in die letzten Konsequenzen einer Betrachtung mitgeht aus dem Grunde, weil einige Schwierigkeiten vorliegen. Also ich mache darauf aufmerksam, daß wir eine schwierige Betrachtung haben wer­den, und daß Sie vielleicht notwendig haben werden, dasjenige, was gesagt wird, oftmals in der Seele herumzudrehen, um auf die Sache eigentlich zu kommen.

Wir müssen zunächst eine Unterscheidung machen. Wir müssen das eine betrachten, was sich in einer objektiven Gerechtigkeit im Karma vollzieht. Da müssen wir uns ganz klar darüber sein, daß der Mensch allerdings seinem Karma unterworfen ist, daß er dasjenige, was er als Unrecht getan hat, karmisch auszugleichen hat. Und bei tieferem Nachdenken wird der Mensch eigentlich nicht anders wollen, als daß es so sei. Denn nehmen Sie an, irgend jemand habe ein Unrecht getan. In dem Augenblick, wo er dieses Unrecht tun konnte, ist er unvollkommener, als wenn er es nicht getan hätte, und er kann den Grad von Vollkommenheit, den er hatte, bevor er das Unrecht tat, erst wiedererringen, wenn er das Unrecht ausgleicht. Er muß also wünschen, das Unrecht auszugleichen, denn nur indem man es aus-gleicht, indem man den Ausgleich erarbeitet, schafft man sich den Grad von Vollkommenheit, den man vorher hatte, bevor man die Tat vollbracht hat. So können wir um unserer eigenen Vervollkommnung willen gar nichts anderes wünschen, als daß das Karma als objektive Gerechtigkeit bestehe. Es kann also im Grunde genommen vor der Auffassung der menschlichen Freiheit gar nicht der Wunsch entstehen, es solle uns irgendwelche Sünde vergeben werden etwa in dem Sinne, daß wir zum Beispiel heute einem Menschen die Augen ausstechen und uns dann diese Sünde vergeben wird, wir dann diese Sünde in unserem Karma nicht mehr abzutragen brauchen. Ein Mensch, der einem anderen die Augen aussticht, ist unvollkommener als ein Mensch, der es nicht getan hat, und im weiteren Karma muß das eintreten,

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daß er eine entsprechende Guttat dafür tut; dann erst ist er wiederum in sich der Mensch, der er war, bevor er die Tat vollbracht hat. Also es kann im Grunde genommen gar nicht der Gedanke auf­kommen, wenn man wirklich über das Wesen des Menschen nach­denkt, daß, wenn man einem Menschen die Augen aussticht, einem das vergeben wird und daß dann das Karma etwa ausgeglichen wäre. So hat es mit dem Karma durchaus seine Richtigkeit, daß uns gewisser­maßen kein Heller nachgelassen wird, daß wir alles bezahlen müssen.

Aber es gibt ja noch etwas anderes gegenüber der Schuld. Die Schuld, die wir auf uns laden, die Sünde, die wir auf uns laden, die ist ja nicht bloß unsere Tatsache, das müssen wir jetzt unterscheiden, sondern sie ist eine objektive Weltentatsache, sie ist etwas auch für die Welt. Dasjenige, was wir verbrochen haben, das gleichen wir in unserm Karma aus; aber daß wir einem die Augen ausgestochen haben, das ist geschehen, das hat sich wirklich vollzogen, und wenn wir, sagen wir, in der jetzigen Inkarnation einem Menschen die Augen ausstechen und dann in der nächsten Inkarnation etwas tun, was dieses ausgleicht, so bleibt das doch für den objektiven Weltengang bestehen, daß wir vor soundsoviel Jahrhunderten einem die Augen ausgestochen haben. Das ist eine objektive Tatsache im Weltenganzen. Für uns gleichen wir sie später aus. Den Makel, den wir uns selbst zugefügt haben, gleichen wir im Karma aus, aber die objektive Weltentatsache, die bleibt bestehen, die können wir nicht auslöschen dadurch, daß wir von uns selbst die Unvollkommenheit nehmen.

Wir müssen unterscheiden die Folgen einer Sünde für uns selbst, und die Folgen einer Sünde für den objektiven Weltengang.

Das ist außerordentlich wichtig, daß wir diese Unterscheidung machen. Und nun darf ich vielleicht eine okkulte Betrachtung ein­fügen, welche die Sache etwas verständlicher machen kann.

Wenn man anblickt die Zeit der Menschheitsentwickelung seit dem Mysterium von Golgatha, und man kommt, ohne durchdrungen zu sein mit der Christus-Wesenheit, an die Akasha-Chronik heran, so wird man sehr leicht irre, sehr leicht wird man irre. Denn in dieser Akasha-Chronik zeigen sich Aufzeichnungen, die sehr häufig nicht stimmen mit dem, was man in der karmischen Evolution der einzelnen

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Menschen findet. Ich meine das Folgende: Nehmen wir an, im Jahre 733 meinetwillen habe irgendein Mensch gelebt und habe dazumal eine schwere Schuld auf sich geladen. Nun untersucht man die Akasha­Chronik, zunächst ohne daß man irgend etwas von einer Verbindung hat mit dem Christus. Und siehe da, man kann die betreffende Schuld nicht finden in der Akasha-Chronik. Geht man aber jetzt auf den Menschen ein, der weiter gelebt hat, und untersucht sein Karma, dann findet man: Ja, auf dieses Menschen Karma ist noch etwas, was er abzutragen hat; das müßte an einem bestimmten Zeitpunkt in der Akasha-Chronik darinnen stehen; es steht aber nicht darinnen.

Wenn man das Karma untersucht, sieht man: Ja, er hat es abzu­tragen, man müßte in jener Inkarnation die Schuld in der Akasha-­Chronik finden, sie steht aber nicht darinnen. Welch ein Widerspruch! Eine ganz objektive Tatsache, die in zahlreichen Fällen sich ergeben kann. Ich kann heute einem Menschen begegnen. Wenn es mir durch Gnade gegeben wird, etwas zu wissen über sein Karma, so kann ich vielleicht finden, daß irgendein Unglück oder ein Schicksalsschlag, der ihn trifft, auf seinem Karma steht, daß es der Ausgleich ist für eine frühere Schuld. Gehe ich der Sache nach in frühere Inkarnationen und prüfe, was er dazumal gemacht hat, so sehe ich in der Akasha­Chronik diese Tatsache nicht verzeichnet. Woher kommt denn das?

Das kommt davon her, daß der Christus tatsächlich auf sich ge­nommen hat die objektive Schuld. In dem Augenblick, wo ich mich mit dem Christus durchdringe, wo ich mit dem Christus die Akasha­Chronik durchforsche, finde ich die Tatsache! Christus hat sie in sein Reich genommen und trägt sie als Wesenheit weiter, so daß, wenn ich von Christus absehe, ich sie nicht finden kann in der Akasha­Chronik. Man muß sich diesen Unterschied merken: Es bleibt bestehen die karmische Gerechtigkeit, aber in bezug auf die Wirkungen einer Schuld in der geistigen Welt tritt der Christus ein, der diese Schuld in sein Reich hinübernimmt und weiterträgt.

Der Christus ist derjenige, der in der Lage ist, weil er einem anderen Reiche angehört, unsere Schulden und unsere Sünden in der Welt zu tilgen, sie auf sich zu nehmen.

Wie sagt dann also im Grunde genommen der Christus am Kreuze

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auf Golgatha zu dem Verbrecher links? Er spricht es ja nicht aus, aber daß er nicht spricht, darin liegt es; er sagt dem Verbrecher zu seiner Linken: Was du getan hast, es wird weiterwirken auch in der geistigen, nicht bloß in der physischen Welt. - Dem Verbrecher zu seiner Rechten aber sagt der Christus: «Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.» Das heißt: Ich bin bei deiner Tat; du wirst ja durch dein Karma später das für dich zu tun haben, was die Tat für dich bedeutet. Aber was die Tat für die Welt bedeutet - wenn es trivial ausgedrückt werden darf -, das ist meine Sache! sagt der Christus. -Es ist allerdings eine sehr wichtige Unterscheidung, die wir da machen, und die Sache hat nicht nur eine Bedeutung für die Zeit nach dem Mysterium von Golgatha, sondern auch für die Zeit vor dem Myste­rium von Golgatha.

Eine Anzahl unserer Freunde werden sich erinnern, daß ich darauf aufmerksam gemacht habe in früheren Vorträgen, wie das keine bloße Legende ist, daß der Christus wirklich nach dem Tode zu den Toten heruntergegangen ist. Dadurch hat er aber auch etwas getan für die Seelen, die Schuld und Sünde in vorhergehenden Zeiten auf sich ge­laden haben. Der Irrtum tritt nun auch ein, wenn man sich der Akasha-Chronik widmet und die Zeit der Erdenentwickelung vor dem Mysterium von Golgatha durchforscht, ohne von dem Christus durchdrungen zu sein. Man wird dann überall in der Akasha-Chronik auf Irrtümer stoßen. Mich hat es daher gar nicht gewundert, daß zum Beispiel Leadbeater, der von Christus gar nichts weiß in Wirklichkeit, zu den abstrusesten Behauptungen kam über die Erdenentwickelung in seinem Buche «Der Mensch, woher und wohin». Denn erst das Durchdrungensein mit dem Christus-Impuls macht die Seele fähig, die Dinge wirklich zu sehen, wie sie sind, die sich hingeordnet haben in der Erdenentwickelung - auch vor dem Mysterium von Golgatha -auf dieses Mysterium von Golgatha.

Karma ist eine Angelegenheit der aufeinanderfolgenden Inkarna­tionen des Menschen. Dasjenige, was die karmische Gerechtigkeit be­deutet, muß mit dem Urteil gesehen werden, das unser irdisches Urteil ist. Dasjenige, was der Christus tut für die Menschheit, das muß mit einem Urteil gemessen werden, das anderen Welten als der Erdenwelt

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angehört. Und wenn das nicht so wäre? Wenn das nicht so wäre? Gedenken wir des Erdenendes einmal, gedenken wir der Zeit, wann die Menschen ihre irdischen Inkarnationen werden durchgemacht haben. Gewiß wird das eintreten, daß alles bezahlt sein muß bis auf den letzten Heller. Die menschlichen Seelen werden ihr Karma in einer gewissen Weise ausgeglichen haben müssen. Aber stellen wir uns einmal vor, daß alle Schuld bestehen geblieben wäre in der Erde, daß alle Schuld wirken würde in der Erde. Dann würden am Ende der Erdenzeit die Menschen ankommen mit ihrem ausgeglichenen Karma, aber die Erde wäre nicht bereit, sich zum Jupiter hinüber­zuentwickeln und die ganze Erdenmenschheit wäre da ohne Wohn-platz, ohne die Möglichkeit, sich hinüberzuentwickeln zum Jupiter. Daß die ganze Erde sich mitentwickelt mit den Menschen, das ist die Folge der Tat des Christus. Alles dasjenige, was für die Erde sich anhäufen würde als Schuld, das würde die Erde in die Finsternis stoßen, und wir würden keinen Planeten haben zur Weiterentwicke­lung. Für uns selbst können wir im Karma sorgen, nicht aber für die ganze Menschheit und nicht für dasjenige, was in der Erdenevolution mit der ganzen Menschheitsevolution zusammenhängt.

So seien wir uns denn klar darüber, daß das Karma zwar nicht von uns genommen wird, wohl aber, daß getilgt werden unsere Schulden und Sünden für die Erdenentwickelung durch dasjenige, was einge­treten ist durch das Mysterium von Golgatha. Nun müssen wir uns ja natürlich klar sein, daß das alles selbstverständlich nicht dem Men­schen zufließen kann ohne sein Zutun, daß es ihm nicht zufließen kann ohne seine Mitwirkung. Und das wird uns ja sogar in der Rede am Kreuz von Golgatha, die ich angeführt habe, recht klär­lich vorgeführt. Es wird uns recht klärlich vorgeführt, wie der Ver­brecher zur Rechten in seine Seele aufnimmt eine Ahnung von einem überirdischen Reich, in dem es anders zugeht als in dem bloß irdi­schen Reich. Der Mensch muß sich erfüllen in seiner Seele mit dem Substanzgehalt der Christus-Wesenheit; er muß gleichsam von dem Christus in seine Seele etwas aufgenommen haben, so daß der Chri­stus in ihm wirksam ist und ihn hinaufträgt in ein Reich, in dem der Mensch zwar nicht die Macht hat, sein Karma unwirksam zu machen,

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aber in dem durch den Christus das geschieht, daß unsere Schuld und unsere Sünden getilgt werden für die Außenwelt.

Bildlich ist das im Grunde genommen wunderbar selbst in der Malerei dargestellt worden. Wem möchte nicht einen großen Eindruck machen der Christus als Richter des «Jüngsten Gerichtes» zum Bei­spiel auf einem solchen Bilde, wie das von Michelangelo in der Six­tinischen Kapelle ist? Was liegt denn eigentlich dem zugrunde? Nun, nehmen wir nicht die tiefe esoterische Tatsache, sondern das Bildliche, das sich da vor unsere Seele hinstellt. Da sehen wir die Gerechten und sehen die Sünder. Es gäbe eine Möglichkeit, dieses Bild noch anders darzustellen, als es Michelangelo tut als Christ, nämlich die Möglich­keit, daß die Menschen am Erdenende oder nach dem Erdenende sehen würden ihr Karma, daß sie sich sagen würden: Ja, mein Karma habe ich zwar ausgetilgt, aber da stehen überall im Geistigen geschrie­ben auf ehernen Tafeln meine Schulden, und die Schulden bedeuten Schwere für die Erde, sie müssen die Erde vernichten. Für mich habe ich es ausgeglichen, aber da steht es überall. - Es wäre aber keine Wahrheit; es könnte so dastehen, aber es wäre keine Wahrheit. Denn dadurch, daß der Christus auf Golgatha gestorben ist, wird der Mensch nicht sehen seine Schuldentafeln, sondern er wird den sehen, der sie übernommen hat; sehen wird er vereinigt in der Wesenheit des Christus alles dasjenige, was sonst ausgebreitet wäre in der Akasha-Chronik. Der Christus steht statt der Akasha-Chronik vor ihm, er hat das alles auf sich genommen.

Wir sehen da in tiefe Geheimnisse des Erdenwerdens hinein. Aber was ist notwendig, um den wahren Tatbestand zu durchschauen auf diesem Gebiet? Das ist notwendig, daß die Menschen die Möglichkeit haben, gleichgültig ob sie Sünder oder Gerechte sind, auf den Christus hinzuschauen, daß sie keine leere Stelle da sehen, wo der Christus stehen soll. Der Zusammenhang mit dem Christus ist notwendig. Und selbst dieser Verbrecher zur Rechten bezeugt uns in seiner Rede seinen Zusammenhang mit dem Christus. Und wenn der Christus denjenigen, die in seinem Geiste wirken, gewissermaßen den Auftrag gegeben hat, Sünden zu vergeben, so ist damit nie und nimmer gemeint, Karma zu beeinträchtigen, wohl aber ist damit gemeint, daß gerettet wird das

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Erdenreich für denjenigen, der mit dem Christus in Beziehung steht, vor den Folgen, den geistigen Folgen der Schuld und Sünde, die ob­jektive Tatsachen sind, auch wenn sie im späteren Karma ausgeglichen worden sind.

Was bedeutet es für die menschliche Seele, wenn im Auftrage Christi derjenige spricht, der sprechen darf: «Deine Sünden sind dir vergeben»? Das heißt, der Betreffende weiß zu bekräftigen: Du hast zwar deinen karmischen Ausgleich zu erwarten, aber deine Schuld und Sünde wandte der Christus um, so daß du später nicht das un­geheure Leid zu tragen hast, zurückzuschauen auf deine Schuld so, daß du damit ein Stück Erdendasein vernichtet hast. - Der Christus tilgt sie aus. Dazu aber ist ein gewisses Bewußtsein notwendig, welches gefordert wird, welches der, der die Sünden vergeben will, der Sünden­vergeber, fordern darf: Bewußtsein der Schuld und Bewußtsein dessen, daß der Christus die Schuld auf sich nehmen kann. Dann bedeutet eine kosmische Tatsache der Ausspruch: «Deine Sünden sind dir ver­geben», und nicht eine karmische Tatsache.

Der Christus zeigt an einer Stelle so wunderbar, daß es uns tief, tief ins Herz hineinschneidet, wie er zu dieser Frage steht. Denjenigen, die verdammend vor ihn mit der Ehebrecherin kommen - wir malen uns hin in der Seele diese Szene, wie sie vor ihn die Ehebrecherin bringen -, mit zweierlei tritt ihnen der Christus entgegen: mit dem einen, daß er in die Erde hineinschreibt. mit dem anderen, daß er vergibt, daß er überhaupt nicht urteilt, nicht verdammt. Warum schreibt er in die Erde hinein? Weil das Karina wirkt, weil das Karma die objektive Gerechtigkeit ist. Für die Ehebrecherin kann ihre Tat nicht ausgelöscht werden, Christus schreibt sie in die Erde hinein. Anders ist es aber mit der geistigen, mit der nicht-irdischen Folge; die nimmt der Christus auf sich. «Er vergibt» heißt nicht, daß er sie austilgt im absoluten Sinn, sondern daß er auf sich nimmt die Folgen desjenigen, was objektiv getan ist.

Nun denken wir eimal, was es für die Menschenseele bedeutet, wenn sie sich sagen kann: Ja, ich habe dieses oder jenes in der Welt getan. Es beeinträchtigt meine Fortentwickelung nicht, denn ich bleibe nicht so unvollkommen wie ich war, als ich die Tat begangen habe. Ich

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darf meine Vollkommenheit im weiteren Verlauf meines Karma wie­der erringen, indem ich die Tat ausgleiche. Aber ungeschehen kann ich sie ja nicht machen für die Erdenentwickelung. - Unsägliches Leid müßte man mittragen, wenn nicht ein Wesen mit der Erde sich verbunden hätte, welches das, was von uns nicht mehr abgeändert werden kann, für die Erde ungeschehen machte. Dieses Wesen ist der Christus. Nicht subjektives Karma, aber die geistigen objektiven Wir­kungen der Taten, der Schuld, die nimmt er uns ab. Das ist dasjenige, was wir, wie gesagt, in unserem Gemüt weiterverfolgen müssen. Dann werden wir es erst verstehen, daß der Christus im Grunde genommen diejenige Wesenheit ist, die mit der ganzen Menschheit im Zusammen­hang steht, mit der ganzen Erdenmenschheit; denn die Erde ist um der Menschheit willen da, also auch mit der ganzen Erde steht der Christus im Zusammenhang. Und das ist des Menschen Schwäche, die eingetreten ist infolge der luziferischen Verführung, daß der Mensch zwar imstande ist, sich subjektiv im Karma zu erlösen, daß er aber nicht imstande wäre, die Erde mitzuerlösen. Das vollbringt das kosmische Wesen, der Christus.

Und jetzt begreifen wir, warum manche Anthroposophen so gar nicht verstehen können, daß das Christentum mit der Karma-Idee völlig in Einklang steht. Das sind die Anthroposophen, die hinein-tragen in die Anthroposophie den vollsten Egoismus, einen höheren Egoismus; die es zwar nicht aussprechen, aber die im Grunde ge­nommen doch fühlen und denken: Wenn ich mich nur in meinem Karma selbst erlöse, was geht mich dann die ganze Welt an; die mag machen, was sie will! Und diese Anthroposophen sind zufrieden, wenn sie nur von dem karmischen Ausgleich sprechen können. Aber damit ist es nicht getan. Der Mensch wäre ein rein luziferisches Wesen, wenn er nur an sich denken würde. Der Mensch ist ein Glied der ganzen Welt, und der Mensch muß hingebungsvoll gegenüber der ganzen Welt denken. So muß er darüber denken, daß er zwar sich selbst für sich egoistisch erlösen kann durch das Karma, daß er aber nicht das ganze Erdensein miterlösen könnte. Da tritt der Christus ein. Und in dem Augenblick, wo wir uns entschließen, nicht nur an unser Ich zu denken, müssen wir an etwas anderes noch denken als

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an unser Ich. Aber an was müssen wir denken? An den Christus in mir, wie Paulus sagt. Dann sind wir eben mit ihm mit dem ganzen Erdensein verbunden, dann denken wir nicht an unsere Selbsterlö­sung, sondern wir sagen: Nicht ich und meine Selbsterlösung - nicht ich, sondern der Christus in mir und die Erdenerlösung!

Meine lieben Freunde! Man muß wahrhaftig eigentlich recht wenig christlichen Sinn haben, wenn man das Christentum so interpretiert, wie es viele machen, die da glauben, sich echte Christen nennen zu dürfen, und die andere, zum Beispiel anthroposophische Christen, verketzern. Man muß wenig christlichen Sinn haben. Es darf ja viel­leicht die Frage erlaubt sein: Ist es denn wirklich christlich, zu denken, daß ich alles tun darf und der Christus eigentlich nur in die Welt gekommen ist, um mir das alles abzunehmen, um mir meine Sünde zu vergeben, so daß ich mit meinem Karma, mit meiner Sünde nichts mehr zu tun habe? Ich glaube, es ist ein anderes Wort anwendbar auf eine solche Denkweise als das Wort «christlich»; vielleicht wäre das Wort «bequem» besser als das Wort «christlich». Bequem wäre es ja allerdings, wenn man bloß zu bereuen hätte, und ausgelöscht wäre dadurch für sein ganzes späteres Karma alles das, was man in der Welt verbrochen hat. Nein, aus dem Karma ist es nicht ausge­löscht, aber davon kann es ausgelöscht werden, wohin wir wegen der menschlichen Schwäche, durch die luziferischeVerführung, nicht selbst dringen können: von der Erdenentwickelung. Und das tut der Chri­stus. Dieses Leid wird uns genommen mit der Sündenerlösung: daß wir für ewige Zeiten der ganzen Erdenentwickelung eine objektive Schuld zugefügt haben. Dafür müssen wir natürlich ein ernstes Inter­esse haben. Dann aber, wenn wir die Sache so auffassen, dann wird sich wahrhaftig auch in vielen anderen Dingen ein kräftiger Ernst verbinden mit einer echten, wahren Christus-Auffassung. Ein tiefer Ernst wird sich mit ihr verbinden, und manches wird abfallen von mancher Christus-Auffassung, das demjenigen, der den ganzen Ernst der Christus-Auffassung in seine Seele nimmt, geradezu als eine Art Frivolität und Zynismus erscheinen könnte. Denn alles, alles, was heute gesprochen worden ist und was Punkt für Punkt gerade mit wichtigsten Stellen aus dem Neuen Testament belegt werden kann,

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das spricht uns ja dafür: Alles das, was uns der Christus ist, ist er uns dadurch, daß er nicht ein Wesen ist wie andere Menschen, sondern ein Wesen, das von oben, das heißt aus dem Kosmos bei der Johannes­taufe im Jordan in die menschliche Erdenentwickelung eingeflossen ist. Alles spricht für die kosmische Natur des Christus. Und wer im tiefen Sinne auffaßt, wie der Christus sich stellt zu Sünde und Schuld, der möchte so sagen: Es mußte, eben weil der Mensch im Laufe des Erdendaseins seine Schuld nicht tilgen konnte für die ganze Erde, ein kosmisches Wesen heruntersteigen, daß es doch möglich gemacht werde, daß die Erdenschuld getilgt werde.

Wahres Christentum kann gar nicht anders, als den Christus als ein kosmisches Wesen ansehen. Dann aber werden wir in unserer Seele tief, tief durchdrungen werden von dem, was eigentlich die Worte bedeuten: «Nicht ich, sondern der Christus in mir.» Denn dann strahlt von dieser Erkenntnis in unsere Seele etwas über, was ich nicht anders bezeichnen kann, als mit den Worten: Wenn ich mir erlaube zu sagen «Nicht ich, sondern der Christus in mir», so gestehe ich mir in diesem Augenblick, daß ich der Erdensphäre enthoben werde, daß in mir etwas lebt, was für den Kosmos Bedeutung hat, daß ich gewürdigt werde als Mensch, in meiner Seele etwas zu tragen, was außerirdisch ist, wie ich in meiner Anlage von Saturn, Sonne und Mond her ein außerirdisches Wesen in mir trage.

Und eine ungeheure Bedeutung wird übergehen in das Bewußtsein des Menschen, durchchristet zu sein. Und er wird verbinden mit die­sem Paulinischen Ausspruch «Nicht ich, sondern der Christus in mir» auch das Gefühl, daß er nun tiefsten, tiefsten Ernst machen muß gegenüber seiner innerlichen Verantwortlichkeit dem Christus gegen­über. Das aber wird die Anthroposophie in das Christus-Bewußtsein hineinbringen, daß dieses Verantwortlichkeitsgefühl auftritt, daß wir nicht bei jeder Gelegenheit uns herausnehmen zu sagen: Ja, ich habe das ja geglaubt, und weil ich es geglaubt habe, durfte ich es auch sagen. - Unser materialistisches Zeitalter geht immer weiter in diesem «Ich war davon überzeugt und deshalb durfte ich es sagen!» Aber ist es denn nicht eine Schändung des Christus in uns, eine neuerliche. Kreuzigung des Christus in uns, wenn wir so kurzfühlend sind, daß

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wir daraufhin, daß wir irgend etwas in irgendeinem Momente glauben, wir es hinausschreien in die Welt, oder hinausschreiben in die Welt, ohne es untersucht zu haben?

Das Gefühl wird entstehen in der Menschheit, wenn sie es ernst nimmt mit dem Christus, daß man sich dieses Christus, der in uns lebt, würdig erweisen soll dadurch, daß man es immer gewissenhafter und gewissenhafter nimmt mit diesem Christus, diesem kosmischen Prinzip in uns.

Ja, man kann es recht gerne glauben, daß diejenigen den Christus nicht als kosmisches Prinzip nehmen wollen, die bei jeder Gelegenheit ihr Vergehen bereuen wollen, erst hübsch lügen über die Mitmenschen, und dann austilgen möchten diese Lügen. Derjenige, der sich des Chri­stus in seiner Seele würdig erweisen will, der wird erst prüfen, ob er eine Sache sagen darf, auch wenn er augenblicklich von ihr über­zeugt ist.

Vieles wird sich ändern, wenn eine wahre Christus-Auffassung in die Welt kommt. Alle die unzähligen Leute, die heute schreiben - oder mit schmutziger Druckerschwärze Papier verunstalten -, indem sie flink hinschreiben das, was sie nicht wissen, die werden sich klar werden darüber, daß sie damit den Christus in der menschlichen Seele schänden. Und aufhören wird die Entschuldigung: Ja, ich habe es so geglaubt, ich habe es im guten Glauben gesagt. Der Christus will nicht bloß den «guten Glauben», der Christus will die Menschen in die Wahrheit leiten. Selbst hat er gesagt: «Die Wahrheit wird euch frei machen!» Wo aber hätte der Christus einmal gesagt, daß es möglich ist, wenn man in seinem Sinne denkt, dies oder jenes, ohne daß man etwas weiß, in die Welt hinauszuschreien und hinauszu­schreiben?

Vieles wird anders werden! Gewiß wird ein großer Teil unseres heutigen Schrifttums nicht weiter existieren können, wenn die Men­schen von dem Grundsatze ausgehen, sich würdig zu erweisen des Wortes «Nicht ich, sondern der Christus in mir.» Aber der Krebs-schaden unserer Niedergangskultur wird ausgelöscht sein, wenn auf­hören werden die Stimmen zu sprechen, die leichthin, ohne reale Über­zeugung alles in die Welt hinausschreien, weißes Papier verunzieren

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mit Druckerschwärze, indem sie etwas hinausschreiben, ohne daß sie sich davon überzeugt haben, ob es der Wahrheit entspricht.

Haben wir ja gerade auf diesem Gebiet auch vieles in der theo­sophischen Bewegung und in bezug auf die theosophische Bewegung erleben müssen. Und wie leicht ist man bei der Hand mit der Ent­schuldigung: «Ja, der oder die Betreffende waren eben in dem ent­sprechenden Augenblick davon überzeugt!»

Als was erweist sich oftmals eine solche «Überzeugung», meine lieben Freunde? Als der größte Leichtsinn, als die purste Frivolität! Wahrhaftig nicht aus einem persönlichen Grunde, sondern aus dem Ernst der Lage darf vielleicht auch darauf aufmerksam gemacht wer­den, daß es keine Entschuldigung gibt, wenn an wichtiger Stelle vor der Theosophischen Gesellschaft von der Präsidentin dieser Gesell­schaft die frivole Unwahrheit hingestellt wird von dem Jesuiten-märchen. Gewiß, es kann längst abgetan sein, aber zur Charakteristik der Tatsache darf wohl noch einmal darauf hingewiesen werden. Nachträglich haben die Leute gesagt: Die Präsidentin habe es ja zu­rückgenommen nach wenig Wochen! Um so schlimmer, wenn man an verantwortungsvoller Stelle etwas hinausposaunt, was man in wenigen Wochen zurücknehmen muß, denn da beginnt die Weltbe­urteilung und nicht die persönliche Beurteilung.

Und fügen wir auch eine solche Erkenntnis hinzu zu jener Unter­scheidung, die wir treffen müssen zwischen dem subjektiven, im Ego des Menschen sich abspielenden Karma und dem, was wir als ein Ob­jektives bezeichnen können. Da soll kein Wort verloren werden, es muß jeder Mensch den Schaden, den er mit sich angerichtet hat, auch wieder ausgleichen. Da haben wir nicht hineinzureden, da nehmen wir den Tatbestand, wie Christus ihn nahm bei der Ehebrecherin:

er schrieb die Sünde in die Erde. Darauf aber muß aufmerksam ge­macht werden, daß der Egoismus überwunden werden muß auf dem Gebiet der geisteswissenschaftlichen Bewegung. Da muß man sich klar sein, daß nicht nur subjektive Beurteilung, sondern eine objektive Beurteilung gegenüber der Welt notwendig ist.

Dasjenige, was man in einem gewissen Sinne christliches Gewissen nennen kann, das wird, wenn der Christus immer mehr und mehr

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einzieht in die Seelen, auch einziehen; das wird einziehen, wenn die Seelen sich der Anwesenheit des Christus bewußt werden, wenn das Paulus-Wort wahr wird: «Nicht ich, sondern der Christus in mir.»

Immer mehr und mehr wird in die Seelen hineinziehen das Bewußt­sein, daß man nicht nur sagen soll, was man glaubt, sondern, daß man zu prüfen hat an den objektiven Tatsachen das, was man sagt.

Der Christus wird der Seele sein ein Lehrer der Wahrheit, ein Lehrer der höheren Verantwortlichkeit. Damit wird er die Seelen durch­dringen, wenn die Seelen immer mehr und mehr das ganze Schwer­gewicht des Wortes: «Nicht ich, sondern der Christus in mir», spüren werden.

VIERTER VORTRAG Norrköping, 16. Juli 1914

#G155-1960-SE195 Christus und die menschliche Seele

#TI

VIERTER VORTRAG

16. Juli 1914

#TX

Die Menschheit braucht fortwährend Wahrheiten, die nicht zu jeder Zeit vollständig verstanden werden können. Wahrheiten in sich auf­nehmen, bedeutet nämlich nicht nur etwas für die Erkenntnis, sondern Wahrheiten als solche enthalten Lebenskraft. Und indem wir uns mit der Wahrheit durchdringen, durchdringen wir uns in unserem See­lischen mit einem Elemente der Welt, wie wir uns durchdringen müs­sen in unserem Leiblichen fortwährend mit der von außen aufgenom­menen Luft, damit wir leben können. Das ist der Grund, warum in den religiösen Urkunden tiefe Wahrheiten ausgesprochen werden, aber in solcher Form, daß die Menschen sie oftmals ihrer eigentlich inneren Bedeutung nach erst viel, viel später erkennen können, als sie geoffenbart werden.

Sehen Sie, das Neue Testament ist geschrieben worden, das Neue Testament liegt als eine Urkunde für die Menschheit, man möchte sagen, ausgebreitet da; aber die ganze Erdenentwickelung, die noch kommen soll, wird notwendig sein, um dieses Neue Testament voll­ständig zu verstehen. Man wird in der Zukunft noch über die äußere Welt vieles erfahren, man wird vieles erfahren auch über die geistige Welt, und alles wird dazu beitragen können, wenn man es im richtigen Lichte sehen wird, das Neue Testament zu verstehen. Das Verständnis kommt nach und nach, aber das Neue Testament ist geschrieben in einer einfachen Form, so daß es aufgeommen werden kann und später nach und nach verstanden werden kann. Denn es ist nicht bedeutungs­los, wenn wir uns durchdringen mit der Wahrheit, die eben im Neuen Testament liegt, auch wenn wir diese Wahrheit noch nicht in ihrem tiefsten Innern verstehen. Später wird die Wahrheit Erkenntniskraft, vorher ist sie aber schon Lebenskraft, indem sie aufgenommen wird, man möchte sagen, in einer mehr oder weniger kindlichen Form. Und

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gerade die Fragen, die wir gestern angefangen haben zu betrachten, sie erfordern, wenn sie so verstanden werden sollen, wie sie im Neuen Testament mitgeteilt sind, eine immer tiefer und tiefer gehende Er­kenntnis, ein Hineinblicken in die geistige Welt und ihre Geheimnisse.

Wenn wir die gestern begonnenen Betrachtungen fortsetzen wollen, dann müssen wir heute schon ein wenig in einzelne okkulte Geheim­nisse hineinblicken, denn die werden uns ein Führer sein können, die Frage, das Rätsel von Sünde und Schuld, noch weiter zu verstehen, um so gerade von diesem Gesichtspunkte aus einiges Licht zu werfen auf das Verhältnis des Christus zur menschlichen Seele.

Vor allen Dingen ist uns ja öfter schon ein Gesichtspunkt aufge­stoßen im Verlauf unserer geisteswissenschaftlichen Arbeit, ein Ge­sichtspunkt, den wir in eine Frage kleiden können - er ist auch schon öfter von uns in diese Frage gekleidet worden: Warum ist Christus gestorben in einem menschlichen Leibe? Diese Frage, die im Grunde genommen die Frage des Mysteriums von Golgatha ausdrückt: War­um ist der Christus gestorben, warum ist der Gott gestorben in einem menschlichen Leibe?

Der Gott ist gestorben, weil durch die Weltenentwickelung die Notwendigkeit vorlag, daß der Gott in den Erdenmenschen einziehen könne, daß ein Gott der oberen Welten der Führer der Erdenent­wickelung werden konnte. Dazu mußte der Christus todverwandt werden. Todverwandt, meine lieben Freunde! Man möchte, daß dieses Wort recht tief, tief von Menschenseelen verstanden werde.

Der Tod tritt ja dem Menschen in der Regel nur entgegen, wenn der Mensch den Menschen selber sterben sieht oder auch noch bei an­deren Erscheinungen, die man ähnlich dem Tode in der Welt findet, oder in der Gewißheit, daß man selbst zu gehen hat durch die Pforte des Todes, wenn die gegenwärtige Inkarnation abgelaufen sein wird. Aber dieses ist im Grunde genommen nur der äußere Aspekt des Todes. Der Tod ist noch ganz anders in der Welt vorhanden, in der wir leben, und auf das muß aufmerksam gemacht werden. Gehen wir von einer ganz gewöhnlichen alltäglichen Erscheinung aus. Wir atmen die Luft ein und atmen sie wieder aus. Aber die Luft macht eine Ver­änderung in uns durch. Wenn sie ausgeatmet ist, diese Luft, dann

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ist sie Todesluft; als ausgeatmete Luft kann sie nicht weiter geatmet werden, die ausgeatmete Luft ist tötend. Ich will das nur andeuten, damit Sie verstehen, was durch den okkulten Satz ausgesprochen wird: «Indem die Luft in den Menschen einzieht, stirbt sie.» Wahrhaftig, dasjenige, was in der Luft lebendig ist, das stirbt, indem es in den Menschen einzieht. Der Tod zieht mit jedem Atemzuge für die Luft ein, indem der Mensch die Luft atmet. Aber das ist nur eine Erscheinung. Der Lichtstrahl, der in unser Auge dringt, muß ebenso sterben, und wir würden nichts in der Welt von Lichtstrahlen haben, wenn unser Auge sich nicht, wie unsere Lunge der Luft, dem Lichtstrahl entgegen-stellte. Und jedes Licht, das in unser Auge dringt, stirbt in unserem Auge, und vom Tode des Lichtes in unserem Auge haben wir es, daß wir sehen können. So stirbt dasjenige, was im Lichte lebendig ist, in­dem es in unser Auge eindringt. In unserem Auge wird der Lichtstrahl getötet. Wir morden ihn, damit wir die Wahrnehmungen des Auges haben. Wir sind so angefüllt mit demjenigen, was in uns ersterben muß, damit wir unser menschliches Erdenbewußtsein haben. Körper­lich töten wir die Luft, wir töten auch den Lichtstrahl, der in uns eindringt, und so töten wir in vielfacher Beziehung.

Wir unterscheiden, wenn wir die Geisteswissenschaft zu Hilfe rufen, den Erdenstoff, den Wasserstoff, den Luftstoff, den Wärme-stoff. Wir treten dann in die Welt des Lichtäthers, wir sprechen von Wärmeäther, von Lichtäther. Bis zum Lichtäther hinauf töten wir dasjenige, was in uns dringt, wir morden es fortwährend, damit wir unser Erdenbewußtsein haben. Etwas aber können wir nicht töten durch unser Erdendasein. Wir wissen, daß es über dem Lichtäther gibt den sogenannten Chemischen Ather und dann den Lebensäther. Das sind die beiden Atherarten, die wir nicht töten können. Aber dafür haben diese beiden Atherarten auch keinen besonderen Anteil an uns. Würden wir in der Lage sein, auch den chemischen Ather zu töten, dann würden fortwährend in unseren physischen Leib die Wel­len der Sphärenharmonie hereintönen, und wir würden diese Wellen der Sphärenharmonie mit unserem physischen Leben fortwährend in uns ertöten. Und könnten wir auch den Lebensäther töten, so würden wir das kosmische Leben, das der Erde zuströmt, fortwährend in uns

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selber ertöten. Uns ist im irdischen Ton ein Surrogat gegeben, aber das ist nicht zu vergleichen mit demjenigen, was wir hören würden, wenn uns überhaupt als physischer Mensch der chemische Äther hör­bar wäre. Denn der physische Ton ist ein Produkt der Luft, und er ist nicht der geistige Ton; er ist nur ein Surrogat des geistigen Tones.

Als die luziferische Versuchung kam, da waren die fortschreitenden Götter genotigt, den Menschen in eine Sphäre zu versetzen, wo vom Lichtäther nach abwärts in seinem physischen Leibe der Tod lebt. Aber dazumal sagten diese fortschreitenden Götter - und das Wort ist wohl in der Bibel verzeichnet -: Die Unterscheidung von Gut und Böse hat sich der Mensch angeeignet, aber das Leben, das soll er nicht haben. Vom Baume des Lebens soll er nicht essen. Und ein anderes Wort kann im Sinne des Okkultismus dazugefügt werden; die Fort­setzung dieses Wortes «Vom Baume des Lebens soll der Mensch nicht essen» würde heißen: Und vom Geiste des Stoffes soll er nicht hören. Vom Baume des Lebens soll der Mensch nicht essen, und vom Geiste des Stoffes soll der Mensch nicht hören! Diese Regionen sind die­jenigen, die dem Menschen verschlossen wurden. Nur durch eine gewisse Prozedur in den alten Mysterien wurden den Einzuweihenden, als sie vorausnehmend den Christus sehen durften außer dem Leibe, auch die Töne der Sphärenmusik erschlossen und das durch die Welt pulsende kosmische Leben. Daher sprechen die alten Philosophen von der Sphärenmusik.

Indem wir auf dieses aufmerksam machen, weisen wir zu gleicher Zeit hin auf diejenigen Regionen, aus denen der Christus zu uns ge­kommen ist bei der Johannestaufe im Jordan. Woher kam der Chri­stus? Aus denjenigen Regionen kam er, die dem Menschen verschlossen worden sind durch die Versuchung des Luzifer, aus der Region der Sphärenmusik, aus der Region des kosmischen Lebens. Diese Regionen hat der Mensch vergessen müssen am Erdenurbeginn durch die luzi­ferische Versuchung. Der Christus aber zog bei der Johannestaufe im Jordan in einen Menschenleib ein, und dasjenige, was diesen Men­schenleib durchsetzte, das war das Geistige der Sphärenmusik, das war das Geistige des kosmischen Lebens, das war dasjenige, was zur Menschenseele noch gehörte während ihrer ersten Erdenzeit. woraus

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aber die Menschenseele verbannt werden mußte durch die luziferische Versuchung. So ist der Mensch auch in diesem Sinne geistverwandt. Er gehört eigentlich an mit seiner Seele der Region der Sphärenmusik und der Region des Wortes, des lebendigen kosmischen Äthers. Aber er wurde daraus vertrieben. Und wiedergegeben sollte es ihm werden, so daß er sich nach und nach mit dem, woraus er verbannt worden war, wiederum durchdringen könne. Deshalb berühren uns auch vom Standpunkt der Geisteswissenschaft so tief die Worte des Johannes­Evangeliums: Im Urbeginne, als der Mensch der Versuchung noch nicht unterlegen war, da war der Logos. Der Mensch gehörte dem Logos an. Der Logos war bei Gott, und der Mensch war mit dem Logos bei Gott. Und durch die Johannestaufe im Jordan trat der Logos in die menschliche Entwickelung ein, er wurde Mensch.

Hier haben wir den Zusammenhang, den bedeutungsvollen Zusam­menhang. Lassen wir einmal diese Wahrheit dastehen und versuchen wir uns der Frage noch von einer anderen Seite her zu nähern.

Das ganze Leben zeigt sich uns ja nur von der Außenseite, meine lieben Freunde. Wenn es sich nicht bloß von der Außenseite zeigen würde, so würde der Mensch fortwährend wissen, wie er den Leich­nam des Lichtes in sein Auge einsaugt, indem er sieht.

Was mußte denn der Christus übernehmen, damit möglich wurde die Erfüllung des Paulinischen Ausspruches «Nicht ich, sondern der Christus in mir»? Es mußte ja möglich sein, daß der Christus die Menschennatur durchdringe; aber die Menschennatur ist erfüllt mit dem, was durch die Menschennatur im Erdendasein ertötet wird, vom Lichtäther abwärts, der im Auge erstirbt. Mit Tod angefüllt ist die Menschennatur, nur entzogen wurde ihr dasjenige, was in den beiden höchsten Ätherarten liegt, damit nicht auch deren Tod die menschliche Natur anfüllen könne. Damit aber der Christus in uns wohnen konnte, mußte er todverwandt werden, verwandt dem Tode, verwandt alle­dem, was in der Welt ausgebreitet ist, vom Licht anfangend bis hin­unter in die Tiefen der Stofflichkeit. Der Christus mußte einziehen können in dasjenige, was wir als den Leichnam des Lichtes, den Leich­nam der Wärme, den Leichnam der Luft und so weiter in uns tragen. Nur dadurch hat er menschenverwandt werden können, daß er todverwandt

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geworden ist. Und wir müssen in unserer Seele fühlen, daß der Gott sterben mußte, damit er uns, die wir uns den Tod erobert haben durch die luziferische Versuchung, erfüllen konnte, und wir sagen können: Der Christus in uns.

Aber noch manches andere verbirgt sich hinter dem sinnlichen Da­sein für den Menschen. Der Mensch richtet seinen Blick auf die Pflan­zenwelt; er sieht, wie das Licht der Sonne die Pflanzen hervorzaubert aus den Erdengründen. Die Wissenschaft lehrt uns, daß das Licht zum Wachstum der Pflanzen notwendig ist. Ja, meine lieben Freunde, das ist aber nur die eine Hälfte der Wahrheit. Derjenige, der mit hell­sichtigem Blick die Pflanzen ansieht, der sieht aus den Pflanzen auf­steigen lebendige Geistes-Elemente. Das Licht taucht nämlich in die Pflanzen unter und steigt wiederum auf als lebendiges Geistes-Ele­ment. Das Licht steigt in die Pflanzen hinein, um sich in ihnen zu verwandeln, um in ihnen wiedergeboren zu werden als lebendiges Geistes-Element. In die Tiere steigt der chemische Äther hinein, den der Mensch nicht wahrnehmen kann; er würde geistig tönen, wenn der Mensch ihn wahrnehmen könnte. Und die Tiere verwandeln die­sen Äther in Wassergeister. Die Pflanzen verwandeln das Licht in Luftgeister, die Tiere verwandeln den Geist, der im chemischen Äther wirkt, in Wassergeister. Der Mensch aber verwandelt das, was im kosmischen Äther, im Lebensäther, liegt, das, was macht, daß er über­haupt leben kann, und von dem verhindert worden ist, daß er es töten könne in sich, das verwandelt er in Erdgeister. Ja, in Erdgeister verwandelt er es.

Ich habe einmal bei einem Zyklus in Karlsruhe von dem mensch­lichen Phantom gesprochen. Es ist hier nicht die Zeit, die Verbin­dungslinien zu ziehen zwischen dem, was hier zu sagen ist und dem, was dort über das menschliche Phantom gesagt worden ist, aber es gibt eine solche Verbindungslinie. Sie werden sie vielleicht selbst fin­den, wenn Sie betrachten das heute Gesagte mit dem dort Gesagten. Heute muß ich die Sache von einer anderen Seite darstellen.

Fortwährend erzeugt sich im Menschen auch etwas Geistiges. Das­jenige, was als Leben im Menschen lebt, das geht gleichsam fortwäh­rend in die Welt hinaus. Der Mensch verbreitet eine Aura um sich,

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eine Strahlungs-Aura, wodurch er das erdgeistige Element der Erde fortwährend bereichert. In diesem Erdgeist-Element der Erde, da ist aber enthalten, indem es der Mensch hinüberschickt in die Erde, all dasjenige, was der Mensch an moralischen und an sonstigen erwor­benen, im Leben erworbenen menschlichen Qualitäten in sich trägt. Wahr ist es, durchaus wahr: Für den hellsichtigen Blick zeigt es sich, wie der Mensch fortwährend in die Welt hinausschickt seine mora­lische und intellektuelle und ästhetische Aura, und wie diese Aura als Erdengeist in der Erdengeistigkeit weiterlebt. Wir ziehen nach uns durch das ganze Erdenleben, wie der Komet seinen Schweif durch das Weltall nach sich zieht, dasjenige, was wir gleichsam an Geistes-Aura ausdünsten, was sich während unseres Lebens zusammenfügt, phan­tomhaft, aber zugleich unser moralisches und intellektuelles Seelengut in die Welt hinausstrahlt.

Das Leben ist kompliziert, und auch dieses ist eine Erscheinung des Lebens.

Wenn wir zurückgehen in der okkulten Betrachtung vor das My­sterium von Golgatha, da finden wir, daß die Menschen dazumal dieses phantomartige Wesen, das ihre moralischen Qualitäten enthielt, einfach hinausgeschickt haben in die äußere Welt, in die äußere gei­stige Aura der Erde. Aber die Menschheit entwickelte sich im Laufe des Erde ndaseins, und es war zu einem gewissen Stadium dieser Ent­wickelung gerade in bezug auf dieses phantomartige Wesen, das der Mensch ausstrahlt, in den Zeiten gekommen, in denen das Mysterium von Golgatha in der Erdenentwickelung geschah. Man möchte sagen:

Früher war das phantomartige Wesen, das der Mensch ausstrahlte, viel flüchtiger. Es wurde dichter, gestaltenartiger in der Zeit, in der das Mysterium von Golgatha über die Erde kam. Und der Mensch mischte als einen Grundcharakter diesem phantomartigen Wesen das­jenige bei, was er an Tod in sich aufnimmt, indem er den Lichtstrahl, der in das Auge eindringt, tötet und so weiter, wie ich es auseinander­gesetzt habe. Gewissermaßen ein totgeborenes Geisteskind sind diese erdgeistartigen Wesen, die der Mensch von sich ausstrahlt, weil der Mensch ihnen seinen Tod mitgibt.

Und stellen wir uns vor, der Christus wäre nicht auf die Erde gekommen,

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dann würden die Menschen während des Aufenthaltes ihrer Seelen im Erdenleibe fortwährend solche Wesen ausstrahlen, denen der Tod eingeprägt ist. Und mit diesem Tode verbunden wären die moralischen Qualitäten der Menschen, von denen wir gestern ge­sprochen haben: objektive Schuld und objektive Sünde, die wären da drinnen, da drinnen lägen sie. Nehmen wir an, der Christus wäre nicht gekommen, was wäre geschehen in der Erdenentwickelung? Von der Zeit an, in die also sonst das Mysterium von Golgatha fällt, hätten die Menschen dichte Gestalten geistig geschaffen, denen sie den Tod eingegeben hätten. Und diese dichten Gestalten, sie wären dasjenige geworden, was mit der Erde nach dem Jupiter hätte hinüberziehen müssen. Der Mensch hätte der Erde den Tod erteilt. Eine tote Erde hätte einen toten Jupiter geboren!

Denn so hätte es kommen müssen, weil dem Menschen, wenn das Mysterium von Golgatha nicht gekommen wäre, die Möglichkeit ge­fehlt hätte, das, was so ausstrahlt von ihm, zu durchdringen mit dem, was in der Sphärenmusik liegt und mit dem, was im kosmischen Leben liegt. Diese wären nicht dagewesen, wären nicht eingeströmt in das, was der Mensch von sich ausstrahlt; sie aber hat der Christus gebracht mit dem Mysterium von Golgatha. Und indem sich, wenn wir den Christus aufnehmen in uns, erfüllt das «Nicht ich, sondern der Chri­stus in mir», belebt sich, indem wir zu dem Christus Beziehungen in uns entwickeln, dasjenige, was so von uns ausstrahlt, was sonst tot wäre. Weil wir den Tod in uns tragen, muß uns der lebendige Christus durchdringen, damit er das, was wir als geistiges Erdenwesen zurück­lassen, belebe. In das, was sich von uns loslöst als objektive Sünde, als objektive Schuld, was wir nicht im Karma weitertragen, in das dringt der lebendige Logos, der Christus ein und belebt es, und indem er es belebt, wird eine lebendige Erde zu einem lebendigen Jupiter hinüber sich entwickeln. Das ist die Folge des Mysteriums von Golgatha.

Unsere Seele aber kann, wenn sie solches bedenkt, den Christus empfangen in der folgenden Weise. Sie kann sich sagen, diese Seele: Ja, da gab es einmal eine Zeit, in welcher der Mensch im Schoße des göttlichen Logos war. Aber der Mensch mußte der luziferischen Ver­suchung unterliegen. Er nahm den Tod in sich auf. Er nahm damit

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den Keim dazu auf, daß eine tote Erde einen toten Jupiter zur Ge­burt gebracht hätte. Zurückgeblieben ist dasjenige, was die Menschen-seele vor der Versuchung für ihr Erdendasein hätte mit empfangen sollen. Mit dem Christus ist es wieder eingezogen in das menschliche Erdendasein.

Und wenn der Mensch nun aufnimmt den Christus in sich, so daß er sich durchdrungen fühlt mit diesem Christus, dann kann er sich sagen: Dasjenige, was die Götter mir zugeteilt haben vor der luzi­ferischen Versuchung, das aber dadurch, daß die luziferische Ver­suchung eintrat, hat zurückbleiben müssen im kosmischen All, das zieht mit dem Christus in meine Seele ein. Die Seele wird erst dadurch wieder vollständig, daß sie den Christus in sich aufnimmt. Da bin ich erst ganz Seele, da bin ich erst wiederum, wozu ich durch den göttlichen Ratschluß vom Urbeginn der Erde an bestimmt war. -Bin ich denn wahrhaft eine Seele ohne den Christus? frägt man sich. Man fühlt, man wird erst durch den Christus die Seele, die man hätte werden sollen nach dem Ratschluß der führenden Götter. Das ist das wunderbare Heimatgefühl, das die Seelen haben können mit diesem Christus. Denn aus der uralten kosmischen Heimat der Seele ist der kosmische Christus herabgekommen, um der Menschenseele dasjenige wieder zu geben, was sie auf der Erde durch die luziferische Ver­suchung verlieren mußte. Hinauf führt der Christus die Seele wieder zu ihrer uralten Heimat, die ihr von den Göttern zugeteilt worden ist.

Das ist das Beglückende, das Beseligende des wirklichen Erlebens des Christus in der Menschenseele. Das war es, was zum Beispiel so beglückend auf gewisse christliche Mystiker des Mittelalters gewirkt hat. Mögen sie auch manches geschrieben haben, das an und für sich in ihren Vorstellungen zu sinnlich war, aber es lag da Geistiges zu­grunde. Solche christlichen Mystiker, die sich anschlossen zum Bei­spiel an Bernhard de Clairvaux und andere, sie empfanden die mensch­liche Seele wie eine Braut, die ihren Bräutigam verloren hat beim Erdenurbeginn; und wenn der Christus einzog in ihre Seelen, sie durch-lebend, durchseelend, durchgeistigend, dann empfanden sie den Chri­stus als den Seelenbräutigam, der sich mit der Seele verband und den sie einstmals verloren hatten, in der uralten Heimat der Seele, die sie

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verlassen hat, um durch Luzifer den Weg der Freiheit zu gehen, den Weg der Unterscheidung des Guten und des Bösen zu gehen.

Wenn sich die Menschenseele wirklich einlebt in den Christus, wenn sie den Christus als das lebendige Wesen empfindet, das aus­geflossen ist vom Tod auf Golgatha in die geistige Erdenatmosphäre und das einfließen kann in die Seele, dann fühlt sie sich in der Tat durch diesen Christus innerlich belebt. Sie fühlt einen Übergang von einem Tode zum Leben!

Nicht können wir - weil wir ja bis in unsere fernere Erdenzeit irdi­sches Leben absolvieren mussen in Menschenleibern - die Sphären-musik unmittelbar hören, nicht können wir das kosmische Leben un­mittelbar in uns erleben, aber wir können erleben dasjenige, was von dem Christus ausfließt, und haben stellvertretend damit dasjenige, was uns sonst aus der Sphärenmusik und dem kosmischen Leben zu­kommen würde.

Der alte Pythagoras hat von der Sphärenmusik gesprochen. Warum hat er davon gesprochen, meine lieben Freunde? Nun, er war ein Ein­geweihter der alten Mysterien. Er hat durchgemacht jenen Prozeß, durch den die Seele herausging aus dem Leibe. Wenn die Seele heraus war aus dem Leibe, da konnte er entrückt werden in die geistigen Welten; da sah er den Christus, der erst später in die Erde kommen sollte. So kann der Mensch nach dem Mysterium von Golgatha nicht von der Sphärenmusik sprechen wie Pythagoras gesprochen hat, aber er kann, auch wenn er nicht außerhalb des Leibes lebt mit seiner Seele, in anderer Weise sprechen von der Sphärenmusik. Als Eingeweihter könnte er auch heute sprechen wie Pythagoras; aber der gewöhnliche Erdenmensch in seinem physischen Leibe kann von Sphärenmusik und vom kosmischen Leben nur sprechen, wenn er in seiner Seele erlebt das «Nicht ich, sondern der Christus in mir», denn das ist, was in der Sphärenmusik gelebt hat, das ist, was im kosmischen Leben gelebt hat. Aber wir müssen wirklich auch den Prozeß durchmachen in uns, wir müssen wirklich den Christus in unsere Seele aufnehmen.

Nehmen wir an, der Mensch würde sich sträuben, den Christus in seiner Seele aufzunehmen, er würde den Christus nicht in seiner Seele aufnehmen wollen. Dann würde er an das Erdenende ankommen, und

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er würde am Erdenende in dem, was sich aus den im Laufe der Mensch­heitsentwickelung entstandenen Erdengeistern herausgebildet hat, in jenem Geistnebelgebilde, das sich dann aus der Erde gebildet haben wird, all diese phantomartigen Wesen haben, die aus ihm herausge­gangen sind in den früheren Inkarnationen. Die würden alle da sein. Das, was so da sein würde, das würde eine tote Erde sein und tot zum Jupiter hinübergehen. Ein Mensch könnte sein Karma vollständig aus­getragen haben, getilgt haben, das heißt, er könnte subjektiv alles das ausgleichend sich angeeignet haben, was er an Unvollkommenheiten verübt hat, am Ende der Erdenzeit; er könnte vollkommen geworden sein in seinem Seelischen, in seinem Ego, aber objektiv würde Schuld und Sünde dastehen in dem, was da zurückbleibt. Das ist durchaus eine Wahrheit, denn wir leben nicht nur für uns selbst, wir leben nicht dafür, daß wir durch Ausgleich unseres Karma uns egoistisch voll­kommener machen, wir leben für die Welt, und am Ende der Zeiten werden dastehen die Reste unserer Erden-Inkarnationen wie ein mäch­tiges Tableau, wenn wir nicht den lebendigen Christus in uns aufge­nommen haben. Denn, wenn wir das, was wir gestern gesagt haben, verbinden mit dem, was heute gesagt worden ist - es ist im Grunde, nur von zwei Seiten gesehen, dasselbe -, so ersehen wir, wie der Chri­stus Schuld und Sünde der Erdenmenschheit, insofern sie objektive Schulden und Sünden sind, auf sich nimmt. Und haben wir innerlich ergriffen dieses «Nicht ich, sondern der Christus in mir», der Christus in uns, so übernimmt er das, was aus uns herauszieht, und unsere Reste stehen da von dem Christus belebt, von dem Christus durchlebt und durchstrahlt. Ja, unsere Inkarnationen stehen da, das heißt, die ge­schilderten Reste dieser Inkarnationen. Und was geben sie alle zu­sammen?

Dadurch, daß der Christus sie alle vereinigt, der Christus, der ja aller Menschheit gehört in Gegenwart und in Zukunft, pressen sich ineinander alle diese Reste der einzelnen Inkarnationen. Jede Men­schenseele lebt in aufeinanderfolgenden Inkarnationen. Nehmen wir eine Inkarnation: bestimmte Reste bleiben da, wir haben sie geschil­dert. Nehmen wir die nächste Inkarnation: bestimmte Reste bleiben da, wir haben sie geschildert; weitere Inkarnationen: bestimmte Reste

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bleiben da, und so weiter bis zum Ende der Erdenzeiten. Die einzelnen Inkarnationen lassen ihre Reste zurück bis zum Ende der Erdenzeiten. Sind diese Reste durchchristet, so drücken sie, pressen sie sich zu­sammen. Dadurch aber, daß sich das Dünne zusamnienpreßt, wird es dicht - auch Geistiges wird dicht - und unsere sämtlichen Erden-Inkarnationen, sie sind zu einem Geistesleib vereinigt. Der gehört uns, den brauchen wir, indem wir zum Jupiter hinüber uns entwickeln, denn er ist der Ausgangspunkt unserer Verkörperung auf dem Jupiter. Wir werden dastehen mit unserer Seele am Ende der Erdenzeit - mag sie mit ihrem Karma wie immer stehen -, wir werden dastehen vor unseren vom Christus gesammelten Erdenresten und werden uns mit ihnen zu vereinigen haben, um mit ihnen gemeinschaftlich zum Jupiter hinüberzugehen.

Auferstehen werden wir im Leibe, in dem aus den einzelnen Inkar­nationen verdichteten Erdenleibe. Wahrhaftig, meine lieben Freunde, mit tief bewegtem Herzen spreche ich es hier aus: Auferstehen werden wir im Leibe!

Sechzehnjährige und noch jüngere Leute fangen heute an, ihr eigenes Glaubensbekenntnis zu fordern und davon zu reden, daß sie «glück­lich hinaus sind über solchen Unsinn wie - Auferstehung des Leibes». Diejenigen aber, die sich vertiefen okkultistisch in die Geheimnisse der Welt, die heben sich allmählich hinauf zum Verständnis dessen, was den Menschen gesagt worden ist; weil es ihnen - wie ich es im Ein­gang des Vortrages ausgeführt habe - zuerst gesagt werden mußte, damit sie es als Lebenswahrheit ergriffen, um es dann hinterher zu verstehen. Die Auferstehung der Leiber ist eine Wirklichkeit, aber unsere Seele muß es empfinden, daß sie auferstehen will gegenüber den vom Christus gesammelten Erdenresten, gegenüber dem Geistes-leib, der durchchristet ist. Das muß unsere Seele verstehen lernen. Denn, nehmen wir an, wir könnten dadurch, daß wir den lebendigen Christus nicht in uns aufgenommen haben, an diesen Erdenleib mit seiner Schuld und seiner Sünde nicht herantreten und uns mit ihm vereinigen. Hätten wir den Christus zurückgewiesen, so würden am Ende der Erdenzeit unsere einzelnen Inkarnationsreste zerstreut da­stehen; die wären verblieben, die wären nicht gesammelt worden von

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dem die ganze Menschheit durchgeistenden Christus. Wir ständen als Seele am Ende der Erdenzeiten erdgebunden da, wir wären an das­jenige in der Erde gebunden, was tot zurückbleibt in unseren Resten. Unsere Seele wäre zwar im Geiste für sich egoistisch befreit, aber wir könnten nicht an unsere leiblichen Reste heran. Solche Seelen, meine lieben Freunde, die sind die Beute Luzifers, denn er strebt danach, das eigentliche Erdenziel zu durchkreuzen, er strebt danach, die Seelen ihr Erdenziel nicht erreichen zu lassen, sie in der geistigen Welt zu­rückzubehalten. Und Luzifer wird in die Jupiterzeit hinübersenden dasjenige, was zerstreute Erdenreste geblieben sind, als toten Einschluß Jupiters, der dann als Mond, der sich nicht abtrennt vom Jupiter, im J upiter darinnen sein wird und immer hinauftreiben wird diese Erden-reste. Und diese Erdenreste werden von den Seelen oben als von Gat­tungsseelen belebt werden müssen auf dem Jupiter.

Und jetzt erinnern Sie sich, was ich vor Jahren schon gesprochen habe: daß das Menschengeschlecht auf dem Jupiter sich spalten wird in ein solches, bei dem die Seelen ihr Erdenziel erreicht haben, die das Jupiterziel erreicht haben werden, und in solche Seelen, die ein Mittel-reich bilden werden zwischen dem Menschenreich des Jupiter und dem Tierreich des Jupiter. Das werden Seelen sein, die luziferisch, das heißt bloß geistig da sind; ihren Leib werden sie unten haben, dieser Leib wird ein deutlicher Ausdruck sein ihres ganzen Seelen-innern, sie werden ihn aber nur von außen dirigieren können. Zwei Rassen, die Guten und die Bösen, werden sich auf dem Jupiter von-einander unterscheiden. - Das ist schon vor Jahren ausgeführt wor­den; heute wollen wir es tiefer betrachten.

Dem Jupiterdasein wird ja noch ein Venusdasein folgen, und ein Ausgleich wird geschaffen werden wiederum durch die weitere Evo­lution des Christus, aber der Mensch soll gerade auf dem Jupiter des­sen ansichtig werden, was es heißen soll: nur in seinem eigenen Ego vollkommen werden wollen und nicht die ganze Erde zu seiner An­gelegenheit machen! Das soll der Mensch einmal durch den ganzen Jupiter-Zyklus hindurch erfahren, indem ihm alles dasjenige dann vor das geistige Auge treten kann, was er im Erdendasein nicht durch­christet hat.

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Nehmen wir das alles zusammen, meine lieben Freunde, und ge­denken wir von diesem Gesichtspunkte aus des Christus-Wortes, mit dem er hinausschickte seine Jünger in die Welt, zu verkündigen seinen Namen und in seinem Namen die Sünden zu vergeben. Warum in seinem Namen die Sünden zu vergeben? Weil diese Sündenvergebung mit seinem Namen zusammenhängt; weil die Sünde nur getilgt und zu lebendigem Leben unigeschaffen werden kann, wenn der Christus mit unseren Erdenresten verbunden sein kann, wenn wir ihn zuerst während unseres Erdendaseins im Sinne des Paulinischen Wortes: «Nicht ich, sondern der Christus in mir» in uns getragen haben.

Und wenn irgendwo ein religiöses Bekenntnis in seinen äußeren Handlungen anknüpft an dieses Christus-Wort, um den Seelen immer wiederum und wiederum das zu vergegenwärtigen, was mit dem Christus zusammenhängt, dann müssen wir darin auch diese tiefere Bedeutung suchen. Wenn in irgendeinem religiösen Bekenntnis, gleich­sam im Auftrage Christi einer seiner Diener spricht von Vergebung der Sünden, so heißt das nichts anderes als: derjenige, der mit seinen Worten der Sündenvergebung anknüpft an die Vergebung der Sünden durch den Christus, der deutet der Seele, die getröstet sein will, an: Ja, ich habe gesehen, du hast dein lebendiges Verhältnis zu dem Chri­stus entwickelt, du vereinigst mit dem, was objektive Sünde und Schuld ist und einziehen soll als objektive Sünde und Schuld in deine Erdenreste, dasjenige, was dir der Christus ist. Weil ich erkannt habe, daß du dich durchdrungen hast mit dem Christus, so darf ich sagen:

«Deine Sünden sind dir vergeben.»

Immer ist stillschweigend darinnen, daß derjenige, der in irgend­einem religiösen Bekenntnis von Sündenvergebung spricht, sich die Überzeugung verschafft hat: Der Betreffende hält es mit seinem Chri­stus, er will seinen Christus in seinem Herzen und seiner Seele tragen. Deshalb darf er ihn trösten, wenn der andere schuldbewußt ihm ent­gegentritt: Der Christus wird dir verzeihen, und ich darf dir sagen, daß dir in seinem Namen deine Sünden vergeben sind.

So ist es eine schöne Anknüpfung an den einzigen Sündenvergeber - weil er der Sündenträger, weil er das die menschlichen Erdenreste belebende Wesen ist -, wenn diejenigen, die ihm dienen wollen, jene

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Seelen, denen gegenüber sie sich überzeugen können, daß sie in ihrem Innern sich mit dem Christus verknüpft fühlen, trösten können mit den Worten: «Deine Sünden sind dir vergeben.» Denn es ist gleich­sam eine neue Bekräftigung des Verhältnisses der Seele zum Christus, wenn diese Seele hört: Ich habe meine Schulden, meine Sünden so aufgefaßt, daß mir gesagt werden darf, der Christus nehme sie auf sich, er durchwirke sie mit seinem Wesen. Immer ist in dem Unterton - wenn das Wort von der Sündenvergebung ein Wahrheitswort sein soll - das enthalten, daß der Sünder, der Schuldige, wenn er auch seinen Bund mit dem Christus nicht neuerdings schließt, wenigstens an sein Schließen erinnert wird. Denn ein so inniger Bund muß ge­schlossen werden zwischen der Seele und dem Christus, daß die Seele nicht oft genug das Bewußtsein von diesem Bund erneuern kann. Und weil der Christus in der geschilderten Weise mit objektiver Schuld und objektiver Sünde der Menschenseele verbunden ist, so kann die Seele ihr Verhältnis zu dem Christus im alltäglichen Leben am besten dadurch stets sich zum Bewußtsein bringen, daß sie ge­rade in dem Moment der Sündenvergebung sich an das Dasein des kosmischen Christus im Erdendasein immer wieder und wiederum erinnert.

Es werden diejenigen, die sich im echten Geiste die durchchristete Geisteswissenschaft aneignen - nicht bloß in einem äußeren Sinne, sondern im echten Geiste -, ganz gewiß auch ihre eigenen Beichtväter werden können. Ganz gewiß werden sie durch die Geisteswissenschaft den Christus immer mehr und mehr so intim kennen lernen, so intim sich mit ihm verbunden fühlen, daß sie unmittelbar seine geistige Gegenwart empfinden. Und sie werden, indem sie sich neuerdings ihm angeloben als dem kosmischen Prinzip, ihm im Geiste die Beichte verrichten und in ihrer stillen Meditation die Sündenvergebung von ihm erlangen können. Solange aber die Menschen sich nicht in diesem tiefen geistigen Sinne mit der Geisteswissenschaft durchdrungen ha­ben, muß mit Verständnis hingewiesen werden auf dasjenige, was gleichsam in einem äußeren Zeichen in den verschiedenen Religionen der Welt als Sündenvergebung herrscht. Geistig freier und freier wer­den ja die Menschen, und indem sie geistig freier und freier werden,

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wird auch ihr Verkehr mit dem Christus immer unmittelbarer und unmittelbarer werden.

Und Toleranz soll geübt werden!

Gleich wie derjenige, der dadurch, daß er den Geist des Mysteriums von Golgatha, den Christus, in seinem Innern so tief ergriffen zu haben glaubt, daß er unmittelbar, man möchte sagen, Zwiesprache mit diesem Christus pflegen kann, mit Verständnis hinblicken muß auf die, welche die positiven Satzungen eines Bekenntnisses brauchen, welche den Christus-Diener brauchen, der ihnen immer wieder und wiederum Trost mit den Worten gibt: «Deine Sünden sind dir ver­geben», so sollten auf der anderen Seite tolerant sein diejenigen, wel­che sehen, daß Menschen da sind, die schon mit sich selber fertig werden. - Das mag alles ein Ideal sein im Erdendasein, aber wenig­stens der Anthroposoph darf zu einem solchen Ideal aufblicken.

Meine lieben Freunde, ich habe Ihnen gesprochen von geistigen Geheimnissen, die sich enthüllen, und die wohl den Menschen doch auch, wenn er schon vieles von Anthroposophie in sich aufgenommen hat, noch tiefer hineinblicken lassen in das ganze Wesen unseres Seins. Ich habe Ihnen gesprochen von jener Überwindung des Egoismus des Menschen, von jenen Dingen, deren Verständnis uns auch erst ein richtiges Karma-Verständnis gibt. Ich habe Ihnen gesprochen von dem Menschen, insofern er nicht nur ein Ich-Wesen ist, sondern dem ganzen Erdendasein angehört und dazu berufen ist, das göttliche Erdenziel mit zu fördern. Der Christus ist nicht etwa bloß dafür in die Welt gekommen und durch das Mysterium von Golgatha durch­gegangen, damit er jedem einzelnen von uns etwas sein kann in un­serem Egoismus. Furchtbar wäre es zu denken, daß der Christus etwa so aufgefaßt würde, daß das Paulinische Wort «Nicht ich, sondern der Christus in mir» nur einen höheren Egoismus fördern würde. Der Christus ist für die ganze Menschheit gestorben, für die Erdenmensch­heit! Der Christus ist der zentrale Geist der Erde geworden, der alles Erdengeistige, das von Menschen ausfließt, für die Erde zu retten hat.

Man kann heute Werke von Theologen lesen - und diejenigen, welche diese Werke gelesen haben, werden bestätigen können, was ich jetzt sage -, die etwa sagen: Ja, gewisse Theologen des neunzehnten

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und zwanzigsten Jahrhunderts haben endlich ausgerottet den mittelalterlichen Volksglauben, daß der Christus in der Welt erschie­nen ist, um die Erde dem Teufel zu entreißen, um die Erde dem Luzi­fer zu entreißen. - Es gibt ja auch innerhalb der Theologie heute einen aufgeklärten Materialismus, der sich nur nicht frank und frei als solchen bekennen will und besonders aufgeklärt tut. Ja, so sagen sie, in diesem finsteren Mittelalter, da haben die Leute davon ge­sprochen, daß der Christus in der Welt erschienen ist, weil er die Erde dem Teufel hat entreißen sollen. - Die wahre Aufklärung führt uns zu diesem einfachen, schlichten Volksglauben zurück! Denn von der Erde gehört Luzifer all dasjenige, was durch den Christus nicht be­freit wird. Und alles Menschliche, was in uns mehr ist als das, was bloß beschlossen ist in unserem Ego, es wird geadelt, es wird fruchtbar gemacht für die ganze Menschheit, wenn es durchchristet ist. Und indem ich am Ende der Betrachtungen dieser Tage vor Ihnen stehe, meine lieben Freunde, möchte ich nicht unterlassen, zu jeder einzelnen Seele derer, die da vereinigt waren in diesen Tagen, auch diese Worte noch zu sprechen:

Zukunftshoffnung und Vertrauen in die Zukunft unserer Sache, sie können wohnen in unseren Herzen, weil wir uns bemüht haben, von Anfang unserer Arbeit an, zu durchdringen dasjenige, was wir zu sagen haben, mit dem Willen des Christus. Und Hoffnung und Vertrauen gibt, daß gesagt werden darf: Schließlich ist unsere Lehre selbst dasjenige, was uns der Christus hat sagen wollen, erfüllend sein Wort: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Erdenzeiten.» Wir haben nur horchen wollen auf dasjenige, was von ihm kommt. Und das, was er uns inspiriert hat nach seinem Versprechen, wir wollen es in unsere Seele aufnehmen als unsere Geisteswissenschaft. Nicht, weil wir von irgend etwas Christlich-Dogmatischem durchsetzt fühlen unsere Geisteswissenschaft, betrachten wir sie als christlich, sondern weil wir, in uns durchchristet, sie als eine Offenbarung des Christus in uns selbst betrachten. Deshalb bin ich auch überzeugt, daß das, was so als echte, wahre Geisteswissenschaft aufkeimt in den Seelen, die mit uns zusammen diese unsere durchchristete Geistes­wissenschaft aufnehmen wollen, fruchtbar wird für die ganze Menschheit

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und für diejenigen wiederum, die diese Früchte empfangen sollen, insbesondere.

Vieles von dem, was gut ist, geistig gut ist in unserer geisteswissen­schaftlichen Bewegung, wenn man es hellsichtig betrachtet, zeigt sich so, daß es herrührt von denen, die mit uns unsere durchchristete Geisteswissenschaft aufgenommen haben, und die, nachdem sie durch die Pforte des Todes gegangen sind, das, was Früchte sind dieser durchchristeten Geisteswissenschaft, wiederum zu uns herunterschik­ken. Das lebt schon in uns, was uns herunterschicken aus den geistigen Welten diejenigen, die durchchristete Geisteswissenschaft aufgenom­men haben. Denn sie behalten es nicht zu ihrer eigenen Vervollkomm­nung, in ihrer eigenen karmischen Strömung, sie können es einströmen lassen in Seelen, die es aufnehmen wollen. Trost und Hoffnung für unsere Geisteswissenschaft erblüht uns daraus, daß wir wissen: auch unsere sogenannten Toten arbeiten mit uns.

In einem gewissen Zusammenhang wurde schon vorgestern von solchen Dingen hier gesprochen. Aber heute, da ich am Schlusse dieser Betrachtungen stehe, meine lieben Freunde, darf ich, ich möchte sagen, persönlich, auch zu Ihren Seelen noch das eine Wort sagen:

Indem ich gesprochen habe zu diesem Zweige unserer Gesellschaft hier in Norrköping, da konnte ich nicht anders als immer fühlen den guten Geist derjenigen, die ja so innig verknüpft war mit dem, was wir hier unseren Norrköpinger Zweig nennen. Wie ein guter Engel dieses Zweiges schaut der Geist Frau Danielsons auf all das, was dieser Zweig unternehmen will. Und es war im geschilderten Sinne auch christlicher Geist. Die Seelen, die ihn erkennen, werden sich niemals getrennt von ihm fühlen. Möge er als Schutzgeist weiter über diesem Zweige walten. Er wird es gerne wollen; er will es sicher gern, wenn die Seelen, die in diesem Zweige arbeiten, ihn aufnehmen.

Mit diesen aus tiefstem Herzen heraus gesprochenen Worten, meine lieben Freunde, schließe ich diese Vorträge ab und hoffe, daß wir in den eingeschlagenen Geistesbahnen miteinander weiter arbeiten werden.

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ANTHROPOSOPHIE UND CHRISTENTUM

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ANTHROPOSOPHIE UND CHRISTENTUM Norrköping, 13. Juli 1914

Vor allen Dingen bitte ich Sie um Entschuldigung, daß ich nicht in der Lage bin, in der Sprache des Landes am heutigen Abend zu Ihnen zu sprechen. Allein die Freunde, die Mitglieder unserer Anthro­posophischen Gesellschaft sind, in deren Mitte ich in diesen Tagen, in dieser Woche Vorlesungen über Geisteswissenschaft halten darf, waren der Meinung, daß ich auch öffentlich in deutscher Sprache in dieser Stadt über einen Gegenstand der Geisteswissenschaft sprechen könne. Auch das Thema, welches der Betrachtung dieses Abends zu­grunde liegen soll, ist dem Wunsche unserer werten Mitglieder in dieser Stadt entsprungen. Ich soll sprechen über die Beziehung der Geisteswissenschaft oder, wie man die hier gemeinte Geisteswissen­schaft auch nennen kann, über die Beziehung der Anthroposophie zum Christentum. Dabei wird es allerdings notwendig sein, daß ich einiges vorausschicke über das Wesen und über die Bedeutung dessen, was hier mit Geisteswissenschaft gemeint ist, über den Gesichtspunkt, von dem aus gesprochen werden soll.

Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, strebt nicht an die Be­gründung irgend einer neuen Religion oder irgend einer neuen reli­giösen Sekte oder dergleichen. Geisteswissenschaft will sein oder glaubt sein zu dürfen dasjenige, was unserer gegenwärtigen Kultur auferlegt ist in geistiger Beziehung.

Wenn wir gegenwärtig auf einem Gebiete, auf dem es notwendig ist, Fortschritte machen sollen in der Kulturentwickelung der Menschheit, welche in ähnlicher Weise auf einem anderen Gebiete gemacht worden sind vor drei, vier, fünf Jahrhunderten, als die neuere Naturwissenschaft in ihrer Morgenröte eingezogen ist in das menschliche Kulturleben, so müssen wir sagen: Was für die Erkenntnis der äußeren Natur, was für das Leben durch die Erkenntnis der äußeren Natur-

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gesetze diese Naturwissenschaft der Menschheit geworden ist, das möchte Geisteswissenschaft werden durch die Erkenntnis der Gesetze unseres Seelen- und Geisteslebens und durch die Anwendung dieser Gesetze des Seelen- und Geisteslebens im ethischen, im sozialen, im allerweitesten Kulturleben; das möchte sie werden für unsere Gegenwart und für die nächste Zukunft. Und so viel man auch diese Geisteswissenschaft notwendigerweise noch verkennen muß, ganz begreiflicherweise verkennen muß, so entnimmt sie das Vertrauen in ihre Wahrheit, auch das Vertrauen in ihre Wirksamkeit in der Menschheitskultur, der Betrachtung des Schicksals der Naturwissenschaft beim Aufgange des neueren Geisteslebens. Auch der Naturwissenschafter stand ja gegenüber Jahrhunderte-, ja jahrtausendealten Vorurteilen; aber die Wahrheit hat Kräfte, die ihr in der Art, wie es angemessen ist im Menschenleben, immer zum Siege verhilft gegen alle widerstrebenden Kräfte.

Und so sei denn, nachdem von diesem Vertrauen des Geisteswissen­schafters in die Wahrheit und Wirksamkeit seiner Arbeit einige Worte gesprochen worden sind, sogleich eingegangen auf das Wesen, auf die Art der Forschung, welche der hier gemeinten Geisteswissenschaft zugrunde liegt.

Wahrhaftig ganz im Geiste der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart ist die Vorstellungsart der Geisteswissenschaft gehalten. Aber da sich diese Geisteswissenschaft auf ein ganz anderes Gebiet erstreckt als die Naturwissenschaft, nämlich nicht auf das Gebiet dessen, was sinnenfällig wahrgenommen werden kann, auf das Gebiet der äußeren Natur, sondern auf das Gebiet des Geistes, so muß es ja einleuchtend sein, daß gerade eine naturwissenschaftliche Denkweise da, wo es sich darum handelt, das Gebiet des Geistigen zu erforschen, sich wesentlich modifizieren muß, zu etwas anderem werden muß als auf dem Gebiete der Naturwissenschaft. Und obgleich die Methode, die Forschungsweise der Geisteswissenschaft ganz so gehalten ist in dem Geiste der Naturwissenschaft, daß jeder naturwissenschaftlich Gebildete, der heute Naturwissenschaft ohne Vorurteile nimmt, sich auf den Boden dieser Geisteswissenschaft stellen kann, so muß doch gesagt werden, daß allerdings, solange man die naturwissenschaftlichen Me-

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thoden in ihrer Einseitigkeit nimmt, wie es vielfach heute geschieht, Vorurteil über Vorurteil gegen die Anwendung naturwissenschaftlicher Vorstellungsart auf das geistige Leben erwachsen kann. Muß doch naturwissenschaftliches Denken, man möchte sagen, naturwissenschaftliche Logik angewendet werden auf das, was dem Menschen wohl am nächsten liegt, was aber auch am schwersten zu erforschen ist, muß doch diese Denkungsweise angewendet werden auf das Wesen des Menschen selbst. Muß doch der Mensch in der Geisteswissenschaft sich selber untersuchen, und muß er doch auch zu dem einzigen Werkzeug greifen, welches ihm zu seiner Untersuchung zur Verfügung steht, nämlich zu sich selbst. Davon geht die Geisteswissenschaft aus, daß der Mensch in sich selbst, indem er zum Instrument wird, um die Geisteswelt zu untersuchen, eine Verwandlung erfahren muß, daß er etwas mit sich vornehmen muß, das ihn in die Lage versetzt, in die geistige Welt hineinzusehen, was er ja nicht tut im alltäglichen Leben.

Von einem Vergleich lassen Sie mich ausgehen, von einem naturwissenschaftlichen Vergleich, der nichts beweisen soll, der nur ver­deutlichen soll, wie die geisteswissenschaftliche Vorstellungart ganz auf dem Boden naturwissenschaftlicher Denkungsweise steht. In der Natur tritt uns zum Beispiel das Wasser entgegen. Wenn wir das Wasser ansehen, wie es uns draußen entgegentritt, so stellt es sich zunächst in seinen Eigenschaften dar. Aber der Chemiker kommt mit seinen Methoden und wendet diese auf das Wasser an; er zerlegt uns das Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff. Ja, was macht da der Naturwissenschafter aus dem Wasser? Das Wasser brennt bekannt­lich nicht. Der Chemiker zieht den Wasserstoff aus dem Wasser her­aus, und das ist ein Gas, das brennt. Niemand, der äußerlich das Wasser ansieht, kann diesem Wasser ansehen, daß da Wasserstoff drinnen ist und Sauerstoff drinnen ist, die ganz andere Eigenschaften haben als das Wasser.

Ebensowenig, das zeigt eben die Geisteswissenschaft, kann der Mensch, wenn er dem Menschen gegenübersteht im Leben, erkennen, was dieser Mensch ist in seinem Inneren. Und so wie der Chemiker, der Naturwissenschafter, kommt und uns das Wasser zerlegt in

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Wasserstoff und Sauerstoff, so muß, allerdings jetzt in einem inner­lichen Seelenprozeß, der sich in den tiefsten Tiefen der Seele vor­bereiten muß, der Geisteswissenschafter kommen und muß dasjenige, was sich im äußeren Leben darbietet, zerlegen. Und zerlegen kann der Geistesforscher durch die geistesforscherischen Methoden den Menschen in das Äußerlich-Leibliche und in das Geistig-Seelische. Zunächst interessiert es, vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft aus das Geistig-Seelische abgesondert vom Leiblichen zu untersuchen. Niemand kann die wahre Wirklichkeit des Geistig-Seelischen aus dem Äußerlich-Leiblichen erkennen, ebensowenig wie die Natur des Was­serstoffs erkannt werden kann, wenn er nicht aus dem Wasser heraus­gezogen wird.

Es ist heute sehr oft der Fall, daß in dem Augenblick, wo man beginnt, in dieser Art zu sprechen, einem gesagt wird: Das verstößt doch wider den Monismus, an dem man unbedingt festhalten muß. Nun, der Monismus darf ja auch den Chemiker nicht hindern, daß er das Wasser zerlegt in eine Zweiheit. Der Monimus wird gar nicht dadurch angefochten, daß dasjenige, was in Wirklichkeit geschehen kann, geschieht: daß durch die Geistesforschung, durch die geistes­forscherischen Methoden abgetrennt wird von dem Leiblich-Körper-haften das Geistig-Seelische. Nun aber sind diese Methoden aller­dings nicht solche, die man im Laboratorium, im physikalischen Ka­binett, in der Klinik vollziehen kann, sondern es sind Vorgänge, die in der Seele selber vollzogen werden müssen. Es sind aber keine Vor­gänge der Seele, die Wunder darstellen, sondern es sind nur Steige­rungen desjenigen, was der Mensch im gewöhnlichen Leben beobachten kann. Es sind nicht wunderbare Eigenschaften, sondern solche Eigen­schaften, die der Mensch im alltäglichen Leben in einem gewissen Maße hat, die er nur ins Unbegrenzte steigern muß, wenn er zum Geistesforscher werden soll. Und da ich nicht in allgemeinen Redens­arten herumreden will, so will ich gleich in die Betrachtung der Sache selbst eintreten.

Jeder kennt dasjenige, was man im menschlichen Seelenleben nennt das Erinnerungsvermögen, das Gedächtnis. Jeder weiß ja, wieviel von dem Gedächtnis im Grunde genommen abhängt. Man stelle sich einmal

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vor, wir würden eines Morgens aufwachen und keine Ahnung haben, was früher um uns und in uns war. Wir würden dadurch die ganze menschliche Wesenheit verlieren. Unser Gedächtnis, das in sich zusammenhängt von einem gewissen frühen Zeitpunkt in der Kind­heit an, das gehört notwendig zu unserem menschlichen Leben. Nun werden schon die Philosophen der Gegenwart gegenüber der Unter­suchung der Gedächtniskraft stutzig. Sie haben jetzt schon Persönlichkeiten in ihrer Mitte, die gerade, indem sie das Gedächtnis be­trachten, von einer materialistisch-monistischen Weltanschauung ab­kommen, indem sie durch genaue Untersuchung finden, daß, wenn man auch die Sinnesempfindungen, soviel man das nur sagen kann von Seelentätigkeit, in äußerlicher Weise gebunden findet an den Leib, man das Gedächtnis nie als an den Leib gebunden wird anerkennen können. Darauf brauche ich ja nur aufmerksam zu machen. Denn ein Mann, der wahrhaftig keine Neigung hat, in die Geisteswissenschaft einzudringen, der französische Philosoph Bergson, hat auf diese gei­stige Art des Gedächtnisses hingedeutet.

Wie aber tritt uns im Leben das Gedächtnis, die Erinnerungskraft entgegen? Längst vergangene Ereignisse kommen in Bildern in unsere Seele herein. Die Ereignisse sind längst vergangen, aber die Seele hat es mit sich selbst zu tun. Sie hat es damit zu tun, daß sie heraufzaubert das vergangene Erlebnis aus den Tiefen des inneren Lebens. Und man kann das, was da heraufkommt aus den Seelentiefen, mit dem ur­sprünglichen Erlebnis vergleichen. Blaß sind die Erinnerungen gegen­über den Bildern, die uns die Wahrnehmung der Sinne bietet. Aber mit der Integrität des Seelenlebens hängen sie zusammen. Und wir könnten uns in der Welt nicht zurechtfinden, wenn wir nicht das Gedächtnis hätten. Diesem Gedächtnis aber liegt die Kraft des Ge­dächtnisses zugrunde. Die Seele kann dasjenige, was in ihren Erinne­rungen verborgen ist, durch die Kraft des Gedächtnisses heraufholen. Aber da gerade setzt nun Geisteswissenschaft ein. Nicht das Gedächt­nis als solches - ich bitte ins Auge zu fassen, was ich sagen will -, nicht das Gedächtnis als solches, wohl aber die Kraft, welche dem Herauf-holen eines geistigen Inhaltes aus den Tiefen der Seele zugrunde liegt, diese Kraft kann verstärkt werden, ins Unbegrenzte verstärkt werden,

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so daß sie im Leben der Seele nicht bloß verwendet wird, um durch­gemachte Erlebnisse aus der Seele heraufzuholen, sondern daß sie zu etwas ganz anderem verwendet werden kann. Nicht äußere Methoden, die im Laboratorium verfolgt werden können, nicht das, was man durch die äußeren Sinne wahrnehmen kann, liegt zugrunde den geistes­forscherischen Methoden, sondern intensive Seelenvorgänge, die jeder durchmachen kann. Das, was den Wert dieser intensiven Seelenvor­gänge ausmacht, ist die unbegrenzte Steigerung der Aufmerksamkeit im Menschenleben, oder wie man es nennt: die Konzentration des Gedankenlebens.

Was ist diese Konzentration des Gedankenlebens?

Ich kann heute nur in einer kurzen einstündigen Betrachtung die Prinzipien dessen anführen, um was es sich handelt. Das Nähere kön­nen Sie nachlesen in meinen Büchern «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und in meiner «Geheimwissenschaft» im zwei­ten Teil; diese Bücher sind ja auch übersetzt. Ferner in dem Buche «Die Schwelle der geistigen Welt». Aber den Prinzipien nach will ich die ersten Vornahmen der Seele auseinandersetzen, die eine unbe­grenzte Steigerung dessen sind, was für das menschliche Leben not­wendig ist, eine Steigerung der Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit muß in unbegrenzter Weise gesteigert werden, damit Geistesforschung in die Seele eintreten könne.

Was macht denn der Mensch in der Regel, wenn er der Außenwelt gegenübertritt? Er nimmt die Dinge wahr; er verarbeitet die Dinge durch den Verstand, der an das Gehirn gebunden ist. Dann macht er sich Vorstellungen über das Wahrgenommene. Und in der Regel ist er zufrieden, wenn er die äußeren Vorstellungen in der Seele be­wahrt. Da, wo das Alltagsleben aufhört, da beginnen die Methoden der Geisteswissenschaft, da beginnt dasjenige, was man Konzentration des Denkens nennen kann. Derjenige, der ein Geistesforscher werden will, der muß den Faden des Seelenlebens da aufnehmen, wo er ge­wöhnlich im äußeren Leben verlassen wird. Vorstellungen, die wir uns selbst bilden, die wir genau überschauen können, am besten sinnbildliche Vorstellungen, bei denen wir nicht nötig haben, die Übereinstimmung mit der Außenwelt zu prüfen, sie stellen wir in den

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Horizont unseres Bewußtseins; Vorstellungen, die wir entweder fin­den, aus der Praxis der Geisteswissenschaft hervorgegangen, oder zu denen uns der Geistesforscher raten kann, sie stellen wir in den Mittel­punkt des ganzen Bewußtseins, so daß wir durch längere Zeit die Aufmerksamkeit der Seele von allem Äußeren ablenken und uns nur konzentrieren auf eine Vorstellung. Während man sonst nicht bei einer Vorstellung stehenbleibt, zieht man jetzt alle Kräfte seiner Seele zusammen, konzentriert sie auf eine Vorstellung und bleibt ganz in seinem Inneren hingegeben an diese Vorstellung. Wenn man den Men­schen betrachtet bei einer solchen Vornahme, so vollzieht er im Grunde genommen etwas, was dem Schlafe gewissermaßen ähnlich ist, und was doch auch wiederum radikal verschieden ist. Denn, soll solche Konzentration fruchtbar werden, so muß der Mensch in der Tat wie ein Schlafender werden.

Wenn wir einschlafen, da fühlen wir zuerst, wie die Willenskräfte in unseren Gliedern ruhig werden, wie eine gewisse Dämmerung um uns auftritt, wie die Sinne in ihrer Tätigkeit abebben. Dann gehen wir über in Bewußtlosigkeit. Alles Äußere muß so werden in der Kon­zentration wie beim Schlafe. Die Sinne müssen vollständig frei werden von allen Eindrücken der Außenwelt. Das Auge darf so wenig sehen wie im Schlafe; das Ohr so wenig hören wie im Schlafe und so weiter. Dann wird das ganze Seelenleben zusammengenommen und auf eine Vorstellung konzentriert; das ist der radikale Unterschied vom Schlafe. Man könnte den Zustand nennen ein bewußtes Schlafen, ein voll bewußtes Schlafen. Während im Schlafe die Finsternis der Unbewußt­heit sich ausdehnt im Seelenleben, lebt in einem erhöhten Seelenleben derjenige, der ein Geistesforscher werden will. Er strengt alle Kräfte des Seelenlebens an und wendet sie auf eine Vorstellung. Nicht darauf kommt es an, daß wir diese Vorstellung betrachten; sie gibt uns nur eine Gelegenheit, unsere Seelenkräfte zusammenzuraffen, zusammen­zudrängen. Auf dieses Zusammendrängen der Seelenkräfte kommt es an. Denn dadurch gelangen wir allmählich dazu - ich muß da wieder­um auf das Nähere in meinen Büchern verweisen -, wirklich das Geistig-Seelische, das in uns ist, wie der Wasserstoff im Wasser ist, herauszureißen aus dem Physisch-Leiblichen, es frei zu machen vom

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Physisch-Leiblichen. Nicht sozusagen in einem Ansturm ist das zu erreichen, was ich jetzt charakterisiert habe. Es brauchen die meisten Menschen ein jahrelanges Arbeiten in solchen Konzentrationen, wenn auch das Tagesleben von solchen Konzentrationen nicht abgelenkt wird; denn man kann sie nur durch wenige Minuten, höchstens durch Teile einer Stunde festhalten, aber man muß sie immer und immer wiederum wiederholen, bis es wirklich gelingt, die Kräfte, die sonst nur schlummern in der menschlichen Natur - die im Alltagsleben ja auch da sind, die aber schlummern -, so zu verstärken, daß sie wirk­sam werden in unserer Seele und herausreißen das Geistig-Seelische aus dem Physisch-Leiblichen.

Da ich, wie gesagt, nicht herumreden möchte in abstrakter Art, sondern Ihnen Tatsachen mitteilen möchte, so sei es gleich gesagt, daß, wenn es dem Geistesforscher gelingt, durch Energie und Ausdauer, durch Hingabe an seine Übungen wirklich zur Frucht seiner Übungen zu kommen, er dann zu einem Erlebnis gelangt, das zunächst genannt werden könnte ein Erlebnis des rein inneren Bewußtseins. Man weiß mit einem Worte von einem bestimmten Zeitpunkte an einen Sinn zu verbinden mit dem Worte, das vorher sinnlos war: Ich weiß mich außerhalb meines Leibes; ich bin, mein Inneres erfassend, mein Inneres erlebend, außerhalb meines Leibes.

Ich will Ihnen von diesem Erlebnis im einzelnen erzählen. Zunächst verspürt man, daß wirklich die Denkkraft, die sonst nur in den Ver­richtungen des Alltags sich regt, sich loslöst vom Leibe. Dumpf ist zunächst das Erlebnis, aber es tritt doch so auf, daß man seine Natur erkennt, wenn man es gehabt hat. Man weiß zuerst dann, wenn man wiederum zurückkehrt in seinen Leib - das möchte ich zunächst charakterisieren -, wie es ist, wenn man nun in das Gehirnleben, das die physische Materie darbietet, untertaucht, wie es Widerstand bietet, dieses Gehirn. Man weiß: Mit dem Alltagsdenken denkt man so, daß das Gehirn das Instrument ist; jetzt war man aber draußen. Dann kommt man allmählich dazu, einen Sinn zu verbinden mit dem Worte:

Du erlebst dich im Seelisch-Geistigen. Man erlebt, wie das eigene Haupt umkleidet ist gewissermaßen mit seinen Gedanken. Man weiß, was es heißt, das Seelisch-Geistige abgetrennt zu haben vom äußeren,

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physisch-leiblichen Leben. Zuerst lernt man den Widerstand kennen, den das leibliche Leben bietet. Dann lernt man erkennen das selb­ständige Leben außerhalb des Leibes. Es ist wahrhaftig so, wie wenn der Wasserstoff einmal sich selbst außerhalb des Wassers wahrnehmen sollte. So ist es mit dem Menschen, wenn er solche Übungen durch­macht. Und dann, wenn er solche Übungen getreulich fortsetzt, dann tritt der große, der bedeutungsvolle Augenblick ein, an dem man so­zusagen den Ausgangspunkt der eigentlichen Geistesforschung hat. Ein Augenblick, der tief erschütternd ist, der ungeheuer bedeutungs­voll ins ganze Leben eingreift. Dieser Augenblick kann in der ver­schiedensten Art sich einstellen. Er kann tausendfach verschieden sein. Ich will ihn aber typisch charakterisieren, wie er doch seiner Charakteristik nach meistens sein wird.

Hat man so eine gewisse Zeit hindurch geübt, hat man gewisser­maßen aus der naturwissenschaftlichen Denkweise heraus die eigene Seele so behandelt, dann kommt der Moment, der eintreten kann ent­weder im alltäglichen Leben, oder auch mitten im Schlafe, so daß man aus dem Schlafe aufwacht und weiß: man träumt nicht, man erlebt eine neue Wirklichkeit. Man kann das zum Beispiel so erleben, daß man sich sagt: Was ist doch um mich? Es ist, wie wenn ich mich in einer Umgebung befände, die sich von mir loslöst, wie wenn die Elemente blitzartig einschlügen und wie wenn mein Leib zerstört würde durch die Elemente und ich mich aufrecht erhalte gegenüber diesem Leibe. Man lernt erkennen, was alle Geistesforscher durch alle Zeiten hindurch mit einem bildlichen Ausdruck genannt haben: an die Pforte des Todes gelangen. Denn das erlebt man, daß man jetzt weiß durch das Bild - also nicht durch die Wirklichkeit, diese erlebt man nur im Tode -, man erlebt durch das Bild, daß man jetzt weiß, wie der Mensch geistig-seelisch ist, wenn er nicht durch das Instrument seines Leibes sich und die Welt wahrnimmt, sondern wenn er nur im Geistig-Seelischen lebt.

Das ist zunächst das Erschütternde; man weiß: Du hast dich mit deiner Denkkraft losgelöst von deinem Leibe. Und ebenso können andere Kräfte losgelöst werden von dem Leibe, so daß der Mensch immer reicher, immer innerlicher mit Bezug auf sein Seelenleben wird.

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Aber es genügt die eine Übung nicht, welche ich mit dem Ausdruck Konzentration oder unbegrenzte Steigerung der Aufmerksamkeit be­zeichnet habe. Durch diese Übung erlangt man das Folgende: Wenn man an dem Punkte angelangt ist, wo die Seele sich selbst erlebt, dann steigen auch auf die Bilder, die man reale Imaginationen nennen kann. Bilder steigen auf, aber Bilder, die sich gewaltig unterscheiden von den Bildern des gewöhnlichen Gedächtnisses. Während das ge­wöhnliche Gedächtnis nur dasjenige in Bildern hat, was äußerlich erlebt worden ist, steigen jetzt Bilder auf aus den grauen Seelentiefen, die nichts gemein haben mit dem, was man in der äußeren Sinneswelt erleben kann. Alle Einwände, daß man sich leicht täuschen könne, daß das, was da aus den grauen Seelentiefen heraufsteigt, nur Remi­niszenzen des Gedächtnisses sein könnten, alle diese Einwände sind hinfällig. Denn der Geistesforscher lernt eben wirklich unterscheiden zwischen dem, was das Gedächtnis heraufrufen kann, und dem, was radikal verschieden ist von allem, was im Gedächtnis stehen kann. Allerdings, eines muß bedacht werden, wenn von diesem Punkte des Eintretens in die geistige Welt gesprochen wird. Es ist dasjenige, daß zur Geistesforschung wenig sich solche Personen eignen, welche an Halluzinationen, an Visionen oder ähnlichen krankhaften Seelenge­bilden und Seelenzuständen leiden. Je weniger der Mensch dazu neigt, was ja doch nur eine Reminiszenz des Tageslebens ist, desto sicherer kommt er vorwärts auf dem Gebiete der Geistesforschung. Und darin besteht ein großer Teil der Vorbereitung zur Geistesforschung, daß man alles dasjenige, was nur irgendwie unbewußt aus der Menschen-seele sich aufdrängen könnte in solch krankhafter Art, genau unter­scheiden lernt von dem, was als ein neues Element, als eine geistige Wirklichkeit durch die geisteswissenschaftliche Ausbildung der Seele eintreten kann.

Ich möchte gerade einen radikalen Unterschied angeben zwischen dem Visionären, dem Halluzinatorischen und dem, was der Geistesforscher erschaut. Warum ist es denn so, daß so viele Menschen glau­ben, schon in der geistigen Welt drinnen zu stehen, wenn sie nur Hallu­zinationen und Visionen haben? Ja, die Menschen lernen so ungern etwas wirklich Neues kennen! Sie halten so gerne an dem Alten, in

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dem sie schon drinnen stehen, fest. Im Grunde genommen treten uns in Halluzinationen und Visionen die krankhaften Seelengebilde so entgegen, wie uns die äußere sinnliche Wirklichkeit entgegentritt. Sie sind da; sie stellen sich vor uns hin. Wir tun gewissermaßen nichts dazu, wenn sie sich vor uns hinstellen. In dieser Lage ist der Geistesforscher gegenüber seinem neuen geistigen Element nicht. Ich habe davon gesprochen, daß der Geistesforscher alle Kräfte seiner Seele, die im gewöhnlichen Leben schlummern, konzentrieren, heraufarbei­ten muß. Das erfordert aber, daß er eine seelische Energie, eine see­lische Stärke anwendet, die im äußeren Leben nicht da ist. Aber diese Stärke muß er immer festhalten, wenn er eintritt in die geistige Welt. Der Mensch bleibt passiv, er braucht sich nicht anzustrengen: das ist das Charakteristische der Halluzinationen, der Visionen. In dem Au­genblick, wo wir der geistigen Welt gegenüber auch nur einen Moment passiv werden, verschwindet sogleich alles. Wir müssen unausgesetzt tätig, aktiv dabeisein. Daher können wir uns auch nicht täuschen, denn nichts kann aus der geistigen Welt vor unsere Augen treten so, wie eine Vision oder Halluzination vor unsere Augen tritt. Wir müssen überall mit unserer Tätigkeit dabeisein, bei jedem Atom desjenigen, was uns aus der geistigen Welt entgegentritt. Wir müssen wissen, wie es sich damit verhält. Diese Aktivität, dieses fortlaufende Tätig-sein, das ist notwendig für die wirkliche Geistesforschung. Dann aber tritt man ein in eine Welt, die sich radikal unterscheidet von der physisch-sinnlichen Welt. Man tritt ein in eine Welt, wo geistige We­sen, geistige Tatsachen um uns sind.

Aber ein Zweites ist dazu notwendig. Daß man losreißt die Seele vom Leibe, das geschieht in der geschilderten Weise. Das zweite aber, es kann wiederum durch einen naturwissenschaftlichen Vergleich klar gemacht werden. Wenn wir den Wasserstoff abtrennen, so ist er zu­nächst für sich allein; aber er geht Verbindungen ein mit anderen Stoffen, er wird zu etwas ganz anderem. Dasselbe muß sich vollziehen mit unserem Geistig-Seelischen nach der Abtrennung vom Leibe. Die­ses Geistig-Seelische muß sich verbinden mit Wesenheiten, die nicht in der Sinneswelt sind. Es muß mit ihnen eins werden; dadurch nimmt es sie wahr.

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Die erste Stufe der Geistesforschung ist das Abtrennen des Seelisch-Geistigen vom Physisch-Leiblichen. Die zweite Stufe ist das Eingehen von Verbindungen mit Wesen, die hinter der Sinneswelt sind. Das letztere ist etwas, was einem in der Gegenwart nicht verziehen wird, weit weniger verziehen wird als das Reden von einem «Geiste im allgemeinen». Es gibt ja heute schon viele Menschen; die wissen, daß es sie drängt, ein Geistiges anzunehmen. Sie sprechen aber von einem Geiste, der hinter der Welt ist und sind froh beseelt, wenn sie Pan­theisten sein können. Aber für den Geistesforscher ist der Pantheismus gerade dasselbe, wie wenn man jemand in die Natur führt und sagt zu ihm: Schau nur, das alles, was dich hier umgibt, es ist Natur! wenn man ihm nicht sagt: Das sind Bäume, das sind Wolken, das ist eine Lilie, das ist eine Rose, sondern: das ist alles Natur! Wenn man den Menschen also von einem Vorgang zum anderen Vorgang, von einem Wesen zum anderen Wesen führt und ihm sagt: Es ist das alles Natur! - damit ist ja nichts gesagt. Im einzelnen, im Konkreten muß auf die Tatsachen eingegangen werden. Es wird einem heute verziehen, wenn man von einem Geiste spricht, der in allem darinnen ist. Der Geistesforscher kann sich aber damit nicht zufrieden geben. Er tritt ja ein in eine Welt, die besteht aus einer Welt von geistigen Wesen­heiten, geistigen Tatsachen, die differenziert sind so, wie die äußere Welt konkret differenziert ist, indem sie besteht aus Wolken, Bergen, Tälern, aus Bäumen, Blumen und so weiter. Daß man aber davon spricht, daß nicht nur die natürlichen Vorgänge differenziert sind in Pflanzen-, Tier- und Menschenreich, sondern daß man, wenn der Mensch in eine geistige Welt eintritt, auch dort von konkreten Einzel­heiten und Tatsachen spricht, das wird einem heute nicht verziehen. Aber der Geistesforscher kann nicht anders als darauf aufmerksam machen, daß, wenn er so in die geistige Welt eintritt, er eintritt in eine Welt wirklicher, konkreter geistiger Wesenheiten und geistiger Vorgänge.

Das zweite, das dann notwendig ist, das ist eine Steigerung der Hingabe, jener Hingabe, die der Mensch im gewöhnlichen Leben odei im gesteigerten gewöhnlichen Leben in der religiösen Frömmigkeit empfindet. Aber wiederum ins Unendliche gesteigert muß das entwickelt

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werden, daß der Mensch wirklich dazu kommt, daß er gleich­sam im Strome des Weltgeschehens hingebungsvoll ruht wie im Schlafe. Im Schlafe vergißt er jede Regung des eigenen Leibes, so muß der Mensch jede Regung des eigenen Leibes vergessen in der Kontemplation oder Meditation. Es ist dies die zweite Übung, die abwechseln muß mit der ersten Übung. Der Übende vergißt seinen Leib vollständig, nicht nur in denkerischer Beziehung, sondern so, daß er auch alle Gemütsregungen und Willensregungen abzusondern ver­mag, so wie er sich im Schlafe abzusondern vermag von jeder Reg­samkeit des Leibes. Aber bewußt muß dieser Zustand herbeigeführt werden. Indem der Mensch diese Hingabe hinzufügt zu der ersten Übung, gelangt er dazu, wirklich sich durch die erwachenden geistigen Sinne so in eine geistige Welt hineinzustellen, wie er sich hineinlebt durch die äußeren Sinne in die Welt der Sinnlichkeit, die uns umgibt. Eine neue Welt tritt dann vor dem Menschen auf, die Welt, in der der Mensch mit seinem Geistig-Seelischen immer ist. Dann aber wird für den Menschen etwas zur Tatsache. Zur Tatsache wird es, so sagte ich, für die Innenbeobachtung, was heute noch durchaus zurückge­wiesen wird von den Vorurteilen unserer Zeit, was aber ebenso ein Ergebnis einer streng wissenschaftlichen Forschung ist, wie die Evo­lutionslehre der neueren Zeit es ist: der Mensch lernt seinen seelisch-geistigen Wesenskern kennen, und zwar so lernt er ihn kennen, daß er weiß: Bevor ich vor der Empfängnis und vor der Geburt in dieses Leben eingetreten bin, das mich mit dem Leibe bekleidete, war ich geistig-seelisch in einem geistigen Reiche. Indem ich durch die Pforte des Todes schreiten werde, wird mein Leib abfallen, aber dasjenige, was ich jetzt kennen gelernt habe als geistig-seelischen Wesenskern, dasjenige, was außer dem Leibe leben kann, das wird durch die Pforte des Todes schreiten. Das gehört, nachdem es durch die Pforte des Todes geschritten ist, zu einer geistigen Welt, das geht in eine geistige Welt ein. Man lernt, mit anderen Worten, die unsterbliche Seele ken­nen schon in diesem Leben zwischen Geburt und Tod. Man lernt kennen dasjenige, wovon man weiß, daß es auf den Leib nicht ange­wiesen ist. Die Welt lernt man kennen, in welche die Menschenseele nach dem Tode eintritt. Aber man lernt diesen geistig-seelischen

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Wesenskern des Menschen in einer solchen Weise erkennen, wie es sich wiederum wissenschaftlich-anschaulich beschreiben läßt.

Wenn wir die Pflanze betrachten, wie der Keim sich entwickelt, wie die Blätter und Blüten entstehen, wie die Frucht sich bildet, aus der dann wiederum ein Keim hervorgeht, dann werden wir gewahr, daß das Leben dieser Pflanze sich zuspitzt in diesem Keim. Man sieht das Abfallen der Blüten und Blätter, man sieht, daß der Keim bleibt, der in sich trägt eine neue Pflanze. So wird man gewahr: In dieser Pflanze, die man vor sich hat, da lebt der Keim, der Kern zu einer neuen Pflanze. So lernt man erkennen, indem man das Leben zwischen Geburt und Tod betrachtet, daß sich im Geistig-Seelischen dasjenige entwickelt, was durch die Pforte des Todes geht, was aber der Keim, der Kern eines neuen Lebens ist. So gewiß, als der Pflanzenkeim die Anlage hat, eine neue Pflanze zu werden, so gewiß hat dasjenige, was sich in dem Alltagsleben als Seelisch-Geistiges verbirgt, was sich aber der Geisteswissenschaft zeigt, die Anlage zu einem neuen Menschen. Und durch eine solche Betrachtung gelangt man in voller Überein­stimmung mit der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart zu den wiederholten Erdenleben. Man weiß, daß das gesamte Menschenleben besteht aus dem Leben zwischen Geburt und Tod und aus dem Leben, das verläuft zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, aus dem dann der Mensch wiederum in ein neues Erdenleben eintritt. Das einzige, was eingewendet werden könnte gegen das eben Gesagte, ist, daß ja der Pflanzenkeim auch zugrunde gehen könnte, wenn die Be­dingungen nicht da sind, die ihn zu einer neuen Pflanze aufrufen. Dieser Einwand erledigt sich für die Geisteswissenschaft dadurch, daß allerdings der Pflanzenkeim, weil er angewiesen ist auf die äußere Welt, auch zugrunde gehen kann. In der geistigen Welt aber, in der der menschliche Seelenwesenskern heranreift zu einem neuen Erden-leben, da gibt es kein Hindernis dafür, daß dasjenige, was als Seelen-kern im Erdenleben reift, in einem anderen Erdenleben wiederum zum Vorschein kommt. Ich kann nur flüchtig in kurzen Worten andeuten, wie der Geistesforscher, festhaltend an der naturwissenschaftlichen Forschungsart, zu der Anschauung der wiederholten Erdenleben kommt.

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Man hat die Geisteswissenschaft angeklagt des Buddhismus, weil sie von den wiederholten Erdenleben spricht. Nun, die Geisteswissen­schaft holt das, was sie zu sagen hat, wahrhaftig nicht aus dem Bud­dhismus, sondern sie steht voll und ganz auf dem Boden der neueren Naturwissenschaft. Aber, sie dehnt diese neuere Naturwissenschaft auf das geistige Leben aus. Und sie kann nichts dafür, daß sie, ohne irgendwie auf den Buddhismus Rücksicht zu nehmen, zu der An­schauung von den wiederholten Erdenleben kommt. Sie kann nichts dafür, daß der Buddhismus in uralten Zeiten aus alten Traditionen heraus gesprochen hat von den wiederholten Erdenleben.

In diesem Zusammenhange möchte ich darauf aufmerksam machen, daß Lessing aus seinem reifen und erfahrungsreichen Denken heraus dazu gekommen ist, von den wiederholten Erdenleben zu sprechen. Nach einem arbeitsreichen Leben hat Lessing seine Abhandlung über die Erziehung des Menschengeschlechts geschrieben, und da ver­tritt er diese Lehre von den wiederholten Erdenleben. Er sagt ungefähr das Folgende: Sollte denn diese Lehre deshalb zu verwerfen sein, weil sie in den ersten Morgenstunden der Menschheit aufgetreten ist, als noch keine Vorurteile der Schulen sie getrübt haben? So wenig Lessing sich beirren ließ dadurch, daß diese Lehre von den wiederholten Erdenleben in der Morgenröte der Menschheit aufgetreten ist und dann später durch die Vorurteile der Schulen in den Hintergrund ge­drängt worden ist, so wenig braucht die Geisteswissenschaft vor dieser Lehre zurückzuschrecken, weil diese Lehre auch im Buddhismus vor­kommt. Es ist durchaus unbegründet, die Geisteswissenschaft deshalb des Buddhismus zu zeihen. Geisteswissenschaft bekennt sich zu der Lehre von den wiederholten Erdenleben aus ihren eigenen Quellen heraus, und der Mensch wird hingewiesen durch diese Geisteswissen­schaft darauf, daß er mit dem gesamten Menschheitsleben auf Erden in Zusammenhang steht. Denn diese Seelen, die in uns leben, sie waren schon oftmals da, sie werden noch oftmals da sein. Wir blicken zurück auf uralte Kulturepochen, auf Zeiten zum Beispiel, wo die Augen der Menschen hin aufgeblickt haben zu den Pyramiden. Wir wissen: Unsere Seelen haben schon dazumal gelebt, und wiederum werden sie er­scheinen in der Zukunft; sie nehmen teil an allen Menschheitsepochen.

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Es ist heute noch durchaus zu verstehen, wenn die Vorurteile der Menschen sich gegen eine solche Lehre wenden. Es gibt ja auch Men­schen, die sich alles so zurechtlegen, wie sie es gerne mögen. Daß Lessing ein großer Mensch war, ist bekannt. Daß er sich auf der Höhe seines Lebens zu der Lehre von den wiederholten Erdenleben bekannt hat, das ist manchen Menschen unbequem und sie sagen deshalb: Nun ja, Lessing ist eben auch schwach geworden im Alter! Das ist den Menschen bequemer zu denken, als zu denken: der Mensch steht in Verbindung mit der gesamten Erdenkultur.

Nun, in welchem Sinne will die Geisteswissenschaft dasjenige, was soeben auseinandergesetzt worden ist, vor die ganze Menschheits­kultur hintragen? In keinem anderen Sinne, als die neuere Natur-wissenschaft ihre Erkenntnisse vor die Menschheit bringt. Aber indem diese Geisteswissenschaft in dieser Art gegenwärtig vor die Mensch­heitskultur hintritt, ist sie denselben Vorurteilen ausgesetzt, denen dasjenige ausgesetzt war, was die neuere naturwissenschaftliche Den­kungsweise gebracht hat. Erinnern wir uns nur an Kopernikus, an Galilei, an Giordano Bruno. Wie war es denn dazumal, als Kopernikus auftrat mit der Ansicht, daß die Erde nicht stille steht, sondern daß sie sich dreht um die Sonne; daß die Sonne in Wahrheit gegenüber der Erde stille steht? Was hatte man geglaubt? Man hatte geglaubt, daß jetzt die Religion auf dem Spiel stehe, daß durch solche Fortschritte des Wissens die religiöse Frömmigkeit der Menschen gefährdet sei. Gewisse kirchliche Bekenntnisse haben bis zum neunzehnten Jahr-hundert gebraucht, um die Lehre des Kopernikus vom Index abzu­setzen und im Schoße ihrer Weltanschauung anzuerkennen. Geistiger Fortschritt hat zu jeder Zeit gegen alte Vorurteile zu kämpfen gehabt. Nicht anders, als das neue naturwissenschaftliche Wissen dazumal in die Menschheitskultur eingetreten ist, will das neue Geisteswissen in die Menschheitskultur eintreten. Daß man etwas wissen kann über den Geist, und daß die Menschheit dazu reif ist, dieses Wissen sich anzueignen, das will Geisteswissenschaft so betonen, wie betont wor­den ist durch Kopernikus, Galilei, Giordano Bruno, daß ein neues Wissen notwendig geworden war, für das die Menschheit reif war, in bezug auf die Natur. Und wie man dazumal selbst den christlichen

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Domherrn Nikolaus Kopernikus angeklagt hat, kein Christ zu sein, so hat man es ja auch in gewissen Punkten leicht, die neuere Geistes­wissenschaft nun wiederum anzuklagen, daß sie unchristlich sei. Ich muß bei einer solchen Anklage immer wiederum eines Prieste?s ge­denken, der, als er einmal sein Universitätsrektorat angetreten hat, einen Vortrag hielt über Galilei, und der dazumal sagte: Es waren eben religiöse Vorurteile dazumal unter den Menschen, als sie Koper­nikus entgegengetreten sind. Derjenige aber, der wahrhaft Religiosität in sich hat, der weiß, daß die Herrlichkeit und das Licht der Gottheit nicht vermindert wird dadurch, daß man in die Geheimnisse des Welt­alls wissend eindringt; er weiß, daß die Größe der Gottesanschauung der Menschen nur zugenommen hat dadurch, daß der Mensch sein Wissen ausdehnte über den Sinnenschein hinaus zu einem Berechnen der Sternenbahnen und der Gestirne Eigentümlichkeiten. - Daß Reli­gion nur gewinnen kann, wenn sie sich wissenschaftlich vertieft, das kann das wahrhaft religiöse Gemüt einsehen. Und Geisteswissenschaft will nicht etwas sein, was zu tun hat mit einer neuen Religionsstiftung. Sie will keine neue Sekte stiften. Sie will keine Propheten und keine Religionsstifter hervorbringen. Die Zeit der Religionsstiftungen, die Zeit der Propheten ist vorüber. Die Menschheit ist reif geworden. Und Menschen, die mit Prophetennatur in der Zukunft vor die Menschheit hintreten wollten, sie werden ein anderes Schicksal haben als die alten Propheten. Die alten Propheten, sie sind mit Recht nach den Eigen­arten ihrer Zeit als hervorragende Menschen verehrt worden. Pro­pheten der Gegenwart, die es in dem alten Sinne sein wollten, werden ihr Schicksal erfahren: sie werden ausgelacht werden! Geisteswissen­schaft braucht keine Propheten, denn Geisteswissenschaft steht ihrer ganzen Natur nach auf dem Boden, daß dasjenige, was sie zu sagen hat, Eigentum ist der Tiefen der Menschenseele, derjenigen Tiefen, in welche die Menschenseele nur nicht immer hinunterleuchten kann. Und dasjenige, was der Geistesforscher sagt, will er als schlichter Forscher erforschen. Er will aufmerksam machen auf dasjenige, was notwendig ist. Der Geistesforscher sagt: Ich habe es gefunden; wenn dti suchst, findest du es selbst! Und inimer mehr und mehr werden sich die Zeiten nähern, wo der Geistesforscher anerkannt werden wird als schlichter

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Forscher, so wie der Chemiker, der Biologe als Forscher anerkannt werden auf ihrem Gebiete; nur daß der Geistesforscher auf dem Ge­biete forscht, das jeder Menschenseele nahegeht.

Ich konnte ja heute nur skizzieren, was bei der Forschung auf diesem Gebiete herauskommt. Aber wenn 5ie darauf eingehen, so werden 5ie sehen, daß das die Erforschung der für die Menschenseele wichtigsten Fragen ist: der Menschheits- und Schicksalsfragen, der beiden Fragen, die die Menschen tief bewegen können, stündlich, täglich; derjenigen Fragen, die die Menschenseele stark machen zur Arbeit. Und weil die Gegenstände der Geistesforschung mit den Tiefen der Menschenseele zu tun haben, daher ist es ihr eigen, daß 5ie die Menschen ergreift, daß sie sich verbindet mit dem tiefsten Innern des Menschen, und daß sie dadurch sein religiöses Empfinden vertieft, daß sie den Menschen religiöser macht in seinem Empfinden, als er sonst gewesen wäre.

Geisteswissenschaft will nicht das Christentum ersetzen, aber ein Instrument zum Ergreifen des Christentums will sie sein. Und gerade dadurch wird uns durch die Geisteswissenschaft klar, daß dasjenige Wesen, das wir den Christus nennen, in den Mittelpunkt alles Erden-daseins zu stellen ist; daß dasjenige, was wir das christliche Bekenntnis nennen, die letzte der Religionen ist, die für die Erdenzukunft ewige Religion ist. Gerade das zeigt uns die Geisteswissenschaft, daß die vorchristlichen Religionen aus ihrer Einseitigkeit herausgewachsen sind, zusammengewachsen sind in die Religion des Christentums. Geisteswissenschaft will nicht etwas anderes an die Stelle des Christen­tums setzen, sondern 5ie will nur dazu helfen, das Christentum tiefer, inniger zu verstehen.

Kann man sagen, daß Kopernikus, als er in seinem stillen Kämmer­lein ein neues astronomisches Weltensystem aufstellte, die Natur um-schaffen wollte? Wahnsinn ware es, solches zu sagen. Die Natur ist geblieben, was sie war; aber die Menschen haben verstehen gelernt in einer Weise, wie es der neuen Kultur geziemte, über die Natur zu denken. Ich habe mir erlaubt, mein Buch, das ich vor vielen Jahren geschrieben habe über das Christentum, zu nennen: «Das Christen­tum als mystische Tatsache.» Derjenige, der gewohnt ist, über die Dinge auch nachzudenken, die er der Welt überliefert, wählt einen

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solchen Titel nicht ohne Bedenken. Warum habe ich diesen Titel ge­wählt? Nun, uni zu zeigen, daß das Christentum nicht eine bloße Lehre ist, die man so oder so verstehen kann, sondern daß es als eine Tatsache, die nur geistig zu verstehen ist, in die Welt eingetreten ist. So wahr die Natur keine andere geworden ist durch Kopernikus, so wahr wird die Tatsache des Christentums keine andere, wenn Geistes­wissenschaft zum Instrument wird, diese Tatsache des Christentums in einem vollen Sinne zu verstehen, besser zu verstehen, als das in abgelebten Zeiten möglich gewesen ist.

Nur ein Punkt aus der geisteswissenschaftlichen Erforschung des Christentums sei mir gestattet hervorzuheben. Ich habe zwar die Zeit schon überschritten, die mir gesetzt war, aber ich bitte Sie, noch auf diesen einen konkreten Punkt der christlichen Geistesforschung hin­weisen zu dürfen.

Wenn man die alten Kulturen, die vorchristlichen Kulturen mit dem Blicke des Geistesforschers verfolgt, dann findet man, daß diese vorchristlichen Kulturen überall das hatten, was man die Mysterien nennt, Stätten, von denen man sagen kann, daß sie religiöse Stätten, Kunststätten und Wissenschaftsstätten zugleich waren. Während die äußere Kultur so beschaffen war, daß in den alten Zeiten der Mensch niemals dazu gekommen ist, so, wie ich es geschildert habe, durch die geisteswissenschaftlichen Methoden in die geistige Welt einzudringen, während die äußere Kultur nie eindringen ließ in die geistige Welt, konnten die einzelnen Menschen aufgenommen werden in die Myste­rien. Da waren die Schüler, die man auch nannte die Einzuweihenden. 5ie wurden dazu gebracht, das zu erlangen, was heute geschildert worden ist, nämlich aus ihrem physischen Leibe herauszugehen. 5ie wurden sozusagen durch die Kunst der Mysterien dazu gebracht, ein leibfreies Seelenleben zu entwickeln. Und was erlangten sie durch dieses leibfreie Seelenleben? 5ie erlangten die Möglichkeit, die geistige Welt zu erleben und diesen Mittelpunkt der Erdenmenschheitsge­schichte, das Christus-Ereignis, zu erleben. Man berücksichtigt in der äußeren Wissenschaft viel zu wenig, was aus den Schülern der My­sterien geworden ist, aber man könnte vieles anführen, um dieses dar­zustellen. Nur das Eine lassen 5ie mich erwähnen wie ein Symptom,

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ein Wort des Kirchenvaters Augustinus. Er sagte: Christen gibt es nicht nur, seitdem der Christus auf Erden erschienen ist, Christen gab es auch schon vorher! Wenn man das heute sagt, wird man als Ketzer angeklagt; aber ein christlicher Kirchenvater durfte es sagen, daß es vor dem Christus, vor dem Erscheinen des Christus auf Erden Christen gab; und es ist das auch die Anschauung des Augustinus selber. Warum sagte dieser christliche Lehrer solche Worte? Man erlangt ein gewisses Bewußtsein davon, warum er das sagte, wenn man zum Beispiel bei Plato liest, wie er die Mysterien schätzt, wie er spricht über die Be­deutung der Mysterien für das ganze Wesen und Leben der Mensch­heit. Ein Wort, das uns hart erscheinen kann, ist uns überliefert von

Plato: Die Menschenseelen leben wie im Schlamm, leben wie im Sumpfe, solange sie nicht in die heiligen Mysterien eingeweiht sind. Er sagte das, weil er überzeugt war, daß die Menschenseele eigentlich ihrem Wesen nach geistig-seelisch ist, daß aber nur derjenige, der her-ausnimmt seine Seele aus dem physischen Leibe, durch die Mysterien ansichtig wird der geistigen Welt. Als jemand, der seinem wahren Wesen entzogen ist, erscheint dem Plato der Mensch, der nicht in die Mysterien eingedrungen ist. Und das ist das Wesentliche: Der einzige Weg, aus dem Physisch-Sinnlichen in das Geistige hereinzugelangen, war in alten Zeiten der Weg durch die Mysterien.

Das ist aber heute nicht mehr so. Ein gewaltiger Unterschied ist vorhanden in bezug auf das Verhältnis der Menschenseele zu der geistigen Welt gegenüber den vorchristlichen Zeiten. Dasjenige, was ich Ihnen heute erzählt habe, und was jede Seele vornehmen kann mit sich, um ihren Einzug in die geistige Welt zu halten, das ist erst mög­lich in der Welt seit der Begründung des Christentums. Seither erst kann jede Seele, die dasjenige anwendet, was ich heute und in den genann­ten Büchern dargestellt habe, durch Selbsterziehung hinaufgelangen in die geistige Welt. Vor der Begründung des Christentums brauchte man die Mysterien, brauchte man die autoritativen Anweisungen der Lehrer. Selbsteinweihung hat es in alten Zeiten nicht gegeben. Und wenn die Geisteswissenschaft gefragt wird: Worauf beruht dieser Umschwung? dann hat sie aus ihren Forschungen heraus zu ant­worten: Dieser Umschwung ist möglich geworden durch das Mysterium

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von Golgatha. Durch die Begründung des Christentums ist eine Tatsache, die nur im Geiste erforscht werden kann, in die Menschheit eingetreten. Etwas, was vorher nur im Geistigen zu finden war, wenn der Mensch den Leib verlassen hatte durch die Mysterien, der Christus selbst, er ist nach der Begründung des Christentums von jeder Men­schenseele durch eigene Anstrengung zu finden. Dasjenige, was gleich­sam die Mysterien in die Menschenseelen hineinbrachten, das liegt seit dem Mysterium von Golgatha in jeder Menschenseele, das ist allen Menschenseelen zuteil geworden. Woher ist das gekommen? Die­jenigen, von denen man wußte, daß sie durch die Mysterien gegangen sind, Heraklit, Plato, die nennt der Kirchenlehrer «Christen», weil sie durch die Mysterien die geistige Welt gesehen haben.

Die Geisteswissenschaft zeigt uns, daß, indem Jesus gelebt hat in der Art, wie 5ie es in den Evangelienbüchern finden können, für Jesus ein Moment eintritt in seinem Leben - es ist die Taufe im Jordan -, wo dieser Jesus sich umgewandelt hat, wo etwas eingetreten ist in ihm, das früher nicht da war, das dann in ihm lebte während dreier Jahre. Und dasjenige, was da in ihn eingezogen ist, es geht durch das My­sterium von Golgatha hindurch. Es ist jetzt nicht die Zeit hier, die Einzelheiten des Mysteriums von Golgatha zu schildern. Aber die Geisteswissenschaft bestätigt dasjenige, was in den Evangelien ge­schrieben ist, von ihrem Gesichtspunkte aus, von ihrem vollständig wissenschaftlichen Gesichtspunkte aus. Durch dasjenige, was auf Gol­gatha geschieht, verbindet sich etwas, das vorher nur in den geistigen Höhen zu erreichen war, mit der Erdenmenschheit selbst. Es lebt seit der Zeit, da der Christus durch den Tod gegangen ist auf Golgatha, in allen menschlichen Seelen drinnen. Es ist die Kraft, durch welche jede Seele den Weg in die geistige Welt hinein finden kann. Das Menschengeschlecht auf Erden ist in bezug auf seine Seele ein anderes geworden durch das Mysterium von Golgatha. Der Christus ist, wie er selber sagt, «von oben», aber er ist eingezogen in die Menschen­-Erdenwelt.

Man wirft der Geisteswissenschaft vor, daß 5ie sagt, der Jesus sei nicht immer der Christus gewesen, sondern erst im dreißigsten Jahre des Jesus hätte das Christus-Leben auf Erden begonnen. Oberflächlichkeit

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über Oberflächlichkeit, aus dem Vorurteil der Menschheit herausgeboren, tritt der Geisteswissenschaft entgegen; wenn man die Tatsache zugibt, tritt einem gleich ein Vorurteil entgegen. Und so ist es fast mit allem, was gesagt wird von der Gegnerschaft in bezug auf die Stellung der Geisteswissenschaft zum Christentum.

Müssen wir nicht sagen: Erst im dritten Lebensjahr ungefähr kann der Mensch beginnen, sich zu erinnern. Sagt man aber deshalb, daß dasjenige, was später im Menschen lebt, nicht früher schon in ihm war? Wenn man spricht von dem Einzuge des Christus in den Jesus, leugnet man deshalb, daß der Christus mit dem Jesus von der Geburt an verbunden war? Ebensowenig leugnet man dieses, wie man leugnet, daß die Seele im Kinde ist, bevor die Seele sozusagen aufersteht in diesem Kinde im Laufe des dritten Jahres. Man muß nur verstehen, was die Geisteswissenschaft sagt, dann wird man nicht mehr ihr Gegner sein.

Ferner wird der Geisteswissenschaft vorgeworfen, daß 5ie aus dem Christus ein kosmisches Wesen macht. 5ie tut nichts anderes, als den Blick des Erdenmenschen erweitern über die bloßen irdisch-physischen Angelegenheiten hinaus in die Weiten des Weltenalls, daß er auch geistig das Weltenall umfasse mit seinem Wissen, so wie Kopernikus die äußere Welt umfaßt hat mit seinem Wissen. Daß die Geistes­wissenschaft das Bedürfnis hat, einzubeziehen, was ihr das Heiligste ist, in dieses ihr Wissen, das entspricht nur einem religiösen Gefühl und zugleich einem tief wissenschaftlichen Gefühl. Geurteilt haben die Menschen über die Bewegungen im Weltenall nach dem, was 5ie sahen, vor Kopernikus; unabhängig von der Sinneswelt haben 5ie ge­lernt zu urteilen. Ist es strafbar, wenn Geisteswissenschaft dasselbe tut in bezug auf die geistigen Angelegenheiten der Menschheit? Ge­urteilt haben die Menschen in einer gewissen Weise über das Christen­tum, über das Leben des Christus Jesus, wie 5ie bisher urteilen konnten. Geisteswissenschaft will erweitern den Blick in die kosmisch geistigen Weiten. 5ie fügt zu dem bisher Gewußten hinzu, was 5ie aus der Geisteswissenschaft heraus über den Christus zu sagen hat. Geistes­wissenschaft erkennt in dem Christus ein Wesen, das ewig ist; ein Wesen, das nur einmal eingezogen ist in einen menschlichen Leib, das

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sich dadurch unterscheidet von den übrigen Menschen, daß es nicht wiederholte Erdenleben durchmacht. Der Christus ist nur einmal ein­gezogen in einen Menschenleib und ist nun vereinigt mit den Seelen der Menschen.

Einen merkwürdigen Fehler machen diejenigen, die die Geistes­wissenschaft vom Standpunkte des Christentums aus bekämpfen. Man frage einmal bei der Geisteswissenschaft an, ob 5ie dasjenige, was sie innerhalb des Christentums finden kann, bekämpft! 5ie sagt zu allem Ja, wozu das Christentum Ja sagt. Aber 5ie sagt noch etwas anderes dazu. Dieses andere verbieten, das heißt nicht, auf seinem Christentum bestehen, sondern das heißt bestehen auf der Beschränktheit des Chri­stentums; das heißt so operieren, wie diejenigen operiert haben, die über Kopernikus, Galilei, Giordano Bruno so gesprochen haben, wie ich es angeführt habe. Welcher logische Fehler da zugrunde liegt, das kann man leicht einsehen. Diejenigen, die da kommen und sagen:

Ihr redet ja von einem kosmischen Christus, der auch in den Welten-weiten lebt, daher seid Ihr Gnostiker - begehen ungefähr denselben Fehler, den einer begeht, der sagt: Ja, der Mann, der mir jetzt Geld gab, er ist mir 30 Kronen schuldig, er hat mir aber 40 Kronen gegeben, weil er mir 10 dazu leiht. Wenn ich jetzt komme und sage: Der Mann hat mir die Schuld nicht bezahlt, er hat mir ja die 30 Kronen nicht gegeben, sondern 40 Kronen, begehe ich da nicht einen törichten Fehler?! Wenn aber die Leute kommen und sagen zu den Vertretern der Geisteswissenschaft: Ihr sagt uns nicht nur das, was wir über den Christus sagen, sondern ihr sagt noch etwas dazu - dann merken es die Leute nicht, welch ungeheuren Fehler 5ie machen, weil 5ie aus ihrer Leidenschaft heraus sprechen und nicht wirklich objektiv. Meinet­wegen mag man polemisieren dagegen, daß das, was Geisteswissen­schaft über das Christentum gibt, etwas sein kann oder nicht sein kann für die Menschen. Das hängt davon ab, was die Menschen brau­chen. Man könnte ja auch Kopernikus, Galilei, Giordano Bruno zu­rückweisen. Aber man darf nicht sagen, Geisteswissenschaft gebe weniger über das Christentum oder Geisteswissenschaft trete gegen das Christentum auf.

Und noch eines ist es, was ausgesprochen werden muß, wenn über

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das Verhältnis von Geisteswissenschaft zum Christentum die Rede ist: Die Menschheit ändert sich, indem 5ie in den einzelnen Menschen­leben von Epoche zu Epoche gebt. Unsere Menschenseelen haben durchgemacht Erdenleben in Zeiten, wo der Christus noch nicht mit der Erde vereinigt war, und 5ie werden durchmachen noch fernere Erdenleben, in denen der Christus mit der Erde vereint ist. Der Chri­stus lebt nunmehr in den Menschenseelen selbst. Dann aber, wenn die Menschenseele sich immer mehr und mehr vertieft, wenn die Menschenseele immer wieder und wiederum durch wiederholte Erdenleben geht, dann wird 5ie immer selbständiger und selbständiger, immer innerlich freier und freier. Daher ist es so, daß sie immer neue Instrumente braucht, um die alten Wahrheiten zu verstehen, daß sie aus dieser inneren Freiheit heraus immer weiter und weiter vorzudringen hat. So muß gesagt werden: Das Christentum wird gerade durch die Geisteswissenschaft in einer solchen Tiefe erkannt, in einer solchen Wahrheit, in einer solchen Wichtigkeit erkannt, daß die Geistes­wissenschaft Vertrauen haben darf, wenn sie in einer neuen Form diese alten, christlichen Wahrheiten verkündigt. Mögen diejenigen, die nur bei ihren Vorurteilen stehenbleiben wollen, glauben, daß Geisteswissenschaft dem Christentum Abbruch tue. Wer in die Kultur der Gegenwart eindringt, der wird finden, daß gerade diejenigen Men­schen, die nicht mehr in der alten Weise Christen sein können, durch Geisteswissenschaft wiederum von der Wahrheit des Christentums überzeugt werden. Denn dasjenige, was die Geisteswissenschaft über das Christentum zu sagen hat, das darf sie sagen zu jeder Seele, weil den Christus, von dem sie spricht, jede Seele in sich selbst finden kann. Aber 5ie darf auch sagen, daß 5ie den Christus findet als das Wesen, das einmal wirklich durch die Tatsache des Mysteriums von Golgatha eingetreten ist in die Menschenseelen, in die Erdenwelt. Der Glaube hat nichts zu fürchten von dem Wissen, denn die Gegenstände des Glaubens, wenn sie zum Geiste aufsteigen, haben das Licht des Wis­sens nicht zu scheuen. Und so wird Geisteswissenschaft dem Christen­tum diejenigen Seelen erobern, die ihm nicht anders werden gewon­nen werden können als dadurch, daß man zu ihnen nicht spricht wie ein prophetischer Religionsstifter, sondern wie ein schlichter Wissenschafter,

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der aufmerksam macht auf dasjenige, was auf geisteswissen­schaftlichem Gebiete gefunden werden kann, und der die Saiten, die in jeder Seele sind, zum Mitschwingen bringt.

Geistesforscher kann zwar ein jeder Menschen werden; die Wege dazu können 5ie in den genannten Büchern angegeben finden. Aber auch derjenige, der nicht Geistesforscher ist, kann, wenn er die Wahr­heit in unbefangener Weise auf sich wirken läßt, von dieser Wahrheit durchdrungen werden. Und wenn er das nicht tut, dann kann er sich eben nicht frei machen von Vorurteilen. In der Seele des Menschen liegen alle Wahrheiten. Es hat vielleicht nicht jeder Mensch Gelegen­heit, als Geistesforscher die Wahrheit des Geistigen zu überschauen; aber so wahr wir schon mit dem Denken aus dem Gebiet der Sinnes-welt heraus sind, so wahr geht das Denken mit, wenn der Geistes-wissenschafter auf das aufmerksam machen will, was er auf seinen geistigen Wegen erforscht. Und nur aufmerksam machen will er dar­auf, daß es Wahrheiten gibt, die in jeder Seele keimen können, weil 5ie in jeder Seele vorhanden sind.

Da ich zum Schlusse noch aufmerksam machen möchte, wie die Geisteswissenschaft sich hineinstellt in das Kulturleben, so möchte ich noch das Folgende sagen: Geisteswissenschaft stimmt wirklich überein mit der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart und Denkungsart, und nicht anders will sie sich hinstellen vor die Kultur der Gegenwart, als sich der kirchliche Domherr Kopernikus, als sich Galilei, als sich Giordano Bruno hingestellt haben vor ihre Gegenwart. Vergegen­wärtigen wir uns Giordano Bruno. Was hat er eigentlich getan? Bevor er auftrat und seine für die Menschheitsentwickelung so bedeutungs­vollen Worte sprach, blickten die Menschen ins Weltenall hinein. 5ie sprachen von den Sternensphären so, wie sie glaubten, sie zu sehen. 5ie sprachen von der blauen Himmeiskugel, die das Weltall begrenzt. Kopernikus, Galilei, Giordano Bruno, sie hatten den Mut, den Sinnen-schein zu durchbrechen und eine neue Denkungsweise zu begründen. Was war es denn im Grunde genommen, was Giordano Bruno vor seinen Zuhörern sagte? Er sagte: Seht euch die blaue Himmelskugel an; das Firmament, ihr macht es selbst durch die Begrenztheit eurer Erkenntnis. Eure Augen sehen nur bis dahin, und eure Augen sind es,

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die sich diese Grenze schaffen! Über diese Grenzen hinaus erweiterte Giordano Bruno den Blick der Menschen. Er glaubte darauf hinweisen zu dürfen, daß eingebettet sind in die Raumesweiten ewige Sternen­welten.

Was muß der Geistesforscher tun? Lassen 5ie es mich bescheiden im Sinne der neueren Geistesentwickelung aussprechen. Hinweisen muß der Geistesforscher auf das Zeitenfirmament, hinweisen muß er auf die Grenzen von Geburt und Tod des Menschenlebens, sagen muß er: Die äußere Anschauung sieht Geburt und Tod als ein Zeitenfirma­ment durch die Begrenztheit des menschlichen Verstandes und Wahr­nehmungsvermögens. Aber wie Giordano Bruno muß er darauf hin­weisen, daß dieses Zeitenfirmament nicht da ist, sondern daß es nur herrührt von der Begrenztheit der menschlichen Anschauung. Wie Giordano Bruno hinweist auf die Begrenztheit des Raumes, wie er darauf hinweisen muß, wie unendliche Welten eingebettet sind in die Weiten des Raumes, so muß der Geistesforscher darauf hinweisen, daß hinter den nicht vorhandenen Grenzen von Geburt und Tod die Zeitenunendlichkeit liegt, und daß darin eingebettet ist der Menschen-seele Ewigkeit, die ewige Wesenheit des Menschen, wie 5ie von Leben zu Leben geht. In vollem Einklang mit dem, was für die Naturwissen­schaft geschehen ist, steht die Geisteswissenschaft da.

Und noch einmal sei es mir gestattet, auch in dieser Stadt darauf aufmerksam zu machen, wie die Geisteswissenschaft keine Religion stiften will, wie sie aber das Seelenleben religiöser stimmt, und wie sie gerade zu der Wesenheit im religiösen Mittelpunkte, zu dem Chri­stus hinführt. Wiederholt sei es mir gestattet, darauf aufmerksam zu machen, wie Geisteswissenschaft, obzwar 5ie keine neue Religions­gemeinschaft stiften will, sie doch die Menschenseele tief religiös stimmt; wie sie aus der Wissenschaft des Geistes heraus nicht eine neue Religion, aber ein vertieftes religiöses Bewußtsein herbeiführt. Und derjenige, der sich fürchtet vor der Geisteswissenschaft so, als ob 5ie zerstören könnte das religiöse Bewußtsein, der gleicht einem Menschen, der etwa vor Kolumbus hingetreten wäre, als er nach Amerika gefahren ist - gestatten Sie, daß ich diesen Vergleich ge­brauche - und gesagt hätte: Warum entdeckst du Amerika? Hier in

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unserem alten Europa geht so schön die Sonne auf; wissen wir denn, ob in Amerika auch die Sonne aufgehen wird und die Menschen wärmt und die Erde beleuchtet? Derjenige aber, der in den Sinn des physi­schen Erdendaseins eingetreten ist, der wird gewußt haben, daß in allen Ländern die Sonne leuchtet. Wer da aber für sein Christentum fürchtet, der gleicht einem solchen Menschen, der die Entdeckung eines neuen Landes fürchtet, weil er meint, es könne vielleicht dort die Sonne nicht scheinen. Wer wahrhaft Christus-Sonne in seiner Seele trägt, der weiß, daß die Christus-Sonne in jedem Lande leuchten wird. Und welche Gebiete auch noch entdeckt werden mögen, sei es auf Gebieten der Natur oder auf Gebieten des Geistes, das Amerika des Geistes wird niemals entdeckt werden, wenn nicht das wahrhaft religiöse Leben in Zugehörigkeit zum Mittelpunkt des Erdendaseins, zur Christus-Sonne sich hinneigen wird, und wenn nicht diese Chri­stus-Sonne, die Seelen erleuchtend, die Seelen erwärmend, die Seelen befeuernd scheinen wird. Nur derjenige, der schwach ist in seinem religiösen Fühlen, kann fürchten, daß dieses religiöse Fühlen ersterben oder erlahmen könnte in einer neu entdeckten Lage. Wer aber stark ist in seinem echten Christus-Gefühl, der wird nicht Furcht haben vor dem Wissen, der wird nicht fürchten, daß in irgendeiner Weise gefährdet werden könnte der Glaube durch das Wissen.

In diesem Vertrauen lebt Geisteswissenschaft. In diesem Vertrauen spricht Geisteswissenschaft zur Kultur der Gegenwart. Denn sie weiß, das das wahr ist, daß wahres religiöses Denken und Fühlen durch keine Forschung gefährdet werden kann, sondern nur eine schwache Reli­giosität etwas zu fürchten hat. 5ie weiß, daß man Vertrauen haben darf zum Sinn der Wahrheit. Und weil der Geistesforscher durch die erschütternden Ereignisse seines Seelenlebens, durch das, was er objektiv durchgemacht hat, weiß, was in den Tiefen der Menschenseele lebt, und weil er durch seine Forschungen Vertrauen zur Menschenseele gewinnt, weil er sieht, daß die Menschenseele die innigste Verwandtschaft hat mit der Wahrheit, so glaubt er, wie auch die Zeichen in der Gegenwart gegen die Geisteswissenschaft sprechen mögen, doch an den endlichen Sieg der Geisteswissenschaft. Und er erhofft ihn von dem wahrheitslie­benden und auch von dem echten religiösen Leben der Menschenseele.

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HINWEISE

Zu dieser Ausgabe

Zu den Vorträgen: Ein Text zur Einladung zu den Kopenhagener Vorträgen «Über den Sinn des Lebens» lag den Herausgebern nicht vor. Die Einladung zu den Norrköpinger Vorträgen über «Theosophische Moral» lautet wie folgt:

Theosophische Freunde!

Im Anschluß an die Generalversammlung der Skandinavischen Sektion der Theosophischen Gesellschaft, welche am 26. und 27. Mai in Norrköping, Schweden, stattfindet, wird Herr Dr. Rudolf Steiner am 28., 29. und 30. Mai drei Logenvorträge halten über das Thema:

Theosophische Moral.

Anmeldungen werden frühzeitig erbeten und sind an Frau A. Wager Gunnarsson, Norrköping, Stathöga zu richten. Es wird bemerkt, daß unmittelbar nach den Vorträgen in Norrköping Dr. Steiner nach Kristiania reist, wo ein Zyklus vom 2.-11. Juni abgehalten wird.

Teosofiska Logen
Norrköping, Schweden
Nya Radstugatan 24

und die Einladung zu den Vorträgen «Christus und die menschliche Seele» lautet:

Zu den Vorträgen, die Herr Dr. Rudolf Steiner vom 12. bis 16. Juli 1914 in Norrköping, Schweden, halten wird, werden hiermit die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft auf das freundschaftlichste eingeladen.

Es werden stattfinden:

Am 12., 14., 15. und 16. Juli abends 8 Uhr Vorträge für die Mitglieder über das Thema: «Christus und die menschliche Seele» Lokal: Norrköpings Kontoristförening.

...

Am 13. Juli abends 8 Uhr ein öffentlicher Vortrag über das Thema: «Theosophie und Christentum» Lokal: Norrköpings Hörsal.

...

Anthroposophische Gesellschaft, Norrköpingsgruppe

Hinter den Ausführungen der Vorträge steht die große Auseinandersetzung mit der Christus-Anschauung der führenden Persönlichkeiten der Theosophischen Gesellschaft, die zuletzt zur Trennung von der Theosophischen Gesell-

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schäft und zur Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft führte. Man vergleiche hierzu z. B. die Ausführungen Rudolf Steiners im 5. Vortrag des Zyklus «Die Geschichte und die Bedingungen der anthroposophischen Bewegung im Verhältnis zur Anthroposophischen Gesellschaft» (GA 258, S. 106f.) und das Vorwort, das Marie Steiner zur ersten buchförmigen Ausgabe der Vorträge «Christus und die menschliche Seele» 1933 geschrieben hat (in «Marie Steiner, Gesammelte Schriften I: Die Anthroposophie Rudolf Steiners. Gesammelte Vorworte zu Erstveröffentlichungen von Werken Rudolf Steiners», Dornach 1967).

Zu bemerken ist noch, daß die Kopenhagener Vorträge «Uber den Sinn des Lebens» und die Norrköpinger Vorträge über «Theosophische Moral» in ihrer Thematik in dem sich unmittelbar anschließenden Vortragszyklus «Der Mensch im Lichte von Okkultismus, Theosophie und Philosophie», gehalten vom 2. bis 12. Juni 1912 in Kristiania (Oslo), eine Fortsetzung, Erweiterung und Zusammenfassung gefunden haben.

Textunterlagen: Von allen Vorträgen dieses Bandes liegt jeweils nur eine Niederschrift vor. Die Norrköpinger Vorträge vom Juli 1914 sind von Hedda Hummel nachgeschrieben worden. Die Nachschreiber der anderen Vorträge sind namentlich nicht bekannt.

Titel des Bandes und der Vorträge: Der Haupttitel des Bandes, «Christus und die menschliche Seele», stammt von Rudolf Steiner, desgleichen die Titel «Über den Sinn des Lebens», «Theosophische Moral» und «Anthroposophie und Christentum».

Die Herausgabe der 1. Auflage besorgten Paul Jenny und Johann Waeger.

Die Inhaltsangaben wurden für die 2. Auflage erstellt.


Einzelausgaben:

Norrköping, 12., 14., 15., 16. Juli 1914, «Christus und die menschliche Seele» (Zyklus 34): Berlin 1915, Dornach 1933, 1949, 1960, 1966, 1983.

Kopenhagen, 23. und 24. Mai 1912, «Uber den Sinn des Lebens»: Berlin 1912, 1913, Dornach 1952, (zusammen mit «Theosophische Moral») 1960, 1982.

Norrköping, 28., 29., 30. Mai 1912, «Theosophische Moral»: Berlin 1912, Dornach 1952, (zusammen mit «Uber den Sinn des Lebens») 1960, 1982.

Norrköping, 13. Juli 1914, «Anthroposophie und Christentum»: Dornach 1960, 1973, 1990.

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Hinweise zum Text Werke Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mit der Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die Übersicht am Schluß des Bandes.

Zu Seite

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.