GA 105

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Welt, Erde und Mensch

deren Wesen und Entwickelung
sowie ihre Spiegelung in dem Zusammenhang zwischen
ägyptischem Mythos und gegenwärtiger Kultur

Ein Zyklus von elf Vorträgen,
gehalten in Stuttgart vom 4. bis 16. August 1908

GA 105

1974

Inhaltsverzeichnis


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Aus dem Vorwort von Marie Steiner zur ersten Buchausgabe (1930)

Es war im Jahre 1908, als Rudolf Steiner in Stuttgart diesen nun nach einer Nachschrift in Buchform erscheinenden Vortragszyklus hielt, dem als Motto die Worte vorangehen sollen:

«Unsere Zeit muß nicht eine uralte Weisheit gebären, sondern eine neue Weisheit, die nicht nur in die Vergangenheit hineinweisen kann, sondern die prophetisch, apokalyptisch wirken muß in die Zukunft.»

Ein Jahr vorher, am denkwürdigen Kongreß der Allgemeinen Theosophischen Gesellschaft in München, hatte er deutliche Betonung gegeben der von ihm eingeschlagenen Richtung zur Hebung und Belebung der theosophischen Bewegung, die da drohte in Einseitigkeit zu ver­fallen, und die, in orientalisierenden Vorstellungen sich bewegend, nicht Rechnung trug der Seelenartung und der Konstitution der europäischen Menschheit. Manche schwere Mißstände waren schon die Folge davon. Rudolf Steiner stellte dem gegenüber ein Positives hin: seine umfassende, dem geschichtlichen Werdegang der Menschheit Rechnung tra­gende Lehre. Bei dem erwähnten Kongreß in München gab er auch zum erstenmal den dargebrachten geistigen Inhalten einen entsprechenden künstlerischen Ausdruck. Durch die Farbe der Wandbekleidung, durch die aus ihr hervortretenden Siegel-Gemälde wurde rosenkreuzerisches Geiststreben versinnbildlicht; die Motive der Säulenformen erfaßten schon die Zukunft. Antikes Griechentum wurde lebendig in der dramatischen Wiedergabe des wiederkonstruierten Mysteriums von Edouard Schuré «Das heilige Drama von Eleusis». An germanisch-nordische Mythologie wurde angeknüpft. Es waren fernliegende und deshalb ketzerische Dinge, die den gehorsamen Nachbetern angloindischer Theosophie geboten wurden. Dieses Neue erzeugte eine seltsame Erregung. Die Kühnheit, nicht nur vorgeschriebene, sondern neue Wege beschreiten zu wollen, ließ gewisse geistig-imperialistische Tendenzen in den führenden Persönlichkeiten der Theosophischen Gesellschaft aufschnellen und sich aufbäumen. Dieser hier auftretende Selbständigkeitszug sollte unterbunden werden.

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Freilich wurde damit die Abmachung durchbrochen, auf Grund welcher allein Rudolf Steiner sich herbeigelassen hatte, Lehrer und Lei­ter der führerlosen Schar deutscher Theosophen zu werden. Seine Bedingung war gewesen, nun innerhalb der Gesellschaft das tun zu dür­fen, was er als seine Aufgabe betrachtete: einfließen zu lassen in die Kultur Europas dasjenige, was das Christ-Mysterium beleuchtet, was abendländische Esoterik seit dem Christus-Ereignis geworden ist. Als man in gewissen leitenden theosophischen Kreisen erkannte, mit welch überragendem Geistvermögen und Wissen er diese Aufgabe zu lösen vermochte, suchte man nach Mitteln, seine Tätigkeit zu unterbinden. Das geeignetste Mittel sah man in der Verkündigung eines im Physi­schen, im Leibe eines Hinduknaben sich wieder offenbarenden Christus - und bereitete nun sacht die Umkreisung vor, aus welcher heraus einige Jahre später Krishnamurti als künftiger Weltenlehrer hervor­treten sollte.

Es ist das Wort gefallen, daß Rudolf Steiner durch das Auftreten Krishnamurtis gleichsam gezwungen worden wäre, christliche Geheim­nisse preiszugeben, über die er sonst geschwiegen hätte. Diese Auffassung widerspricht dem ruhigen, zielsicheren, organisch sich entwickelnden Aufbau seiner Lehre. Rudolf Steiner sah seine Aufgabe darin, der Menschheit jenen Einweihungsweg zu weisen, der ihrem heutigen Bewußtseinszustande entspricht. Um diesen Weg der Erkenntnis zu beschreiten, war es notwendig, neben der ehrfürchtig bewundernden Betrachtung uralter Weisheit, ein Verständnis dafür zu wecken, wie die Formen, in denen diese Weisheit gegeben wurde, sich wandelten, ent­sprechend den neu sich entwickelnden Seelenfähigkeiten der Menschen, wie diese Formen unterworfen sind dem Gesetz des Aufblühens, der Reife und des Vergehens, damit immer wieder neues Leben aus deren Sterben entstehe. So ist Metamorphose, ist stufenweis sich hebende, senkende, wieder sich hebende Entwickelung auch hier die Basis des fortschreitenden Lebens. Geschichtlicher Sinn mußte geweckt werden, nicht nur bewunderndes Anschauen alter Offenbarung. Die geheimnisvollen Beziehungen der großen Weltgesetze von einer Kultur zur andern mußten aufgedeckt werden. Keiner hat in so gewaltiger und er­habener Weise gesprochen über das, was einst als uralte Weisheit aus

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geistigen Höhen zu den Menschen heruntergeflossen ist, wie Rudolf Steiner; keiner hat vor ihm in dieser Weise in den heutigen Bewußt­seinsformen reden können von der Spiegelung des großen Weltendaseins im einzelnen Menschen, im Mikrokosmos. Und alles dies gip­felte in dem Zentralereignis der Menschheitsentwickelung: dem Nie­derstieg des Sonnengeistes in den Leib des Jesus von Nazareth; zeigte, wie dadurch erst die Sonnenkräfte den Planeten ganz durchdringen und durchgeistigen konnten, den Menschen zu dieser Aufgabe mit aufrufend und befähigend. Im Todesakt auf Golgatha vollzog sich die entscheidend eingreifende mystische Tatsache; sie bedarf keiner Wiederholung. Sie wäre ja sonst umsonst geschehen.

Um diese Wahrheiten an die Menschheit heranzubringen, mußte Stein an Stein herangeholt werden in ruhig abgewogenem Schritte. Die Grundlagen waren schon geschaffen, bevor der Knabe Krishnamurti den Europäern vorgesetzt wurde. Hier in diesem Zyklus vom Jahre 1908 ist der Weg schon voll beschritten; der logische Faden zieht sich von Kultur zu Kultur; das Mittelpunktsereignis leuchtet hell hervor. Gewiß kann durch manche Geschehnisse der Zeitpunkt beschleunigt werden, in dem eine Wahrheit ausgesprochen wird; es kann notwendig sein, gewissen Herausforderungen die Kraft der Tatsachen entgegenzustellen, die man lieber allein aus sich heraus, frei von jenem Hintergrunde, hätte sprechen lassen. Aber das bedeutet ja nicht, daß man etwas getan hat, was man sonst nicht getan hätte; was getan werden mußte, weil es in den tiefsten Notwendigkeiten der gegenwärtigen Welt- und Menschheitsentwickelung wurzelt, was die in Verantwortung und mit voller Opferkraft übernommene Lebensaufgabe war.

Die Theosophische Gesellschaft hat sich diesem Zustrom neuer Weis­heit verschlossen; sie wies von sich, was ihr Erneuerung gebracht hätte, was dem bewundernden Anerkennen einer ehrwürdig uralten Weisheit hätte hinzufügen können den Sinn für das historische Geschehen; was sie geführt hatte im reifenden Erkennen aus Indien über Persien hinaus nach Chaldäa und Ägypten, tief hineinleuchtend in das Mysterium des auserwählten Volkes, den Sinn dieser Auserwählung dem Verständnis nahebringend; dann zu den kleinasiatischen und südeuropäischen Mysterienstätten, das wartende Volk der Mitte und des Nordens Europas

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in seinem Seelenleben streifend; alles kulminierend in dem Geschehnis von Golgatha, durch welches die verborgenen Mysterien heraustreten auf den Plan der Weltgeschichte.

Innerhalb dieses Menschheitswerdens entwickelt sich die einzelne Persönlichkeit. Ihren Mittelpunktsinn, den sie zunächst im geistigen Erleben hatte, muß sie lernen in sich zu finden. Die allmähliche Ab­schnürung von der geistigen Welt ist ihre Dramatik; ihr Suchen, Irren und Streben in der hereinbrechenden Nacht geistiger Abtrennung, dann in materialistischer Finsternis - ihre tiefe Schicksalstragik. Verständnis solcher Zusammenhänge ist notwendig, wenn wir uns selbst verstehen sollen. In diese Nacht hinein strahlt ein Licht: das Licht christlicher Esoterik, das sich in Palästina entzündet, nach Europa hinüberflutet. In wunderbarer Helle hat es auf der irischen Insel gestrahlt, und trotz der Unterdrückung irischer Mönchskolonien durch die im römischen Im­perialismus befangene Kirche lebten Ausstrahlungen dieses Lichtes als geistige Kraftströmungen im Verborgenen weiter. Geistiges Rittertum entwickelte sich daraus und spirituelles Gemeinschaftsstreben frommer Gemeinden. Als reichste Blüte einer tiefen Innerlichkeit tritt daraus hervor die deutsche Mystik. Doch um Schritt zu halten mit den un­aufhaltsam sich nähernden Ereignissen, vor allem der Eroberung der Sinnenwelt durch die Wissenschaft, und um der völligen materialisti­schen Verfinsterung standzuhalten, mußte sich noch eines herausbilden, das an die Stelle der Glaubenskraft Wissenssicherheit hinstellen konnte. Dies war die Aufgabe der rosenkreuzerischen Schulen. Sie rechneten mit den im neuen Zeitalter sich neu entwickelnden Bewußtseinskräften. Rosenkreuzerische Esoterik - mit all ihrem tiefen Ringen aus neuen menschlichen Erkenntniskräften heraus, mit der ihren Bekennern auf­erlegten Schicksalsschwere und Geistesprüfung, lüftet hier und da auf den Wegen, die uns Rudolf Steiner weist, ihren geheimnisvollen Schleier. Aus ihr heraus werden die neuen Geistbewußtseinskräfte herausgebo­ren, die den Materialismus besiegen können durch Erkenntnis. Im schweren Ringen um die Wiedererlangung einer einst der Menschheit gegebenen, dann verlorenen Geistwahrnehmungsfähigkeit, die nun aus der Ich-Kraft heraus wiedererobert werden muß, über das Stirb und Werde der Persönlichkeit hinweg, erstarkt das Ich-Wesen des strebenden

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Menschen. Das Ich-Wesen des Menschen, durch welches, wenn er es wach ergreift, er wieder zur Gottheit aufsteigen und sich mit ihr vereinen kann. Damit dies einst geschehen könne, mußte das göttliche Ich - ein Mal - auf die Erde hinuntersteigen. Dies Ereignis als ent­scheidender Wendepunkt des Erdenschicksals muß in seiner Einzig­artigkeit verstanden werden.

Das Rosenkreuzertum hat es erfaßt: «In Christo morimur.» In Christo sterben wir hinauf zum Leben, leben wir empor zum Geiste. «Per spiritum sanctum reviviscimus»: Durch das Sterben zum Christus hin ergreifen wir das wahre Leben, werden wir wach im Geiste, aus welchem heraus wir einst geboren wurden.

Die Persönlichkeit mußte werden, sich erfassen, sich ergreifen, sich als Mittelpunkt empfinden, sich vor sich selbst entsetzen, sich über­winden, sterben lernen, um sich als freies Ich-Wesen wieder zu ergrei­fen, das seinen Mittelpunkt im Gottes-Ich erfühlt.

Es sind dies die Wege der abendländischen Esoterik. Der Europäer kann sie nicht umgehen. Es war ja seine Aufgabe, die im Egoismus be­fangene Persönlichkeit durchzubilden. Es ist seine Aufgabe, den Egois­mus zu überwinden, umzuwandeln, zu höherer Metamorphose zu bringen: zur freien, zur triebfreien, das Göttliche wollenden, starken Ichheit.

Er kann es nur durch die Beherrschung seiner Bewußtseinskräfte, durch Erkenntnis. Er muß das Kleinste im Großen erkennen wollen. Er kann nicht ganze Zeitepochen in ihrer ungeheuren Bedeutsamkeit für die Menschheitsentfaltung ausschalten. Die starken Kräfte werden ihm heute gegeben, wenn er den Willen hat zur Welt-, Erden- und Menschenerkenntnis. Und dies ist wahres Rosenkreuzertum.

Dies nennt sich heute Anthroposophie. In aller Öffentlichkeit drückt es sein Bekenntnis aus, gibt es seine Lehre. Es verbirgt nichts; es weiß, daß die Zeit gekommen ist, wo das, was früher in Geheimgesellschaften gepflegt wurde, hinaustreten muß auf den Plan der Weltgeschichte . . .

Wir schließen diese Betrachtung mit den Worten Rudolf Steiners, die unmittelbar anknüpfen an die oben angeführten Worte:

«Wir sehen eine uralte Weisheit, bewahrt in den Mysterien der ver­gangenen Kulturepochen; eine apokalyptische Weisheit, zu der wir den

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Samen legen müssen, muß unsere Weisheit sein. Wir brauchen wieder ein Einweihungsprinzip. damit die ursprüngliche Verbindung mit der geistigen Welt wieder hergestellt werden kann. Das ist die Aufgabe der anthroposophischen Weltbewegung.»*

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* Siehe Seite 47.

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ERSTER VORTRAG Stuttgart, 4. August 1908

Lassen Sie mich Ihnen zuerst sagen, daß es mich mit einer tiefen Be­friedigung erfüllt, in einem großen Zusammenhange, in einem Zyklus von Vorträgen über Gegenstände der Geist-Erkenntnis vor Ihnen spre­chen zu können. So wichtig und notwendig es ist für unsere Zeit, daß die Geisteswissenschaft in Einzelvorträgen Anregungen gibt, so ist es nicht minder notwendig, namentlich für denjenigen, der tiefer ein­dringen will in das geisteswissenschaftliche Leben und Streben, daß solche Ausführungen und Darlegungen in einem gewissen Zusammen­hange dargebracht werden. Man kann alsdann gewisse Dinge präziser sagen, man kann sie in einem Zusammenhange hinstellen, wo sie erst ihr richtiges Licht, ihre richtige Färbung empfangen, während sonst dieses oder jenes leicht dem Mißverständnis ausgesetzt werden kann. Denn in der gegenwärtigen Zeit trifft ja, selbst bei den vorbereitetsten Seelen, doch noch manches aus dem Geistigen geschöpfte Wort auf eine gewisse Schwierigkeit des Verstehens. Um zu erfassen, wie die Dinge eigentlich gemeint sind, bedarf es nicht nur des guten Willens und des Intellekts; man muß vielmehr im echten Sinne ihnen etwas entgegenbringen, was man - auch im esoterisch-okkulten Sinne - Geduld nen­nen könnte. Und diese Geduld ist hier in einem tieferen Sinne gemeint. Wir müssen manche Idee und Anschauung durch anderes erst beleuch­ten lassen und ruhig warten, bis sich aus dem Zusammenhange heraus das Verständnis für manches ergibt, was anfangs nur wie eine Hin-deutung aufgenommen und von manchem nur schwer geglaubt werden konnte.

In unserem heutigen Vortrage nun soll es sich mehr darum handeln, in einer Art von Einleitung die Grundlinien unserer Aufgabe zu cha­rakterisieren. Wir wollen noch nicht eigentlich in diese Aufgabe selbst eintreten, sondern uns erst ein wenig über das verständigen, worüber wir in den nächsten Tagen reden wollen. Denn wir haben im Grunde genommen ein weites, umfangreiches Thema vor uns: Welt, Erde und Mensch, das heißt, eine Skizze von dem Umfange alles Wissens, das

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wir uns über die sichtbaren und unsichtbaren Welten aneignen kön­nen. In die fernsten Fernen des Kosmos werden unsere Gefühle hin­ausgetragen, wenn im ernsten und würdigen Sinne der Ausdruck «Welt» gebraucht wird. Auf den Schauplatz, auf den die Menschheit gestellt ist, auf dem wir leben und wirken sollen, den wir verstehen sollen nach seinen Aufgaben, seinen Zielen, weist uns das Wort Erde hin. Und endlich auf das, was die Mysten aller Zeiten gemeint haben mit dem Ausspruch: «Erkenne dich selbst, o Mensch», auf das weist uns das Wort hin, das wir im okkulten Sinne erfassen wollen, das Wort Mensch. Und wir haben in unserem Thema noch einen Untertitel. Gerade daß wir uns so hohe, bedeutsame Aufgaben gestellt haben, rechtfertigt in gewisser Weise diesen Untertitel; denn wenn wir den Zusammenhang zwischen jener wunderbaren vorchristlichen Kultur, der ägyptischen, und unserer eigenen Kultur betrachten werden, dann werden wir sehen, wie geheimnisvolle Kräfte das Menschenleben durch­dringen. Drei Zeiträume menschlichen Strebens und Forschens, mensch­licher Entwickelung, menschlicher Moral und Lebensführung drängen sich vor das geistige Auge, wenn die Rede ist von Ägyptertum und Gegenwart. Wenn wir im okkulten Sinne von Ägyptertum sprechen, meinen wir die lange, Jahrtausende währende Kultur, die sich im Nord­osten von Afrika, an den Ufern des Nils, ausgebreitet hat und die sich bis in das 8. Jahrhundert vor Christus hinein erstreckte. Wir wissen:

diese ägyptische Kultur wurde abgelöst von einer anderen, die wir als die griechisch-lateinische bezeichnen und die auf der einen Seite das wunderbare, in Schönheit erhabene Volk der Griechen zum Mittel­punkt hatte und auf der anderen Seite das starke Römertum. Wir wis­sen auch, daß in diese Kulturepoche hinein jenes große Ereignis unserer Erdenentwickelung fällt, das wir als die Erscheinung des Christus Jesus kennen. Und dann folgt unsere eigentliche Gegenwart, diejenige Epoche, in der wir selbst leben. Das Ägyptertum mit allem, was dazu gehört - und es gehört vieles dazu -, die griechisch-lateinische Zeit mit ihren großen Erfolgen, mit dem Hervorsprießen des Christentums aus ihr, und unsere gegenwärtige Epoche: das sind die drei Zeiträume, die sich vor unser geistiges Auge hinstellen, wenn wir den Untertitel un­serer Vorträge betrachten. Und gezeigt werden soll, daß geheimnisvolle

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Kräfte spielen zwischen der ersten der genannten Kulturepochen und der unseren. Es ist, als ob in der ägyptischen Zeit gewisse Keime gelegt worden sind in den Schoß der sich nach und nach entwickelnden Menschheit; Keime, die verborgen blieben während der griechisch-latei­nischen Kultur und die in der gegenwärtigen Epoche auf ganz sonder­bare Weise aufgehen. So daß vieles von dem, was heute in unseren See­len emporsprießt, was uns heute umgibt, was heute die Menschen reden und träumen, was unsere Forscher denken, daß vieles davon wie ein aufgegangener Keim altägyptischer Kultur ist, ohne daß die Menschen es wissen. Die meisten von Ihnen werden mehr oder weniger die Ein­richtung kennen, die man im elektrischen Betriebe bei den sogenannten telegraphischen Apparaten hat. Sie wissen, von einem Orte zum ande­ren gehen die Drähte, die die Apparate miteinander verbinden, und ohne tiefere Kenntnis über diese Dinge zu haben, werden Sie begreifen, daß die Kraft, welche die Apparate in Bewegung setzt, etwas zu tun hat mit dem, was als Kraft die Drähte durchströmt. Sie wissen aber auch vielleicht, daß unten, unter der Erde, eine Verbindung ist, daß der Draht mit seinen Enden in die Erde hineingeleitet ist. Aber diese Ver­bindung ist nicht sichtbar; unsichtbar wird sie durch mehr oder weniger geheimnisvolle Kräfte durch die Erde selbst hergestellt. Etwas Ähn­liches besteht als tiefes Geheimnis der Menschenentwickelung. Wir se­hen geschichtlich die Fäden sich spinnen, die im Offenbaren liegen. Wir können es verfolgen, was im alten Ägypterlande geschehen ist, mit den Mitteln der Geschichte und mit den Mitteln des Okkultismus. Wir sehen, wie sich die Kulturfäden herüberziehen in die griechische, in die römische, in die christliche und bis in unsere Zeit hinein. Das alles ist wie eine Art oberirdischer Leitung. Aber es gibt auch eine unterirdische, verborgene Kraft, und zwar eine solche sogar, die mehr oder weniger direkt herüberwirkt von der alten ägyptischen Zeit bis in unsere Zeit hinein. Und manches merkwürdige Geheimnis wird uns kund werden, wenn wir diese Zusammenhänge verfolgen und durchschauen.

Heute nun werden wir eine Art Grundriß unserer Aufgabe zu zeich­nen haben. Zunächst sei mit einigen Worten noch auf die Eigentüm­lichkeit hingewiesen, die mit dem Untertitel unseres Themas gemeint ist und die wir eben charakterisiert haben.

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Wenn wir unseren Blick zurückwenden zum alten Ägyptertum und nur einige wenige der, man möchte sagen, sich stark ankündigenden Dokumente dieses Ägyptertums betrachten, so fallen uns zum Beispiel die Pyramiden auf, und auch die Sphinx, jene wunderbare, rätselhafte Figur. Dann lassen wir den Blick heraufschweifen in das alte Griechen­land. Dort tritt uns in seiner eigenartigen Architektur der griechische Tempel entgegen. Und wir betrachten, was wir durch die äußere Ge­schichte vom Griechentum wissen, und bewundern die plastischen Kunstwerke, jene großen, idealen, vollendeten Menschengestalten, wel­che als Götter angesprochen werden: Zeus, Demeter, Pallas Athene, Apollo. Und weiter herauf, nach dem alten Römertum wenden wir den Blick. Etwas Merkwürdiges stellt sich uns dar, wenn wir so den Blick schweifen lassen von der alten griechischen Halbinsel hinüber nach der italienischen Halbinsel. Vor unser Auge treten die Gestalten des alten Römertums, die uns am meisten haften geblieben sind, Gestalten, mit der Toga bekleidet, die mehr ist als ein bloß äußeres Kleid. Was füh­len wir gegenüber jenen römischen Gestalten? Oh, man könnte sagen, man fühlt gewissen Gestalten aus der ersten römischen Königszeit, aus der römischen Republik gegenüber so, als ob von ihren Postamenten heruntergestiegen wären die idealen Figuren der Griechen, als ob sie uns leibhaft in den römischen Togagestalten als Menschen von Fleisch und Blut vor die Seele träten. Denn das, was sie uns so erscheinen läßt, das ist die innere Kraft, die sie haben; und wir fühlen, was in dieser inneren Kraft liegt, wenn wir das Empfinden, das Denken, die Ge­sinnung eines Angehörigen des griechischen Staates, zum Beispiel eines Spartaners, eines Atheners vergleichen mit dem, was sich im alten Rom als Römer entwickelte. Wir fühlen, um was es sich da handelt. Der Angehörige von Sparta, von Athen, fühlte sich zuerst als Spartaner, als Athener. Ausgestattet in einer gewissen Beziehung, in einem gewissen Grade mit einer gemeinsamen Seele, fühlt der Spartaner, der Athener das, was wir die griechische Polis nennen, mehr als seine eigene auf sich gestellte Menschlichkeit, mehr fühlte er sich als Spartaner, als Athener denn als Menschenbürger; mehr fühlt er die starke Kraft, die in ihm wirkt, hervorgegangen aus dem gemeinsamen Geiste der Polis, als die eigene, persönliche Kraft. Der Römer dagegen erscheint uns ganz auf

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den Mittelpunkt seiner eigenen Persönlichkeit gestellt. Daher tritt etwas ganz Bestimmtes vor allen Dingen im Römertum auf, das ist der Be­griff des bürgerlichen Rechts. Denn alles, was Rechtsgelehrte von vor­hergehender Entstehung des Rechtsbegriffes träumen, ist etwas ganz anderes als das, was man in besseren Zeiten der Forschung mit Recht das Römische Recht genannt hat. Im alten Rom lernt der Mensch sich als Einzelmensch fühlen, er steht auf seinen zwei Füßen nicht mehr als Angehöriger einer Stadt, sondern als römischer Bürger da, das heißt, er fühlt sich auf den Punkt seiner eigenen Menschlichkeit gestellt. Da­mit ist die Zeit gekommen, in welcher das Geistige, das vorher sozu­sagen wie in höheren Regionen schwebend empfunden wurde, herunter-gestiegen ist bis auf unsere Erde. Es ist etwas Eigentümliches mit dem römischen Recht und seiner Kultur. Nehmen wir den einen Fall, daß der Grieche sich als Thebaner, als Spartaner fühlte - was ist denn der Geist von Theben, von Sparta? Für uns Anthroposophen ist er nicht ein Abstraktum, sondern etwas wie eine geistige Wolke, die wiederum der körperhafte Ausdruck für ein geistiges Wesen ist, in das die Stadt Sparta oder Theben eingebettet ist; aber keine Wesenheit, die auf dem irdischen, physischen Plane sichtbar wäre. Der Grieche blickt zunächst nicht auf sich, er blickt zu etwas über ihm hinauf; der Römer blickt zuerst auf sich. Er ist es, der zuerst das Höchste, das im Fleische auf physischem Plane Gestalt annehmen kann, als Mensch anerkennt. Das Geistige ist ganz heruntergestiegen in die Menschlichkeit: das ist die Zeit, wo auch das höchste Geistige, wo das Göttliche selbst herunter-steigen konnte bis zur Inkarnation, bis zur Menschwerdung im Fleische, im Christus Jesus.

Es ist ein wunderbarer Prozeß, wie die erste unserer genannten Kul­turen da herübergreift in diese griechisch-römische Zeit. Erinnern wir uns, wie Moses, als er in Ägypten - so schildert es uns die Schrift - aus höheren Regionen den Auftrag erhält, sein Volk zu dem «Einigen Gotte» zu führen, wie er da den Gott frägt: Was soll ich meinem Volke sagen, wenn man mich frägt, wer schickt mich, wer gibt mir die Sen­dung? - Da antwortet der Gott - und wir werden sehen, welche tiefe Wahrheit sich in dem Ausspruch verbirgt -: Sage denen, zu denen ich dich sende, der «Ich bin» hat dich gesandt. - «Ich bin» wird dadurch

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die Bezeichnung für einen einheitlichen Gott, der noch waltet und webt in spirituellen Höhen, der noch nicht hinuntergestiegen ist auf den physischen Plan. Wem gehört diese Stimme, die da herunterruft zu Moses: Sage deinem Volke, ich bin der «Ich bin»? Wem gehört diese Stimme, die sich dem Eingeweihten Moses vernehmlich machen kann, die sozusagen aus spirituellen Welten heraus zu ihm spricht? Ganz der­selbe ist es - und das ist das Geheimnis der alten ägyptischen Myste­rien -, derselbe ist es, der später als Christus im Fleische erscheint; nur daß er nachher sichtbar dasteht für diejenigen, die um ihn sind, wäh­rend er vorher nur zu den Eingeweihten aus spirituellen Höhen spre­chen konnte. So sehen wir die Gottheit, das Geistige immer mehr und mehr heruntersteigen, nachdem die Menschheit vorbereitet ist, nach­dem sie im Römertume erfahren hat, wie bedeutsam die Verkörperung im Fleische, die Erscheinung auf dem physischen Plane ist.

Und wir sehen, wie in einer ungeheuer vertieften Gestalt nunmehr eine Reihe von Kulturerscheinungen herauswächst aus dem, was so der Mensch als eine neue Gabe empfangen hat. Wir sehen, wie sich der Tempelbau, der Pyramidenbau zu der romanischen Kirche verwan­delt - wiederum ein solches Dokument inneren menschlichen Schaf­fens! - und wir sehen, wie vom 6. Jahrhundert an das Kreuz mit dem toten Jesus erscheint. Und nach und nach wächst heraus aus dieser Strömung des Christentums eine merkwürdige Gestalt, deren Myste­rien tief, tief verborgen sind. Wir brauchen uns diese Gestalt der male­rischen Kunst nur einmal in jener wunderbaren Form vor das Auge zu führen, die sie angenommen hat in der Sixtinischen Madonna von Raffael. Sie alle kennen dies wunderbare jungfräuliche Weib im Mittel­punkte des Bildes. Sie kennen dies Kind, von der Madonna getragen, und Sie haben gewiß alle die entsprechenden Schauer der Empfindung vor diesem Bilde gehabt. Aber eines lassen Sie mich erwähnen gegen­über diesem Bilde, das ein so wunderbarer Ausdruck ist für das geistige Streben der Menschheit auf der Stufe, die uns in den drei genannten Kulturen beschäftigt: Nicht umsonst hat der Künstler diese Madonna mit einem Wolkengebilde umgeben, aus dem sich eine große Anzahl von ähnlichen Kindlein, von Engelsgestalten herausentwickelt.

Und nun wollen wir uns ganz hineinversenken mit unseren Emp­findungen

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in dieses Madonnenbild. Wer nur genügend intime Empfin­dung hat, um sich hineinzuversenken, der wird ahnen und herausfühlen, daß hier etwas ganz anderes noch ist, als was ein gewöhnlicher profaner Verstand in diesem Bilde erblicken kann. Sagen uns nicht diese Wolkenengel um die Madonna herum etwas? - Ja, etwas höchst Bedeutsames sagen sie uns, wenn wir sie nur genügend tief betrachten. Es raunt sich uns in unsere Seele hinein, wenn wir uns intim in dieses Bild versenken:

Hier ist ein Wunder vor uns im besten Sinne des Wortes. - Und wir glauben nicht, daß dieses Kind, das die Madonna auf ihren Armen tragt, so wie uns diese Gestalt entgegentritt, wir glauben nicht, daß es in gewöhnlicher Weise geboren ist von dem Weibe. Nein, diese Engelsgestalten in den Wolken sagen es uns: Wunderbar, flüchtig wie im Werden erscheinen sie, und das Kind auf dem Arme erscheint uns nur wie ein verdichteter Ausdruck, wie etwas, das mehr kristallisiert ist als diese flüchtigen Engelsgestalten. Wie aus den Wolken herunter­geholt und in die Arme gefaßt, so erscheint uns dieses Kind, nicht wie vom Weibe geboren. Und auf einen geheimnisvollen Zusammenhang des Kindes mit der jungfräulichen Mutter werden wir hingewiesen. Und wenn wir so dies Bild vor den Geist hinmalen, dann taucht vor unserem Blick eine andere jungfräuliche Mutter auf: die alte ägyptische Isis mit dem Horuskinde. Und man kann einen geheimnisvollen Zu­sammenhang vermuten zwischen der christlichen Madonna und der ägyptischen Gestalt, die vor uns steht als die Isis, und an deren Tem­pel die Worte standen: «Ich bin, was da war, was da ist, was da sein wird; meinen Schleier kann kein Sterblicher lüften.» Das, was wir eben in zarter Weise wie ein Wunder auf dem Madonnenbilde an­gedeutet haben, das deutet uns auch die ägyptische Mythe an, indem sie Horus nicht durch Empfängnis geboren sein läßt, sondern dadurch, daß von Osiris aus ein Lichtstrahl auf Isis fällt, eine Art unbefleckter Geburt: das Horuskind erscheint. Da sehen wir, wie sich die Fäden herüberknüpfen; was wir da erforschen, ist sozusagen ohne irdischen Zusammenhang.

Und wiederum lassen wir den Blick weiter schweifen, bis dahin, wo unsere Zeit beginnt. Wir versenken uns in den gotischen Dom mit sei­nem wunderbaren Spitzbogenbau; wir rufen vor unsere Seele, was da

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im Mittelalter sich abspielte in den Versammlungen, wo die wirklich Gläubigen wirklichen Priestern gegenüberstanden. Wir gedenken, wie dieser gotische Dom wirkte mit seinen verschiedenfarbigen Fenster­scheiben, durch die das Sonnenlicht hereindrang; wir gedenken, wie da manche von denen, die von den tieferen Geheimnissen des Welten­werdens sprechen konnten, Töne erklingen lassen konnten, die ihr äußeres Abbild hatten in dem wunderbaren, farbenzerteilten Lichte. Und immer wieder kam es vor, daß die Priester darauf hinwiesen, daß die gemeinsame Kraft des göttlichen Daseins sich der Menschheit mit­teilt so in einzelnen Kräftestrahlen, wie dieses Licht, das durch die farbigen Fenster hereindringt. Dem Sinne stellte sich die Zerteilung des Lichtes dar, und in der Seele wurde angeregt, was geistig diesem Bilde zugrunde lag. So durchsetzte die Gemüts- und Empfindungskraft einen solchen gotischen Dom. Jetzt dringen wir etwas tiefer ein in das, was sich so vor unsere Seele malt. Schauen wir uns die ägyptischen Pyra­miden an - ein eigentümliches architektonisches Bauwerk! Wir müssen unseren Geist anstrengen, um zu enträtseln, was sie uns sagen wollen. Nach und nach werden wir sehen, wie sich in der Pyramide das Ge­heimnis von Welt, Erde und Mensch ausdrückt; wir werden sehen, daß in ihr zum Ausdruck kommt, was der ägyptische Priester nach sei­ner Religionsform fühlte. Wir werden in alle diese Dinge tief ein­dringen; heute sei nur darauf aufmerksam gemacht, was ein solcher Priester fühlte und seinem Volke in Bildern mitteilte. Sie war tief, diese ägyptische Weisheit, die sich in der Religionsform auslebte; sie war ein unmittelbares Ergebnis uralter Überlieferungen; wie eine Erinnerung war diese ägyptische Weisheit, und der ägyptische Weise, der dem Solon begegnete, konnte mit Recht sagen: Oh, ihr Griechen bleibt euer ganzes Leben lang Kinder, in euren Kinderseelen lebt nichts von der uralten heiligen Wahrheit. - Er wollte hindeuten auf das Alter der ägyptischen Weisheit. Woher kam sie?

Unserer gegenwärtigen Menschheit, das wissen Sie, ist eine andere Menschheit vorangegangen, die auf dem Kontinent lebte, der jetzt von den Fluten des Atlantischen Ozeans bedeckt ist. Als die große atlan­tische Flut kam, da wurde das, was die Atlantier wußten, mitgenom­men nach dem Osten durch unser heutiges Europa hindurch. Hier zurückgeblieben

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sind die nordischen Mythen, wie Erinnerungen an die alte atlantische Weisheit. Wir wissen, daß durch die Nachkommen der Atlantier nach Asien getragen wurde die uraltindische und die per­sische Kultur, daß die ägyptische Weisheit zum Teil wieder zurück von Asien angeregt worden ist, aber daß sie auch auf direktem Wege hin-strömte vom Westen nach dem Osten, von der Atlantis nach Afrika. Und was war das für eine Weisheit, von der der ägyptische Weise als von einer uralten Tradition sprach? Das wird uns offenbar, wenn wir nur einen kurzen Augenblick den Unterschied zwischen dem Leben in der alten Atlantis und unserem heutigen Leben betrachten. Damals war der Mensch mit dumpf hellseherischer Kraft begabt. Er sah um sich herum Wesen, die auch heute noch um uns herum sind, die aber der heutige Mensch nicht mehr sieht. Die Erde ist nicht erschöpft mit den Pflanzen, Mineralien und Tieren. Um uns herum sind geistige Wesen­heiten, die aber nur für den hellseherischen Blick offen daliegen. Da­mals, auf der Atlantis, hatte der Mensch in normaler Weise ein Hell-sehen; nicht nur Pflanzen, Mineralien und Tiere waren seine Genossen, Genossen waren ihm die göttlich-geistigen Gestalten, mit ihnen lebte er, wie Sie heute mit Menschen zusammenleben. Damals war noch nicht jene strenge Scheidung zwischen Tag und Nacht wie heute. Heute ist es ja so, daß, wenn der Mensch morgens mit seinem Astralleib und dem Ich in den physischen Leib untertaucht, um ihn herum die physischen Gegenstände sind. Und wenn er abends heraussteigt mit Ich und Astral­leib aus seinem physischen Leibe und Ätherleib, dann wird es dunkel und finster um ihn. So ist heute der normale Mensch. Auf der Atlantis war es nicht so, besonders in der alten Zeit. Wenn der Mensch abends heraustrat aus seinem physischen Leibe, dann breitete sich nicht um ihn herum Finsternis aus, sondern er trat in eine Welt von geistigen Wesen­heiten ein: er sah jene göttlich-geistigen Gestalten, wie er heute fleisch­liche Gestalten sieht. Wotan, Baldur, Zeus, Apollo, sie alle sind nicht erfundene phantastische Gestalten, sie sind der Ausdruck für wirkliche Wesenheiten, die nur damals in der atlantischen Zeit keinen Fleisches-leib. angenommen hatten, sondern die als dichtesten Leib den durch­sichtigen ätherischen Leib hatten. Und wenn der Mensch in der Nacht heraustrat aus seinem physischen Leib, dann waren sie um ihn als ätherische

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Gestalten, und wenn er morgens wieder hineinstieg in seinen phy­sischen Leib, da war er in dieser Welt der Wirklichkeit, die heute die einzige für ihn ist; da verließ er sozusagen für eine Zeit die Welt der Götter und tauchte unter in die Welt der physischen Fleischeswesen, und keine strenge Grenze war zwischen der Wahrnehmung der Nacht und des Tages. Und wenn in jener Zeit der Eingeweihte zu den nor­malen Menschen von solchen göttlichen Gestalten sprach, dann sprach er nicht von etwas, was ihnen unbekannt war. Es war, wie wenn wir heute von Menschen sprechen und sie mit Namen nennen. So sprachen sie von Wesenheiten wie Wotan, Baldur, denn sie kannten sie als gött­liche Ätherwesen.

Die Erinnerung an jene uralte Weisheit und Erfahrung wurde her­übergetragen mit den Auswanderern, die nach Osten zogen; und aus diesen Erinnerungen, in Verbindung mit einer ganz bestimmten Kon­stitution des Ägyptervolkes, die wir noch genau kennenlernen werden, bildete sich innerhalb des alten Ägyptens die Zuversicht heraus, daß im Menschen ein Geistiges und damit ein Ewiges lebe, daß, wenn der Leib als Leichnam daliegt, er verlassen ist von einem Göttlich-Geistigen. Das drückte sich in den mannigfaltigsten Bildern und Mitteilungen aus, die der ägyptische Priester dem Volke gab. Aber das war nicht etwa eine abstrakte Wahrheit für die alten Ägypter, das war für sie eine Wahr­heit, die unmittelbar von ihnen erlebt wurde. Lassen Sie uns charak­terisieren, was der Ägypter empfand. Er sagte sich: Ich sehe den Leich­nam hier liegen, den Staub von dem Menschen, der der Träger eines Ich war; ich weiß, denn aus uralter Überlieferung weiß ich es, aus den Erlebnissen meiner Vorfahren weiß ich es, daß da etwas bleibt, was in andere Welten geht. Das würde seine Aufgabe nicht erfüllen, so sagte der alte Ägypter, wenn es einzig und allein in jener geistigen Welt lebte; es muß ein Anziehungsband geknüpft werden zwischen der Welt des Geistigen und der Welt des Irdischen, Physischen. Wir müs­sen sozusagen ein magnetisches Band haben für die Seele, die im Tode in höhere Regionen zieht, um in ihr ein dauerndes Gefühl zu erregen, auf daß sie wieder zurückkehren und erscheinen kann auf dieser Erde.

Wir wissen heute aus der Geisteswissenschaft, daß die Menschheit schon durch sich selbst dafür sorgt, daß die Seele immer wieder zu

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neuen und neuen Inkarnationen zurückkehrt; wir wissen, daß der Mensch, wenn er im Tode in andere Sphären übergeht, in der Zeit von Kamaloka, in der Zeit, wo er sich abgewöhnt das Irdische, mit gewis-sen Kräften an das Physische gefesselt ist. Wir wissen, daß diese Kräfte es sind, die ihn nicht gleich aufsteigen lassen in die Regionen des De­vachan, daß sie es auch sind, die ihn wieder herunterziehen in eine neue Inkarnation. Aber wir sind heute Menschen, die in Abstraktionen leben, die so etwas als Theorie darstellen. Im alten Ägypten lebte das als Tradition; der Ägypter war das Gegenteil eines Theoretikers, eines bloßen Denkers, er wollte mit den Sinnen sehen, wie die Seele ihren Weg macht vom toten Leibe heraus bis in die höheren Regionen. Er wollte das vor sich aufgebaut haben, und diesen Gedanken baute er in der Pyramide auf: den Weg, wie die Seele aufsteigt, wie sie aus dem Leibe heraustritt, wie sie teilweise noch gefesselt ist und wie sie hinauf-geführt wird in höhere Regionen. Sehen können wir in der Architektur der Pyramide die Fesselung der Seele an das Irdische, wie ein Bild von Kamaloka tritt sie uns mit ihren geheimnisvollen Formen entgegen, wir können sagen, in der äußeren Anschauung ist sie uns ein Bild der vom Leibe verlassenen und in höhere Regionen ziehenden Seele.

Und weiter! Wir versuchen diese alten Traditionen zu verstehen. In der alten atlantischen Zeit sah der Mensch um sich herum noch vieles, was dem heutigen Menschen durchaus verborgen ist. Wir erinnern uns aus früheren Vorträgen, daß der Ätherleib des Menschen in jener Zeit noch nicht so intensiv mit dem physischen Leib verbunden war wie heute; der Ätherkopf ragte noch weit über den physischen heraus. Bei dem Tier ist die Gestalt noch heute zurückgeblieben. Wenn Sie ein Pferd hellseherisch betrachten, dann sehen Sie den Ätherkopf als eine Lichtgestalt über die Pferdeschnauze sich auftürmen; und wenn Sie erst jenes merkwürdige Gebilde sehen könnten, das sich beim Elefanten über dem Rüssel aufbaut! Nicht so stark, aber ähnlich so war der Ätherkopf bei dem alten Atlantier vorhanden, später ging er immer mehr in den Kopf hinein, so daß er heute ungefähr gleich ist an Größe und Form. Aber dafür war auch der physische Kopf, der nur teilweise erst vom Ätherkopf beherrscht war, der noch viele Kräfte draußen hatte, die heute im Inneren sind, noch nicht in jenem hohen Grade menschenähnlich;

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er bildete sich erst heraus, man sah sozusagen noch etwas von einer niederen tierischen Kopfform. Wie war es, wenn der alte Atlan-tier einen seiner Genossen bei Tag ansah? Da sah er eine weit zurück­liegende Stirn, weit hervortretende Zähne, etwas, was noch an das Tier erinnerte. Wenn dann abends der Mensch einschlief, wenn das atlan­tische Heilsehen begann, dann richtete der Blick sich nicht nur auf die tierähnliche Gestalt, sondern es wuchs schon die ätherische menschliche Kopfform, und zwar eine weit schönere Form, als sie heute ist, her­aus aus dem physischen Kopfe. Da war dem nächtlichen Anschauen das Tierähnliche undeutlich geworden, und es wuchs heraus die schöne Menschengestalt. Und in noch entlegenere Zeiten konnte der atlan­tische Hellseher zurückschauen, in Zeiten, wo der Mensch noch mehr tierähnlich war, aber verbunden mit einem ganz und gar menschenähnlichen Ätherleib; viel schöner war dieser Ätherleib als der heutige physische Menschenleib, der sich angepaßt hat den starken dichten Kräften. Denken Sie sich nun diese Erinnerung an das alte atlantische Bewußtsein symbolisch vor den Menschen hingestellt in der ägypti­schen Zeit! Denken Sie sich, der ägyptische Priester hätte seinem Volke sagen wollen: Eure eigenen Seelen in atlantischen Zeiten haben ge­schaut, wenn sie wach waren, die Menschengestalt in Tierform, nachts aber wuchs heraus ein wunderschöner Menschenkopf. - Diese Erinne­rung, plastisch ausgestaltet: das ist die Sphinx. So erst versteht man diese Formen; man muß verstehen lernen, daß sie nichts Ausgedachtes sind, sondern Realitäten.

Und wieder schreiten wir weiter in unserer Betrachtung. Wir dringen von der ägyptischen Pyramide vor zum griechischen Tempel. Verstehen wird einen solchen Tempel nur derjenige, der ein Gefühl dafür hat, daß im Raume Kräfte walten. Die Griechen hatten ein solches Raumgefühl. Der Mensch, der vom Standpunkte der Geisteswissenschaft aus den Raum studiert, der weiß, daß dieser Raum nicht jene abstrakte Leere ist, von der unsere gewöhnlichen Mathematiker und Physiker träumen, sondern daß er vielmehr sehr differenziert ist. Er ist etwas, was in sich selbst von Linien erfüllt ist, von Kraftlinien hierhin, dorthin, von oben nach unten, von rechts nach links, gerade, runde Linien in allen Rich­tungen. Man kann den Raum fühlen, gefühlsmäßig durchdringen. Wer

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ein solches Raumgefühl hat, weiß, warum gewisse alte Maler so wun­derbar naturgetreu die frei schwebenden Engelgestalten auf Madonnen-bildern malten, er weiß, daß sich diese Engel gegenseitig halten, wie die Weltenkörper im Raume durch ihre Anziehungskraft sich halten. Ganz anders ist es, wenn Sie zum Beispiel das Bild von Böcklin «Pieta» betrachten. Es soll nichts gegen die sonstige Vortrefflichkeit dieses Bil­des eingewendet werden, aber wer sich das lebendige Raumgefühl be­wahrt hat, der hat die Empfindung, als ob jene merkwürdigen Engel-gestalten jeden Augenblick herunterfallen müßten. Die alten Maler hatten noch das Gefühl für den Raum von dem früheren Hellsehertum; in neuerer Zeit ist das verlorengegangen.

Als die Kunst noch okkulte Traditionen hatte, wußte man von sol­chen gegenseitig sich tragenden Kräften, die im Raume darinnen sind, die da hin- und herströmen. Solche Kräfte fühlten diejenigen, in deren Geist der Gedanke des griechischen Tempels entstanden ist. Sie dachten ihn nicht aus, sondern sie nahmen die Kräfte wahr, die den Raum durchströmten, und gaben das Gesteinsmaterial hinein: was okkult schon da war, füllten sie mit Materie. So ist der griechische Tempel eine materielle Ausgestaltung von Kräften, die im Raume wirken; ein grie­chischer Tempel ist ein kristallisierter Raumgedanke, im reinsten Sinne des Wortes. Die Folge davon ist etwas sehr Wichtiges. Weil der Grieche die Raumkräfte materiell ausgestaltet hat, hat er den göttlich-geistigen Wesenheiten Gelegenheit gegeben, diese materielle Form zu benutzen. Es ist keine Redensart, sondern Wirklichkeit, daß der Gott in jener Zeit herunterstieg in den griechischen Tempel, um unter den Menschen auf dem physischen Plan zu sein. Wie heute ein Elternpaar die phy­sische Form, das Fleischliche des Kindes zur Verfügung stellt, so daß das Geistige sich auf physischem Plane ausleben kann, so geschah etwas Ähnliches bei dem griechischen Tempel. Da wurde Gelegenheit gegeben, daß göttlich-geistige Wesenheiten herunterströmten und sich ver­körperten in dem architektonischen Tempelbau. Das ist das Geheimnis des griechischen Tempels: der Gott war da im Tempel. Wer die grie­chische Tempelform richtig fühlte, fühlte auch, daß weit und breit kein Mensch zu sein brauchte, und auch nicht im Tempel selbst, und daß der Tempel doch nicht leer war, denn der Gott war wirklich anwesend im

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Tempel. Der griechische Tempel ist für sich ein Ganzes, weil er die Formen enthält, die den Gott in ihn hineinbannen.

Und wenn wir nun den römischen Kirchenbau betrachten, vorzugs­weise den mit einer Krypta, da sehen wir schon eine Art von Fort-entwickelung. In der Pyramide sehen wir dargestellt den Weg, den die Seele nach dem Tode nimmt, die äußere architektonische Form für die entfliehende Seele. Für die göttliche Seele, die gern auf dem physischen Plan weilt, ist der griechische Tempel der Ausdruck. Der römische Bau mit der Krypta entspricht dem Kreuz, an dem der tote Jesuskörper hängt. Die Menschheit ist fortgeschritten zu einem gesteigerten Be­wußtsein in geistigen Sphären. Die Fesselung an das Irdische, die Ka­malokazeit ist dargestellt in der Pyramide; der Sieg über die physische Form, der Sieg über den Tod ist ausgedrückt im Kreuze, an dem der tote Jesus hängt und das uns erinnern soll an den geistigen Sieg über den Tod, an Christus.

Und wiederum ein Stück weiter, kommen wir zum gotischen Bau. Er ist nicht vollständig, wenn nicht die gläubige Gemeinde drinnen ist. Wenn wir alles zusammen fühlen wollen, da müssen sich mit den Spitzbögen vereinigen die gefalteten Hände und die Gefühle, die sich darin ausdrücken, die nach oben strömen. Aber nicht Gefühle wie in der Krypta, wo das Andenken gefeiert wurde an den geistigen Sieg über den Tod, sondern sieghafte Gefühle, wie sie die Seele empfindet, die sich im Leibe schon Sieger fühlt über den Tod. Die im Leibe sieghafte Seele gehört hinein in den gotischen Bau; er ist nicht vollständig, wenn nicht solche Gefühle ihn durchströmen. Der griechische Tempel ist der Leib des Gottes, er steht allein für sich da. Die gotische Kirche stellt sich dar als etwas, was die Gemeinde ruft; sie ist kein Tempel, sondern ein Dom. Dom ist dasselbe Wort, das sich in der Nachsilbe «tum» aus­drückt, wie zum Beispiel in dem Worte Menschentum oder Volkstum. Auch dem russischen Worte Duma liegt das Wort «tum» zugrunde. Ein Dom, ein «Tum» ist das, wo einzelne Glieder zu einer Gemeinde zu­sammengerufen werden.

So sehen Sie, wie menschliche Gedanken und menschliche Gesinnung in der Zeit fortschreiten, und so kommen wir nach und nach in unsere Zeit hinein. Und wir werden sehen, wie diese Kräfte nicht nur gleichsam

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im Oberirdischen fortspielen: unterhalb gehen geheimnisvolle ok­kulte Strömungen, so daß, was heute in unserer Kultur aufgeht, uns wie eine Wiederverkörperung von manchem erscheint, was in alten ägyptischen Zeiten in die Menschheit hineingelegt worden ist. Und da wollen wir mit einem Gedanken abschließen, der als eine erste Ahnung Sie hinweisen wird auf solche geheimnisvollen Zusammenhänge.

Was ist es, was den Materialismus unserer heutigen Kultur ausmacht? Charakterisieren wir einmal diesen Materialismus. Der Mensch weiter Kreise, der heute die Harmonie, die Versöhnung zwischen Glauben und Wissen verloren hat, was ist ihm besonders eigen, wenn er hin­schauen will auf ein Geistiges? Nichts sieht er! Er schaut auf das Grobe, materiell Physische; von dem weiß er, daß es real, daß es wirklich vor­handen ist, und er kommt sogar bis zum Leugnen des Geistig-Spirituel­len. Er glaubt, des Menschen Dasein ist erfüllt, wenn des Menschen Leichnam im Staube daliegt; er sieht nichts sich erheben in die geistigen Welten hinein. Kann eine solche Anschauung als Folge entstehen von etwas, was in einer Zeit als Same gelegt wurde, wo ein fester Glaube an das Fortleben der Seele herrschte, wie es im alten Ägyptertum der Fall war? Ja; denn in der Kultur ist es nicht wie im Pflanzenreiche, daß nur immer wieder Ähnliches aus dem Samen entsteht. In der Kul­tur muß abwechseln ein Wert mit einem anderen, der ihm scheinbar nicht ähnlich ist - und dennoch bestehen tiefere, intime Ähnlichkeiten.

Des Menschen Blick von heute ist gefesselt an den physischen Leib, er sieht diesen physischen Leib als Wirklichkeit an, er kann sich nicht erheben zum Spirituellen. Diese Seelen, die heute durch ihre Augen hinausschauen auf die physischen Menschenleiber und die sich nicht erheben können zu einem Geistigen, sie waren in früheren Volksstäm­men inkarniert als Griechen, als Römer, als alte Ägypter. Und alles, was heute in unseren Seelen lebt, ist das Ergebnis dessen, was wir in früheren Inkarnationen aufgenommen haben.

Denken Sie sich Ihre Seele zurückversetzt in den alten ägyptischen Leib. Denken Sie Ihre Seele nach dem Tode zurückgeleitet durch den Gang der Pyramide in höhere Sphären, aber Ihren Leib als Mumie festgehalten. Das hatte eine okkulte Folge. Die Seele mußte immer herunterschauen, wenn da unten der Mumienleib lag. Da wurden die

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Gedanken verfestigt, verknöchert, verhärtet, da wurden die Gedanken hereingebannt in die physische Welt. Weil aus den Regionen des Gei­stes die alte ägyptische Seele nach dem Tode herunterschauen mußte auf ihren konservierten physischen Leib, deshalb ist der Gedanke in ihr eingewurzelt, daß dieser physische Leib eine höhere Realität ist, als er es in Wirklichkeit ist. Denken Sie sich hinein in Ihre Seele von da­mals; Sie schauten hinunter auf die Mumie. Der Gedanke an die phy­sische Form hat sich verhärtet, er hat sich herübergetragen durch die Inkarnationen hindurch: heute erscheint dieser Gedanke so, daß die Menschen sich nicht losreißen können von der physischen Körperform. Der Materialismus als Gedanke ist vielfach eine aufgehende Frucht der Einbalsamierung der Leichname.

So sehen Sie, wie von Verkörperung zu Verkörperung die Gedanken und Gefühle wirken. Das soll nur eine Ahnung davon erwecken, wie durch die Verkörperungen hindurch die Kulturen weiterleben, wie sie in ganz anderen Formen wiedererscheinen; nur eine schwache Ahnung soll Ihnen das erwecken von den zahlreichen okkulten Drähten, die da unten im Verborgenen gehen.

Wir wollten heute ein wenig Fäden ziehen, andeuten, welche Fragen uns beschäftigen werden. Wir werden nun den Blick hinaufschweifen lassen in die höchsten Weltenregionen, die der ägyptische Priester er­blickte, wir werden den Blick zu richten haben auf das Wesen, das Ziel und die Bestimmung des Menschen, und wir werden begreifen, wie solche Rätsel sich ]ösen, wenn wir sehen, daß die Früchte einer Kulturepoche auf wunderbar geheimnisvolle Weise in einer anderen, späteren wiedererscheinen.

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ZWEITER VORTRAG Stuttgart, 5. August 1908

Wir werden uns am besten hineinfinden in unser Thema mit dem weiten Horizont, den wir uns gestellt haben, wenn wir versuchen, uns zuerst einmal eine intimere Vorstellung zu bilden von den beiden Gegensätzen, die zunächst für uns in Betracht kommen, wenn wir Welt und Erde miteinander in Beziehung setzen. Diese beiden Gegensätze sind: das Geistig-Seelische und das Physisch-Materielle. Wir wollen versuchen, sie an einer Erscheinung zu erörtern, die für den heutigen Menschen mehr oder weniger rätselhaft ist und die uns gerade aus der alten ägyptischen Weltanschauung und Lebensführung entgegentritt in dem sogenannten Tempelschlaf. Der Tempelschlaf liegt ja der an­deren eigentümlichen Tatsache zugrunde, daß bei den ägyptischen Prie­sterweisen, und überhaupt in der alten Kultur der Menschheit, die Weisheit in innigem Zusammenhange mit der Heilkunst, mit der Ge­sundheit gedacht wurde. Von den innigen Beziehungen zwischen Weis­heit und Gesundheit, zwischen Wissenschaft und Heilkunst macht sich der heutige Mensch gegenüber jenen alten Vorstellungen doch nur einen sehr schwachen Begriff; und es wird die Aufgabe der Geisteswis­senschaft sein, die Menschheit wiederum hinzuweisen auf jenen Begriff des Geistigen, durch den Weisheit und Heilkunst und Gesundheit wieder in einen näheren Zusammenhang gebracht werden. Wir erin­nern uns dabei auch an etwas, das an allerlei Ausführungen anklingt, die wir gestern gemacht haben. Wir erinnern uns dabei jener alten Ge­stalt, an die wir denken mußten, als wir uns das Bild der Madonna mit ihrem Kinde, so wie RaIJael es in der Sixtinischen Madonna gemalt hat, vor die Seele stellten, wir erinnern uns der Isis mit dem Horuskinde. Es ist die Göttin, deren Tempel die Aufschrift trug: «Ich bin, die da war, die da ist, die da sein wird - meinen Schleier kann kein Sterblicher lüften.» Diese Göttin wurde in einen geheimnisvollen Zu­sammenhang mit aller Heilkunst gebracht, sie wurde geradezu als die Lehrerin der ägyptischen Priester in bezug auf die Heilkunst betrach­tet. Und eine merkwürdige Rede führte man noch in den letzten Zeiten

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des Altertums von jener Isis; in dieser Rede werden wir darauf auf­merksam gemacht, daß Isis sich noch in der Zeit, in der sie unter die Unsterblichen versetzt wurde, für die Heilkunst, für die Gesundheit der Menschen besonders interessiert hat. Das alles deutet auf sehr ge­heimnisvolle Zusammenhänge hin.

Nun müssen wir mit einigen Strichen uns einmal das Wesen des Tempelschlafs, der zu den Heilmitteln der ägyptischen Priester ge­hörte, vor die Seele stellen. Derjenige, der in irgendeiner Weise an sei­ner Gesundheit Schaden gelitten hatte, wurde in der Regel nicht mit äußeren Heilmitteln behandelt in jenen Zeiten; es gab deren überhaupt nur wenig, und nur in seltenen Fällen wurden sie angewendet. Dage­gen wurde der Betreffende in den meisten Fällen in den Tempel ge­bracht und dort in eine Art Schlaf versetzt. Es war das aber kein ge­wöhnlicher Schlaf, sondern eine Art von somnambulem Schlaf, der so gesteigert war, daß der Betreffende fähig wurde, nicht nur chaotische Träume zu haben, sondern regelrechte Gesichte zu sehen. Er nahm während dieses Tempelschlafes ätherische Gestalten in der geistigen Welt wahr, und die Priesterweisen verstanden die Kunst, auf diese ätherischen Bilder des Menschen einzuwirken; sie konnten sie lenken und leiten. Nehmen wir an, ein solcher Kranker wurde in den Tempelschlaf versetzt. Der heilkundige Priester war an seiner Seite. Wenn der somnambule Schlaf eingetreten war, so daß der Kranke also in einer Welt von ätherischen Gestalten lebte, dann lenkte der Priester durch die Macht, die ihm durch seine Einweihung innewohnte und die nur in jenen alten Zeiten möglich war, wo noch Daseinsbedingungen herrschten, die heute gar nicht mehr oder doch nur ganz selten vorhan­den sind, da lenkte er durch diese Macht, durch diese Kräfte den gan­zen Schlafzustand. Und er formte und gestaltete die ätherischen Gesichte und Wesenheiten so, daß tatsächlich wie durch einen Zauber vor dem Schlafenden die Gestalten auftauchten, die einst der alte Atlantier als seine Götter gesehen hatte. Solche Göttergestalten, an die die verschiedenen Völker nur noch eine Erinnerung bewahrt haben, zum Beispiel in der germanischen, der nordischen und auch in der griechi­schen Mythologie, besonders aber bestimmte Gestalten, die mit dem heilenden Prinzip verbunden waren, wurden nun vor die Seele dessen

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gestellt, der sich im Tempelschlaf befand. Wäre der Mensch bewußt geblieben wie in seinem Tagesbewußtsein, so wäre niemals die Mög­lichkeit vorhanden gewesen, solche Kräfte auf ihn wirken zu lassen; das war nur in einem solchen somnambulen Schlaf möglich. Die Prie­sterweisen lenkten das Traumleben also, daß starke Kräfte in diesem ätherischen Anschauen entfesselt wurden, und diese Kräfte wirkten ordnend und harmonisierend auf die in Unordnung und Disharmonie gebrachten Leibeskräfte. Bei diesem herabgestimmten Ich-Bewußtsein war das möglich. Der Tempelschlaf hatte also eine sehr reale Bedeu­tung. Aber wir sehen nun auch, warum eigentlich diese heilende Wir­kung der Priesterweisen in solchen Zusammenhang mit der Weisheit gebracht wurde, die den Menschen nur durch ihre Einweihung zuteil werden konnte. Dieser Zusammenhang liegt klar vor uns. Die Priesterweisen waren es ja, die durch Wiederbelebung des alten Hineinschauens in die höheren Welten gerade in ihrer Weisheit die höheren Kräfte hatten, die aus dem Geistigen strömten, wo Geistiges auf Geistiges wirken konnte. So bekamen sie die Fähigkeit, Geistiges auf Geistiges wirken zu lassen, und dadurch kam die Weisheit überhaupt in jenen innigen Zusammenhang mit dem Gesundheitsleben.

In diesem Sich-Hinaufheben zum Geistigen war in alten Zeiten ein gesundendes Element, und es wäre gut, wenn die Menschen so etwas wieder verstehen lernten, denn dann würden sie auch die große Mission der anthroposophischen Bewegung verstehen lernen. Was ist sie denn anderes, diese Mission, als den Menschen hinaufzuführen in die geisti­gen Welten, daß er wieder hineinschauen kann in die Welten, aus denen er heruntergestiegen ist! Zwar wird in zukünftigen Zeiten kein som­nambuler Schlaf über die Menschen verhängt werden, das Selbstbe­wußtsein wird voll aufrechterhalten bleiben, aber dennoch wird die starke spirituelle Kraft wirksam werden in der Menschennatur, und dann wird der Besitz von Weisheit und Einsicht in die höheren Welten wiederum etwas sein, was ordnend und gesundend auf die Menschennatur einwirken kann. Heute liegt dieser Zusammenhang des Geistigen mit dem Heilenden so verborgen, daß die Menschen, die nicht in irgend­einer Weise in die tiefere Mysterienweisheit eingeweiht sind, nicht viel davon wissen; sie können eben die feinen Tatsachen, die vorliegen, gar

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nicht beobachten. Wer aber tiefer hineinschauen kann, der weiß, von welchen tief innerlichen Bedingungen eine Heilung abhängen kann. Nehmen wir zum Beispiel an, ein Mensch wird von einer gewissen Krankheit befallen, von einer Krankheit, die innere Ursachen hat, nicht also etwa Schenkelbruch oder verdorbener Magen, denn dabei handelt es sich auch um äußere Ursachen. Jeder, der tiefer in diese Dinge eindringen will, wird sehr bald einsehen, daß bei einem Men­schen, der sich viel und gern mit mathematischen Vorstellungen be­schäftigt, ganz andere Bedingungen der Heilung vorhanden sind als bei einem anderen, der sich nicht damit beschäftigen mag. Das ist eine Tatsache, die Sie darauf hinweist, welch ein merkwürdiger Zusammenhang besteht zwischen dem geistigen Leben eines Menschen und dem, was die Bedingungen seiner äußeren Gesundheit sind. Natürlich ist das nicht so, als ob das mathematische Denken den Menschen heilte. Wir müssen das genauer erfassen: andere Bedingungen der Heilung sind notwendig bei einem Menschen, der mathematische Vorstellungen auf­nehmen kann, als bei einem, der es nicht tut. Setzen wir den Fall, zwei Menschen seien von der ganz gleichen Krankheit befallen. In Wirklich­keit kommt das ja nicht vor, aber als Hypothese können wir es ja hinstellen. Der eine will nichts wissen von mathematischen Vorstellungen, der andere beschäftigt sich intensiv damit. Es könnte dann der Fall ein­treten, daß es ganz unmöglich wäre, den Nichtmathematiker gesund zu machen, während Sie den anderen mit den entsprechenden Mitteln heilen können. Das ist ein ganz realer Fall.

Ein anderes Beispiel: Es liegen wieder ganz andere Gesundheitsbedingungen vor bei zwei Menschen, von denen der eine ein Atheist im schlimmsten Sinne und der andere ein tief religiös veranlagter Mensch ist. Wieder kann es geschehen, daß, wenn beide von derselben Krank­heit befallen werden, Sie mit denselben Heilmitteln den religiösen gesund machen und den anderen nicht. Das sind Zusammenhänge, die dem heutigen Denken - wenigstens bei dem größten Teil der Mensch­heit - geradezu absurd erscheinen. Und dennoch verhält es sich so.

Woher kommt das? Das beruht darauf, daß ein ganz anderer Ein­fluß auf die menschliche Natur ausgeübt wird von den sogenannten sinnlichkeitsfreien und von den sinnlichkeitserfüllten Vorstellungen.

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Denken Sie sich einmal den Unterschied zwischen einem Menschen, der die Mathematik haßt, und einem, der sie liebt. Der eine sagt: Das alles soll ich mir denken? Ich will aber nur das haben, was ich äußer­lich mit meinen Sinnen anschauen kann! - Es ist jedoch für das innerste Wesen des Menschen von großem Nutzen, in Vorstellungen zu leben, die man nicht anschauen kann; und ebenso ist es nützlich, in religiösen Vorstellungen zu leben, denn auch diese beziehen sich auf Dinge, die man eben nicht mit den Händen greifen kann, die sich nicht auf Auße­res, Materielles beziehen, die mit einem Wort sinnlichkeitsfrei sind. Das sind Dinge, die einst, wenn man wieder mehr auf das Spirituelle sehen wird, einen großen Einfluß auf pädagogische Prinzipien haben werden. Nehmen wir zum Beispiel die einfache Vorstellung drei mal drei ist neun. Am besten bilden sich die Kinder eine solche Vorstel­lung, wenn es sinnlichkeitsfrei geschieht. Es ist nicht gut, wenn sie zu lange drei mal drei Bohnen nebeneinander legen, denn dann kommen sie gar nicht über die sinnliche Vorstellung hinaus. Wenn Sie aber die Kinder daran gewöhnen, vielleicht zuerst, aber nicht zu lange, an den Fingern abzuzählen, dann es aber mit dem reinen Denken mathema­tisch zu verfolgen, dann wirkt diese Vorstellung gesundend und ord­nend auf die Kinder. Wie wenig die jetzige Zeit von solchen Dingen versteht, das sehen wir daran, daß gerade in der Pädagogik das Gegen­teil geschieht. Ist nicht in unsere Schulen die Rechenmaschine einge­zogen, wo an allerlei Kugeln die Addition, Subtraktion und so weiter für das sinnliche Auge klargemacht werden soll? Das, was bloß im Geiste erfaßt werden sollte, will man, wie man sagt, auf diese Weise sinnlich veranschaulichen. Das mag bequem sein, aber wer das für pädagogisch hält, weiß nichts von jener tieferen Heilpädagogik, die in der Kraft des Geistigen wurzelt. Einen Menschen, den Sie von Kindheit auf daran gewöhnt haben, in sinnlichen Vorstellungen zu leben, werden Sie, weil sein Nervensystem unter krankhaften Bedingungen lebt, nicht so leicht heilen können wie denjenigen, der von seiner Jugend auf an sinnlichkeitsfreie Vorstellungen gewöhnt ist. Je mehr Sie den Menschen daran gewöhnen, abgesehen von den Dingen zu denken, desto leichter wird es sein, ihn zu heilen. Daher war es unter den alten Traditionen immer üblich, allerlei symbolische Figuren,

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Dreiecke, Zahlenkombinationen zu geben; das hatte den Zweck, neben dem übrigen Wert, den diese Dinge hatten, den Menschen zu er­heben von dem bloßen Anschauen dessen, was aufgezeichnet ist. Wenn ich ein Dreieck vor mich hinstelle und es bloß anschaue, so hat das keinen besonderen Wert. Wenn ich dagegen in ihm die Symbolisierung der höheren Dreiheit des Menschen erfasse, so ist das eine für den Geist gesundende Vorstellung. Und nun denken Sie sich, daß die Geistes­wissenschaft den Menschen zur Anschauung des Geistigen führen wird. Wir werden hingelenkt von dem, was sich auf der Erde abspielt, zu dem, was sich auf der alten Sonne, dem Monde, dem Saturn abgespielt hat. Mit physisch-sinnlichen Augen können Sie heute die Ereignisse von damals nicht sehen, nicht mit Sinneshänden hinaufgreifen zum alten Mond, zur alten Sonne. Aber wenn Sie ohne Zuhilfenahme der äußeren sinnlichen Krücken sich hinauflieben zu den Dingen, die da einst waren, dann eignen Sie sich Vorstellungen an, die ausgleichend und harmonisierend auf Ihr ganzes Leben einwirken, auch auf das leib­liche. Daher wird die Geisteswissenschaft wieder ein großes, umfassen­des Heilmittel sein, wie sie es einst war in der Handhabung der alten ägyptischen Priester, die allerdings eine Herabstimmung des Ichs dazu benötigten, wie sie im Tempelschlaf ausgeübt wurde.

Die spirituelle Weltanschauung ist eine gesundende Weltanschau­ung. Freilich wird da mancher einwenden: Sind denn die Anthropo­sophen lauter gesunde Menschen, sind unter ihnen nicht auch Kranke? Wir müssen uns darüber klarwerden, daß der einzelne Mensch im Grunde genommen sehr wenig für seine Gesundheit und Krankheit kann. Ein großer Teil der Krankheitsursachen liegt außerhalb der ein­zelnen Persönlichkeit. Sie können heute die gesündesten Begriffe haben, die, wenn Sie unter ganz gesunden Bedingungen leben würden, Sie nie­mals von innen heraus krank werden ließen; aber es gibt andere Ursa­chen, die nicht in der Macht des individuellen Menschen von heute lie­gen, zum Beispiel die geheimen Ursachen von Vererbung, des Einflusses von Mensch zu Mensch, des Einflusses einer unnatürlichen Umgebung und so weiter. Das alles sind Dinge, die in geheimnisvoller Art äußere Krankheitsursachen sind; sie alle können nur durch eine gesunde an-throposophische Denkweise im Laufe der Zeiten beseitigt werden. Aber

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wenn man auch sieht, daß heute selbst die innerlich gesündesten Men­schen krank, sogar schwer krank werden können, so darf man dennoch darin nicht ein Zeugnis dafür erblicken, daß die Geisteswissenschaft nicht im Laufe der Jahrhunderte - und ich sage Jahrhunderte, nicht Jahrtausende - gesundend auf die Menschheit wirken werde. Oh, es steht vor dem Blicke des Geist-Erkennenden eine Zukunft, wo es in­nere Krankheitsursachen nicht geben wird für diejenigen, die die inne­ren und äußeren Bedingungen spiritueller Weisheit herbeiführen. Äußere Ursachen wird es immer geben, die können nur dadurch besei­tigt werden, daß eine im geisteswissenschaftlichen Sinne gehaltene Heil-kunst immer mehr und mehr Platz greift. Wir sehen: wenn wir die Wir­kung des Geistigen richtig verstehen, dann ist der Tempelschlaf nichts Rätselhaftes für uns.

Was also wurde in den ätherischen Gesichten als eine gesundheitlich wirkende Macht vor den Tempelschläfer gezaubert? Die Bilder der atlantischen Götter, die wir selbst als ätherische Gestalten kannten,

unter denen die Menschen einst lebten, wenn sie außerhalb ihrer phy­sischen Leiber waren und sich im ätherischen Helisehen befanden.

Und wenn wir nun noch weiter in der Menschheitsentwickelung zu­rückgehen, weit hinter die atlantische Zeit zurück, dann gelangen wir in eine Zeit, wo der Mensch erst das wurde, was er heute ist, wo der Mensch erst eintrat in die individuelle Persönlichkeit, die er heute hat. Wir nennen diese Zeit die lemurische Zeit. Der atlantische Kontinent, von dem aus sich die Völker nach Afrika, Europa, nach Asien hin ver­breiteten, ging zugrunde durch gewaltige Wasserkatastrophen. Die Lemuria, jener Erdteil, auf dem die Menschheit vor der atlantischen Zeit wohnte, ging zugrunde durch Feuergewalten, durch vulkanische Katastrophen. In der lemurischen Zeit aber war es, wo der Mensch zum ersten Male überhaupt sein Ich-Bewußtsein erworben hat. Ein ge­waltiger Einschnitt in der Menschheitsentwickelung war das. Wodurch erlangt der Mensch sein Ich-Bewußtsein? Es ist im allgemeinen für das heutige materialistische Denken schwer, sich diesen alten Zustand der Menschheit vorzustellen. Wenn Sie sich den damaligen Menschen so vorstellen würden, wie er heute ist, das heißt mit Fleisch und Blut, Knochen und Muskeln, dann würden Sie eine ganz falsche Vorstellung

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haben. Der Mensch von damals hatte eine weit flüchtigere, weichere Gestalt; fast flüssig war alles. Das, was später zu Muskeln und Knochen geworden ist, hat sich erst im Laufe der Zeiten verhärtet. Wir kommen da in eine Zeit zurück, wo noch eine ganz andere Art der Menschheitsfortpflanzung war. Der Mensch lebte damals mehr in der Umgebung der Erde, die aber nicht wie heute reine Luft war, sondern die mit aller­lei Dämpfen angefüllt war. Als eine wahre Luftgestalt lebte der Mensch da, und es zogen die äußeren Strömungen ein und aus. Es war tatsäch­lich beinahe so, als ob wir heute eine Wolke ansehen, die fortwährend ihre Gestalt ändert, nur etwas fester und bestimmter war die Gestalt des einstigen Menschen. Damals trat auch zuerst das ein, was wir heute als die Geschlechter bezeichnen; es wurde in jenen Zeiten in­nerhalb des Menschengeschlechtes eine alte ungeschlechtliche Fortpflanzungsart ersetzt durch eine geschlechtliche. Das liegt allerdings Millionen und Millionen von Jahren zurück vor der gegenwärtigen Zeit.

Mit der geschlechtlichen Fortpflanzung trat erst die Einverleibung des Ichs im ersten Keime in die Menschheit ein. Früher wurde der Mensch noch durch ganz andere Einflüsse dazu angeregt, seinesgleichen aus sich hervorgehen zu lassen; durch äußere Einflüsse wurde er dazu veranlaßt, durch Einflüsse, die in der Sphäre um ihn herum lagen. Das war die Fortpflanzung jener Zeit, wo der Mensch noch nicht sein Ich hatte, wo er noch mit einem dumpfen, hellseherischen Bewußtsein aus­gestattet war, wo er sozusagen noch ganz im Schoße der Gottheit ruhte. Er konnte nicht sagen «ich bin». Was er empfand, war etwa folgendes:

Er sah, daß, wenn er irgend etwas tat, es einen Eindruck auf seine Um­gebung machte, und er fühlte sein Dasein in seiner Umgebung. Er konnte nicht sagen: Ich bin da -, sondern er sagte: Meine Umgebung läßt mich da sein. - Er lag im Schoße der lebendigen Erde, und die lebendigen Erdenkräfte strömten aus und ein. Damals gab es noch keine ungesunden Kräfte, da gab es noch nicht Krankheit, nicht einmal Tod in unserer heutigen Auffassung. Erst als dem Menschen mit der ge­schlechtlichen Fortpflanzung sein Ich ausgeliefert wurde, da erst zogen Krankheit und Tod in die Menschheit ein. Wenn wir das alles uns richtig vorstellen, dann müssen wir sagen: Damals wurde das Menschenwesen

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nicht von seinesgleichen befruchtet, sondern so, wie es heute atmet, so nahm es damals die Stoffe aus seiner Umgebung in sich auf; und in dieser Umgebung waren die Kräfte der Befruchtung enthalten. Was da eindrang, das befruchtete ihn, das veranlaßte ihn, seinesgleichen hervorzubringen. Und das waren gesunde Kräfte im Menschen selber und in dem, was er als seinesgleichen hervorbrachte. Die alten ägyp­tischen Priester aber wußten das, und sie sagten sich: Je weiter man das Anschauen der Menschen zurücklenkt in frühere Zustände, desto mehr bringt man ihn in die Bedingungen, wo es keine Krankheiten gibt. - Schon das Anschauen der alten atlantischen Göttergestalten konnte ge­sundend wirken, mehr aber noch war das der Fall, wenn die Priester die Gesichte so lenkten, daß der Tempelschläfer jene uralten Menschen­gestalten vor sich hatte, die noch nicht von ihresgleichen befruchtet wurden, die aus der Umgebung heraus ihre Befruchtung erhielten. Da stand vor dem im Tempelschlaf liegenden Kranken die Gestalt der Gebärerin ihresgleichen ohne die Befruchtung von ihresgleichen. Da stand vor ihm die hervorbringende Frau, die Frau mit dem Kinde, die da jungfräulich ist, die Göttin, die in jener lemurischen Zeit eine Ge­nossin der Menschen war, und die mittlerweile dem Blick der Mensch­heit entschwunden ist. Die nannte man die heilige Isis im alten Ägyp­ten. Die Menschheit konnte diese Isis normalerweise nur damals sehen, als der Tod noch nicht eingezogen war; da waren die Menschen in nor­malem Bewußtseinszustande Genossen solcher Gestalten, die sie umschwebten und die ihresgleichen auf jungfräuliche Art hervorbrachten. Und als die Isis nicht mehr die sichtbare Genossin der Menschheit war, als sie in den Kreis der Götter entrückt wurde, da interessierte sie sich immer noch aus der geistigen Welt heraus für die Gesundheit der Men­schen, so sagten die Priester. Und wenn man den Menschen in ab­normer Weise, wie im Tempelschlaf, zu einer Anschauung jener alten Gestalten, jenes heiligen Isisbildes brachte, dann wirkte die Göttin immer noch gesundend, denn sie ist das Prinzip im Menschen, das da war, bevor die sterbliche Hülle den Menschen umgab. Ihren Schleier hat kein Sterblicher gehoben, denn sie ist die Gestalt, die da war, als der Tod überhaupt noch nicht in die Welt gekommen war. Sie ist das im Ewigen Wurzelnde, sie ist die große heilende Wesenheit, die die

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Menschheit wieder erringen wird, wenn sie sich aufs neue vertiefen wird in die spirituelle Weisheit.

So sehen wir, was geblieben ist in jenem wunderbaren Symbolum der jungfräulichen Mutter mit dem Kinde, die sich im Madonnenbilde, wir können es auf geisteswissenschaftlichem Boden mit aller Kraft sagen: in dem gesundend wirkenden Madonnenbilde erhalten hat. Denn das Madonnenbild ist - in jenen Grenzen, die erörtert worden sind - ein Heilmittel. Wenn es so behandelt wird, daß die menschliche Seele noch eine Nachwirkung hat, wenn sie im Schlafe liegt und etwa träumen kann von diesem Madonnenbilde, dann hat dieses auch heute noch eine heilende Kraft.

Und nun fragen wir uns: Wo lagen denn in jener Zeit, als das Menschenwesen noch nicht von seinesgleichen befruchtet wurde, wo lagen denn da die befruchtenden Kräfte?

Stellen Sie sich unsere Erde vor als einen festen Kern, umgeben von allerlei zähflüssigen, brodelnden Substanzen, Wasserdämpfen, und dar­innen halbwässerige Bildungen, darinnen den lemurischen Menschen. Dieser Erdkörper wird bestrahlt von der Sonne, die damals noch kein menschliches Auge wahrnehmen konnte, weil die Sinnesorgane noch nicht entwickelt waren. Aber diese Sonne wirkt durch die Nebel- und Wolkenhülle hindurch, und mit der Kraft der Sonnenstrahlen nimmt die Erde auch die Befruchtungskräfte auf. Das also, was die Menschenwesen einsaugen, das fließt der Erde von den unsichtbaren geistigen Sonnenwesenheiten zu. So haben wir eine Erde, die außen beschienen wird von der Sonne, die der Mensch noch nicht sehen kann, diese Erde wird aber nicht nur von den Kräften der Wärme bestrahlt, sondern zu gleicher Zeit von derselben Kraft, die heute in der Befruchtungskraft lebt. So haben wir Sonne und Erde miteinander in Beziehung. Diese Kraft, die da auf jene ungeschlechtlich sich fortpflanzenden Menschen­gestalten wirkt, empfand man als eine männliche Kraft, sie war aus­gegossen als ein Produkt der Sonne über die ganze Erde. So waren die Verhältnisse in der allerersten lemurischen Zeit.

Und dann schreiten wir in eine Zeit zurück, in welcher wiederum ganz andere Verhältnisse herrschten, in eine urferne Vergangenheit, wo noch verbunden war der heute abgespaltene Sonnenkörper mit unserer

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Erde. Denn einst war unsere Erde und die Sonne ein Leib. Alles Feinere und Ätherische hängt in gewisser Weise noch zusammen in diesem ge­meinsamen Körper. Wir betrachten jenen Zeitpunkt, da Sonne und Erde noch wie eine Biskuitform zusammenhängen, und zwar so, daß der eine Teil, eine kleinere Kugel, nämlich die Erde und der Mond, an der Sonne hängt. Also wir stellen uns vor: die Sonne als ein großer ätherischer Leib, und daran hängend Erde und Mond zusammen. Da flossen noch die Kraftstrahlen von der Sonne mit der Erde zusammen, von der Sonne zur Erde, von der Erde zur Sonne, denn beide waren ja in gewisser Weise ein Leib.

Wir verstehen am besten den Sinn dieser Entwickelung, wenn wir uns einmal fragen, was geschehen wäre, wenn die Sonne sich ohne weiteres ganz abgewendet hätte von der Erde, nachdem sie sich herausgespalten hatte; wenn sie nicht mehr ihre Strahlungen und Strömungen der Erde zugesandt hätte, wenn sozusagen die Erde gleich nach der Abspaltung ganz allein geblieben wäre. Vertrocknet, verknöchert, erstarrt wäre alles Leben auf der Erde. Der befruchtende Einfluß der Sonne mußte bleiben. Man muß dieses Zusammenwirken von Sonne und Erde emp­finden wie ein Zusammenwirken von zwei Prinzipien: das eine zur Verdichtung, zur Erstarrung führend, das andere anfeuernd, fortschreitendes Leben gebend. Und so war es auch später. Von der Sonne floß immer das, was fortschreitendes Leben ist.

Und jetzt kommen wir in eine noch frühere Zeit zurück, in eine Zeit, wo beide Körper noch eines waren, wo die Kräfte der Sonne und der Erde noch ganz zusammenflossen.

Sie sehen: wir haben da verschiedene Entwickelungsstadien unserer Erde absolviert. Wir haben eine uralte Vergangenheit, wo die Erde noch im Sonnenleib drinnen war, wo sie noch eines mit der Sonne war; dann eine zweite Zeit, da war die Erde nurmehr lose mit der Sonne

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verbunden, dann eine dritte, wo beide Körper sich völlig voneinander getrennt haben. In dieser dritten Zeit ist das Ich eigentlich erst in den Menschen eingetreten, und da beginnt auch erst die geschlechtliche Fortpflanzung. Dann folgt die vierte Zeit, die atlantische Zeit, und schließlich die nachatlantische Zeit, in der wir leben.

Für denjenigen, der tiefer hineinsieht in das Weltengewebe, steht alles das, was äußerlich sichtbar geschieht, unter der Einwirkung von geistigen Wesenheiten. Einstmals waren Sonne und Erde eines. Auf die Mondentwickelung wollen wir später noch eingehen. Da war auch dieser gemeinsame Körper von einheitlich wirkenden geistig-göttlichen Wesenheiten durchzogen. Da waren hohe geistige Wesenheiten not­wendig, die das Regiment über die damals noch ungeteilten Kräfte ausüben konnten.

Und nun denken wir uns die Entwickelung ein Stück fortgeschritten, den Sonnenleib sich herausziehend. Was geschieht da? Mit der Sonne gehen die höchsten Wesenheiten und die feinsten Substanzen fort; sie wirken alsdann von außen auf die Erde ein. Diejenigen Wesenheiten, die das eigentlich Lebendige, das immer sich beflügelnde Leben dar­stellen, sie wohnen auf der Sonne; und auf dem Erdengebiet wohnen die Wesenheiten, die, wenn sie allein bleiben würden, die Verdichtung, die Erstarrung, die Finsternis herbeiführen müßten. In diesem zweiten Stadium wirken also Licht und Finsternis zusammen.

Im dritten Stadium der Erdentwickelung tritt für den Menschen die Begabung mit dem Ich ein. Es beginnt für ihn die Zeit, wo in ihm sein selbstbewußtes Ich wohnt. Er empfindet dieses selbstbewußte Ich namentlich in seinem Gegensatz: der Mensch verfällt immer mehr in einen Zustand, wo er ein Bewußtsein hat, das heller ist, und ein an­deres, dunkles; das eine kommt ihm von der Sonne, das andere vorzugs­weise von der Erde. Das Ich, der ewige Kern, muß wechseln zwischen einer Gestalt, wo er in einer ewigen Form ist, und einer solchen, die geboren werden kann und stirbt. Diejenigen Wesenheiten aber, die das, was der Mensch nur abwechselnd haben kann, immer haben, die gehen heraus aus dem Erdenkörper. Zunächst geht diejenige Wesenheit her­aus, welche befruchtend wirkt, sie nimmt vorzugsweise ihren Aufent­halt auf der Sonne. Und diejenige Wesenheit, welche die Gestalt in

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Ständigkeit, in der Dauer erhält, die geht hinaus mit dem Monde. Es trennen sich Sonne und Mond nach und nach von der Erde ab. Mit der Sonne gehen alle die Wesenheiten hinaus, welche die Erde in ein sich überstürzendes Leben gebracht hätten, wenn sie mit ihr vereint geblie­ben wären; mit dem Monde ziehen die Kräfte hinaus, die Verhärtung und Erstarrung bewirkt hätten, die dauernd in ihrer Gestalt bleiben. Die Erde ist wie in der Mitte zwischen beiden. Der Mensch auf der Erde wechselt also ab in Verrichtungen, die auf der einen Seite von der Sonne und auf der anderen Seite von den Kräften des Mondes be­einflußt werden. Diese Gestalten, die früher Genossen der Menschen waren, sind sozusagen jetzt zur Sonne und zum Monde hin entrückt.

In der vierten Periode sind diejenigen Genossen da, welche selbst schon bis zu einem ätherisch-göttlichen Leibe verdichtet sind, und die in gewisser Beziehung menschlichen Schwächen unterworfen sind. Das sind ätherische Götter, und mit ihnen lebte der Mensch während der atlantischen Zeit zusammen. Und in der nachatlantischen Zeit verliert er auch mit diesen ätherischen Göttern den Zusammenhang, er ist ganz herausgestellt in die physische Welt; wie zugeschlossen ist das Tor, das zur höheren geistigen Welt führt.

Aber aus diesen alten Zeiten verbleibt ihm etwas, was wie eine Er­innerung an die geistigen Welten wirkt, und nacheinander tritt im Menschen durch das Gesetz der Wiederholung alles das in der Erkennt­nis auf, was er einst im Leben durchgemacht hatte. Im Leben hatte er einst durchgemacht eine Anzahl von Perioden, in denen er in immer verschiedenem Verhältnis zu den Göttern gestanden hatte. Jetzt macht er dieselben Perioden noch einmal durch, aber in der Erkenntnis. Auf die große atlantische Flut folgte eine Zeit der uralten indischen Kultur, wo die Menschen in ihrer Seele, in ihrem Geiste noch einmal durchlebten jene Zeit mit ihren hohen Göttern, da Erde und Sonne noch ver­einigt waren. Die hohe erhabene Gottheit, die damals alles, was war, leitete und lenkte, sie durchlebte der Mensch in der ersten nachatlantischen Kulturepoche, und er nannte diese Gottheit mit einem Namen, der für spätere Zeiten als Tradition blieb: Brahman, das All-Eine. Die Gottheit, die wirklich einmal da war unter den Menschen - denn der Mensch war in der ersten Zeit der Erdenentwickelung ein Genosse des

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Brahman gewesen -, sie wurde in der uraltindischen Kultur verehrt; der Mensch erlebte sie erkennend, in hoher Abstraktion.

Und dann folgte eine Kultur, da erlebte der Mensch erkennend die zweite Zeit, wo die Sonne mit den allbelebenden Kräften getrennt war von den Kräften der Finsternis. Daher empfand der Mensch dieser zweiten Kulturepoche in seiner Erkenntnis eine Gott-Zweiheit. Er wiederholte, was einst im Leben da war, in der religiösen Erkenntnis, und diese Zweiheit hat sich erhalten, als sich der Gegensatz zwischen Ormuzd und Ahriman, die gute und die verneinende Gottheit, als die persische Kultur ausbildete. Sie war nichts anderes als ein nochmaliges Durchleben dessen - aber jetzt in der Erkenntnis -, was der Mensch einst wirklich durchlebt hatte.

Und dann kommen wir in die Zeit, wo Sonne und Mond heraus­getreten waren, die Sonne mit den befruchtenden Kräften, der Mond mit den Kräften, die Gestalt gaben: für den Menschen eine vergängliche allerdings, für die Götter aber eine dauernde Gestalt. Und der Mensch empfand diesen Unterschied wiederum in dem Gegensatz zwischen jenen früheren Sonnenkräften und denen, die jetzt wirkten, und an­ders wirkten als vorher. Und er empfand diese Sonnenkräfte als die Kräfte des Osiris in Ägypten. Osiris ist die Kraft der Sonne, wie sie gewirkt hat in der dritten Zeit der Erdentwickelung, und wir sehen die Osirisreligion in der dritten Kulturepoche entstehen. Und Isis ist die Kraft des Mondes vor der völligen Trennung von der Erde, vor der Geschlechtertrennung, wo sie noch als jungfräuliche Fortpflanzungskraft gewirkt hat. Isis ist zum Monde entflohen, wo sie erstarrt ist.

Und in der vierten Epoche, in der griechisch-lateinischen Kultur, erlebte die Menschheit in ihrem Polytheismus einen erinnernden Nachklang an die atlantische Zeit mit ihren vielen ätherischen Göttergestalten.

Und wir nun, in der fünften Kulturepoche, wir haben nichts zu wiederholen. Diesen Gedanken lassen Sie uns vor die Seele führen: wir haben nichts zu wiederholen, keine alte Erinnerung. Denn wir haben herausgeboren eine in die Zukunft wirkende fünfte Zeit, während die vier früheren Zeiten Wiederholungen waren. Unsere Zeit muß nicht eine uralte Weisheit gebären, sondern eine neue Weisheit, die nicht nur

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in die Vergangenheit hineinweisen kann, sondern die prophetisch, apokalyptisch wirken muß in die Zukunft hinein. Wir sehen eine uralte Weisheit, bewahrt in den Mysterien der vergangenen Kulturepochen; eine apokalyptische Weisheit, zu der wir den Samen legen müssen, muß unsere Weisheit sein. Wir brauchen wieder ein Einweihungsprinzip, damit die ursprüngliche Verbindung mit der geistigen Welt wieder hergestellt werden kann. Das ist die Aufgabe der anthroposophischen Weltbewegung. Kein Wunder, daß so viele Menschen die Weisheit ver­loren haben, denn ohne das Einweihungsprinzip ist es heute schwer, Weisheit zu erringen, schwerer als früher, wo nur die Erinnerung an alte Erlebnisse aufgefrischt werden durfte, wo die Früchte früherer Entwickelungen erlebt werden konnten. Heute ist es schwer - daher begreifen wir, daß heute für den Menschen die Sinneswelt ohne Gott öde und leer ist. Aber wenn es auch erscheint, als ob die alte Geistes­welt erstorben wäre, sie ist dennoch da, wirksam und befruchtend ist sie da, und wenn die Menschen wollen, werden sie wieder Zusammen­hang finden mit der geistigen Welt. Gesorgt ist dafür worden, indem gerade da, als auszugehen schienen in der griechisch-lateinischen Zeit die alten Erinnerungen, ein wunderbarer Keim für alle folgenden Zei­ten in den kalten Boden der Erde gelegt wurde, der Keim, den wir als das Christus-Prinzip bezeichnen. In der Anknüpfung an dieses Christus-Prinzip wird die apokalyptische Weisheit, die wahre, neue Geist-Erkenntnis, gefunden werden, die nicht nur erinnernd zurückweist auf vergangene Zeiten, sondern die prophetisch auf die Zukunft hindeutet und gerade dadurch den Menschen zur Tätigkeit, zum Schaf­fen ruft. Jene tätige, jene produktive Weisheit ist freilich hervorgegan­gen aus dem, was in der Vergangenheit als Same gelegt worden ist.

So sehen wir den Zusammenhang zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, die uns auch heute schon als ein Arbeitsfeld vorliegt. Wir sehen vor uns auftauchen den ganzen Horizont der Zukunft, und wenn wir von Welt, Mensch und Erde sprechen, werden wir nicht bloß von der Vergangenheit zu sprechen haben, sondern auch von den Kräften der Zukunft; denn die Welt ist nicht bloß etwas, was mit der Ver­gangenheit zu tun hat, sondern was sich hineinentwickelt in die Zu­kunft, und unsere Erde hat noch ein großes Stück Zukunft zu absolvieren.

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Der Mensch aber wird noch zukünftiger sein als die Erde, und wenn wir ihn ganz kennenlernen wollen, dann müssen wir nicht nur hineinschauen in die Vergangenheit, dann müssen wir studieren, was heute wirkt und was wirken wird im großen Weltenmorgen.

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DRITTER VORTRAG Stuttgart, 6. August 1908

Wenn wir in den kommenden Auseinandersetzungen uns die Bezie­hungen zwischen Welt, Erde und Mensch vor Augen führen wollen, dann wird es notwendig sein, daß wir uns heute manches vor die Seele stellen, was uns eine Art Grundlage dazu liefert. Wir müssen ja be­denken, daß, wenn wir uns nur unserer äußeren Sinne und des an die Sinne gebundenen Verstandes bedienen, wir dann im Grunde genom­men sehr wenig überschauen können. Das gilt sowohl von der Erde wie von dem Menschen, und in höherem Maße noch von dem Weltall. Wir müssen uns klar sein darüber, daß ein großer Teil des Wesentlichsten den äußeren Sinnen wie auch der äußeren Verstandesbetrachtung über­haupt verborgen bleibt. Daher wollen wir zunächst auf einiges hin­deuten, was von den uns umgebenden Wesenheiten im Verborgenen vorhanden ist. Dabei wird mancherlei erwähnt werden müssen, was vielen von Ihnen schon bekannt ist, aber zum Verfolgen des ganzen großen tatsächlichen Zusammenhangs ist es notwendig, daß wir uns vorher alle diese Dinge noch einmal vor die Seele führen. Vor allen Dingen müssen wir uns einmal umschauen auf dem Weltenkörper, den wir zunächst bewohnen und der im Mittelpunkt unserer Betrachtung liegen wird: unsere Erde.

Wir haben gestern ein Stück unserer Erdenentwickelung im Zu­sammenhange mit der ganzen Erdenentwickelung betrachtet; wir ha­ben gesehen, wie sich im Laufe dieser Entwickelung Wesenheiten in im­mer anderer Weise betätigt haben, von jenem Zeitpunkt an, wo Erde und Sonne noch einen Körper bildeten, bis in unsere Zeit hinein. Und wir haben gesehen, wie in der nachatlantischen Zeit die Menschen in der Erkenntnis und im religiösen Bewußtsein alles das wiederholen, was die ganze Erde im Laufe ihrer Entwickelung durchgemacht hat. Nun aber müssen wir auf diese Erde immer tiefer eingehen. In der sicht­baren Welt umgibt uns zunächst in bezug auf unsere Erde die Gesamt­heit dessen, was wir die vier Reiche der Natur nennen: das mineralische Reich, das pflanzliche, das tierische und das menschliche Reich. Aber

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der Mensch ist nicht bloß das materiell-physische Wesen, von dem uns die äußeren Sinne Kunde geben, das uns der Verstand der äußeren Wissenschaft beschreibt und erklärt, sondern er ist eine komplizierte Wesenheit, die sich aus dem physischen Leib, dem Ätherleib, dem Astralleib und dem Ich aufbaut. Das alles wissen wir ja.

Wenn wir nun den Blick über die anderen Wesen der Erdenreiche hinschweifen lassen, dann müssen wir uns vor allen Dingen dessen be­wußt sein, daß diese Ausdrücke - physischer Leib, Ätherleib, Astral­leib und Ich - nicht etwa bedeutungslos für die anderen Wesenheiten sind, sondern daß sie im Gegenteil ihre gute Bedeutung haben. Wenn wir im Physischen bleiben, können wir von allen Erdenwesen ja zu­nächst nur dem Menschen eine Ich-Wesenheit zuschreiben. Hier in die­ser physischen Welt hat nur der Mensch ein selbstbewußtes Ich. Bei den Tieren ist es ein ganz anderes Verhältnis; das Tier hat nicht in der­selben Weise sein Ich in der physischen Welt wie der Mensch. Wenn wir das Tier in seinem Unterschiede von dem Menschen betrachten, dann müssen wir zunächst sagen: Während jeder Mensch als einzelne, inner­halb seiner Haut abgeschlossene Individualität sein Ich hat, hat das einzelne Tier nicht sein Ich, sondern es ist so, daß immer gewisse Grup­pen gleichgestalteter Tiere zusammen ein Ich haben. So haben zum Bei­spiel alle Löwen oder alle Bären zusammen ein Ich, und wir nennen daher ein solches Ich der tierischen Welt ein Gruppen-Ich. Des Men­schen Ich begegnet uns in der physischen Welt; wenn wir es auch nicht mit den Augen sehen können, es ist in jedem Menschen sozusagen inner­halb seiner Haut vorhanden. Bei dem Tiere ist das nicht der Fall, das Gruppen-Ich begegnet uns nicht in der physischen Welt. Um uns nun eine Vorstellung von einem solchen Gruppen-Ich zu verschaffen, den­ken Sie sich einmal, vor mir stünde eine Wand, und in dieser Wand wären zehn Löcher. Ich strecke meine zehn Finger durch die Löcher und bewege sie. Nun können Sie meine zehn Finger sehen, mich selbst aber nicht, und Sie werden sich ohne weiteres sagen, daß diese Finger sich nicht von selbst bewegen, sondern daß da irgend etwas Verborge­nes sein muß, was die Bewegung verursacht; mit anderen Worten: Sie vermuten eine Wesenheit, die zu den zehn Fingern gehört. Dieser Ver­gleich führt uns auf das Gruppenhafte, auf das Seelenartige beim Tiere.

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Die vielen Löwen hier auf dem physischen Plane sind Wesen, die uns in einer gewissen Beziehung auch etwas verbergen. So wie sich die Zentralwesenheit zu den zehn Fingern hinter der Wand verbirgt, so verbirgt sich auch hier etwas, was allen Löwen gemeinsam ist, und zwar aus dem Grunde, weil es in der physischen Welt überhaupt nicht vorhanden ist. Dasselbe Ich-Wesen, das beim Menschen in der physi­schen Welt vorhanden ist, befindet sich beim Tier in der astralischen Welt: das Tier hat sein Gruppen-Ich in der astralischen Welt. Wenn wir uns schematisch die Beziehung des Tieres zu seinem Ich vorstellen wollen, so müssen wir uns eine Grenze zwischen der physischen und der astralischen Welt denken; beim Menschen ist das Ich unten in der physischen Welt, beim Tier dagegen ist nur der physische Leib, der Ätherleib und der Astralleib in der physischen Welt. Das vierte Glied, das Ich, ist nicht wie beim Menschen in der physischen Welt. Von jedem einzelnen Tiere erstreckt sich eine Fortsetzung in die astralische Welt hinein, und da gehen diese Fortsetzungen zusammen und bilden dort das Kleid, die Hülle für das tierische Gruppen-Ich, sagen wir für das Löwen-Ich. Dieses Gruppen-Ich lebt als einzelne Persönlichkeit auf dem Astralplane wie das menschliche individuelle Ich hier auf dem physischen Plane. Schematisch ausgedrückt: Wenn der Hellseher den astralischen Plan betritt, so begegnet er dort den tierischen «Ichen»

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als einzelnen Wesenheiten, die ihre Glieder in die physische Welt vor­strecken. Nun dürfen Sie aber freilich sich die Sache nicht bloß sche­matisch vorstellen, sondern Sie müssen sich daran gewöhnen, sie sich in ihrer wirklichen Tatsächlichkeit vorzustellen. Sie müssen sich klar darüber sein, daß wir nicht in eine andere Region zu gehen haben, um in die astralische Welt hineinzukommen, denn diese astralische Welt

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durchdringt unsere physische Welt; es handelt sich nur darum, daß wir mit geöffneten astralischen Sinnen in sie hineinblicken können.

Nun fragen wir: Wie sieht denn der Hellseher die Gruppen-Iche der Tiere? - Der Hellseher nimmt das Gruppen-Ich einer der höheren Tiergattungen zum Beispiel dadurch wahr, daß er längs des Rück­grats des Tieres etwas wie einen helleuchtenden Streifen sieht. Es durch­ziehen unseren Luftkreis in der Tat nicht nur die materiellen Strömun­gen, die wir kennen, sondern nach allen Seiten wird er auch von wirk­lichen Strömungen astralischer Art durchzogen. Der Hellseher sieht, wenn sein geistiges Auge geöffnet ist, unsere Erde von vielerlei Strö-mungen durchzogen, und in solchen Strömungen lernt er erkennen die Gruppen-Iche der Tiere.

Als zweites tritt die Frage an uns heran: Haben denn auch die niedri­geren Wesen, wie zum Beispiel die Pflanzen, etwas von einem Ich? - Ja, auch sie haben ein Ich. Wenn der Hellseher die Pflanze untersucht, so findet er folgendes: Das, was in der physischen Welt da ist, ist nichts anderes als eine Zusammenfügung von physischem und Ätherleib. Den­ken wir uns, daß wir hier die Oberfläche der Erde haben (es wird ge­zeichnet); hier die Wurzel einer Pflanze, den Stengel, die Blätter und die Blüte. Was da in der physischen Welt herauswächst, hat nicht wie der Mensch physischen, Äther-, Astralleib und Ich, sondern nur physi­schen Leib und Ätherleib. Das Tier hat auf dieser Welt noch seinen Astralleib, die Pflanze nicht. Aber Sie dürfen daraus nicht schließen, daß das, was als Astralisches Sie erfüllt und auch in dem Tiere tätig ist, bei der Pflanze nicht tatig ware. Für das geöffnete Auge des Hell­sehers wird die Pflanze umglöht und umstrahlt, und zwar vorzugs­weise umstrahlt von astralischen Substanzen. Und diese sind es auch, die da mitwirken an der Bildung der Blüte. Während also die Pflanze von Blatt zu Blatt wächst durch den Einfluß des Ätherleibes, wird sie oben in der Blüte abgeschlossen dadurch, daß sie umspült wird von astralischer Substanz.

Jede Pflanze, die in die Höhe wächst, sieht der Hellseher so von dieser astralischen Substanz umgeben. Aber es ist noch etwas anderes bei dieser Pflanze vorhanden - das Ich. Wollen wir das Ich der Pflanze fassen, so müssen wir es im Mittelpunkt der Erde suchen. Dort haben

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alle Pflanzen ihr Ich, das ist eine wichtige und wesentliche Wahrheit. Während wir also die Iche der Tiere die Erde umkreisen sehen, müs­sen wir, um das Pflanzen-Ich wahrzunehmen, den Blick hinlenken zum Mittelpunkt der Erde. Und in der Tat, wenn der hellseherische Blick vordringt zu solchem Anschauen der Pflanze, dann erweitert sich die Erde, die ja dem Menschen sonst nur wie ein materielles Gebilde gegenübersteht, zu einem Organismus, der in der Mitte sein Ich hat; und dieses Ich besteht aus allen Pflanzen-Ichen zusammen. Die Erde ist beseelt mit einem Ich, und geradeso wie Ihr Kopf Haare trägt, die also aus Ihrem Wesen herauswachsen, so wachsen die Pflanzen aus dem Wesen der Erde heraus und gehören zum gesamten Erdenorganismus. Und wenn Sie eine Pflanze mit der Wurzel aus der Erde herausreißen, so tut das der gesamten Erde weh, so empfindet die Pflanzenseele Schmerz. Das ist eine Tatsache. Dagegen dürfen Sie nicht glauben, daß es der Erde weh tut, wenn man etwa die Blüte abpflückt; da findet das Entgegengesetzte statt. Wenn Sie zum Beispiel im Herbste sehen, wie der Schnitter durch die Kornhalme fährt, so sieht der hellseherische Blick, wie über die Erde hinstreichen ganze Ströme von Wohlgefühlen. Sie dürfen dabei keine moralischen Einwände geltend machen. Sie könnten zum Beispiel sagen: Ist es denn eine geringere Sünde, wenn das Kind alle möglichen Pflanzen ganz unnütz abreißt, als wenn man eine Pflanze sorgfältig und mit guter Absicht versetzt? - Die Tatsachen bleiben bestehen. Entwurzeln Sie eine Pflanze, so tut es der Erde weh, schneiden Sie eine Pflanze ab, so tut es der Erde wohl. Denn die Erde gibt gern her, was sie an der Oberfläche trägt, und wenn die Tiere über den Erdboden gehen und die Pflanzen abgrasen, dann empfindet sie es als ein Wohlgefühl; ähnlich wie es die Kuh empfindet, wenn das Kalb an ihrer Brust saugt. Das ist durchaus eine okkulte Tatsache. Das, was als Pflanze aus der Erde herauswächst und oben von dem Astralleib umstrahlt wird, das ist für die Erde dasselbe wie die von den tierischen Lebewesen hingegebene Milch. Das alles sind keine bloßen Vergleiche, sondern wirkliche Tatsachen. Wer mit hellseherischem Blick in die astralische Welt hineinsehen kann, sieht aber noch nichts von dem Ich der Pflanze, dazu gehört ein höheres Hellsehen, das in die devachani-sche Welt hineinzuschauen vermag. Wir müssen also sagen, die Gruppen-Iche

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der Tiere sind in der astralischen Welt, während das Ich der Pflanze sich in der devachanischen Welt befindet.

Und nun stellt sich uns von selbst die Frage: Wie steht es denn mit der mineralischen Welt? Wie steht es mit dem sogenannten toten Ge­stein? Hat auch das etwas wie ein Ich oder wie höhere Glieder? - Wenn wir den Stein betrachten, so finden wir, daß er in dieser Welt nur den physischen Leib hat. Der Ätherleib des Minerals umgibt das Mineral und hüllt es von allen Seiten ein. Wenn Sie zum Beispiel einen Berg-kristall nehmen, so müssen Sie sich vorstellen, daß diese ganze Form ausgespart ist, wie ein ätherischer Hohlraum ist, und daß erst da, wo die physische Substanz aufhört, das Ätherische beginnt; wie die Pflanze oben von dem Astralischen umspült wird, so ist das Mineral von allen Seiten vom Ätherischen umgeben. Dieses Ätherische ist zu Hause in der Astralwelt, merken Sie wohl auf, hier haben wir ein Ätherisches, das in der Astralwelt zu Hause ist. Die Dinge sind in Wirklichkeit kom­plizierter, als man gewöhnlich denkt. Nicht etwa ist es so, daß in der astralischen Welt alles astralisch ist; das ist ebensowenig der Fall, wie in der physischen Welt alles physisch ist. Sie haben zum Beispiel auf dem physischen Plane, in der physischen Welt den Ätherleib, den Astralleib und sogar das Ich des Menschen. So sieht auch der Hellseher den Ätherleib des Minerals in der astralischen Welt.

Wo ist nun der Astralleib des Minerals?

Er nimmt sich aus wie ganz eigentümlich geformte Strahlen. Denken Sie sich solche Strahlen, die sich wie Spitzen in den Ätherleib hinein-bohren, denken Sie sich solche Lichtgebilde, welche immer breiter und breiter werden, und dann sich sozusagen hineinbohren in den Ätherleib des Minerals. So haben Sie astralische Strahlenfiguren, die von jedem Mineral ausstrahlen. Ein Ende finden Sie da nicht, denn diese Figuren strahlen ins Unbestimmte in den Weltenraum hinaus. Wenn Sie also einen Bergkristall betrachten, so sehen Sie zunächst den Raum, der physisch ausgefüllt ist; hellseherisch sehen Sie die physische Form um­geben vom Lichte des Ätherleibes und dann wie eingebohrt allerlei Strahlengebilde, die sich nach allen Seiten hin unendlich hinauserstrek­ken in den Raum. Hier wird Ihnen der Blick erweitert von jedem Punkte des Raumes, der von irgendeiner mineralischen Substanz erfüllt

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ist, in das Unendliche hinaus. Kein Punkt des Raumes, der außer Zu­sammenhang mit dem Weltall wäre. Es ist, wie wenn jedes einzelne in unserer Welt an tausend und tausend Lichtfäden geistiger Art hinge, Lichtfäden, die sich in den unendlichen Raum hinaus erstrecken, und Sie können sich vorstellen, wenn sich das immer mehr und mehr er­weitert, wie dann alle diese Lichter ineinanderfließen müssen. Und in der Tat, wenn Sie ein Mineral hellseherisch betrachten, so stellt sich Ihnen dieser Anblick dar: Sie sehen den physischen Leib umstrahlt von den Lichtfiguren des Ätherleibes; dann sehen Sie Strahlen, die sich immer mehr und mehr erweitern, hinausgehen in den Weltenraum; Sie sehen sie verschwinden wie in einer Hohlkugel; von jedem Mineral aus können Sie sich den Mittelpunkt denken von einer solchen Hohlkugel, und diese sind überall, in der ganzen Welt vorhanden. Solche Hohlkugeln stecken ineinander, und wenn wir uns vorstellen, daß sich das hellseherische Vermögen mehr und mehr erhebt bis dahin, wo diese Strahlen sich vereinigen, da kommen wir zu dem, wo uns von allen Seiten des Weltenraumes entgegenstrahlen die Iche der Mineralien. Dem hellseherischen Vermögen zeigen sich diese Iche, wenn es die hö­heren Partien des devachanischen Planes betritt. Während die Strah­len selbst in den niederen Partien sind, also auch der Astralleib, ist das Ich in der höchsten devachanischen Welt.

So haben wir also eine Übersicht über die verschiedenen Reiche. Das Ich des Menschen ist auf dem physischen Plane, das Ich der Tiere auf dem Astralplane, das der Pflanze auf den niederen Stufen der devacha­nischen Welt, und das Ich der Mineralien auf den höchsten devachani­schen Stufen.

In einer gewissen Beziehung sind deshalb die Mineralien hier auf der Erde in der entgegengesetzten Lage wie der Mensch. Der Mensch hat sein Ich drinnen, innerhalb der Haut eingeschlossen, der Mensch ist, jeder für sich, ein Zentrum, ein Menschenzentrum. Die Pflanzen bilden schon ein weiteres Zentrum; alle zusammen bilden sie ein Erden-zentrum, und die Mineralien bilden in ihren Ichen den Umkreis unserer Weltensphäre. Daher ist das menschliche Ich überall Mittelpunkt, wo der Mensch steht; das mineralische Ich ist überall im Umkreise: genau das Entgegengesetzte wie beim Menschen. Und nun werden Sie es begreiflich

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finden, wenn ich sage, daß das Mineral als Seele in einer ganz anderen Lage ist als zum Beispiel die Menschen- oder Tierseele. Wenn Sie ein Mineral zerschlagen, so empfindet es nicht Schmerz, sondern im Gegenteil Lust und Wollust, und ganze Ströme von Wollust entströ­men einem Steinbruch, wenn das Gestein zerschlagen und zersplittert wird. Dagegen würde es einen ungeheuren Schmerz verursachen, wenn Sie all das Zersplitterte, all das Abgespaltete wieder zusammensetzen wollten. Sie können das an einem anderen Vorgange verfolgen. Denken Sie sich ein Glas mit warmem Wasser, Sie werfen ein Stück Salz hinein. Indem sich das Salz auflöst, löst sich nicht nur Materie auf, sondern Wohlgefühl erfüllt das warme Wasser, Wollust im Zerreißen der mi­neralischen Teile beim Auflösen. Wenn Sie aber nun das Wasser ab­kühlen, so daß das Salz sich wieder kristallisiert, dann ist dieser Vor­gang mit Schmerzgefühl verbunden. Solche Dinge haben die Einge­weihten immer gewußt, und sie haben es auch den Menschen immer gesagt. Die Menschen müssen es nur verstehen lernen. Einer der großen Eingeweihten hat gerade darüber Bedeutsames gesprochen. Denken wir uns einmal, wie es einst im Erdenwerden war. Heute wandeln wir auf einer festen Erde umher; aber das war nicht immer so. Wenn wir die Erde in ihrer Entwickelung zurückverfolgen, so finden wir, daß sie immer weicher wird, zuletzt flüssig und sogar dampfförmig. Alles, was heute Festes, Mineralisches ist, hat sich herauskristallisiert aus der einst flüssigen Erde. Damit der Mensch auf dieser Erde wandeln könne, mußte sich verfestigen, was weich und flüssig war. Zum Menschen-dasein war notwendig, daß die Erde in ihrem mineralischen Wesen Unendliches durchgemacht hat an Schmerz, denn unendlicher Schmerz war verknüpft mit diesem Festwerden der Erdenmasse. Deshalb sagt Paulus mit Bezug auf diese Tatsache: «Alle Kreatur seufzet unter Schmerzen, der Annahme an Kindesstatt harrend.» Das heißt, es mußte unter Schmerzen sich die Erde verfestigen, der Mineralgrund sich bilden, damit der Mensch in Gottes Kindschaft angenommen werden konnte.

Die Schriften, die von wirklichen Eingeweihten stammen, sind so, daß der Mensch keineswegs die Achtung vor ihnen zu verlieren braucht, wenn er sie wirklich kennenlernt; mit tiefen Schauern wird ihn jede Zeile der inspirierten Bibelschrift erfüllen, wenn er durch Geistes-

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weisheit ihren Sinn erkennt. In einem solchen Worte: «Alle Kreatur seufzet unter Schmerzen» liegen Weltengeheimnisse verborgen. Aller­dings werden solche Wahr heiten erst wieder fruchtbar werden für die Menschheit, wenn sie in das Gefühl eingedrungen sind. Nicht nur ab­strakt, mit dem Verstande, dürfen sie begriffen werden, sondern sie müssen einverleibt werden eindringen in die wirkliche Erkenntnis.

Betrachten wir noch einmal die Pflanze, wie der physische Leib herauswächst, oben umglüht vom Astralleib, mit ihrem Ich im Mittel­punkt der Erde. Lassen Sie mich noch einmal auf das Wesentliche der Sache hinweisen. Was tut denn dieser Astralleib, der von außen die Blüte umhüllt? Er tut wirklich etwas, was von Bedeutung ist im Leben der Pflanze, und wir werden es verstehen, wenn wir ein wenig tiefer noch in das geistige Gefüge unseres Erdendaseins hineinblicken. Wir haben gestern gesehen, daß es eine Zeit gab, wo Erde und Sonne noch einen Körper bildeten Der Mensch lebte schon damals, wenn auch unter ganz anderen Bedingungen als heute; er hatte ein dumpfes hellseherisches Bewußtsein; sein Organismus war so, daß er in dieser Erden-­Sonnenmasse leben konnte. Heute ist er so organisiert, daß, wenn der Sonnenstrahl zu ihm kommt und in sein Auge fällt, er dann diesen Sonnenstrahl sieht. Das heißt, er sieht den von außen an ihn herandringenden Sonnenstrahl, oder er sieht durch den Sonnenstrahl. Aber so war es nicht, als der Mensch noch mit der Erde in der Sonne war. Da sah er den Sonnenstrahl sozusagen von innen, er sah die seelischen Kräfte, die den Sonnenstrahl durchdrangen - und wissen Sie, was diese Seelenkräfte waren? Der Sonnenstrahl ist durchdrungen von dersel­ben Kraft, die wir in unserem eigenen Astralleibe haben. Das phy­sische Licht ist nur der äußere Leib des astralischen Lichtes, das von der Sonne ausstrahlt, und in Wahrheit ist das, was da oben den Pflanzenleib umglimmt, astralisch innig verbunden mit dem, was an Astra­lischem von der Sonne kommt. Sie haben einen Wunsch, einen Willen, weil Sie einen Astralleib haben. Hier ist Wunsch, Wille, Gefühl, was oben die Pflanzenblüte umspült. Was will denn das, was die Blüte umspült? Es will einsaugen aufnehmen die Seele des Sonnenstrahls, und mit der Seele das Reinste' das Ich und es ist die Fortsetzung des Son­nenstrahles, was durch die Pflanze zum Mittelpunkt der Erde geht.

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In dieser Tätigkeit des geistigen Inhaltes des Sonnenstrahls, der durch die Pflanze hindurch zum Mittelpunkt der Erde geht, drückt sich die Tätigkeit des Ichs der Pflanze aus. So wirken Geist, Pflanze und Sonne zusammen. Es werden in der Tat die geistigen Kräfte, die in der Sonne liegen, fort und fort der Erde zugeführt, und wodurch? Durch jene die Pflanzenblüte umspülenden Astralkörper, die sich sehnen nach der Seele des Sonnenstrahls, die sie lechzend aufnehmen und hinuntersenken durch ihren Leib hindurch in die Erde; Das, was sich äußerlich abspielt in der physischen Welt durch die Einwirkung der Sonnenstrahlen, das ist nur die eine Seite, die andere aber ist, was in der Pflanze seelisch wirkt und was sich lechzend sehnt nach der Seele des Lichts, die in dem Sonnenstrahle der Erde zuströmt.

Und nun werden Sie begreifen, wie diese Dinge praktisch werden können. Denken Sie sich einen Menschen der fernen Zukunft, der das, was eben gesagt worden ist von den sehnsüchtigen Wünschen der Pflan­zen, die Sonnenseele einzusaugen, einer jeden Pflanze gegenüber emp­findet. Dieser Mensch wird auf einer höheren, spirituellen Stufe etwas haben, was das Tier auf einer niedrigen Stufe hat, wenn es über eine Weide geht und die Pflanzen, die ihm gerade taugen, abpflückt und die anderen stehen läßt. Ein unbewußter Instinkt, das heißt in Wirk­lichkeit höhere Geister, lenken das Tier. In bewußter Weise wird der Mensch der Zukunft sich den Pflanzen nähern, die ihm taugen; nicht wie heute, wo er nachdenkt, was die beste Substanz für seinen Leib gibt, sondern einen lebendigen Bezug wird er haben zu jeder einzelnen Pflanze, denn er wird wissen, daß, was die Pflanzen eingesogen haben, auch als solches in ihn übergeht. Das Essen wird nicht eine niedrige Beschäftigung für ihn sein, sondern etwas, was mit Seele und Geist vollbracht wird, weil er wissen wird, daß alles, was er verzehrt, die äußere Gestalt für ein Seelisches ist. Für unsere Zeit, für unser Zwi­schenzeitalter, wo die Menschen nicht so viel wissen können von den lebendigen seelischen Beziehungen zwischen sich und der Welt, muß­ten allerlei Surrogate geschaffen werden. Warum haben zu allen Zei­ten die Eingeweihten den Menschen dazu angehalten, zu beten vor dem Essen? Das Gebet sollte nichts anderes sein als eine Dokumentierung da­für, daß beim Essen ein Geistiges in den Menschen einfließt.

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So sehen wir die Empfindungs- und Gefühlswelt eine andere wer­den, wenn der Mensch wirkliche Weisheit in sich aufnimmt. Mit einer Sicherheit, wie auf niederer Stufe der Instinkt des Tieres, wird der Mensch in strahlender, heller Klarheit wissen, was er tut; er wird es wissen, weil er die Seele dessen erkennen wird, was er mit sich vereint. Selbst bis in dies Gebiet hinunter können wir verfolgen, welch einen praktischen Wert die Geisteswissenschaft für die Zukunft hat.

Und so betrachten wir nun die Welt mit ganz anderen Empfindun­gen. Wir sehen die Erde nicht nur als einen Weltkörper an, der von den Sonnenstrahlen beschienen wird, sondern ein Lebewesen wird sie uns, das durch den Mantel der astralischen Pflanzenhülle die Seele der Sonne einsaugt; und wir sehen, daß das ganze Weltall durchzogen ist von den Ichen der Mineralien, alles wird beseelt und durchgeistigt.

Aber, wir können noch weitergehen. Wir haben die vier Reiche ge­funden: Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich. Aber damit ist es nicht zu Ende. Das sind nur diejenigen Reiche, welche der Mensch in seiner normalen Entwickelung sehen kann; Wir haben schon früher dar­auf aufmerksam gemacht, daß der Mensch zum Beispiel in der atlan­tischen Zeit Genosse von solchen Wesenheiten war, die nur einen Äther-leib als dichtestes Gebilde hatten; Das, was als Erinnerung geblieben ist in den Sagen der Völker, die Gestalten eines Zeus, eines Apollo, sie waren wirkliche Gestalten für die alten Atlantier; während des Schlaf-zustandes haben sie mit ihnen zusammen gelebt. Solche Wesen gibt es durchaus, die nicht bis zur fleischlichen Verkörperung heruntergestie­gen sind. Und so können wir vom Menschen hinaufblicken zu höheren Reichen, und da sind es zunächst drei Reiche, die uns interessieren. Wir nennen sie im Sinne der christlichen Esoterik: dasjenige Reich, das an das menschliche Reich unmittelbar angrenzt, das Reich der Engel oder Angeloi; man nennt sie auch die Geister des Zwielichts. Dann ein zwei­tes, höheres Reich über den Engeln ist das Reich der Erzengel oder Archangeloi oder auch der Feuergeister; und endlich ein noch höheres Reich, das der Urkräfte, Urbeginne oder Archai, auch die Geister der Persönlichkeit genannt. Das sind also drei Reiche über dem Menschen, und nun wollen wir uns über das Leben dieser Reiche einiges klarmachen; Sie spielen in unser Leben durchaus hinein: wie der Mensch

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in das Leben der Pflanzen hineinspielt, wenn er die Erde bebaut, so spielen diese höheren Reiche herein in das Menschenreich. Wir werden uns das am besten klarmachen können, wenn wir folgendes betrachten:

Gegenwärtig hat der Mensch ein Ich, einen Astralleib, einen Ätherleib und einen physischen Leib. Wie geschieht nun die Weiterentwickelung? Dadurch, daß der Mensch an sich selbst mehr und mehr arbeitet. Heute ist das Ich des Menschen in vieler Beziehung noch ohnmächtig gegen­über den anderen Gliedern seiner Wesenheit. Denken Sie nur daran, wie der heutige Mensch vielfach nicht imstande ist, seine Leidenschaften zu beherrschen und von ihnen, also von seinem astralischen Leib, be­herrscht wird. Es ist ein großer Unterschied unter den Menschen in dieser Beziehung. Der eine ist ganz hingegeben seinen astralischen Kräf­ten, seinen Leidenschaften. Betrachten Sie den Wilden, der seine Mit­menschen frißt, und vergleichen Sie ihn mit dem heutigen europäischen Kulturmenschen; und dann betrachten Sie einen hohen Idealen nach­strebenden Menschen, wie Schiller oder Franz von Assisi. Sie sehen, es ist eine Fortentwickelung, die darin besteht, daß die Menschen immer mehr und mehr lernen, ihren Astralleib vom Ich aus zu beherrschen.

Und es wird eine Zeit kommen, wo das Ich den Astralleib ganz beherrscht, ihn durchglüht und durchzieht. Dann wird der Mensch ein höheres Glied ausgebildet haben, das wir Manas oder Geistselbst nen­nen. Es ist nichts anderes als der durch das Ich umgewandelte Astral­leib. Wenn wir den heutigen Menschen betrachten, so müssen wir sa­gen, sein Astralleib besteht eigentlich aus zwei Teilen, aus dem, was er schon umgewandelt hat, was unter der Herrschaft des Ichs steht, und dem, was sein Ich noch nicht beherrschen kann. Dieser Teil ist noch von anderen, niederen Kräften und Trieben erfüllt, und wenn das Ich diese hinaustreibt, fügt es dem astralischen Leibe allerlei Kräfte hinzu. Damit aber der Astralleib überhaupt erhalten bleibe, damit er nicht durch das Niedere zerstört werde, muß er immer noch durchdrungen, durchsetzt sein von höheren Wesenheiten, die ihn heute so beherrschen können, wie einst der Mensch es tun wird, wenn er am Ziele seiner Entwickelung angelangt sein wird. Diese Wesen, die die Aufgabe ha­ben, den vom Menschen unbeherrschten Teil seines Astralleibes zu be­herrschen, stehen eine Stufe höher als der Mensch, es sind die Engel oder

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Geister des Zwielichts. In der Tat wacht sozusagen über jedem Men­schen ein solch höherer Geist, der über seinen Astralleib Macht hat, und es ist nicht bloß eine kindliche Vorstellung, sondern eine tiefe Weisheit, wenn man von Schutzengeln spricht. Sie haben eine große Aufgabe, diese Schutzengel.

Betrachten wir den Gang eines Menschenlebens über die Erde in sei­ner Gesamtheit. Wir wissen, es geht durch viele Verkörperungen hin­durch. Einmal, in einem gewissen Punkte der Erdentwickelung, be­ginnt der Mensch als Seelen-Ich in seiner ersten Inkarnation auf der Erde zu leben. Dann stirbt er, es kommt eine Zwischenzeit, dann eine neue Verkörperung, und so geht es fort von Inkarnation zu Inkarna­tion, und das wird erst in einem fernen Punkte der menschlichen Ent­wickelung sein Ende haben. Dann wird der Mensch durch alle Inkar­nationen hindurchgegangen sein, und dann wird er auch die Fähigkeit erlangt haben, seinen astralischen Leib vollkommen zu beherrschen. Das kann er nicht früher, als bis er durch alle Inkarnationen hindurchge­gangen ist, wenigstens nicht in normaler Entwickelung. Da verfolgt nun ein solcher höherer Geist das Innerste der Menschennatur, was sich von Inkarnation zu Inkarnation zieht, und leitet den Menschen von In­karnation zu Inkarnation, so daß er seine Erdenmission wirklich erfül­len kann. Es ist in der Tat so, wie wenn der Mensch seit dem Beginn seiner Erdenwanderung hinaufsehen könnte nach einem erhabenen Geist, der sein Vorbild ist, der ganz seinen astralischen Leib beherr­schen kann, der ihm sagt: So mußt du sein, wenn du einst aus dieser Erdentwickelung heraustrittst. - Das ist die Aufgabe der sogenannten Geister des Engelreiches, die Inkarnationen der Menschen zu leiten. Und ob man sagt, der Mensch blickt auf zu seinem höheren Selbst, dem er immer ähnlicher werden soll, oder ob man sagt, er schaue zu seinem Engel als zu seinem großen Vorbilde hinauf, das ist im Grunde genom­men geistig ganz dasselbe.

Und dann, wenn der Mensch weiterarbeitet, wird er den Ätherleib umgestalten zu Buddhi oder Lebensgeist; bewußt wird er es einst tun, aber auch heute schon arbeitet er unbewußt daran. Um so mehr müssen heute höhere Geisteswelten mitwirken in allen Menschen-Ätherleibern, und die Feuergeister sind es, die diese Arbeit verrichten. Nun sind aber

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die Ätherleiber der Menschheit nicht so individuell verschieden wie die Astralleiber. Jeder Mensch hat seine besonderen Tugenden oder Untugenden, aber in bezug auf das, was mit dem Ätherleib zusammen­hängt, herrscht eine gewisse Gleichheit; wir sehen das an den Eigen­schaften, die mit der Rasse, mit dem Volkstum zu tun haben. Und deshalb sehen wir auch, daß in bezug auf seinen Ätherleib nicht jeder Mensch seinen Erzengel hat, sondern es sind Volksstämme, Rassen, die von höheren und niederen Feuergeistern geleitet werden. Die Völker und Rassen unserer Erde werden in der Tat gemeinschaftlich gelenkt von jenen Geistern, die man die Erzengel oder Feuergeister nennt. Da erweitert sich Ihr Blick auf etwas, was für viele Menschen recht ab­strakt ist, was aber für den, der in geistige Welten hineinsieht, etwas sehr Konkretes darstellt. Wenn jemand heute vom Volksgeist oder von der Volksseele spricht, so hält er das für irgendeine Abstraktion. Für den okkulten Beobachter ist das nicht so. Da ist das ganze Volk wie gemein­sam hineingebettet in eine geistige Substanz, und diese geistige Sub­stanz ist der Leib eines Feuergeistes. Und wie unsere Erde gelenkt und geleitet wird von alten grauen Zeiten her bis auf uns, von Volk zu Volk, von Rasse zu Rasse, da sind es die sozusagen über die Entwicke­lung hinschreitenden Feuergeister, die in den Volksseelen ihren Leib haben und die den Gang der Erdentwickelung also leiten.

Und dann gibt es noch etwas, was von solchen Gemeinschaften wie Volk und Rasse unabhängig ist. Betrachten wir unsere heutige Zeit, wie vieles unabhängig von solchen Gemeinschaften ist; und blicken wir zurück zum Beispiel auf die Zeiten des 12. Jahrhunderts. Da sehen wir, wie gewisse geistige Angelegenheiten sich bei allen Völkern Europas in gleicher Weise abspielen, wir sehen etwas, was übergreifend ist über die Volksgeister - man hat den Namen Zeitgeist dafür geprägt. Aber die­ser Zeitgeist ist in Wirklichkeit vorhanden, und er ist der Leib für noch höhere Wesenheiten, er ist der Leib von den Geistern der Persönlich­keit, von den Urbeginnen.

Und jetzt sehen wir, wie unsere Erde gleichsam eingebettet ist in eine geistige Atmosphäre. Sie läßt aus mineralischen Gebilden heraus die Pflanze hervorsprießen, Tiere und Menschen wandeln auf ihr; sie selbst aber ist wie eingehüllt von erhabenen geistigen Wesenheiten: von Geistern,

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die den einzelnen Menschen lenken; von Geistern, die die Leiter und Führer der Volks- und Rassengemeinschaften sind, und von denen, die den Zeitgeist hinüberlenken von einer Epoche zur anderen.

So haben wir heute einmal versucht, uns einen Überblick zu ver­schaffen über das, was unsere Erde, ja was unsere Welt in geistiger Beziehung ist und wie der Mensch mit alldem zusammenhängt. Und damit haben wir eine Grundlage geschaffen, um wirklich mit Nutzen zu betrachten, was wir über das Verhältnis von Welt, Erde und Mensch zu sagen haben werden.

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VIERTER VORTRAG Stuttgart, 7. August 1908

Wir haben gestern von all den verschiedenen geistigen Wesenheiten gesprochen, welche wie eine Art Ergänzung zu dem gehören, was uns in der physischen Welt umgibt. Wir haben gesehen, wie auch die Steine, die Pflanzen ihr Ich haben, ihren Astralleib, und unser geistiger Blick hat sich erweitert über eine Fülle von Realitäten außer denen, die das physische Auge sieht, und die man mit dem physischen Verstande be­greifen kann. Wir haben ferner gesehen, wie höhere Wesen sozusagen tätig sind in dem, was der Mensch innerhalb unserer Erdenentwickelung vollbringt; schon in bezug auf den einzelnen Menschen sahen wir, daß eine höhere Wesensgattung einzugreifen hat. Wir betrachten im Sinne der Geisteswissenschaft den einzelnen Menschen ja zunächst als voll­ständigen Herrn seiner inneren Welt und der Welt seiner Taten, seines Willens, zwischen seiner physischen Geburt und seinem Tode. Wir wissen aber, daß die eigentliche innere Wesenheit des Menschen viele Inkarnationen durchgemacht hat, und daß der Mensch in seiner gegen­wärtigen normalen Entwickelung noch nicht fähig ist, hinauszuwirken über die eine Inkarnation, daß da vielmehr höhere Wesenheiten ein­greifen müssen, um diejenigen Richtungskräfte zu geben, welche nicht nur zwischen Geburt und Tod wirken, sondern über den Tod hinaus, von Inkarnation zu Inkarnation. Wir haben gesehen, daß diese gei­stigen Wesenheiten in der christlichen Esoterik Engel oder Angeloi genannt werden, und daß man sie im theosophischen Sprachgebrauch auch die Geister des Zwielichts oder der Dämmerung nennt; man kann sie auch im Sinne der rosenkreuzerischen Geisteswissenschaft die Söhne des Lebens nennen, alle diese Bezeichnungen werden uns im Laufe der Zeit immer klarer werden. Dann haben wir betrachtet, wie die Menschengemeinschaften, wie die Rassen und Völker von einer Art von Geistern dirigiert werden, die wir Erzengel oder Feuergeister nennen; und endlich sahen wir, wie dasjenige, was über die engeren Volksgemeinschaften hinübergreift, was als Zeitgeist zum Ausdruck kommt, dirigiert wird von den Urkräften, die man auch Archai oder Geister

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der Persönlichkeit nennt oder Asuras in der theosophischen Ausdrucksweise. So wirken überall da, wo wir sind, geistige Wesenheiten in un­sere Welt herein, und wir sehen die Reiche, die uns zunächst umgeben, damit um drei vermehrt. Wir wollen uns nun auch eine Vorstellung davon machen, wie es denn mit der mehr äußerlichen Manifestation dieser Wesen aussieht.

Wenn wir sie vom gewöhnlichen physisch-materiellen Standpunkt unserer Erde betrachten, dann sehen wir sie zusammengesetzt aus dem, was wir Erde, Wasser, Luft und Feuer nennen. Das sind, wie wir schon gehört haben, zunächst vier Zustände der äußeren Materie. Das, was wir gewöhnlich in der Geisteswissenschaft Erde nennen, bezeichnet man heute als Festes; alles, was fest ist, ist in der Geisteswissenschaft einfach mit dem Namen Erde belegt. Alles, was flüssig ist, nicht nur Wasser, sondern auch Quecksilber und so weiter, bezeichnen wir als Wasser; alles Gas- und Luftförmige als Luft; und alles, was von uns mit irgendeinem Grade von Wärme empfunden wird, wird so gedacht, daß es durchdrungen ist von etwas, was wir substantielle Wärme nen­nen, die nicht für uns eine äußere Eigenschaft ist, sondern die von den eben genannten Formzuständen eine Fortsetzung darstellt und die gleichberechtigt zu solcher Benennung ist. So haben wir das, was uns materiell umgibt, zuerst einmal vor unser Auge hingestellt.

Nun leben aber in diesen verschiedenen materiellen Elementen als in ihrer äußerlichen Leiblichkeit die verschiedenen Wesenheiten, von denen wir gesprochen haben. Für denjenigen, der mit hellseherischem Blick die Welt betrachtet, ist deshalb das, was man als flüssiges Element kennt, besonders das Wasser, nicht etwa nur von den Wesenheiten be­lebt und durchsetzt, die wir als Wasserwesen, Fische und so weiter kennen; sondern ein solcher weiß, daß trotz der sozusagen verfließen­den Gestalt des Flüssigen, trotzdem keine feste Form in diesem wäß­rigen Element festgehalten wird, daß trotzdem geistige Wesenheiten darin wohnen. Und zwar wohnen sie darin richtig verkörpert in dem wäßrigen Element, in verfließender, fortwährend sich verändernder Gestalt, die man deshalb auch mit dem äußeren Auge nicht unterschei­den kann. Da leben sie, diese Wesenheiten, die wir als Engel, als Geister des Zwielichts bezeichnet haben. Sie haben wirklich ihren physischen

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Leib so, daß er nicht eine festumrissene Körperlichkeit darstellt; und wenn die alten Mythen und Sagen von solchen Wasserwesen erzählen, so ist das keine Phantasie, sondern entspricht einer Tatsächlichkeit. Weiter leben in dem, was wir als das Luftelement kennen und vor­zugsweise in unserer Luft, diejenigen Wesenheiten, die wir die Erz­engel nennen. Und es ist durchaus nicht ein Märchen oder eine bloße Sage, wenn wir in der dahinströmenden Luft, in dem dahinbrausenden Sturme die leibliche Offenbarung dieser geistigen Reiche sehen. Wenn vorhin gesagt wurde, daß die Engelwesen in dem Wasser leben, so ist es vorzugsweise jenes Wasser, das unsere Luft wie ein Wasserdampf durchdringt, das flüchtig ist, in einzelne Atome zerstiebend, in welchem der hellseherische Blick die Verleiblichung dessen wahrnimmt, was wir als die Erzengel bezeichnen. Und in dem, was man als Wärme emp­findet, haben wir die Verleiblichung derjenigen Wesenheiten, die wir als die Geister der Persönlichkeit, als die Urkräfte kennen. Daher wer­den Sie auch verstehen, daß der Mensch zusammengefügt ist aus diesen vier Elementen: Erde, Wasser, Luft und Feuer, und zwar so, daß in dem Menschen nicht nur die vier Elemente gemischt sind, sondern durchaus untereinander gemischt diejenigen Wesenheiten, welche wir eben genannt haben: sie füllen seinen Leib gewissermaßen ebenso aus wie das Materielle; sie ziehen in den physischen Leib des Menschen ein und aus.

Nun ist aber die Reihe der Wesenheiten, die mit dem Menschen zu tun haben, damit nicht erschöpft. Wir haben noch höhere Wesenheiten, die mit Erde, Welt und Menschen zu tun haben, Wesenheiten, die auf noch höherer Stufe stehen als die Geister der Persönlichkeit, die Ur­beginne. Da haben wir zum Beispiel jene Wesenheiten, die uns im Lichte entgegenstrahlen; und das Licht ist für uns wieder ein feinerer Zustand als die Wärme. Überall, wo etwas aufleuchtet, da haben wir in dem Lichte das Kleid von hohen Wesenheiten, die in der christlichen Eso­terik als Gewalten, als Exusiai bezeichnet werden; man nennt sie auch die Geister der Form, denn es sind diejenigen Wesen, welche für alles, was um uns herum ist, die Form geben. Wo immer Sie etwas in einer bestimmten, abgegrenzten Form sehen, da sind es diese Geister, welche tätig sind. Wir haben gesehen, daß dasjenige, was in unserer Erdentwickelung

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als die verschiedenen Zeitgeister tätig ist, von den Gei­stern der Persönlichkeit beherrscht wird; die Geister der Form haben nun eine noch höhere Aufgabe. Wir werden uns das am besten verständ­lich machen, wenn wir bedenken, daß vom Beginn der eigentlichen Menschheitsentwickelung an, das heißt seit jenem Zeitpunkt, wo der Mensch seine erste Inkarnation durchgemacht hat, der Zeitgeist sich immer verändert hat, daß aus der Schar der Geister der Persönlichkeit heraus immer andere Dirigenten gekommen sind. Aber übergreifend über alles das, was durch den Zeitgeist bewirkt wird, ist etwas, was durch die ganze Erdenmenschheit hindurchgeht. Als der Mensch auf der Erde seine menschliche Erdenmission begann, haben geistige We­senheiten in diese Erdenmenschheit eingegriffen, und ihnen verdanken wir es, daß wir als Erdenmenschheit tätig sein können. Und was auch als Geister der Persönlichkeit im Zeitgeiste, als Erzengel in den einzel­nen Gemeinschaften oder als Engel in bezug auf die einzelnen Men­schen aufgetreten ist: jene Geister, die wir die Geister der Form ge­nannt haben, dirigieren seit dem Beginn der Erdenmission gleichsam in einem höheren Reiche, und lenken und leiten im Großen alles, was diese geistigen Wesenheiten tun. Diese Gewalten, sie hatten die Auf­gabe, in der Erdenmission als Ganzes zu wirken, sie hatten eine plane­tarische Aufgabe. Wir sehen also: wenn wir über den Zeitgeist hinaus-schreiten zu dem Geiste der ganzen Menschheit, dann haben wir diese Gewalten, diese Geister der Form.

Nun wissen Sie ja, daß unsere Erde als Planet ebenso wie der Mensch dem Gesetze der Wiederverkörperung untersteht. Unsere Erde war früher das, was wir den alten Mond nennen. Da war das, was wir heute die Erdenmission nennen, noch nicht in der Weise wie auf der Erde vorhanden. Der Mond hatte eine andere Mission, jeder Planetenzu­stand hat seine eigene Mission im Weltenzusammenhange zu leisten; nichts wiederholt sich in gleicher Weise, alles unterliegt der Evolution, der Entwickelung. Damals, während jener Verkörperung der Erde, die wir den alten Mond nennen, hatten eine ähnliche Aufgabe, wie sie hier auf der Erde die Geister der Form haben, jene Wesenheiten, die wir im Sinne der christlichen Esoterik als die Mächte, Dynameis oder auch als die Geister der Bewegung bezeichnen. Gehen wir noch weiter in der

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Entwickelung zurück, so kommen wir zu demjenigen planetarischen Zustande unserer Erde, der dem alten Mondzustande voranging, wir kommen dann zu dem uralten Sonnenzustand, der, wie Sie ja wissen, nichts mit dem zu tun hat, was wir heute als Sonne am Himmel sehen. Auf dieser alten Sonne herrschten, wie auf der Erde die Geister der Form, wie auf dem Monde die Geister der Bewegung, auch hohe We­senheiten, diejenigen, welche in der christlichen Esoterik als Kyriotetes bezeichnet werden oder auch als Herrschaften, Herrlichkeiten, auch Geister der Weisheit. Das sind also diejenigen Geister, die sozusagen die Aufsicht während des Sonnenzustandes hatten. - Und nun kom­men wir zu dem letzten Planetenzustand, zu dem alten Saturn. Die Wesenheiten, die hier in ähnlicher Weise die Leitung führten, nennen wir die Throne, die Geister des Willens. So sind wir zu immer höheren Stufen geistiger Wesenheiten hinaufgeschritten bis zu Wesenheiten, welche nicht bloß die Dirigenten sind von so etwas, was sich wie der Zeitgeist verändert, sondern von dem, was mit der Mission planetari­scher Zustände zu tun hat, was erst von Planet zu Planet wechselt.

Die Throne, die Geister der Weisheit, die Geister der Bewegung und die Geister der Form, sie alle sind fortwährend noch in irgendeiner Verbindung mit uns, wenn auch nicht in einer so nahen, unmittelbar wahrnehmbaren Verbindung wie die anderen, niedrigeren geistigen Wesenheiten. An einem Beispiel wollen wir uns einmal klarmachen, wie solche Wesenheiten in unsere Erdentwickelung hineinwirken. Dazu ist es aber notwendig, daß wir vorher die Entwickelung derjenigen Wesen betrachten, die wir als die Engel, die Erzengel und die Geister der Persönlichkeit kennen. Diese Wesenheiten sind alle höher als der heutige Mensch. Aber unser gegenwärtiger Mensch wird auch einstmals höhere Stufen in seiner Entwickelung erreichen. Schon in der nächsten Verkörperung unserer Erde, im Jupiterzustande, wird der Mensch so hoch stehen wie heute die Engel; ein fortwährendes Aufsteigen zu immer höheren Stufen der Vollkommenheit macht der Mensch durch. Aber so war auch die Entwickelung der anderen Wesenheiten; sie waren nicht immer das, was sie jetzt sind, auch sie haben niedrigere Stufen der Entwickelung durchgemacht. Nehmen wir zum Beispiel die Engel-wesenheiten. Auch sie haben in früheren Zeiten ihre Menschheitsstufe

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durchgemacht, wie wir es jetzt auf unserer Erde tun; das war auf dem alten Monde, und dadurch, daß sie damals an sich gearbeitet haben, wurden sie jene höheren Wesenheiten, die sie heute sind. Und ebenso haben die Erzengel oder Feuergeister ihre Menschheitsstufe auf der alten Sonne durchgemacht; damals waren sie Wesen wie wir, heute stehen sie zwei Stufen höher. Und die Geister der Persönlichkeit haben ihre Menschheitsstufe auf dem alten Saturn gehabt. Sie waren eine Stufe höher als diejenigen Wesen, die ihre Menschheit auf der alten Sonne durchmachten, und sind heute um drei Stufen höher als der Mensch auf unserer Erde.

Diejenigen Wesenheiten aber, die wir als die Geister der Form oder Gewalten bezeichnen, zu denen wir als zu hoch, hoch erhabenen Wesen aufblicken, sie haben in einer nicht zu denkenden Vergangenheit ihre Menschheitsstufe durchgemacht; und als die erste Verkörperung unserer Erde begann, als die Erde Saturn war, da hatten sie schon ihre Mensch­heitsentwickelung hinter sich. Daran können wir ermessen, welch hohe Gefühle in uns leben müssen, wenn wir zu diesen geistigen Wesenheiten emporschauen. Aber auch sie unterstehen dem Gesetze der Entwicke­lung, und wenn sie auch schon auf dem Saturn höhere Wesenheiten wa­ren als der heutige Mensch, so haben sie doch durch die Sonne und den Mond hindurch bis in unsere Erde hinein immer höhere und höhere Stufen durchgemacht. Und so sind sie endlich zu einem Grade von Erhabenheit gelangt, daß sie ein so großes Wirkungsfeld haben kön­nen, daß sie nicht mehr einen Planeten brauchen, um darin die Substanzen zu finden, durch die sie da sein können. Denn die anderen Wesenheiten brauchen in gewisser Beziehung unsere Erde; die Engel brauchen das Wasser, die Erzengel die Luft und die Geister der Per­sönlichkeit das Feuer; aber die Geister der Form brauchen nicht mehr unseren planetarischen Zustand; sie hatten daher einen anderen Wohn-platz nötig, als unsere Erde ihre Entwickelung begann, und das war der Grund, warum sie sich von unserer Erde trennten.

Ich habe Ihnen gesagt, daß es einen Zeitpunkt gab, wo unsere Erde mit der Sonne einen Leib bildete. Damals waren auch noch diejenigen Wesen mit unserer Erde vereint, die wir die Geister der Form nennen. Aber ihre Entwickelung war zu weit schon vorgeschritten, sie brauchten

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eine feinere Substanz, als die Erde sie ihnen hätte bieten können, deshalb zogen sie die feinere Substanz und die feineren Wesenheiten heraus aus der Erde und gingen sozusagen mit der Sonne fort. Das ist der geistige Grund, weshalb Erde und Sonne sich getrennt haben. Es ist nicht bloß ein mechanisches Auseinandersplittern der Materie, sondern Weltenkörper trennen sich, um der Wohnplatz für geistige Wesenhei­ten zu werden. Die Geister der Form haben die feine Substanz aus der Erde herausgerissen, und der Sonnenball ist entstanden, der nun der Erde von außen her das Licht zusendet. Und in dem Sonnenlichte strömt uns die geistige Wesenheit der Gewalten zu; daher habe ich Ihnen vorhin gesagt, daß das Licht das Kleid dieser Gewalten ist. Wenn wir im Sinne der Geisteswissenschaft emporblicken zur Sonne und das helle Sonnenlicht zu uns herunterstrahlen sehen, dann wird uns dieses Licht das Kleid für die Geister, die ihre leitenden und len­kenden Kräfte herunter zur Erde senden; von der Sonne aus lenken sie die Erdenmission.

Wenn wir so verstehen lernen, daß solche kosmischen Abspaltungen ihre Ursache in den geistigen Wesenheiten haben, die mit der Materie verbunden sind, dann wird uns noch eine andere Tatsache verständlich, die sonst schwer zu erklären ist. Sie wissen, die Naturforschung weist auf einen Anfangszustand unseres Systems hin, auf eine Art von Ur­nebel. Zwar ist die sogenannte Kant-Laplacesche Theorie heute von gewissen Forschern wie Arrhenius etwas modifiziert worden, aber um diese Kleinigkeiten brauchen wir uns hier nicht zu kümmern. Wir neh­men einmal das an, was gewöhnlich angenommen wird: daß sich näm­lich aus dem Urnebel die Sonne und die anderen Planeten, die die Sonne umkreisen, herausballten; alles, was heute dicht ist, war also einstmals in diesem Urnebel vorhanden; der ist dann in Rotation ge­kommen und hat dadurch unsere Sonne und die anderen Planeten abge­spalten. Was nun die Geisteswissenschaft dazu zu sagen hat, wider­spricht in keiner Weise dem, was hier als Hypothese gelehrt wird. Wenn sozusagen jemand einen Stuhl in den Weltenraum gestellt hätte, um durch Jahrmillionen hindurch zu verfolgen, wie sich diese Differen­zierung des Urnebels zu den heutigen Planetengebilden vollzogen hätte:

es würde sich wirklich nicht viel anders darstellen, als die wissenschaftliche

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Hypothese es darstellt. Aber wir wollen einmal sehen, wie das geistige Auge des Hellsehers diesen Urnebel anschaut.

Auch für ihn ist er ein großer, gewaltiger Ball in ganz feinem Zu­stande, in dem noch nicht unterschieden ist irgendeine Sonne oder Erde oder Jupiter; aber dieser Urnebel hat sich für ihn nicht, man weiß nicht woher, gebildet, sondern er hat eine Vergangenheit, und diese Ver­gangenheit liegt auf dem alten Monde: ihn müssen Sie als den Vor­gänger unserer Erde betrachten. Diesen alten Mond müssen Sie sich ebenso wie unsere Erde als einen Weltenkörper vorstellen, und zuletzt hat er, wenn wir so sagen dürfen, einen Zustand der Vergeistigung durchgemacht. Was damals schon differenziert war, wurde sozusagen wieder durcheinandergerührt und wieder in einen undifferenzierten Zustand zurückgeführt. Dann ging das alles durch eine Art von kos­mischem Schlaf hindurch, und dann tauchte auf aus dem Schoße des Kosmos jener Nebelätherball, der die Wiedergeburt des alten Mondes ist. Er ist für uns nicht bloß eine materielle Masse, sondern in diesem Balle leben alle die geistigen Wesenheiten, in ihm leben in einem be­sonderen Zustande jene gewaltigen Wesenheiten, die wir als die Geister der Bewegung, der Form und so weiter bezeichnet haben. Der Mensch lebte nur als Keim darin, denn er hatte auf dem Monde noch kein Ich, das erhielt er ja erst auf der Erde; aber all die geistigen Wesenheiten, die schon gewisse Entwickelungsgrade hinter sich hatten, die waren mit diesem Urnebel in inniger Verbindung.

Was tut denn die materialistische physikalische Hypothese, wenn sie erklären will, wie sich aus dieser Urnebelmasse das Sonnensystem herausgebildet hat? Erinnern Sie sich an ein Experiment, das man häufig in der Schule darstellt, um diesen Entwickelungsgang zu ver­anschaulichen: man bringt eine Ölkugel in einer gleich schweren Flüs­sigkeit mittels einer einfachen mechanischen Vorrichtung zum Rotie­ren. Man kann alsdann beobachten, wie sich diese Kugel abplattet, wie sich von ihr Tropfen losreißen, die sich wiederum zu Kugeln formen und die Hauptkugel umkreisen; und auf diese Weise sieht man im Klei­nen eine Art Planetensystem durch das Rotieren entstehen. Das wirkt ungeheuer suggestiv. Warum sollte man sich das nicht in der Welt eben­so vorstellen? Man sieht es hier ja förmlich, wie durch die Rotation ein

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Planetensystem entsteht, man hat es ja vor sich! Man vergißt dabei nur eines; manchmal ist es ja recht schön, dies eine zu vergessen, aber in diesem Falle nicht; man vergißt dabei nämlich sich selbst. Wenn man dieses Experiment macht und nicht als Mensch dabeistehen würde und die Kurbel drehen, dann würde das ganze Planetensystem nicht ent­stehen. Aber so ist es ja überhaupt Usus im materialistischen Denken, daß man immer nur einen Teil dessen nimmt, was man vor sich hat. Dächte man richtig und logisch, dann müßte man sich im Weltenraum einen riesigen Menschen denken, der an einer gewaltigen Kurbel die Achse in Bewegung setzte. Nun ist ein solcher Riese im Weltenraum freilich nicht vorhanden, aber etwas anderes ist da. Der Weltennebel ist ja nicht bloß Materie, er ist durchgeistigt und durchsetzt von jenen Wesenheiten, von denen wir gesprochen haben, die gewisse Bedürfnisse und Sehnsuchten haben, von denen die eine Gattung diese, die andere jene Materie belebt. Und die sind es, die nach einem gewissen Reifungs­zustande die Spaltung vornehmen, so daß die höheren Wesen sich mit der Sonne hinausbegeben, und dasjenige, was die Erdenstoffe und

-kräfte braucht, auf der Erde zurückbleibt. In dieser brodelnden Urmasse sind alle diese geistigen Wesenheiten tätig und gliedern nach und nach heraus, was wir gegenwärtig als unser Planetensystem kennen.

So zum Beispiel gab es gewisse Wesenheiten, die nicht das Ziel ganz erreicht hatten, welches die Geister der Form zu erreichen hatten, Wesenheiten, welche in der Entwickelung zurückgeblieben waren. Diese Wesenheiten waren zu weit vorgeschritten, um die Erde als ihren Schauplatz zu haben, aber nicht reif genug, um zu der feineren Sub­stanz der Sonne zu ziehen. Vorzugsweise zwei Klassen solcher Wesen­heiten gab es, und wir werden sie in ihrer Wirkung auf die Erde noch kennenlernen. Denn so wie die fertigen und gereiften Gewalten als Geister der Form im Sonnenlichte herunterscheinen auf unsere Erde und sie von der Sonne aus dirigieren, so dirigieren auch diese Zwischenwesen die Erde, aber sozusagen von einem niedrigeren Gesichtskreis aus, der freilich dem menschlichen gegenüber ein erhabener ist. Diese We­senheiten nahmen sich Stoffe heraus, die für sie paßten, und machten sie zu Weltenkörpern zwischen Sonne und Erde; und so entstand die Venus und der Merkur zwischen Sonne und Erde, bewohnt von Wesenheiten,

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die auf einer Zwischenstufe stehen. Und so haben auch die anderen Planeten unseres Systems sich abgegliedert dadurch, daß an­dere Wesenheiten sie zu ihrem Schauplatz brauchten.

Nun lassen Sie uns noch einmal den Zeitpunkt ins Auge fassen, wo die Sonne eben mit ihren Wesenheiten hinausgeht; da bleibt die Erde zurück mit all den Keimen, die später sich auf ihr entwickelt haben, darunter die Menschen der Gegenwart, die aber damals noch nicht auf der heutigen Menschheitsstufe waren. Auch andere Wesen, aus dem Tier- und Pflanzenreiche, sind vorhanden, die schon in vorherigen Ver­körperungen der Erde ihre Entwickelung gefunden haben und die nun keimhaft hervorkommen. Betrachten wir zunächst nur den Menschen!

Früher, als die Sonne noch mit der Erde vereint war, waren auch jene gewaltigen Kräfte, die von den hohen Sonnenwesen ausgingen, noch mit der Erde verbunden und wirkten auf den Menschen vom Inneren der Erde aus. Der Mensch war aber so, wie er vom Monde her­übergekommen war, gleichsam aus seinem Keime aufgegangen und an­fangs nur mit dem physischen, dem ätherischen und dem astralischen Leibe begabt. Der physische Leib war noch nicht so dicht wie heute, sondern ätherisch, feiner. Das Ich aber war noch nicht ausgebildet zu jener Zeit. Dadurch nun, daß die Sonne die Erde von außen her be­schien und die Sonnenwesen auf die Erde hereinwirkten, veränderten sich für den Menschen die Verhältnisse auf der Erde gänzlich. Sie müs­sen sich das so vorstellen: Solange die Erde mit der Sonne noch ver­bunden war, waren jene hohen Wesenheiten, die später mit der Sonne hinausgegangen sind, in ihrer eigenen Entwickelung und daher auch in ihrer Macht und in ihrer Regierungsgewalt durch die groben Kräfte der Erde gehemmt. Jetzt waren sie frei geworden, konnten sich frei be­wegen, jetzt konnten sie ein ganz anderes Tempo ihrer Entwickelung anschlagen als früher, wo sie noch das ganze schwere Gewicht der Erdenmasse mittragen mußten. Sie befreiten sich in ihrer eigenen Ent­wickelung um so mehr von der Erde, als sie dadurch Kräfte und Ge­walten bekamen, um von außen bedeutsamer auf den Menschen zu wir­ken. Die Menschen, die früher unter der Gewalt der Sonnengeister standen, die noch durch das Zusammensein mit der Erde gehemmt waren in ihren Kräften, kamen nun unter die Wirkung der frei und

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mächtig sich entwickelnden Sonnenwesen, die von außen herein auf die Erde wirkten. Dadurch aber würde sich die Entwickelung in un­geheuerster Weise beschleunigt haben, das Menschenleben wäre in einer ungeheuer raschen Weise zum Ablauf gebracht worden, wenn nicht etwas anderes hinzugetreten wäre. Der Mensch konnte dies Tempo nicht mitmachen, und deshalb ist aus der Gesamtheit der Geister, die früher da waren, einer mit seinen Scharen ausgeschieden: er blieb mit der Erde vereint. Und dieser Geist der Form hatte die Aufgabe, das­jenige, was die Sonnenkräfte mit einer ungeheuren Beschleunigung ge­leistet hätten, aufzuhalten und zu hemmen, so daß also nicht diese Sonnengeister allein wirkten. Wäre aber dieser Geist mit der Erde ver­bunden geblieben, hätte er immer in der Erde gewirkt, dann wäre die ganze Erde in einen Erstarrungszustand gekommen, denn seine Macht, sein Einfluß wäre zu stark gewesen. Was geschah deshalb? Er nahm die gröbsten Stoffe und Kräfte und fuhr aus der Erde heraus. Das, was da herausgefahren ist, das ist der heutige Mond. So bleibt also jetzt mit dem Monde verbunden dieser Geist, der die Aufgabe übernommen hatte, die zu schnelle Entwickelung zu hemmen und zurückzuhalten.

Die Entwickelung geht weiter. Die Erden- und Mondwesen spalten sich ab. Die Erdenwesen kommen nun vorzugsweise unter den Einfluß von zwei Kräften: die einen kommen von der Sonne her, die anderen vom Monde. Würde der Mensch bloß unter dem Einflusse der Sonnenkräfte stehen, so würde er schon alt sein, kaum daß er geboren wäre; unter dem alleinigen Einfluß des Mondes wäre er erstarrt, verhärtet, mumifiziert. Er kann sich nur entwickeln, indem sich Sonnen- und Mondkräfte die Waage halten. Der Mensch ist auf die Erde gestellt, und von außen wirken auf ihn im geistigen Sinne Wesenheiten und Kräfte, damit er seine gegenwärtige Evolution auf der Erde durch­machen kann. Wir haben gesehen, daß der Mensch von Inkarnation zu Inkarnation durch diejenigen Wesenheiten gelenkt wird, die wir die Engel nennen. Aber diese Engel haben im großen Kosmos keine Selb­ständigkeit, sie haben höhere Dirigenten, die die Bewohner der Sonne sind. Unter der Einwirkung dieser Sonnengeister allein würde sich alles zusammendrängen in eine Inkarnation; unter der Einwirkung des Mondes allein würde überhaupt nichts zustande kommen. So aber, im

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Zusammenwirken geht das Feste, das Formende von den Mondenkräften aus; das aber, was die Formen zerstört und das Bleibende über die Inkarnationen hinüberführt, das kommt von der Sonne her. Und so begreifen wir, daß, wenn wir es nur geistig betrachten, alles in der Welt seine Aufgabe hat.

Und nun wollen wir uns einmal das, was sich da auf der Erde ab­gespielt hat, ein wenig konkreter vor die Seele stellen. Wir wissen ja:

als der Mensch von dem alten Monde herüberkam, hatte er nur seinen physischen Leib, seinen Ätherleib und seinen Astralleib. Der physische Leib war damals, als die Sonne sich loslöste, noch nicht so weit, daß die Sinnesorgane schon einen äußern Gegenstand hätten anschauen können. Sie waren ja seit dem Saturn vorhanden, aber äußere Gegen­stände konnten sie nicht wahrnehmen. Es waren diejenigen Organe, die auf dem alten Monde von innen heraus Bilder erzeugten. Das war ungefähr so: Denken Sie sich, ein Mensch hätte sich dem anderen ge­nähert; die äußere Form hätte der Mensch nicht wahrnehmen können. Aber es stieg dann etwas wie ein Traumbild in ihm auf; und wenn dieses Bild gewisse Formen, gewisse Färbung hatte, dann wußte er, daß es ein Feind war, und er konnte fliehen. Es war das ein Bilderbewußt­sein, das zu den seelischen Eigenschaften der Umgebung in einer realen Beziehung stand. Das Gegenstandsbewußtsein trat erst nach und nach auf der Erde ein; als die Sonne schon draußen als ein Weltkörper war, konnte der Mensch sie immer noch nicht sehen, nur ein inneres Licht in seinen Bildern nahm er wahr. Er sah allerdings in einer gewissen Beziehung geistig-seelisch die wohltätige Wirkung, die ihm die Geister der Sonne herunterschickten, er spürte das sozusagen, er sah es in aurischen Bildern aufstrahlen; aber das hat mit der heutigen äußeren Anschauung gar nichts zu tun. Es gab also eine Zeit, wo die Sonnengewalten ihr Licht dem Menschen zuströmten, der Mensch aber die äußere Sonne nicht sah.

Das Herausgehen des Mondes geschah etwas später. Erst in dem Augenblicke, als der Mond von der Erde fortging, wurde der Mensch fähig, ein Ich-Bewußtsein in seiner allerersten Anlage aufzunehmen, da begann er erst, sich sozusagen als ein besonderes Wesen zu fühlen. Vorher fühlte er sich im Schoße von anderen Wesenheiten. Und nun

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erst begann für ihn die Möglichkeit, äußeres Physisches in seinen ersten Anflügen mit dem Ich-Bewußtsein wahrzunehmen. Sie können sich sehr leicht klarmachen, daß dies äußere Sehen mit dem Ich-Bewußtsein zu­sammenhängt; denn solange man sich nicht von dem Äußeren unter­scheiden kann, so lange ist man kein Ich. Die erste Fähigkeit, das erste Aufblitzen des Ich-Bewußtseins fällt deshalb zusammen mit dem Öff­nen der Augen nach außen. Das ist auch mit dem Hinausgehen des Mondes verknüpft. Früher, als der Mond noch mit der Erde verbunden war, leitete er in der Erde die Wachstumskräfte des einzelnen Menschen von der Geburt an bis zum Tode, so wie er es auch jetzt noch, aber von außen her, tut. Damit aber der Mensch nicht nur zwischen Geburt und Tod eingeschlossen sei, mußten von außen her diejenigen Kräfte kom­men, welche von der Sonne hereinwirkten. Fortwährend war also mit der Erdentwickelung verbunden ein Zusammenwirken der inneren Mondenkräfte und der äußeren Sonnenkräfte. Und jetzt versuchen Sie sich recht lebhaft und genau vorzustellen, was da geschah.

Solange die Sonne schon abgespalten, der Mond aber noch mit der Erde verknüpft war, sah der Mensch in innerlichen Bildern die Wir­kung der Sonnenkräfte; er spürte das Wohltätige der Sonnenkräfte, denn diese verbanden sich immer mit den Mondkräften innerhalb des Erdenkörpers, und das bewirkte den Menschen in seiner Konstitution -aber sehen konnte er die Sonnenkräfte nicht. Jetzt ging auch der Mond heraus. Der Mensch erhielt seine Sinne geöffnet, dadurch verschwand für ihn die Möglichkeit, das Seelisch-Geistige der Sonnenkräfte wahr­zunehmen. Denken Sie sich den Moment, wo sozusagen die geistig-seelische Wahrnehmung in Bildern entschwindet und die ersten An­fänge einer äußeren Anschauung der Sonne, eines wirklichen Sehens beginnen. Aber in Wahrheit konnte der Mensch die Sonne noch nicht sehen, denn die Erde war mit dichten Dämpfen bedeckt. Gegenüber dem früheren dumpf-hellseherischen Spüren dieser Sonnenkräfte wäre er jetzt in der Lage gewesen, die Sonne, wenn auch erst allmählich, äußerlich zu sehen, wenn sie ihm nicht durch die dunstige, dichte Atmo­sphäre verhüllt gewesen wäre. So ist also dem Menschen durch seine Höherentwickelung die wohltuende Wirkung der Sonne entschwun­den. Die alten Ägypter, indem sie sich an diesen Zustand erinnerten,

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nannten die Kräfte der Sonne, die reinen Strahlen, die der Mensch einst im dumpfen Hellsehen wahrnahm, Osiris. Dieses Wahrnehmen des Osiris verschwand, und durch die Wolkenhülle war auch ein äußer­liches Wahrnehmen noch nicht möglich: tot war, was der Mensch früher gesehen hatte. «Der Gegner Typhon hat den Osiris getötet», und diejenigen Kräfte, die als Mond herausgegangen waren, die zwi­schen Geburt und Tod wirkenden Kräfte, sie suchten jetzt sehnsüchtig den alten Osiris.

Und nach und nach verzog sich der Nebel; freilich lange, lange Zei­ten dauerte das, bis hinein in die spätatlantische Zeit. Und der Mensch fing an, die Sonne wiederum zu sehen, aber nicht mehr wie früher, wo er in einem gemeinsamen Bewußtsein war, sondern in jedes einzelne Auge fielen die Strahlen der Sonne, als der Mensch die Sonne nun sah:

der zerstückelte Osiris.

Da haben wir einen gewaltigen kosmischen Vorgang. Und während wir verkörpert waren in der alten ägyptischen Zeit, haben wir ihn in der Wiederholung erkannt. Das war es, was die ägyptischen Priester-weisen ursprünglich im Sinne hatten, und sie kleideten es in ein Bild. Sie sagten: Damals, als der Mond und die Sonne zuerst draußen stan­den, da war der Mensch in der Mitte, wie im Gleichgewicht gehalten von den Sonnen- und Mondenkräften. Früher gab es noch keine ge­schlechtliche Fortpflanzung, es wirkte dasjenige, was man eine jung­fräuliche Fortpflanzung nennt. Diejenigen Kräfte, die unsere Erde be­herrschten, gingen über aus dem Zeichen der Jungfrau durch die Waage, die Gleichgewichtslage, in das Zeichen des Skorpions; daher sagte der ägyptische Priesterweise: Als die Sonne im Zeichen des Skorpions stand, als die Erde in der Waage war und die Strahlen als Stachel wirk­ten, indem sie die Sinnesorgane durchstachen - dieses Eintreten der äußeren Gegenständlichkeit, das ist der Skorpionstachel, der trat als etwas Neues auf gegenüber der alten jungfräulichen Fortpflanzung -, da wurde Osiris getötet. Und da tritt das Suchen, die Sehnsucht der Menschheit nach der alten Kraft, nach der Anschauung des Osiris ein.

Sie sehen, wir dürfen nicht bloß irgend etwas Astronomisches suchen in einem solchen Mythos wie die Osirissage, sondern wir müssen in ihm erblicken das Ergebnis tiefer, hellseherischer Einsicht der alten ägyptischen

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Priesterweisen. In einen solchen Mythos haben sie hineinver­körpert, was sie über die Erden- und Menschenentwickelung wußten.

Allen Mythen liegen reale Tatsachen der höheren geistigen Welten zugrunde. Heute sollte Ihnen vorgeführt werden, wie dem Osirismythos eine solche Tatsache zugrunde liegt.

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FÜNFTER VORTRAG Stuttgart, 8. August 1908

Wir haben gesehen, wie sich unsere Erdenverhältnisse in ihrer Ent­wickelung aus dem Kosmos herausgestaltet haben. Wir haben gesehen, wie unsere Erde in einer urfernen Vergangenheit mit dem, was heute als Sonne vom Himmel herunterstrahlt, verbunden war, und wie dann in einem gewissen Zeitpunkt sich diese Sonne von der Erde getrennt hat. Später ist aus jener Weltenwesenheit, die nach der Abspaltung der Sonne noch den jetzigen Mond in sich hatte, auch dieser Mond hinaus­gezogen, und gestern haben wir nun betrachtet, wie diese Trennung einer ursprünglichen Gemeinschaft in drei Weltkörper mit der ganzen Evolution des Menschen und unseres Kosmos in geistiger Beziehung aufs innigste zusammenhängt. Mit den Kräften der Sonne sind nämlich auch gewisse Wesenheiten aus unserer Erdmasse herausgegangen, die früher innerhalb unserer Erde, sozusagen von innen gewirkt haben, die aber seit dieser Spaltung von Sonne und Erde auf die verschiedenen Wesenheiten, und also auch auf den Menschen, von außen her wirken. Dadurch haben sich natürlich alle Verhältnisse des Erdenmenschen ge­ändert; und später änderten sie sich wiederum dadurch, daß der Mond sich auch heraustrennte. Also dasjenige, was wir eine Zeitlang als Erde plus Mond kennen, das erfuhr dann neuerdings eine Veränderung durch das Hinausgehen des Mondes. Und der Sinn der ganzen Evolution war, wie wir gesehen haben, daß der Mensch, wenn er ausschließlich unter dem Einflusse der Sonnenkräfte geblieben wäre, ein zu rasches Tempo der Entwickelung eingeschlagen hätte; hätte andrerseits sich die Sonne ganz von der Erde getrennt und ihr ihre Kräfte entzogen, dann hätte die Weiterentwickelung der Erde sich so vollzogen, daß die Erdenwe-sen, namentlich der Mensch, unter dem Einflusse der Mondkräfte er­starrt wären. So wird also in bezug auf die Menschheitsentwickelung ein Gleichgewicht erhalten.

Nun habe ich Sie auch schon darauf aufmerksam gemacht, daß die­jenigen Wesenheiten, die zunächst mit der Sonne ihre eigene geistige Kraft der Erde zustrahlten und so die Evolution der Menschheit bewirkten,

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die Geister der Form oder die Gewalten sind. Sie sind es, die sozusagen der Erdentwickelung am nächsten stehen. Der Führer dieser «Gewalten» mit seiner Schar, können wir sagen, hat sich abgetrennt; er bewohnte nach der Abtrennung der Sonne die Erde und trennte sich später mit dem Monde von der Erde ab. So daß wir zunächst eine Mondgottheit haben, jene Gottheit, welche die biblische Urkunde als Jehova bezeichnet. Jene anderen Sonnengewalten aber, die ihr Licht von außen zustrahlen und als Formgeister wirken, die werden in der biblischen Urkunde die Elohim, die Geister des Lichts genannt. Unter dem Einflusse der Elohim auf der einen Seite und des Jehova auf der anderen Seite wird dem Menschen in seiner Entwickelung das Gleich­gewicht erhalten. Wir haben aber gesehen, daß nicht nur der Mensch eine Entwickelung erfährt, sondern daß alle Wesen im Kosmos ihre Entwickelung durchmachen. Auch jene erhabenen Wesenheiten, die uns ihre Kräfte mit dem Lichte zusenden, die Geister der Form, auch sie haben ihre Entwickelung durchgemacht; sie waren früher auf einer niedrigeren Stufe, sie haben sich bis zu der heutigen Stufe erst empor­gerungen. Das, was wir jetzt von den Elohim und von Jehova gesagt haben, gilt auch von den reifsten dieser Geister, die sich vollständig fähig gemacht haben, ihre Weiterentwickelung von dem Zeitpunkte der Erdentstehung an entweder auf der Sonne oder auf dem Monde zu finden. Aber es gibt überall solche Wesenheiten, die auf irgendeiner Stufe zurückgeblieben sind. Wir haben ja gestern schon gesehen, daß Planeten wie Venus oder Merkur ihr Dasein dem Umstande verdan­ken, daß Wesenheiten zurückgeblieben sind mitten zwischen den Men­schen auf der einen und den erhabenen Sonnengeistern auf der anderen Seite; sie brauchten einen Wohnplatz, der erhabener als die Erde ist, aber die Sonne konnten sie nicht bewohnen, weil sie dazu noch nicht reif waren. Das sind erhabene Wesenheiten, die weit über die Entwicke­lung des Menschen hinausgehen, die aber den Zustand der Sonnengei­ster noch nicht erreicht haben. Sie bilden eine sehr wichtige Klasse von Wesenheiten in bezug auf die Entwickelung der Erdenmenschheit. Während wir also auf der einen Seite die reifen Wesenheiten haben, ha­ben wir zwischen ihnen und den Menschen stehend diese eben geschil­derten Wesenheiten, die wir in ihrer Gesamtheit als luziferische Wesenheiten

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bezeichnen; wir benennen sie nach demjenigen, der sozusa­gen ihr Anführer ist, nach der Gestalt, die wir Luzifer nennen.

Nun müssen wir uns klarmachen, wie Jehova und die Elohim auf der einen, und die luziferischen Wesenheiten auf der anderen Seite mit der Menschenentwickelung zusammenhängen. Durch das Zusammen-wirken der Sonnengötter und des Mondgottes entsteht ein Zweifaches, und was da entsteht, werden wir begreifen, wenn wir beobachten, wie die Entwickelung des Menschen vorher war. Noch einmal wollen wir uns daran erinnern, daß die Erde einen uralten Verkörperungszustand durchgemacht hat, den des Saturn; daß dann nach einem Ruhezustande die Sonne, dann der Mond, und dann erst unsere Erde daraus wurde. Der Mensch ist in bezug auf seine Evolution mit all diesen Verkörpe­rungen unserer Erde verbunden; der Mensch, wie er uns heute entgegen­tritt, ist ein sehr kompliziertes Wesen. Er besteht ja heute aus phy­sischem Leib, aus dem Äther-, dem Astralleib und dem Ich. Diese vier Glieder der menschlichen Wesenheit spielen in sehr komplizierter Weise ineinander. Ein Wesen, das in unserer physischen Welt nur einen phy­sischen Leib haben würde, wäre ein Stein, ein Mineral; unser Mine­ralreich hat in der Tat nur einen physischen Leib hier auf der Erde. Ein Wesen, das außer dem physischen Leibe noch einen Ätherleib hat, ist pflanzlicher Natur; unsere Pflanzenwelt besteht aus solchen Wesen. Ein Wesen mit physischem, ätherischem und astralischem Leibe steht auf der Tierstufe, und erst ein Wesen, das dazu noch ein Ich besitzt, das steht auf unserer Erde auf unserer Stufe, auf der Stufe des Menschen­daseins. Aber das ist nur ganz skizzenhaft beschrieben, wenn wir sa­gen, daß der Mensch heute diese vier Glieder seiner Wesenheit hat. Und wie skizzenhaft es ist, wird uns klar werden, wenn wir einen Blick auf die lange, lange Entwickelung des Menschen werfen.

Wir fragen uns da: Welches ist denn das älteste der vier Glieder un­serer menschlichen Wesenheit? - Leicht könnte man glauben, weil das menschliche Ich zunächst als das Höchste erscheint, als das, was den Menschen erst zum Menschen macht, daß dieses Ich auch das älteste Glied sei. Das ist aber nicht der Fall. Weder das Ich noch der Äther- oder Astralleib, sondern der physische Leib ist das, was der Mensch zu­allererst gehabt hat. Dieser physische Leib ist in seiner ersten Anlage

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auf dem alten Saturn schon gebildet worden, aber Sie dürfen sich nicht vorstellen, daß er etwa so wie heute ausgesehen hat. Wenn Sie den heutigen physischen Leib betrachten, dann haben Sie zunächst feste Glieder, ein festes Knochensystem, kurz, Bestandteile, die wir als fest bezeichnen; dann haben wir auch noch flüssige Bestandteile von allen möglichen Beschaffenheiten; ferner durchzieht den physischen Leib nach allen Seiten Luftförmiges, Gasförmiges; und schließlich finden Sie in ihm etwas, was, okkult betrachtet, substantiell Wärme, innere Wärme ist. Denken Sie sich einmal den Menschen in bezug auf seine Wärme und auf seine Umgebung. Seine Wärme ist nicht von seiner Umgebung abhängig, er muß sich nicht wie das Mineral nach seiner Umgebung richten; in einer kalten Umgebung wird er nicht wie das Mineral kalt, sondern er trägt im Inneren den Quell seiner eigenen Wärme. Denken Sie sich einmal von dem Menschen alles weg, was fest, flüssig und was gasförmig ist, denken Sie sich leiblich im Raume, aus Wärme gebildet, den physischen Leib des Menschen, so aus Wärme ge­bildet, wie die Wärme in Ihrem Blute pulsiert, dann haben Sie das, was auf dem alten Saturn vorhanden war. Nur war es nicht in der Form wie heute, sondern in der ersten Keimanlage. Insbesondere war das in der Mitte der Saturnentwickelung der Fall. Der Saturn hatte einen An­fangszustand, einen mittleren und einen Endzustand. Den Anfangszu­stand zu schildern, würde sehr schwer halten, weil nur wenige Men­schen die Fähigkeit ausgebildet haben, um sich die Eigenschaften den­ken zu können, die der Saturn gehabt hat, ehe er sich so verdichtete, daß er aus Wärme bestand. Wenn Sie sich im Geiste in diese Zeiten urferner Vergangenheit zurückversetzen, so müssen Sie sich nicht vorstel­len, daß, wenn Sie den Saturn von irgendwo im Weltenraum hätten beobachten können, Sie da irgend etwas von ihm gesehen hätten. Licht hat er nicht gehabt, geleuchtet hat der Saturn nicht. Erst gegen das Ende seiner Entwickelung fing er an zu leuchten. Wenn Sie sich ihm in der Mitte seiner Entwickelung hätten nähern können, dann hätten Sie nur gespürt, daß es warm wird wie in einem Backofen, der aber keine Grenzen von außen hat, sondern der sich selbst begrenzt: in einen Wär­meraum wären Sie eingetreten. Diesen Wärmekörper müssen Sie sich aber nicht gleichmäßig vorstellen. Wenn Sie eine Empfindung für

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Wärmeunterschiede hätten, dann würden Sie finden, daß da Wärme­linien in allen Richtungen sind, nach allen Seiten; Sie würden Wärmeformen herausfühlen. Der ganze Saturn bestand aus Formen, die nur in Wärme gebildet waren, und diese Formen, das waren die Uranlagen des physischen menschlichen Leibes. Weiter bringt es der Saturn über­haupt nicht, während er für die Menschheitsentwickelung fruchtbar ist; später, als er abflutet, bringt er es allerdings weiter, aber im tieferen Sinne ist das nicht fruchtbar für die Menschheitsentwickelung.

Jetzt gehen wir über zur Sonnenentwickelung. Nach einer Ruhepause verwandelt sich der Saturn in die Sonnenform. Äußerlich mate­riell ist es so, daß in der Mitte der Sonnenentwickelung eine Verdich­tung des Materiellen eingetreten ist. Die Sonne besteht nicht nur aus Wärme, sondern auch aus Gas und Luft, im okkulten Sinne also Wärme und Luft. Und wiederum erfährt alles, was in der Sonne ist, seine Ent­wickelung innerhalb der Bedingungen, die in Wärme und Luft statthaben können. Zunächst geschieht nun folgendes: Der Mensch, der, als er nur aus Wärme bestand, noch keinen Ätherleib aufnehmen konnte, wird jetzt auf der Sonne durchdrungen von einem Ätherleib, so daß er aus zwei Gliedern, aus dem physischen und dem ätherischen Leib besteht. Aber immer noch ist dieser physische Leib auf der Sonne ganz anders, als er jetzt ist. Wir wollen versuchen, uns eine wenn auch grobe Vorstellung von dem physischen Leibe auf der alten Sonne zu machen. Wir denken uns, daß wir eingeatmet haben, daß die eingeatmete Luft in uns hineingegangen ist. Denken Sie sich also den Einatmungszug gemacht und die Wirkung in einer gewissen Wärmewirkung. Und nun denken Sie sich alles weg außer der eingeatmeten Luft, die sozusagen in ihrer Wirkung den ganzen menschlichen Leib nachbildet - alles andere, Festes und Flüssiges, denken Sie sich fort, und halten nur die Luft und die Wärme fest. Denken Sie also, es entstünde vor Ihnen eine solche Form, wie sie entsteht, wenn Sie bloß auf den Einatmungs­zug und auf seine Wirkung sehen. Nun verfolgen Sie die Form der eingeatmeten Luft und die Wärme, die der Mensch enthält, dann haben Sie ungefähr die Gestalt, die der Mensch in der Mitte der Sonnenentwickelung gehabt hat. Sie können nun fragen: Wenn wir Wärmelinien haben, und außerdem Gasströmungen, die diesen physischen

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Leib bilden, wie sieht denn der Hellseher dieses Gas in der Akasha­Chronik? Er nimmt es an etwas ganz Bestimmtem wahr. Wenn sich nämlich die Wärme zu Luft verdichtet und keine anderen Verhältnisse da sind - nicht wie heute auf der Erde, wo die Sonne von außen her­einstrahlt -, da beginnt es in dem Augenblicke, wo das Gas, die Luft, sich abspaltet von der Wärmeform, zu leuchten. So daß Sie den phy­sischen Leib auf der Sonne so gestaltet haben, daß er eine Art von keim­hafter Wärmeform ist und eine Form von Gasluftströmungen, die in der wunderbarsten Weise erglänzt und in den verschiedensten Farben leuchtet. Dieser ganze Sonnenball besteht zunächst aus leuchtenden Wärmekörpern, die die Uranlage unseres menschlichen physischen Lei­bes sind, und die durchdrungen sind von dem Ätherleibe. Der Mensch ist zu einer höheren Stufe heraufgestiegen, er hat zu dem physischen Leib den Ätherleib erlangt. Er selbst ist es, der als ein Teil des Sonnengebildes die Leuchtkraft des Lichtes in den Weltenraum hinausstrahlt. Der physische Leib ist ein Leuchtkörper geworden dadurch, daß er den Ätherleib in sich aufgenommen hat. Auf der zweiten Stufe seiner Voll­kommenheit ist also der physische Leib; während der Ätherleib, der ja erst eben auf der Sonne eingestrahlt ist, sich noch auf der ersten Stufe befindet.

Jetzt verfolgen wir den Menschen weiter. Die Sonne verwandelt sich nach und nach in den Mondleib, nachdem sie wiederum eine Pause, einen Ruhezustand durchgemacht hat. Materiell tritt das ein, daß die Luftform sich zum Wäßrigen verdichtet: es entsteht Flüssiges. In der Tat, der alte Mond war ein flüssiger Weltkörper, und darin würden Sie als plastische Gebilde wiederum die physischen Menschenleiber finden, die jetzt aus verfließenden Säften, aus wäßrigen Bestandtei­len bestehen, in welchen, sagen wir, Luftströmungen kursieren wie heute die Atmung und Wärmeströmung. Der physische Leib besteht jetzt aus drei Gliedern: aus Wasser, aus Gas oder Luft und aus Wärme. Und der frühere Ätherleib, den er gehabt hat, geht wieder hinein in dieser Mondzeit, aber jetzt ist der Mensch imstande, auch den Astral­leib aufzunehmen, so daß er aus drei Gliedern besteht: dem physischen, dem Äther- und dem Astralleibe. Nun tritt schon während dieser Mondzeit die Unmöglichkeit ein, daß alle Wesen, die mit dem Monde

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verbunden sind, gleichen Schritt in der Entwickelung halten. Nicht bloß während unserer Erdentwickelung, sondern vorbereitend schon während der Mondentwickelung geht die Sonne einmal heraus aus dem gemeinsamen Weltenkörper; so daß wir in der Mitte der Mondent­wickelung zwei Körper haben, den Mondleib - Erde plus Mond - und die Sonne, die mit den vorgeschrittensten Wesenheiten sich herausge­trennt hat, weil diese Wesenheiten für ihre Weiterentwickelung einen erhabeneren Schauplatz brauchten. Dadurch nun, daß die feineren Kräfte und Wesenheiten hinausgingen, blieben auf der Erde die gröberen zurück, und dieser Weltkörper - Erde plus Mond - erfuhr dadurch sozusagen eine Verdichtung. Wir sehen also, daß schon damals in der alten Mondzeit die Sonne mit ihren Wesenheiten von außen her wäh­rend einiger Zeit auf den zurückbleibenden Mondkörper gewirkt hat.

Nun wird es nötig sein, Ihnen diesen zurückbleibenden Körper ein wenig näher zu beschreiben, denn wir haben ja einen Teil unserer Ent­wickelung auf ihm durchgemacht. Auf dem Saturn gab es nur den physischen Leib; der Mensch hatte den Wert eines Minerals. Auf der Sonne erhob sich der Mensch zu dem Werte einer Pflanze, denn er hatte physischen und Ätherleib Nun waren aber gewisse Wesenheiten zu­rückgeblieben, indem sie auf der alten Sonne nicht mit hinaufstiegen zum Menschen-Pflanzendasein, sondern auf der Stufe des Saturn ste­hen blieben. Das sind die Vorläufer gewisser heutiger Tiere. Sie sehen, der heutige Mensch reicht in bezug auf seine Vergangenheit zurück bis zu dem alten Saturn, während erst auf der Sonne die Vorläufer eines Teiles unserer heutigen Tiere auftreten als ein zweites Reich neben dem Menschen. Aus demselben Grunde, aus einem Zurückbleiben ge­wisser Wesenheiten, war der Mensch, der sich auf dem Monde zu einem dreigliedrigen Wesen emporgearbeitet hatte, von zwei anderen Rei­chen umgeben: von einem Reiche, das auf dem Monde in der Stufe der Pflanze zurückgeblieben war - die Vorläufer unserer heutigen Tiere -, und von dem, was sich jetzt auf dem Monde noch auf der Stufe des Minerals befand, die Vorläufer unserer heutigen Pflanzen. Das, was heute Mineral ist, das gab es noch nicht auf dem Monde, das ist erst am spätesten entstanden als eine Aussonderung der anderen Reiche. Na­türlich weiß derjenige, der solche Dinge behauptet, ganz genau, daß es

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Unsinn ist, im heutigen Sinne davon zu reden, daß die Pflanzen ohne die Grundlage eines Mineralreichs entstehen könnten; aber es waren eben früher ganz andere Verhältnisse. In der Tat entwickelte sich auf dem alten Monde der Mensch sozusagen im Tierreich, das Tier im Pflanzenreich, die Pflanze im Mineralreich, und als der Mond sich von der Sonne trennte, erfuhren alle Reiche eine Verschiebung, die in fol­gender Weise geschah.

Wenn wir uns den alten Mond denken, dann sind zunächst die drei oben genannten Reiche vorhanden:

1. das Menschenreich - eigentlich Tierreich, aus physischem, äthe­rischem und Astralleib bestehend;

2. das Tierreich - eigentlich Pflanzenreich, aus physischem und ätherischem Leibe bestehend;

3. das Pflanzenreich - eigentlich Mineralreich, weil es nur physi­schen Leib hat.

Unser heutiges Mineralreich also besteht noch nicht. Als nun Mond und Sonne sich trennen, sind die Wesenheiten und Kräfte der Sonne ganz befreit von den groben Stoffen des Mondes und können um so stärker wirken. Dadurch werden nun alle drei Reiche um eine Stufe heraufgehoben. Das, was menschlicher Astralleib ist, wird aus seiner innigen Verbindung mit physischem und Ätherleib herausgehoben, so daß, wenn Sie sich den Menschen mit seinem physischen, seinem Äther- und Astralleib im Beginn des Mondendaseins denken, Sie später eine we­sentliche Veränderung wahrnehmen: dadurch, daß die Sonne heraus­tritt und von außen zu scheinen beginnt, werden der Astralleib und der Ätherleib zum Teil befreit. Die Folge davon ist, daß etwas entsteht, was Sie sich etwa so vorstellen müssen: Denken Sie sich einmal, der heutige Mensch bestünde aus physischem Leib, Ätherleib und Astral­leib, und nun käme eine äußere Kraft, die den Astralleib und den Äther­leib heraustriebe; dann würden für den Hellseher Ihr Astralleib und Ihr Ätherleib außerhalb Ihrer vorhanden sein. Sie selbst aber würden dadurch, daß diese beiden Leiber von der Schwere des physischen Lei­bes befreit werden, um eine halbe Stufe hinaufgehoben werden. Und so etwas geschah auch damals. Der Mensch wurde auch hinaufgehoben,

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er wurde ein Wesen, welches zwischen dem heutigen Menschen und dem heutigen Tiere mitten drinnen steht, welches aber in geistiger Be­ziehung gelenkt und geleitet wurde von den erhabenen Sonnenmäch­ten. Ebenso wurden die beiden anderen Reiche um ein Stück hinauf­gehoben, so daß wir in der Mitte der Mondentwickelung nicht unsere heutigen Reiche haben, sondern Zwischenreiche: ein Tiermenschen­reich, ein Reich zwischen Tier und Pflanze stehend, und ein Pflanzen­mineralreich. Und geradeso wie unsere Mineralien den festen Boden bilden, auf dem wir herumwandeln, so gingen die Wesenheiten des alten Mondes herum auf dem, was das niedrigste Reich des Mondes war, auf dem Pflanzenmineral. Diese Grundsubstanz des Mondes war nicht wie auf der Erde heute eine mineralische Substanz, sondern eine Art halblebendigen Wesens. Wenn Sie sich heute denken würden etwas wie Torfmoor oder wie Kochsalat oder gekochten Spinat, einen solchen Brei, aber dabei lebendig, aufbrodelnd - dann ungefähr hätten Sie eine Vorstellung von dem, was damals die Grundmasse war. Und nicht Felsen ragten aus dieser Masse heraus, sondern Gebilde wie etwa das Holz, verdichtete Pflanzenmasse, Homgebilde, das war damals an­stelle der heutigen Felsen. Und für den hellseherischen Blick zeigt sich das so, daß man auf einer pflanzlich-mineralischen Grundlage wan­delte, die eine Verdichtung erfuhr, und das sind die Gesteine. Da wach­sen nun heraus, mehr oder weniger festgewurzelt, die Tierpflanzen, viel beweglicher als heute; aus dem zähflüssigen Element wachsen sie heraus. Sie hatten eine Art von Empfindung, wenn man sie anrührte. Und aus den feinsten Substanzen hob sich der Tiermensch heraus, der keineswegs bis in die gröbsten Substanzen hinunterreichte, sondern sei­nen physischen Leib aus den feinsten Substanzen hatte. Und dieser phy­sische Leib, der in fortwährender Verwandlung sich befand, sah recht merkwürdig aus; einen solchen Menschenkopf, wie ihn der Mensch heute hat, den kann der Hellseher nicht entdecken auf dem alten Monde. Er entdeckt im physischen Leibe, wenn dieser auch noch so weich und flüssig ist, nur tierähnliche Kopfformen, und was aus die­ser tiemähnlichen Kopffomm herausragt, das ist dem Äther- und der Astralleib. Für den physischen Blick hatten alle Tiemmenschen also die verschiedensten Formen, die an Tiere erinnern, aber auch nur erinnern,

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und erst wenn man vom physischen Sehen zum astralischen Schauen aufsteigt, dann erblickt man die höhere Natur dieses Mondtiermen­schen. So ist die Bevölkerung des alten Mondes.

Wenn wir in die Tiefen der menschlichen Kulturentwickelung, so­fern sie geistiger Art ist, hineinblicken, so finden wir an vielen Stellen, daß in der Tat die Mythen und Sagen, die uns überliefert worden sind, in vieler Beziehung weiser sind, als es unsere heutige Wissenschaft ist. Und wenn der Mensch einst die geistige Grundlage der Welt wieder erkennen wird, dann wird er in manchem Mythos, in manchen Sagen und Märchen eine tiefe Weisheit erkennen, tiefer als unsere scheinbar so vorgeschrittene Wissenschaft. Denken wir uns noch einmal den alten Mond, in dem nur die alte Tierpflanze gedeihen kann, und lenken wir eine Weile den Blick ab von der Weiterentwickelung des Mondes. Seien wir uns klar, daß alle diese Mondwesenheiten Vorläufer unserer heu­tigen Menschenwesen waren. Aus den Mineralpflanzen ist durch einen Herunterstieg unser heutiges Mineralmeich entstanden, aus den Tier­pflanzen unsere heutigen Pflanzen und aus den zurückgebliebenen Tier­menschen, aus denen, die nicht fortgeschritten sind, zum größten Teile unsere heutigen Tiere. So sehen wir, wie unsere heutigen Mineralien, unsere Pflanzen, Tiere und Menschen wirklich Nachkommen sind jener alten Mondwesen. Nun gibt es heute sehr merkwürdige Pflanzen, die nicht in einem mineralischen Boden gedeihen, zum Beispiel die Mistel. Sie ist deshalb so merkwürdig, weil sie sich als Pflanze für den hell­sehemischen Blick sehr von den anderen Pflanzen unterscheidet. Sie zeigt nämlich etwas von einem Astralleib, der, wie bei dem Tierleibe, in die Mistel hineingeht. Trotzdem sie keine Empfindung hat, zeigt sie etwas von dem äußeren Gestalt des Tierwesens. Das rührt davon her, daß sie zu jenen Pflanzentieren des Mondes gehört, die zurückgeblie­ben sind; die jetzt nicht Pflanzen haben werden können und die deshalb auch nicht auf einem mineralischen Boden gedeihen. So weit konnten sie nicht fortschreiten, und deshalb brauchen sie andere Pflanzen, in die sie sich hineinsenken können. Die Mistel ist bei dem alten Mondbrauch geblieben. Das haben die alten Vorfahren dem europäischen Völker gewußt, indem sie es zunächst in einem wunderbaren Sagenge­bilde verkörpert haben. Diese alten germanischen und nordischen Völkerschaften

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sahen in Loki eine Gewalt, welche noch jenen alten Mondkräften angehörte, die sich von dem alten Mondschauplatz auf unsere Erde herübergefunden haben. Als die Erde Erde geworden ist, kam sie unter den Einfluß demjenigen Kräfte, welche sich diese alten Völker­schaften in dem Gotte Baldur symbolisierten. Er repräsentiert alle die Kräfte, die auf die reifen Erdenwesen wirkten. Diejenigen Wesenheiten unserer Erde aber, die auf der Mondstufe zurückgeblieben sind, fühlen innige Verwandtschaft zu dem, der zu dem Gotte des Mondes gehört, zu Loki. Daher stammt die wunderbare Sage, daß einst, als die Götter spielten, alle Wesen einen Eid geleistet haben, daß sie Baldur nicht verletzen wollten - nur die Mistel schwum diesen Eid nicht. Weshalb? Weil sie nicht verwandt ist mit den Emdenkräften, die in Baldur ver­körpert sind; sie ist degeneriemt, ein zurückgebliebenes Geschöpf des Mondes. Sie kann die Grundkraft der Erde, Baldur, verletzen. Loki muß sich eines Wesens bedienen, das zu ihm gehört. Tief aus dem ge­heimen Weltenzusammenhange heraus ist diese Sage entstanden. Und wenn wir wissen, daß in vieler Beziehung dasjenige, was der gesunden Entwickelung widerstrebt, gerade der kranken Entwickelung dienen muß, dann begreifen wir, daß es eine große weise Intuition unserer Vorfahren war, die sie dazu führte, in dem Mistel besonders heilende Kräfte und Säfte zu suchen. Sie wußten das, was wir eben besprochen haben; daher das Ansehen, welches der Mistel überhaupt gegeben wor­den ist. Das ist so ein Beispiel, an dem wir sehen können, wie in den Sagen und Mythen Weisheit dem Weltentwickelung verborgen ist.

Dadurch nun, daß auf dem Monde sozusagen ein Teil von dem Äther- und dem Astralleib herausgezogen ist beim Tiermenschen, da­durch entsteht bereits auf dem alten Monde die Notwendigkeit eines Bewußtseinswechsels. Und jetzt müssen wir von einer anderen Ent­wickelung sprechen, die parallel mit dieser vor sich geht. Jede einzelne dieser Entwickelungsstufen auf dem Saturn, der Sonne, dem Monde und der Erde ist zugleich eine Stufe der Bewußtseinsentwickelung. Auf dem Saturn war das Bewußtsein ganz dumpf, es war die erste Stufe. Unser Bewußtsein im traumlosen Schlafe, das, was die ewig schlafende Pflanzenwelt hat, ist schon heller als das, was der Mensch auf dem Saturn hatte und was sich mit dem Bewußtsein des Minerals

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vergleichen läßt. Erst auf der Sonne erhob sich der Mensch zu einem Bewußtsein, wie das der Pflanze ist,. und dadurch, daß der Mensch auf dem Monde den Astralleib eingegliedert erhielt, stieg auch sein Bewußtsein noch einen Grad höher, zu dem, was wir als das Bilderbe­wußtsein bezeichnen. Mit dem heutigen Traumbewußtsein können wir es nur in gewisser Beziehung vergleichen, denn unsere Träume haben ja nur in Ausnahmefällen etwas zu bedeuten. Aber auf dem Monde war das anders. Die auf- und absteigenden Bilder, die sich dem Men­schen da zeigten, hatten etwas zu bedeuten. Wenn sich ihm ein anderes Wesen näherte, so konnte er nicht äußere Form und Farbe wahrneh­men, aber er empfand etwas in sich aufsteigen, so wie es heute der Mensch im Traume tut; es stieg in ihm auf ein Bild von der inneren Natur des Wesens, und je nach der Farbe und dem Charakter dieses Bildes wußte er, ob das Wesen ihm freundlich oder feindlich gesinnt sei, ob er bleiben oder fliehen sollte.

Aber es gab schon, wie gesagt, auf dem Monde, während der Zeit, wo die Sonne draußen war, einen Bewußtseinswechsel; es gab Zeiten, in denen das Bewußtsein lebhafter, und Zeiten, wo es dumpfer war. Heute wechseln Tag- und Nachtzeiten ab. Der Mensch geht heute des Morgens in seinen physischen und Ätherleib hinein; dadurch taucht die Welt der äußeren Gegenstände und Wesenheiten vor ihm auf. Es wird licht und hell um ihn dadurch, daß er sich seiner Sinne bedient. Dann aber, wenn er abends mit seinem Ich und dem Astralleib hinaus­geht, dann hat er zunächst kein Werkzeug, um wahrzunehmen; es wird dunkel um ihn. So wechselt das traumlose Schlafbewußtsein, das dem Menschen zuerst auf der Sonne geschenkt worden ist, mit dem Wach­bewußtsein, mit dem Erdenbewußtsein ab. Vorbereitet hat sich das schon auf dem alten Monde. Schon da waren der Ätherleib und der Astralleib nicht fortwährend herausgehoben, sondern es gab Zeiten, wo sie sich in den physischen Leib hineinsenkten; denn der alte Mond bewegte sich schon um die Sonne herum, und diese Umdrehung be­wirkte, daß der Mensch zu Zeiten von der Sonne beschienen wurde, zu Zeiten nicht. Dadurch geschah ein Aus- und Eintreten des Ätherleibs und des Astralleibs in den physischen Leib. Freilich war dem Wechsel nicht von solchem Kontrast wie heute. Wenn der Mensch auf dem alten

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Monde herausrückte, wenn er von den Kräften der Sonne beschienen wurde, dann war er in einem hellen Bewußtsein, in einem geistigen Be­wußtsein; er nahm intensiv das Geistige wahr. Und wenn sich sein Äther- und Astralleib in den physischen Leib hineinsenkten, dann ver­dunkelte sich sein Bewußtsein - Sie sehen, es war umgekehrt wie heute. So wechselten also auf dem Monde in viel, viel längeren Zeiten helle und dunkle Bewußtseinszustände ab, und in den dunklen Bewußt­seinszuständen war es, daß, ohne daß der Mensch es wußte, dasjenige vor sich ging, was man die Befruchtung nennt. Um die Fähigkeit der Fortpflanzung zu entwickeln, um die Befruchtung zu bewirken, um zu gebären, senkte sich die höhere Wesenheit des Menschen nieder in sei­nen physischen Leib, und wenn dem Vorgang abgeschlossen war, dann ging sie wieder hinauf in die höhere Welt. Es hat sich nach und nach vorbereitet, was sich auf der Erde vollständig entwickelt hat. Und da­durch, daß die Sonne sich abgesondert hatte, dadurch, daß sie ihren Wesenheiten stärkere Kraft gegeben hatte, konnte dem Mensch, und alle anderen Wesenheiten, höher entwickelt werden. Wenn nämlich die Sonnenkräfte die Hemmung durch den alten Mond weiter gehabt hät­ten, dann hätten sie nicht so kräftig wirken können. Nun waren sie selbst befreit von dem Hemmnis der Mondsubstanzen, und dadurch rückte der Mond mit allen seinen Wesenheiten so rasch vorwärts, daß er nach einer bestimmten Zeit die Reife erlangt hatte, wieder von der Sonne aufgenommen zu werden. Es trat ein Zustand ein, wo alle abge­sonderten Weltkörper wieder aufgenommen werden konnten, wo sie gemeinsam in einen geistigen, in einen Ruhestand traten, den wir Pra­laya nennen. Und dann trat nach dieser Pause das wieder hervor, was wir den ersten ätherischen Keim des Erdenkörpers nennen können, und aus dem sich später wieder alles abgesondert hat.

Und nun fragen wir uns: Woher kommt der physische Leib auf dem Saturn, woher der Ätherleib auf der Sonne, und woher der Astral-leib auf dem Monde? - So philosophisch ungeschickt fragt der Schüler der Geisteswissenschaft nicht wie viele, die da glauben, philosophisch zu fragen. Es gibt Menschen, die fragen: Woher kommt dies oder je­nes? - und wenn man antwortet, dann fragen sie weitem und immer wei­ter, ohne Ende. Das tut man nur, solange man sich nicht selbst zum geistigen

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Betrachtung dem Welt erhebt. Vernünftigerweise muß man ja mit dem Fragen an einen Punkt schließlich kommen, wo der Sinn dem Frage ein Ende nimmt. Denken Sie sich, Sie finden auf der Straße Fur­chen in dem Straßenmaterial. Sie fragen: Woher kommt das? - Die Antwort lautet: Ein Wagen fuhr darin. - Jetzt können Sie weiter fra­gen: Wohem kam der Wagen? - Man kann antworten: Den benützte ein Mensch, dem ein bestimmtes Geschäft hatte. - Nun können Sie aller­dings fragen: Woher kam das Geschäft? - Aber einmal werden Sie doch dahin kommen, daß die Fragen ein Ende nehmen, daß Sie so weit vom Gegenstande abkommen, daß Sie in ein ganz anderes Gebiet hineinge­langen. Beginnt der Sinn der Fragestellung bei einer Idee, so kommt man nur, wenn man im Abstrakten bleibt, zu endlosen Fragen. Aber im konkreten Betrachten kommt man zuletzt zu geistigen Wesenheiten, und dann frägt man nicht mehr: Warum tun sie das? - sondern man frägt: Was tun sie? - Dazu muß man sich erst erziehen, daß man die Grenzen des Fragens einsieht.

So sagt uns nun die okkulte Beobachtung, daß einst, als der alte Saturn anfing sich zu bilden, gewisse geistige Wesenheiten die Grund-substanz des Saturn, die Wämme, aus ihrer eigenen Substanz als ein Opfer ausströmten. Sie sind zu solcher Reife gelangt, daß sie nicht nur nichts als Nahrung aufzunehmen brauchten, sondern daß sie sogar im­stande waren, ihre eigene Substanz hinzuopfern, auszuströmen. Das sind die Throne. Diese Throne gießen ihre Substanz während der alten Saturnzeit aus, und sie sind es, die durch ihm Opfer die Grundlage zum physischen Menschenleibe bilden. Derjenige, der diesen physischen Leib auf dem Saturn okkult betrachtet, sagt: Er ist ausgeflossen aus der Substanz der Throne. Wir sehen, daß dieser physische Leib sich von Stufe zu Stufe verwandelt, höher entwickelt hat, aber was wir in uns haben, ist immer die umgewandelte Substanz der Throne. Dann gehen wir hinüber zu dem alten Sonne. Da hat sich der Ätherleib dem physischen Leibe zugesellt. Da sind es wiederum geistige Wesenheiten, unter den Thronen stehend, die wir die Geister der Weisheit, die Ky­riotetes nennen. Sie waren auf dem Saturn noch nicht so weit, daß sie ihre eigene Wesenheit hätten ausströmen können. Auf der Sonne aber waren sie so weit, und aus ihrem Leibe floß die Substanz des

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Ätherleibes. In unserem Ätherleib tragen wir seit der Sonnenzeit die Substanz dem Geister der Weisheit. Auf dem Monde gesellte sich dem Astralleib hinzu. Wieder sind es geistige Wesenheiten, die ihre Sub­stanz hinopfern: die Geister der Bewegung, Dynameis oder Mächte. Und endlich gehen wir von dem Monde auf die Erde herüber; da strömt eine andere Wesenheit ihre Kraft in uns hinein, wir erlangen das Ich; zu den drei anderen Leibern kommt das Ich. Dieses Ich wird uns ver­liehen von den Geistern, die da lenken die kosmische Entwickelung, von den Geistern der Form, von den Gewalten oder Exusiai. Diese Geister der Form treffen wir hier wieder an: es sind die Elohim, die uns ihr Sonnenlicht zustrahlen, und Jehova, der von der Mondseite her an dem Menschengeiste formt. Hier haben wir sie in ihrem Zusammen­wirken, die Geister der Form, die von außen herein dem Menschen die Anlage zu seinem Ich gaben.

So sehen wir von Stufe zu Stufe gewisse geistige Wesenheiten sich hineingliedern in die Menschenentwickelung: auf dem Saturn die Throne, auf der Sonne die Geister der Weisheit, auf dem Monde die Geister der Bewegung oder Dynameis, und auf dem Erde die Geister dem Form: Jehova und die Elohim. Alle diese Wesenheiten sind es, die dem Menschen seine jetzige Gestalt und Form gegeben haben, die ihre eigene Wesenheit haben einströmen lassen. In der biblischen Urkunde wer­den wir deutlich darauf hingewiesen, wie das Wesen eines der Geister der Form einströmte in das Wesen des Menschen. Ein tiefes Geheimnis verbirgt sich hinter dem, was in dem Thora steht. Denken Sie sich, daß einer der Geister der Elohim sich als Jehova mit dem Monde verbunden hat, daß er von dort aus als Geist der Form wirkte, den Menschen zu dem machte, was ihm die göttliche Form gibt: Der Gott bildete den Menschen nach seinem Bilde, er gab ihm die Gestalt der Götter. - Die Geister der Form sind es, die ihm die menschliche Gestalt, das heißt die göttliche Form gaben. Die Elohim strömen im Lichte die Sonnen-kraft auf die Erde nieder. Der Jehovagott hat verzichtet auf das äußere Kleid, auf die äußere Gestalt des Lichtes; als ein finsterer Gott strömt er auf die Erde ein, indem er sich beschränkt auf die Zeit zwischen Geburt und Tod. Durch die Luft, welche das Licht durchdringt, gesel­len sich zu ihm die Geister der Luft. So daß, wenn wir uns ein Bild

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machen wollen von dem, was geistig und physisch von der Sonne auf die Erde strömt, wir sehen, wie die Sonnenstrahlen aufgefangen wer­den von der Erde und an den Menschen herankommen, und wie diese Strahlen auch das mitbringen, was vom Jehovageiste uns zuströmt:

da kommt dasjenige hinzu, was in der Luft als Geistiges lebt. Und auf diesen Augenblick, wo Jehova seine Kraftwesenheit, ein Stück dem Je­hovagottheit einströmen läßt in den Menschen, darauf wird hingewie­sen mit den Worten der Bibel: «Und Jehova strömte dem Menschen den lebendigen Odem ein, und er ward eine lebendige Seele.»

Wir müssen uns klarmachen, daß wir solche Worte ganz wörtlich nehmen müssen, daß wir lesen müssen, was wirklich darinnen steht. Und Schauer der Ehrfurcht durchdringen uns, wenn wir anfangen, ein solches Wort zu verstehen; wenn wir begreifen den Sinn dieses Aus­spruches, der uns verkündet, daß, nachdem auf dem Saturn, der Sonne und dem Monde die Throne, die Geister der Weisheit und die Geister der Bewegung ihre Wesenheiten eingegossen haben in den Menschen, nun auf der Erde auch die Geister der Form gleichsam hineingefahren sind in ihn. Dieser große, gewaltige Moment ist es, der in dem biblischen Worte ausgedrückt ist.

Und nun werden wir weiter sehen, wie diese Elohim und Jehova zusammenwirkten mit den luziferischen Wesenheiten durch die atlan­tische Periode bis in unsere Zeit hinein.

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SECHSTER VORTRAG Stuttgart, 10. August 1908

Die Natur unseres Themas bringt es mit sich, daß wir in einer ganz eigenartigen Weise vorgehen, daß wir uns sozusagen im Kreise unse­rem Ziel nähern, daß wir vom Umfange aus immer engere Kreise zie­hen, um dasjenige zu erreichen, was wir erreichen wollen. Daher kann es anfangs scheinen, als ob eine innere Systematik unseren Betrachtun­gen fehlte. Aber gerade dadurch, daß wir uns so allmählich von außen dem Inneren nähern, werden wir zu einem richtigen Verständnis der Sache vordringen.

Wir haben vorgestern unsere Betrachtungen so weit geführt, daß uns die Geister der Form, die Exusiai, oder wie man sie in der christlichen Esoterik nennt, die Gewalten, als die eigentlichen Regenten des mensch­lichen Erdendaseins entgegengetreten sind. Das ist das Innere der Sache, daß im Laufe unserer Erdenentwickelung in das Materielle und auch in das Seelische herein diese Geister wirkten, die auf einer so erhabenen Stufe stehen, daß sie in einem gewissen Zeitpunkt die Erde nicht mehr zu ihrem eigenen Schauplatz brauchen konnten. Wir haben gesehen, wie sie die feinsten Kräfte und Substanzen aus der Erde herauszogen und unsere Sonne zum Schauplatz ihrer eigenen Entwickelung mach­ten. Und ferner haben wir betrachtet, wie einer der größten Geister sich aus diesem Reiche abgespalten hat von seinen Sonnengenossen und sich ganz hingeopfert hat. Es ist dies dieselbe Gestalt, die von da an mit den Mondkräften verbunden blieb, und die in der biblischen Ur­kunde als Jehova bezeichnet wird. Wir haben uns also vorzustellen, daß die ganze Zeit über, als die Sonne noch mit der Erde verbunden war, hohe, erhabene Geister auch mit dem Erdendasein verbunden waren; daß dann die erhabensten Geister sich absonderten und daß einer der Genossen dieser erhabenen Gewalten zurückblieb, verbun­den blieb mit der Erde bis zu dem nächsten großen kosmischen Ereig­nis, bis zu der Abspaltung des Mondes von der Erde. Und seit jener Zeit ist in den von außen wirkenden Mondkräften enthalten, was wir den Ausfluß, die Arbeit des Jehova nennen. So wirkten also auf unsere

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Erde von außen herein auf der einen Seite die hohen Sonnengeister und auf der anderen Seite Jehova mit seiner Schar, mit den ihm dienenden Geistern, und in ihrem Zusammenwirken regelten sie nunmehr die Er­denentwickelung der Menschheit, die wir jetzt näher ins Auge fassen müssen.

Was heißt das: Die Geister der Form sind die eigentlichen Regen­ten des Erdendaseins? Waren denn diese Geister der Form nicht auch schon in den früheren Entwickelungsstufen unseres Planeten tätig? Während der Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit? Ja, wohl waren sie auch schon früher tätig, aber sie hatten ein anderes Wirkungsfeld als auf der Erde. Wir werden das begreifen, wenn wir einfach die uns schon vor Augen getretenen Tatsachen in Erwägung ziehen. Auf dem Saturn war ja nur die erste Anlage zum physischen Leibe vorhanden, da war noch nicht eingeströmt der Ätherleib und nicht der Astralleib. Freilich wirkten damals schon diese Geister der Form, deren einer Jehova ist; aber, wenn wir uns trivial ausdrücken dürfen, sie hatten da für ihre Wirksamkeit nicht einen so vorbereiteten Boden. Erst dadurch, daß auf der Sonne die Geister der Weisheit den Atherleib und auf dem Monde die Geister der Bewegung den Astralleib verliehen, fanden jene Wesenheiten, die wir die Gewalten nennen, ein zubereitetes Menschenwesen. Denn erst einem Menschenwesen, das schon physischen, Äther- und Astralleib in sich hatte, konnten sie dasjenige geben, was wir heute als die menschliche Form kennen. Auf keiner früheren Entwickelungs­phase war diese Form, wie Sie sie heute an sich selbst beobachten kön­nen, vorhanden; vorbereitende Stadien waren es, die auf dem Monde, der Sonne und dem Saturn vorhanden waren, und alles mußte erst eine gewisse Entwickelung erfahren, ehe der Mensch zu der edlen Men­schenform emporgehoben werden konnte. Wenn wir fragen, weshalb die Geister der Form nicht auf dem Saturn eingreifen konnten, so müs­sen wir erwidern: weil die dort ausgebildeten Keimanlagen des physi­schen Leibes sozusagen noch zu jung waren; ein gewisser Reifezustand mußte erst eintreten. Und dieser Reifezustand trat erst ein, als unsere Erde vor jener Entwickelung stand, von der ich Ihnen gesprochen habe, indem ich Ihnen schilderte, wie die Erde mit der Sonne zusammen eine Art feinen substantiellen Weltenkörper bildete und dann weiter in

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ihrer Entwickelung fortschritt. Da waren schon die Geister der Form tätig und bearbeiteten langsam und allmählich den Menschenleib, bis er endlich die menschliche Form erlangen konnte.

Wir können auf einen Zeitpunkt hindeuten, wo diese Formgebung des Menschen einen gewissen Abschluß gefunden hat, wo sozusagen die menschliche Form in der Hauptsache fertig war. In der ersten Zeit der atlantischen Periode war das noch nicht der Fall. Wenn wir bis in die erste Zeit hinter der gewaltigen Katastrophe zurückgehen, die die alte Atlantis weggeräumt hat, so finden wir unsere Vorfahren in einem Zustand, der von unserem heutigen sehr verschieden ist. Erst in der Mitte der atlantischen Zeitepoche ungefähr gelangen wir an den Zeit­punkt, wo der Mensch in der Hauptsache seine Menschengestalt er­halten hat, wie wir sie heute kennen. Vorher war der Mensch durch­aus nicht in einer solchen Weise fest wie nachher, sondern sein ganzer materieller Inhalt, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, war weicher. In der ersten atlantischen Zeit finden wir den Menschen aus weicher Materie bestehend, die noch nichts von der heutigen Knochenhärte hatte, ja nicht einmal so fest wie Knorpel war. Der Mensch schwamm sozusa­gen noch herum in der noch ganz von dichten Wassern angefüllten und durchsetzten Luft, er war eine Art von Wasserwesen, in der Art, wie es heute gewisse Tiere gibt, die man kaum vom Wasser unterscheiden kann. Veranlagt war auch schon damals in den Kräften der Knochenbau, aber er war noch nicht verhärtet. Das ist die Zeit, in welcher auch noch ein ganz anderer Zusammenhang zwischen den höheren und den niederen Gliedern des Menschenwesens bestand. Erinnern wir uns noch einmal daran, daß heute, wenn der Mensch schläft, er seinen physi­schen und seinen Ätherleib im Bette liegen läßt, während der Astralleib und das Ich draußen sind. Da heute der Ätherleib annähernd in Form und Größe dem physischen gleicht, so iSt der Mensch, wenn er sich mit seinem Astralleib aus dem physischen Leibe begibt, auch sehr bald aus dem Ätherleibe heraus. So war das nicht in der ersten atlan­tischen Zeit. Da ragte der Ätherleib nach allen Seiten, namentlich am Kopfe, über den physischen Leib heraus. Dieses Herausragen hatte zur Folge, daß der Astralleib, wenn er schon aus dem physischen Leibe herausgetreten war, immer noch mit dem Ätherleibe verbunden blieb.

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Wenn beim heutigen Menschen der Astralleib heraustritt, so hat er in demselben Augenblick, wo er den physischen Leib verlassen hat, auch den Ätherleib verlassen. Und die Folge dieser Verbindung des Astralleibes mit dem Ätherleibe, die früher noch andauerte, wenn der phy­sische Leib schon verlassen war, bestand darin, daß der Mensch in der Nacht nicht eine solche Finsternis und Bewußtlosigkeit um und in sich hatte, wie es heute der Fall ist. Dann, wenn er aus seinem physi­schen Leibe heraus war, konnte er in einem dämmerhaften Hellsehen seelisch-geistige Wesenheiten wahrnehmen. Es ist so, daß, wenn Sie sich vorstellen, daß Sie einschlafen und Ihr Astralleib aus dem physischen Leibe heraustritt, daß dann Ihr Blick sich ablenkt von der physischen Welt, dafür aber Ihnen eine Welt entgegentritt, die mit seelisch-geisti­gen Wesenheiten bevölkert ist. Ein solcher Mensch aber konnte keinen festen physischen Leib brauchen, ein festes Knochensystem konnte er nicht brauchen; denn dadurch, daß der physische Leib weich war, war er auch beweglicher.

Und da kommen wir an etwas, was für das hellseherische Bewußt­sein durchaus einmal vorhanden war, so sehr es für das heutige mate­rialistische Bewußtsein auch ein Greuel sein mag: In der ersten atlan­tischen Zeit hatte der Mensch eine große Gewalt über die Gestalt seines Leibes. Denken Sie sich, der Mensch damals wollte, daß ein Glied, das später zur Hand wurde - grob ausgedrückt -, anders ausschauen sollte, daß es zum Beispiel sich verlängern sollte; dann konnte er es in der Tat elastisch verlängern, er konnte alle seine Glieder nicht nur bewegen, sondern auch elastisch dehnen, er konnte sich sozusagen aufblasen. Das war damals durchaus möglich, so sehr es auch dem heutigen materiali­stisch denkenden Menschen widerstrebt; er konnte die Finger weithin ausstrecken, verlängern; und besonders stark war das der Fall, wenn wir noch weiter zurückgehen, in das lemurische Zeitalter. Und jetzt werden Sie sehen, wie sich zwei Dinge zusammenschließen. Wann hat der Mensch die Fähigkeit verloren, seine Glieder auszustrecken, zu dehnen und wieder zusammenzuziehen? Als die Geister der Form fer­tig geworden waren mit der Ausarbeitung der Formen. Solange der Mensch die physische Form, die ihm bleiben sollte, noch nicht völlig erhalten hatte, so lange konnte er, beherrscht von anderen Geistern,

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seine Gestalt noch verändern. Gehen wir also in Zeiten zurück, die hinter der atlantischen Epoche liegen, so finden wir, daß die Gestalt des Menschen noch nicht abgeschlossen ist, daß der Mensch eine sich immer metamorphosierende Gestalt hat. Und wir müssen uns darüber klar sein, daß dann einmal ein Zeitpunkt gekommen ist, wo die Geister der Form fertig abgeschlossen hatten alles das, was sie zunächst zu tun hatten, um die menschliche Form ihrer eigenen Form gleich zu ge­stalten; denn sie gossen ja ihre eigene Gestalt hinein.

Nehmen wir nun an, und wir werden sehen, durch welche Ereig­nisse so etwas bewirkt worden ist, irgendwelche Menschenwesen hätten sozusagen nicht warten können bis zu diesem Zeitpunkt, wo die Geister der Form mit ihrer Arbeit fertig waren, dann wären diese Wesen auf irgendeiner früheren Stufe erstarrt, sie wären gewissermaßen in der Form verknöchert; sie hätten eine frühere Gestalt festgehalten. Darauf aber kam es gerade an, daß dieses Wesen, das ein Mensch wer­den sollte, seine Form und Gestalt so lange beweglich erhielt, bis der normale Zeitpunkt für die feste Form eintreten konnte. Nehmen wir einen Zeitpunkt kurz zuvor - in Wirklichkeit liegt er allerdings weit zurück, denn es handelt sich da um lange Zeiträume. Da war das äußere Wesen des Menschen so, daß es immer noch die Kräfte brauchte, die es bearbeiteten, die es umarbeiteten, veredelten. Nehmen wir nun einmal an, durch Ereignisse, die wir später noch kennenlernen werden, hätten sich gewisse Menschenwesen losgelöst von den fort und fort wirkenden Formkräften, sie wären herausgefallen, so daß sie nicht mehr ganz von den formenden Kräften durchdrungen gewesen wären wie früher: dann wären diese Menschenwesen auf einer früheren Stufe stehengeblieben. Das ist nun in der Tat geschehen, und in diesen We­sen, die sich zu früh losgelöst haben, die uns zwar am nächsten stehen, die aber nicht lange genug auf sich wirken ließen die Geister der Form, in diesen Wesen haben wir die Affen. Sie konnten nicht warten, sie blieben nicht lange genug in dem Schoße der göttlichen Wesenheiten, die wir die Geister der Form nennen. Und das, was wir jetzt für die Affen geschildert haben, das trat immer wieder während des Erden­daseins für irgendwelche Wesenheiten ein; immer wieder blieben We­senheiten zurück und erstarrten.

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Da haben Sie die ganze Reihe der heutigen Tiere. Wenn Sie aber fragen: Stammt irgendein menschliches Wesen von solchen Tierfor­men? - so ist die Antwort: Nein! - Der Mensch blieb sozusagen über dem Boden der Erdoberfläche in den reinen Elementen und verdich­tete sich erst, als es für ihn Zeit war. Diesen Zeitpunkt, wo der Mensch aus reinen geistigen Höhen, ohne die irdische Verdichtung zu haben, heruntergestiegen ist auf die Erde, hält die biblische Urkunde sehr schön in der Paradiesessage fest. Das Paradies liegt trotz aller For­schung gar nicht auf dem Erdboden, sondern im Umkreise der Erde. Der Mensch stieg erst später von dem Paradies auf die Erde nieder, nachdem er seine abgeschlossene Form erhalten hatte.

Nun aber machen wir uns klar, was jetzt hätte geschehen sollen in der Mitte der atlantischen Zeit, damals als diese Geister der Form fertig waren mit der Ausbildung des physischen Leibes. In diesem Zeit­punkte hätte der Mensch mit seinen Sinnen, die ja dann auch fertig geworden waren, hinausblicken müssen in die Umgebung und hätte zuerst leben müssen mit seiner äußeren physischen Umgebung. Vorher war ja alles in der physischen Umgebung in unklaren Konturen vor­handen gewesen. Da erst wäre der Zeitpunkt gekommen, wo der Mensch mit der äußeren Welt sozusagen in normaler Weise in Bezie­hung hätte treten sollen. Dann würde in diesem Zeitpunkte der Mensch sich unterscheiden gelernt haben von seiner Umgebung, und er würde gelernt haben, Ich zu sich zu sagen, denn man kann nur dann zu sich Ich sagen, wenn man sich von den anderen Dingen unterscheiden kann. Das würde der Mensch in diesem Zeitpunkte gelernt haben. In dieser Zeit würde er einen solchen physischen Leib gehabt haben, den er ei­nen entsprechenden Träger seines Ichs hätte nennen können.

Wir haben aber schon erwähnt, wie auf allen Stufen der Weltent­wickelung gewisse Wesenheiten zurückgeblieben sind. Nicht alle We­senheiten haben jene Stufe erlangt, daß sie in der eben beschriebenen Weise hätten wirken können, auch nicht alle Wesenheiten, die wir die Geister der Form oder Gewalten genannt haben. Und gerade die zu­rückgebliebenen Wesenheiten sind es, die für die menschliche Entwicke­lung auf der Erde ganz wesentlich in Betracht kommen.

Wir haben ja schon betrachtet, daß es außer den erhabenen Wesenheiten,

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die von der Sonne und dem Monde aus wirken, noch andere gibt, die auf einer Zwischenstufe stehen, auf einer Stufe zwischen den Menschen und den hohen Sonnen- und Mondgeistern, und die zu ihrem Schauplatz den Merkur und die Venus haben, jene Weltkörper, die zwischen Sonne und Erde eingestreut sind. So wie nun die Sonnengei­ster die normale Entwickelung erlangt hatten und genau den Zeitpunkt trafen, in dem sie in der richtigen Weise wirken konnten, so fanden diejenigen Wesen, die zwischen der Erde und den Sonnengeistern stan­den, diesen Zeitpunkt nicht in derselben Weise, und weil sie nicht in der normalen Entwickelung waren, griffen sie zu einer anderen Zeit ein. Und jetzt wollen wir einmal betrachten, was dadurch entstanden ist.

Wir betrachten die Menschenentwickelung noch einmal so, wie sie verlaufen ist. Stellen wir uns wieder den physischen, den Äther-, den Astralleib und das Ich vor. Nun wissen wir ja, daß das Ich dazu be­rufen ist, die anderen Glieder der menschlichen Wesenheit umzugestal­ten, daß es damit beginnen muß, nach und nach den astralischen Leib in seine Gewalt und Herrschaft zu bekommen; das heißt nichts an­deres, als daß der Mensch seine Leidenschaften und Triebe beherrscht. So war also der Zeitpunkt gekommen, wo das Ich so in normaler Weise im Menschen auftreten sollte, wo es am astralischen Leibe arbeiten sollte; nach und nach sollte der astralische Leib umgewandelt, sollte das Geistselbst ausgebildet werden. Als die erhabenen Gewalten in der Mitte der atlantischen Zeit eingriffen, war die erste Möglichkeit zu einer solchen Umwandlung gegeben. Jetzt werden wir verstehen, welch eine merkwürdige Aufgabe sich die zurückgebliebenen Wesenheiten stellen mußten. Sie waren nicht so weit, daß sie den Menschen bei der Ausarbeitung seines Geistselbst unterstützen konnten. Die Folge davon war, daß sie auf seinen noch nicht bis zum Ich vorgedrungenen Astralleib wirkten. Und sie wirkten auch schon vorher. Wir haben also in der Erdenmenschheitsentwickelung einen gewissen Zeitraum, wo der Astralleib, der sich noch nicht bis zum Ich heraufgestaltet hat, von diesen zurückgebliebenen geistigen Wesenheiten bearbeitet wird. Sie werden das noch besser verstehen, wenn Sie sich daran erinnern, daß der Mensch auf dem Monde physischen, Äther- und Astralleib hatte, und daß die Gewalten damals normalerweise auf den Astralleib eingewirkt

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haben. Diejenigen nun, die sich normal weiterentwickelt hat­ten, die wirkten jetzt auf das Ich, die anderen aber, die zurückgeblie­ben waren, wirkten nach ihrer alten Mondgewohnheit weiter auf den Astralleib. Ehe also der Mensch sein Ich ausgebildet hatte, wirkten diese zurückgebliebenen, aber hoch über den Menschen erhabenen We­senheiten auf seinen Astralleib. Wir nennen sie nach ihrem Hauptre­präsentanten, nach ihrem Anführer die luziferischen Wesenheiten. Zwei Gattungen von Wesenheiten wirkten also auf den Menschen ein: jene normal wirkenden Geister, von denen wir das vorige Mal ge­sprochen haben, und diese luziferischen Wesenheiten, die es sozusagen nicht bis zu einem Wirken auf das Ich gebracht hatten, und die den menschlichen Astralleib vorher schon bearbeiteten. Und dadurch hiel­ten diese letzteren auch den Menschen in seiner Entwickelung zurück. Hätten solche Wesen nicht auf den Menschen eingewirkt, dann wäre er in der Mitte der atlantischen Zeit so weit gewesen, daß die erhabe­nen Gewalten auf sein Ich eingewirkt hätten.

Nun können wir fragen: Ist das, was diese zurückgebliebenen Gei­ster an dem Menschen getan haben, gegenüber dem, was die erhabe­nen Gewalten an ihm taten, im trivialen Sinne als etwas Schlechtes zu bezeichnen? Nein, durchaus nicht. Wenn wir uns die Tatsache vor­halten, die der hellseherische Blick prüfen kann, dann finden wir, daß sie in Wirklichkeit sogar die Entwickelung des Menschen beschleunigt haben. Der Mensch hätte mit der Ausbildung gewisser Fähigkeiten bis zum allerletzten Zeitpunkt warten müssen, während er sie dadurch früher erlangt hat. So erhielt der Mensch durch die luziferischen We­senheiten vor der Zeit, die ihm zugedacht war, gewisse geistige Fä­higkeiten und wurde so auf eine gewisse geistige Stufe hinaufgeho­ben. Das ist nichts Schlimmes, sondern so sonderbar es auch erschei­nen mag, sogar etwas, was im höheren Sinne eine unendlich weise Füh­rung in der Fortentwickelung der Menschheit bedeutet. Denn dadurch, daß der Mensch auf einer niedrigen Stufe gewisse Fähigkeiten erlangt hat, die ihm sonst erst in der Mitte der atlantischen Zeit zugedacht waren, trat er diesen Fähigkeiten in einer ganz anderen, selbstbewuß­ten, freien Weise entgegen. Der Mensch wäre bis zur Mitte der atlan­tischen Zeit am Gängelbande geführt worden, wenn diese zurückgebliebenen

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Wesenheiten nicht eingegriffen hätten. Wie müssen wir da­her ihr Zurückbleiben auffassen? Bei oberflächlichem Denken könnte man es leicht so auffassen, als ob sie zurückgeblieben wären, wie der Schüler im Gymnasium sitzen bleibt. Aber jene Geister sind nicht zu­rückgeblieben wegen ihrer Trägheit, sondern der Grund ihres Zurück­bleibens war Opferwilligkeit. Um dem Menschen die Möglichkeit zu geben, die Gabe der Geister der Form in einer höheren, freien Weise zu empfangen, opferten sie sich. Wir haben einen langen Zeitraum menschlicher Entwickelung, wo der Mensch durch diese luziferischen Wesenheiten die Anfänge erhalten hat von Sprache, von Denken, na­mentlich von denkerischem Gedächtnis, wo er die Keimanlage zu Kunst und Wissenschaft erhalten hat. Alles das würde er, da er nur eine instinktive Tätigkeit sonst gehabt hätte, vorher nicht erlangt ha­ben. Allerdings wurde dadurch auch etwas anderes, das sonst durch die Leitung der Geister der Form unabhängig von dem Menschen gewesen wäre, nun in seine Macht, in seine Gewalt gegeben: der Mensch wurde ausgesetzt dem Guten und dem Bösen; abzuirren vom rechten Wege, dem wurde er dadurch ausgesetzt. Ohne das Eingreifen der luziferi­schen Wesenheiten wäre er nie dem Guten und Bösen ausgesetzt wor­den, aber es wäre auch um seine Freiheit geschehen gewesen. Dadurch, daß diese Wesenheiten ein Stück der Entwickelung in eine Vorzeit hinaufgerückt haben, dadurch haben sie dem Menschen die Freiheit gegeben. Wir alle tragen in uns den Samen der Wirksamkeit dieser lu­ziferischen Geister.

Wir müssen also sagen: In der Mitte der atlantischen Zeit sind die Geister der Form heruntergestiegen, jene Geister, die ihre Entwickelung so weit vollendet hatten, daß sie dem Menschen abgeben konnten das, was sie selbst hatten: in dieser Zeit erst würde der Mensch seine völlige Keimanlage zum Ich erreicht haben, wenn nur sie tätig gewesen wären. Nun aber sind von einem früheren Zeitpunkt an die luziferischen We­senheiten tätig gewesen, sie haben die Entwickelung um ein bedeutsames Stück beschleunigt - nach der einen Seite herauf, nach der anderen her­unter. Dadurch ist etwas anderes, Wichtiges eingetreten. Hätte sich der Fortschritt ohne die luziferischen Wesenheiten vollzogen, dann hätte der Mensch in der Mitte der atlantischen Zeit einen gewissen Zustand,

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aber ohne die Möglichkeit der Freiheit erlangt. Ohne sein Verdienst wäre er reif geworden, die Gabe der Geister der Form zu empfangen. Da nun die luziferischen Wesenheiten ihn früher reif gemacht, war nach der anderen Richtung hin eine gewisse Verschlechterung eingetre­ten, und dadurch konnten in diesem Zeitpunkte nicht alle Kräfte der Geister der Form, nicht alle höheren Sonnengewalten auf ihn einwir­ken. Das schließt ein Wichtiges in sich. Wäre der Mensch ohne Freiheit, daher auch ohne sein Verdienst, bloß wie durch einen geistigen, höheren Instinkt in der Mitte der atlantischen Zeit angekommen, er hätte die Reife gehabt, daß schon damals jenes Prinzip auf die Erde heruntergestiegen wäre, das wir das Christus-Prinzip nennen: dann wäre der Christus schon damals erschienen. So aber war die Freiheit des Men­schen gegeben, der Mensch dadurch unter seine instinktive, normale Entwickelungsstufe heruntergedrängt worden, und die Folge war, daß er jetzt erst durch sich selber heranreifen mußte: so daß er also das Christus-Prinzip um dieselbe Zeit später empfangen konnte, als vorher die luziferischen Wesen eingegriffen hatten. Wir müssen uns klar sein darüber, daß das Herabsteigen und Wirken des Christus durch das Eingreifen der luziferischen Wesenheiten verzögert worden ist. Da­durch aber waren auch die Menschen in einer reiferen Form, als der Christus niederstieg.

So sehen wir, daß diese Wesenheiten es sind, die den Menschen zu dem gemacht haben, was er heute ist, die ihn vorbereitet haben auf den großen Zeitpunkt des Niederstieges des Christus-Prinzips. Sie haben sich gleichsam gesagt: Lassen wir den Menschen so, daß er in die atlan­tische Zeit nur instinktiv hineinlebt, dann empfängt er auch das Chri­stus-Prinzip instinktiv, dann ist er nicht frei, nicht in Freiheit reif. Wir opfern uns und bilden in ihm gewisse Fähigkeiten aus, gewisse Eigenschaften, und verzögern den Zeitpunkt, wo er des Christus an­sichtig werden kann. - Genau ebenso lange vor der Mitte der atlan­tischen Zeit haben die luziferischen Wesenheiten ihr Wirken begonnen, als nach diesem Zeitpunkte der Christus erschienen ist.

Wenn wir nun fragen: Was war der Anteil derjenigen Gewalten, die der Mensch schon hat empfangen können in der Mitte der atlantischen Zeit? - so müssen wir antworten: Es war etwas, was nur von außen

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herantreten konnte an den Menschen, wobei er noch nicht mit seiner eigenen Seele sein konnte. Deshalb war alles, was von den Gewalten, die schon früher wirken konnten, an den Menschen herankam, so, daß es nicht aus dem innersten Wesen des Menschen herausfloß: er folgte einem Äußeren, er gehorchte Gesetzen. Geradeso wie auch das Tier seinen Gesetzen, die ihm eingepflanzt sind, folgen muß, ganz instinktiv, so gab Jehova den Menschen Gesetze. Das Gesetz gab er ihnen, das dann auch äußerlich realisiert wurde durch Moses und die Propheten. Mittlerweile aber reiften sie heran, um in sich selbst den Antrieb und Impuls zu dem zu empfangen, was sie tun sollten. Und so sehen wir, daß ohne das Zutun der Menschen ihre Ordnung auf der Erde vor-bereitet wird durch die Gewalten. Wo wirken sie denn, diese Gewal­ten? Sie wirken vorzugsweise da, wo, trivial ausgedrückt, das Blut re­det: in der Fortpflanzung und in all dem, was damit zusammenhängt. Da haben wir in der alten Zeit Götter und Volksgeister, wir haben Gruppengeister, und innerhalb der Gruppen schaffen sie durch die Gesetzesordnung. Da liebt sich, was blutsverwandt ist, und es liebt sich, indem die Liebe durch Naturgesetze eingepflanzt ist. Und je weiter wir zurückgehen, desto mehr finden wir, daß sich alles das als zu­sammengehörig betrachtet, daß alles das sich liebt, was die Liebe durch Naturgesetze, durch äußere Formkräfte eingepflanzt bekommen hät. Das Jehovaprinzip wirkte in dem gleichen Blut, daher das Zusammen­gehören. Da lebte und schaffte Jehova durch diese Verwandtschaft, die mit dem Blute zusammenhängt, Ordnung und Harmonie. Und die­jenigen, die ihm entgegenwirkten, die ihre stärksten Angriffe gegen das Prinzip der Blutsverwandtschaft richteten, das waren die luzi­ferischen Wesenheiten. Sie wollen immer den Menschen auf den Mit­telpunkt seiner eigenen Persönlichkeit stellen, sie wollen ihn heraus­reißen aus seiner Blutsverwandtschaft bis zu der Zeit, wo Christus kommt und ihn ganz auf die Spitze seiner Persönlichkeit stellt, indem er seine innerste Kraft gibt, die Weisheit und Gnade zu dem innersten Impuls seines Wesens macht. Und das haben zubereitet lange, lange Zeiten hindurch die luziferischen Wesenheiten. Reif ist der Mensch ge­worden für das, was diese luziferischen Wesenheiten wollten, erst als Christus niedergestiegen ist. Die Bekenner solcher Anschauungen wußten

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wohl, was sie sagten, wenn sie den Ausspruch taten: Christus verus Luciferus, Christus ist der wahre Luzifer. - Das ist ein esoterischer Ausspruch.

Und so sehen wir, daß in der Tat immerfort zwei Prinzipien wir­ken in jener alten Zeit, die wir die vorchristliche nennen: immer ein durch Blutsverwandtschaft bindendes Prinzip und ein trennendes, das den Menschen auf die Spitze seiner eigenen Persönlichkeit stellen will. Und wir können nun sehen, wie die ganze Menschheit ausgestaltet wird unter dem Einfluß dieser beiden Prinzipien.

Denken wir uns ein gewisses atlantisches Menschenstadium, wo der Mensch schon entgegengeht seiner späteren Verhärtung in den Kno­chenleib hinein. Ich muß mich hier populär ausdrücken. Es mußte nun wiederum von seiten der leitenden Geister achtgegeben werden, daß die Knochen nicht zu schnell verhärteten. Es mußte in der atlantischen Entwickelung das Knochensystem während einer gewissen Zeit genü­gend weich bleiben, so daß es umgestaltet werden konnte. Aber wir wissen, auf allen Stufen blieben Wesenheiten zurück. So blieben ziem­lich spät dadurch Menschheitsgruppen zurück, daß sich das Knochen­system zu früh verhärtete. Da arbeiteten die Prinzipien so, daß das Formprinzip einen starken Sieg davontrug, indem es eine Gruppe von Menschen in der Form erhielt, in der sie war. Was mußte die Folge da­von sein? Man kann wohl auf der Erde etwas verhärten, zurückhalten, aber die ganze Erdenentwickelung geht darüber hinweg, so daß, was so künstlich zurückgehalten wird, dann später Zeiten antrifft, zu denen es nicht mehr paßt. Es kamen Zeiten, wo die Luft sich mehr vom Was­ser gereinigt hatte, wo die klimatischen Verhältnisse anders geworden waren, da paßte das Stehengebliebene nicht mehr hinein. Solche Grup­pen von Menschen, bei denen das Knochensystem sozusagen zuviel ab­gekriegt hatte, blieben dann als degenerierte Menschenrasse zurück. Sie konnten sich nicht mehr hineinfinden in die Verhältnisse der nachat­lantischen Zeit; und die letzten Überbleibsel davon sind die amerika­nischen Indianer. Sie waren degeneriert. - Und auch solche sind zu­rückgeblieben, bei denen nicht nur das Knochensystem zu früh ver­härtet ist, sondern auch das System, das der Ernährung zugrunde liegt, das von den Kräften des Ätherleibes beherrscht wird, während das

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Knochensystem von den Kräften des physischen Leibes beherrscht wird. Die letzten Überbleibsel derjenigen Menschengruppe, bei denen das Ernährungssystem verhärtet ist, bilden heute die schwarze Rasse. Und dann gibt es solche Menschen, die dadurch degeneriert sind, daß das Nervensystem auf zu früher Stufe verhärtet ist und nicht lange genug weich blieb, um zu einem höheren Gedankenwerkzeug tauglich zu werden, davon sind die letzten Überbleibsel die malayische Rasse. Daher finden Sie bei ihnen gewisse Triebe und Instinkte, gewisse Nei­gungen zu sinnlichen Instinkten. Und endlich haben wir solche Men­schen, bei denen auf einer gewissen Stufe das Ich im Blute, im äußeren Ausdruck des Ichs, verhärtet ist, wenn wir so sagen dürfen. Diese Men­schen, die - symbolisch ausgedrückt - so im Blute verhärtet sind, haben ihre letzten Ausläufer in den Völkern der mongolischen Rasse. Dieje­nigen Menschen aber, welche die eben genannten Elemente so weich erhielten, daß sie nicht bei irgendeiner Verhärtungsform stehen blie­ben, sondern sich immer weiter fortentwickeln konnten, so daß sie über das geschlossene Ich sogar noch hinauskamen, diese Menschengruppe ging von einem Punkt der Erdenentwickelung, auf den wir schon hingedeutet haben, im Atlantischen Ozean, in der Nähe des heutigen Ir­land, hinüber in diejenigen Gegenden, die das heutige Europa und Asien bilden.

Und wir finden folgende merkwürdige Tatsache: wir finden, daß vom atlantischen Kontinent aus förmliche Auswanderungszüge gehen. Und wir werden dies jetzt genauer betrachten, als das früher in anderen Zusammenhängen geschehen ist. Diese Züge bestanden aus solchen Menschen, welche im Knochensystem verhärtet waren und deren letzte Nachzügler bei der Entdeckung des amerikanischen Kontinents ange­troffen wurden. Dann gab es Gruppen, welche nach Afrika, andere, die nach Asien gingen. Letztere waren diejenigen, die wir als die mon­golische Rasse bezeichnet haben. Die am letzten auswanderten, das waren diejenigen Menschen, die in der Nähe des heutigen Irland wohn­ten, und die sich am längsten schmiegsam erhalten hatten, die sich so-zusagen am längsten im Paradiese erhalten hatten. Sie wanderten vom Westen nach dem Osten und ließen überall auf dem ganzen Umfange des europäischen Kontinents gewisse Völkerschaften zurück. Die Fortgeschrittensten

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wanderten nach Asien und vermischten sich dort auf mannigfache Weise mit denen, die auf anderen Wegen hinübergekom­men waren.

Und nun denken wir uns einmal eine gar nicht so weit zurücklie­gende Zeit, als noch ein gewisses, allerdings sehr dumpfes Helisehen vorhanden war, und die Eingeweihten noch einen großen Einfluß be­saßen. Wenn da unter den Menschen ein Bewußtsein dieser Verhält­nisse vorhanden war, wie mußte sich das äußern? Nehmen wir an, im alten Griechenland drüben fanden sie Völkerschaften vor, welche sich vor ihnen verhärtet hatten; dann fanden sie da unten noch eine andere Rasse, durch Mischung entstanden, die sich in einem noch früheren Zustande verhärtet hatte: so war es nämlich in der Tat im griechischen Bewußtsein. Der Grieche, wenn er auf die Entwickelung bis zu sich selbst zurückschaute, sagte sich: Ich blicke nach Afrika, da finde ich in der ägyptischen Zeit schon vorgeschrittene Menschen, auf welche frühere Kulturepochen - die babylonische, chaldäische - schon gewirkt haben. Aber noch früher war auf diesem Boden eine Bevölkerung, un­ter der ein starkes Verhärtungselement war in bezug auf Eigenschaf­ten, die ins Niedere, in das Ernährungsprinzip hinuntergehen. Und eine andere Stufe hatte sich später gebildet, als sie auf die asiatischen Auswanderer gestoßen waren. Und zu denen kamen diejenigen, welche sich selbst am längsten schmiegsam erhalten hatten. Nun hat der Grieche in seinen plastischen Göttergestalten das idealisiert, was er über die Entwickelung des Menschen wußte und was er als ein Ergeb­nis der göttlich wirkenden Kräfte ansah. Er wußte, daß auf einer sehr frühen Stufe Menschenwesen sich verhärtet hatten, und daß andere sich die Weichheit und Schmiegsamkeit erhalten hatten. Dann sah er auf sich selbst; Er war zwar in bezug auf gewisse Dinge zurückgeblie­ben, aber er gehörte zu denen, die sich am längsten schmiegsam und bildsam erhalten hatten. Das alles sehen wir wunderbar hineingeheim­nißt in die griechische plastische Kunst. Wer sie mit tieferem Blick ver­folgt, der findet drei verschiedene Göttertypen:

1. den Zeustypus, zu dem der ganze Kreis der Götter gehört, die sich um Zeus gruppieren;

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2. einen Typus, der später dem Zeustypus angegliedert wurde, der aber im griechischen Bewußtsein in ganz anderer Form vorhanden war:

in der Form des Hermes oder Merkur. Sehen Sie sich die Haarbildung beim Zeustypus an und dagegen das geringelte, gekräuselte Haar des Merkur, ferner die Augenbildung und die Ohrenstellung, da sehen Sie bald, daß der Grieche etwas anderes damit ausdrücken wollte, wenn man das auch später so dargestellt hat, daß es dem Zeustypus ange­gliedert wurde;

3. den Fauntypus. Einer noch älteren Menschheit gehört dieser Typus an, und deutlich unterscheidet er sich von dem Merkurtypus.

Da haben wir, was der Grieche in seiner Art zum Ausdruck bringen wollte. Das, was im Süden von ihm war, das repräsentierte der Faun­typus. Was im Osten war, brachte er mit dem Hermestypus zusam­men, und was er selbst war, was man als seinen eigenen Typus be­zeichnen könnte, diejenige Rasse, die den arischen Stamm begründet hat, das brachte er in dem erhabenen idealen Zeustypus zum Ausdruck.

Wer sehen will, kann in allen Formen sehen, wie fein der Grieche das, was in der äußeren Form lebt, den inneren Gestaltungskräften angepaßt hat. Nur an einer Kleinigkeit möchte ich zeigen, wie fein die griechischen Künstler in ihrem Bestreben sind, die großen Weltanschau­ungen in der Kunstform zum Ausdruck zu bringen. Denken wir uns einmal jenen asiatischen Typus, der in der Hermesgestalt festgehalten ist: Dieser Typus, weil er bei den niederen menschlichen Kräften ste­hengeblieben ist, wirkt so, daß die Kräfte, die in Betracht kommen, die ihm die Form des Gesichts geben, sozusagen in niederen Regionen der menschlichen Wesenheit walten. Dagegen wirken diejenigen Kräfte, die dem Typus des Griechen selbst angehören, in höheren Regionen; das können Sie vor allen Dingen bei Zeus in der erhabenen Stirnbildung sehen.

Wir sehen, bis in die plastische Form hinein wirkte das eigentümliche Bewußtsein des Griechen, und wir begreifen, daß wir nur dann ver­stehen können, was im Laufe der Entwickelung geschaffen worden ist, wenn wir die wirkenden Kräfte verfolgen bis in die Art hinein, wie

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die Künstler die Augen gebildet haben. Nicht nur die feine Beobach­tung des griechischen Künstlers sehen wir hier, sondern wie er in der besonderen Ausbildung dessen, was er schuf, wie er in der äußeren Form verwirklicht hat, was die inneren Formkräfte gestaltet haben. Wir erkennen, wie sich in den einzelnen Gestalten der griechischen Kunst - in den Gestalten der Mythologie - die Rassenbildung erhal­ten hat, und wie in dieser Kunst, selbst bei Kleinigkeiten, wie beim Auge, die geistig wirkenden Kräfte in eigenartiger Weise festgehalten sind.

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SIEBENTER VORTRAG Stuttgart, 11. August 1908

Es ist uns gestern vors Auge getreten, wie eine Differenzierung, eine Ausbildung von Unterschieden dadurch in der Entwickelung im allge­meinen und insbesondere in der Menschheitsentwickelung eintritt, daß Menschenwesen und auch andere Wesenheiten sozusagen den rechten Zeitpunkt der Entwickelung nicht abwarten können, zurückbleiben in einer gewissen Verhärtung, und daß andere Wesen sich bis zu dem richtigen Zeitpunkt - wenn wir im groben Sinne sprechen wollen - ihre nötige Weichheit und Bildsamkeit erhalten und dadurch auch die entsprechende Umwandlung beginnen können. Wir haben auch den Zeitpunkt deutlich bezeichnet, wo die eigentliche menschliche Gestal­tung eingetreten ist. Das war in der Mitte der atlantischen Zeit, und wir haben darauf hingewiesen, wie in früherer Zeit, namentlich in sehr viel früherer Zeit, das, was der äußere Mensch war, große Beweglich­keit hatte. Wir haben darauf hingewiesen, wie er seine Glieder nicht nur bewegen, sondern durch innerliche Kräfte größer machen konnte und so weiter. Nun wird es für das gewöhnliche Gegenwartsbewußt­sein, wie auch schon gestern erwähnt, eine Art Greuel sein, wenn solche Dinge über die frühere Erde und Menschheit gesagt werden. Sie sehen ja auch, selbst hier im Kreise von Schülern der Geisteswissenschaft liegt den Vorträgen das Bestreben zugrunde, gewisse Wahrheiten sehr scho­nend, nach und nach, in kleinen Dosen zu entwickeln: sie sind dann besser zu verdauen.

Wir werden nun noch einmal zurückblicken auf diese frühere Ent­wickelung. Wir werden uns dabei erinnern, daß auch diejenige Zeit, die wir die atlantische nennen, einen gewissen Anfang genommen hat. Sie hat ihr Ende gefunden durch große, gewaltige Wasserkatastrophen sehr komplizierter Art; vorher hat durch lange Zeiträume hindurch - über Zahlen wird in den folgenden Stunden näheres gesagt werden können - die atlantische Entwickelung gedauert; und dann kommen wir zurück bis an den Anfang dieser Entwickelung, und wenn wir wei­ter zurückgehen, kommen wir zu anderen Katastrophen der Erdenentwickelung,

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die wir vulkanisch nennen können, wo Ländermassen zugrunde gingen, die südwärts vom heutigen Asien, ostwärts von Afrika und nordwärts von Australien lagen. Das waren Ländermassen, auf denen die Vormenschheit lebte, und die man nach einem der Natur­wissenschaft entlehnten Ausdruck den lemurischen Kontinent nennt. Aber die Menschheit war damals von ganz weicher, bildsamer Körper­lichkeit. Wir sind da in einer Zeit, wo der Mensch alle möglichen Ver­wandlungen annehmen kann. Sehr grotesk würden sich die Gestalten für ein heutiges Bewußtsein ausnehmen, wenn wir sie schildern würden. Wir sind dort hart an der Grenze, bevor überhaupt - und zwar früh­reif - eine Art von Persönlichkeits-, eine Art von Ich-Gefühl in den Menschen hineinkam. Dadurch, daß das Ich-Gefühl noch nicht darin­nen war, dadurch, daß die menschliche Gestalt noch so beweglich war und noch nicht ihren Abschluß gefunden hatte, war noch etwas ande­res der Fall. Diese Gestalt, die der Mensch jeweils äußerlich darbot und die veränderlich war - je nach seiner inneren Verfassung einmal so und ein anderes Mal anders -, diese äußerliche Gestalt wurde da­durch zu einer Art Verräter seines Inneren; je nachdem er gute oder schlechte Leidenschaften oder Gedanken hatte, formte sich seine äußere Gestalt. Man konnte damals durchaus nicht so im Verborgenen einen bösen Gedanken hegen, denn die äußerliche körperliche Form nahm sogleich den Ausdruck dafür an, und so erschien der Mensch in allen möglichen Gestalten. Es war die Zeit, in welcher noch wenige von den höheren Tierarten auf Erden waren, die Erde war von den niedrigen Tieren und den Menschen bevölkert.

So konnte man damals, wenn man ein Genosse der Menschen war, und wir waren es ja alle im Grunde genommen, seine Mitmenschen fin­den, indem sie diese oder jene Leidenschaft, diesen oder jenen Gedan­ken ausdrückten. Und alle diese Ausdrücke für diese oder jene Lei­denschaften und Gedanken, was sind sie denn eigentlich? Welches sind die physiognomischen Ausdrücke für diese menschlichen Leidenschaf­ten und Gedanken? Tiergestalten sind es. Wer heute unsere Tiergestal­ten betrachtet, der sieht in dem höheren Tierreich nichts anderes als alle möglichen Eigenschaften und Gedanken auseinandergelegt, wie in einen großen Teppich gewirkt.

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Alles, was heute in des Menschen Astralleib als Leidenschaft walten kann und verborgen bleibt, war damals noch eine so starke Kraft, daß sie dem weichen, eigentlich ja nur aus Feuernebel geformten Körper sogleich die Gestalt gab, die der Ausdruck dieser Leidenschaft war. Und ein großer Teil unserer heutigen höheren Tiere ist nichts anderes als solche Menschenwesenheiten, die sich so verstrickt haben in ihren Leidenschaften, daß sie sich verhärtet haben, daß sie stehengeblieben sind: dadurch sind die Tiere entstanden, daß sich die menschlichen Leidenschaften verhärtet haben, daß sie fest und starr geworden sind. Mit solchen Gefühlen ungefähr lebt derjenige Mensch, der mit wirk­lich okkulter Vernunft in seine Umgebung blickt. Er sagt sich: Im Laufe meiner Menschwerdung bin ich durchgegangen durch das, was mir heute entgegentritt in Löwen und Schlangen; in all diesen For­men habe ich gelebt, weil mein eigenes Inneres die Eigenschaften, die in diesen Tiergestalten ausgebildet sind, durchgemacht hat. Diejeni­gen Menschenwesen, die fähig geworden sind, über all das zu immer höheren Stufen emporzusteigen, die sich ihr inneres Zentrum bewahrt haben, haben einen Ausgleich gefunden, so daß in ihnen nur noch die Möglichkeiten zu diesen Leidenschaften liegen, daß diese Leidenschaf­ten nur ein Seelenwesen sind und keine äußere Gestalt annehmen. Das bedeutet die Höherentwickelung des Menschen. In den Tieren sehen wir unsere eigene Vergangenheit - allerdings nicht in derselben Ge­stalt, in denen die Tiere damals waren, denn seither sind Millionen von Jahren vergangen. Nehmen wir an, Leidenschaften, die Sie heute im Löwen finden, haben sich damals in der äußeren Form dieses Men­schen gezeigt, in der Löwengestalt; dann hat diese Gestalt sich ver­härtet, das Löwengeschlecht ist entstanden. Aber diese Löwenge­schlechter haben seither ja auch eine Entwickelung durchgemacht; des­halb ist der heutige Löwe nicht mehr in derselben Gestalt wie damals, er ist der Nachkomme eines vor langen Zeiten abgezweigten Ge­schlechts. In gewisser Beziehung sehen wir in den verschiedenen Tie­ren unsere degenerierten Nachkommen. So blicken wir mit Verständ­nis in die Welt, die um uns ist.

Nun dürfen wir uns aber nicht vorstellen, daß alle diese Tierge­stalten, die da um uns herum sind und gewisse Verhärtungszustände

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darstellen, deshalb schlimme menschliche Leidenschaften waren. Es waren notwendige Leidenschaften; der Mensch mußte durch sie hindurchgehen, damit er alles, was brauchbar war, aus ihnen aufnehmen konnte in seine heutige Wesenheit. So daß, wenn wir zurückblicken in jene Zeiten der Erdentwickelung, wir in unserer Umgebung finden würden sich materiell metamorphosierende Tiergestalten. Sie sind der Ausdruck von Leidenschaften, und in sie hinein wirken jene göttlichen Wesen, die uns bekanntgeworden sind in den verflossenen Vorträgen. Wir müssen uns also vorstellen, daß die Erde noch in weicher Substanz war, und geistige Wesenheiten formen an diesen Materien, gleichsam ausgestaltend die verschiedenen Tiergestalten. Und jetzt erinnern wir uns daran, daß wir gesagt haben, die ägyptische Religion hat als Welt­anschauung, als religiöses Bekenntnis die Tatsachen dieser dritten Erd­epoche wiederholt. Was damals auf der Erde erlebt worden war, das hatte als Erkenntnis die ägyptische Religionsform. Und nun wundern wir uns nicht darüber, daß in den Kunstdarstellungen der Ägypter so viele tier- und tierkopfähnliche Gestalten vorkommen. Das ist eine geistige Wiederholung dessen, was einstmals wirklich an der Ober­fläche unserer Erde war. Wirklich, ganz so hat diese Zeit wiederholt, was sich draußen in einer bestimmten Erdepoche abgespielt hat, und es ist mehr als ein bloßer Vergleich, es ist in gewissem Sinne wörtlich gesprochen, wenn wir sagen: In den Seelen, die vorzugsweise in den Agyptern verkörpert waren, ist aufgelebt die Erinnerung an die lemu­rische Zeit, und ihre Religion ist eine im Geiste wiedergeborene Er­innerung an diese Zeit. So wird Erdepoche nach Erdepoche in der Seele wiedergeboren in den verschiedenen Weltanschauungen.

Auch später war noch die Umgebung des Menschen durchaus anders als heute; auch die Bewußtseinszustände waren natürlich wesentlich anders. Wir müssen uns vor allen Dingen darüber klar sein, daß in der eben besprochenen Zeit bis hinein in die Mitte der atlantischen Zeit die heutige Menschengestalt sich erst allmählich herausgebildet hat; wir haben ja gesehen, wie in der Mitte der atlantischen Zeit die Menschen-gestalt in normaler Weise einen gewissen Abschluß durch Jehova und die Geister der Form erlangt hat. Wenn wir das in vollem Ernste er­fassen, werden wir begreiflich finden, daß alles, was wir heute überhaupt

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im Menschen finden, sich erst herausgebildet hat im Laufe dieser Epoche, von der lemurischen Zeit bis in die atlantische Zeit. Dieser lemurische Mensch, wenn Sie ihn hellseherisch erblicken könnten, würde Ihnen noch ganz andere Rätsel zu lösen geben; denn er hatte Funk­tionen, die heute getrennt sind, noch in einer gewissen Vereinigung. So gab es zum Beispiel in der Zeit, als die lemurische Entwickelung in ihrer Blüte war, noch nicht eine solche Atmung und auch nicht solche Er­nährung, wie sie heute besteht. Die Substanzen waren ja ganz anders; Atmung und Ernährung waren in einer gewissen Beziehung etwas Zu­sammenhängendes, eine gemeinsame Verrichtung, die sich später erst geteilt hat. Eine Art wässerige, grob ausgedrückt, milchartige Sub­stanz nahm der Mensch in sich auf, und das gab ihm gleichzeitig das­jenige, was er heute abgesondert in der Atmung und Ernährung hat. Und etwas anderes war auch noch nicht geschieden. Sie wissen ja, daß im Laufe derselben Zeit, die wir jetzt entwickeln, sich die Sinne erst nach außen geöffnet haben. Früher waren sie nicht geöffnet. Die Sinne, die wir heute haben, nahmen damals noch nicht äußere Dinge wahr. Der Mensch war beschränkt auf das Bilderbewußtsein; lebendige Traumbilder stiegen auf, aber es war kein äußeres Gegenstandsbewußt­sein. Dagegen nahm der Mensch als erste Ankündigung des äußeren Lebens, sozusagen als erste Spur äußerer Sinnesempfindung die Fähig­keit an, warm und kalt in seiner Umgebung zu unterscheiden. Das ist überhaupt der Anfang äußerer Sinneswahrnehmung auf der Erde für den Menschen, der sich in dem damals flüssigen Elemente noch bewegte: er empfand, ob er sich einer warmen oder kalten Stelle näherte. Diese Fähigkeit wurde damals vermittelt durch ein Organ, das heute verkümmert ist. Sie werden schon gehört haben, daß sich im Inneren des menschlichen Gehirns die Zirbeldrüse befindet, heute ist sie ver­kümmert, früher öffnete sie sich nach außen; es war sozusagen ein Kraftorgan, das seine Strahlen nach außen sandte. Und der Mensch be­wegte sich mit einer Art Laterne, die eine gewisse Leuchtkraft entwik­kelte, durch das wäßrige Element. Diese Laterne, die aus dem Kopfe herausragen würde, wenn die Zirbeldrüse wieder wachsen würde, be­fähigte den Menschen, Wärmeunterschiede zu haben; es war sozusagen das erste allgemeine Sinnesorgan. In der Naturwissenschaft nennt man

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es heute ein degeneriertes Auge; ein Auge war dies nie, sondern ein Wärmeorgan, und zwar nicht nur für die Umgebung, sondern sogar auf Entfernung konnte es wahrnehmen. Aber es hatte noch eine andere Aufgabe. Dies Organ, das sich schloß, als die anderen Sinnesorgane sich zu öffnen begannen, war in gewissen alten Zeiten ein Befruch­tungsorgan, so daß Sinnesempfänglichkeit und Befruchtung für eine gewisse Zeit zusammenfiel. Durch dieses Organ nahm der Mensch die­jenigen Kräfte aus seiner Umgebung in sich auf, die ihn befähigten, seinesgleichen hervorzubringen. Und in einer bestimmten Zeit war es sogar so, und zwar als der Mond sich noch nicht von der Erde abge­schieden hatte, daß die Atmosphäre der Erde besonders fähig wurde, bei einer bestimmten Sonnenstellung diejenige Substanz abzugeben, welche dieses Organ zu besonderem Aufleuchten brachte. Es gab wirklich solche Zeiten - und gewisse Meertiere, die zu Zeiten eine Leuchtkraft entfalten, erinnern heute noch daran -, in denen eine allgemeine Be­fruchtung eintrat; Zeiten, in denen durch eine besondere Sonnenstel­lung der damals noch völlig ungeschlechtliche Mensch eine Befruch­tung erfuhr, so daß er seinesgleichen hervorbringen konnte. Sinnes­wahrnehmung und Befruchtung, Ernährung und Atmung stehen in urferner Vergangenheit in innigem Zusammenhange.

Und so differenzierten sich die Organe allmählich, und nach und nach erst nahm der Mensch diejenige Gestalt an, die er heute zeigt. Dadurch aber wurde er immer mehr fähig, sein eigener Herr zu wer­den, das zu entwickeln, was wir in dem Ich-Bewußtsein ausgedrückt haben. In der eben geschilderten Zeit, da er, angeleitet durch seine Wärmeempfindung, sich in dieser Erdatmosphäre bewegte, waren es durchaus noch höhere Wesenheiten, die auf ihn einwirkten. Vorzugs­weise waren es die Kräfte der bereits aus der Erde herausgegangenen Sonne, die so auf die Erdatmosphäre wirkten, daß dieses Organ ange­regt wurde. Dagegen wurde durch die Mondkräfte - vor und nach dem Hinausgehen des Mondes - ein anderes Organ besonders angeregt; es sitzt an einer anderen Stelle des Gehirns und wird gewöhnlich die Schleimdrüse genannt. Es ist das ein Organ, dem heute keine rechte Auf­gabe zukommt. Die Schleimdrüse war früher der Regulator der niede­ren Verrichtungen, der Ernährungs- und Atmungsvorgänge, die damals

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noch eines waren. Damit hing alles das zusammen, was von diesem Organ aus reguliert wurde: die inneren Kräfte des Menschen, wodurch er sich aufblasen, sich die verschiedensten Gestalten geben konnte -, alles was in seiner Gestalt in seine Willkür gegeben war, das hing zu­sammen mit diesem Organ, mit der Schleimdrüse; das, was weniger willkürlich war, hing von dem anderen Organ ab, von der Zirbeldrüse.

So sehen wir, wie der Mensch sich umbildet, und wie er dadurch, daß er selbst eine feste, sichere Gestalt bekommt, sich immer mehr den­jenigen Wesenheiten entreißt, die von außen auf ihn wirkten und ihn zu einer instinktiven Wesenheit machten. Das alles gibt uns noch ein deutlicheres Bild von den Vorgängen der menschlichen Evolution, die endlich denjenigen Zustand in der Mitte der atlantischen Zeit herbei­geführt haben, wo der Mensch reif war, die äußere Welt durch seine Sinnesorgane auf sich wirken zu lassen, wo er in die Lage kam, über die äußere Welt zu urteilen. Früher war ihm ja das Urteil sozusagen eingeflossen. Alles, was man als eine Art Denken bezeichnen konnte, das war wie eingeflossen, etwa so wie heute bei den Tieren. Und nun haben wir zu berücksichtigen, daß der Mensch ungleichmäßig fort­schritt, daß der eine früher, der andere später in diesen oder jenen Verhärtungszustand eintrat, und wir haben ja auch schon gesehen, was für menschliche Formen sich herausgebildet haben. Wir haben gesehen, wie einzelne sich zur Verkümmerung vorbereitet haben dadurch, daß sie zu früh in eine gewisse Verhärtung eingetreten sind, daß sie zu früh eine bestimmte Gestalt angenommen haben, und wie dadurch sich ver­schiedene Rassen ausgebildet haben. Eigentlich waren in einem sol­chen Reifezustand, daß sie für alles das empfänglich wurden, was die Erde ihnen in ihrem äußeren Anblick darbieten konnte, nur diejenigen Menschen, die in der gestern angedeuteten Weise von jenem Sitz in der Nähe des heutigen Irland ausgingen, und die dann auszogen von Westen nach Osten; die dann die verschiedenen Gegenden bevölker­ten, in denen Reste von Völkern waren, die auf anderem Wege dort­hin gekommen waren, und mit denen sie sich vermischten, so daß aus diesen Mischungen die verschiedenen Kulturen entstanden sind. Und aus denen, die in ihrer Wanderung am weitesten zurückgeblieben wa­ren, sind die europäischen Kulturen entstanden.

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Um nun alles das als Vorbedingung zu haben, was wir brauchen, müssen wir zunächst noch einmal einen Blick werfen in den großen Kosmos und dann auf unsere Erde selbst. Es ist Ihnen jetzt klar ge­worden, daß der Mensch sich im Zusammenhange mit den Tieren ent­wickelt hat, daß er sie abgestoßen hat, zurückgelassen auf einer frü­heren Stufe der Entwickelung. Freilich haben wir da einen großen Unterschied in bezug auf die Tiere, es gibt höhere und niedere Tier-formen. Wir werden sehen, daß es zwischen den höheren und niederen Tierformen eine gewisse Entwickelungsgrenze gibt, die von Wichtig­keit ist. Wenn wir daran festhalten, daß der Mensch die Tierformen nach und nach in seiner Entwickelung abgestoßen hat, so werden wir uns sagen können: In einer sehr geistigen, fein ätherischen Art war der Mensch schon vorhanden, als Sonne und Erde noch vereinigt waren. Als Sonne und Erde sich trennten, stieß er die Tiere ab, die auf jener Entwickelungsstufe stehengeblieben waren, welche dem Stadium ent­spricht, da die Sonne noch in der Erde drinnen war. Aus diesen Wesen, die damals als Tierformen sich entwickelten, als die Sonnenwesen noch mit der Erde verbunden waren, sind natürlich im Laufe der Zeiten ganz andere Formen entstanden, denn da haben wir eine lange Nachentwickelung. Aber wenn wir die charakteristische Form nehmen, die wir heute noch haben, die wir etwa vergleichen können mit denen, die stehengeblieben sind beim Abstoßen der Erde von der Sonne, so müssen wir die Fischform nehmen. Es ist sozusagen dasjenige, was übrig­blieb, als die Erde allein auf sich angewiesen wurde, was noch den letzten Nachklang der Sonnenkräfte in sich hatte. Halten wir diesen Moment einmal fest. Es waren ganz andere Wesenheiten, vor allen Dingen viel mehr pflanzlicher Natur, aber darauf kommt es hier nicht an. Sie haben mannigfache Schicksale durchgemacht, diese Wesen, die damals vorhanden waren, und die die erste materielle Ausgestaltung der Menschenform darstellten, als die Sonne wegging. Wir könnten sagen: In den Fischen ist uns in der äußeren Welt das erhalten, was uns an unser Hervorgehen aus der physischen Sonne erinnert, was uns daran erinnert, daß wir einst zur Sonne gehört haben. Nun ist die Sonne hin­ausgegangen und ist draußen außerhalb der Erde. Sie wirkte von außen, auch auf den Erdenmenschen, und es bildete sich immer mehr der Zustand

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heraus, der ein Wechselzustand im Bewußtsein, ein Wachen und Schlafen ist. Immer mehr bildet sich der Zustand aus, in dem der Mensch mehr verbunden ist mit seinem Ich, auch in bezug auf seine höheren Wesensglieder, auf seinen Äther- und Astralleib; und dieser Zustand wechselt ab mit jenem, wo der Astralleib sich aus seinem phy­sischen Leib herauszieht. Es ist der Zustand, der ja noch heute in dem Wechsel zwischen Wachen und Schlafen erhalten ist.

Nun studieren wir einmal diesen Wechselzustand. Wir kennen ihn alle, denn er gehört zu den elementarsten Dingen. Wir wissen, daß der Mensch, wenn er wach ist, einen regelmäßigen Zusammenhang hat zwi­schen physischem, Ätherleib, Astralleib und Ich; wenn er einschläft, rückt aus dem physischen und Ätherleibe heraus der Astralleib und das Ich. Damals, in alten Zeiten, war das Ich noch nicht vorhanden, dafür ging ein Teil des Ätherleibes mit hinaus; es ist also trotzdem dieser Zustand mit dem Schlafzustand zu vergleichen. Nun müssen wir uns klar sein darüber, daß dadurch, daß der Mensch den physischen und den Ätherleib zurückläßt im Bette, er eigentlich diesem physischen und Ätherleib den Wert einer Pflanze verleiht. Die Pflanze hat ein Schlafbewußtsein, der physische und der Ätherleib des Menschen im Schlafe auch. Aber heute hat auch der Astralleib und das Ich beim normalen Menschen während des Schlafes eine Art von Pflanzenbewußtsein, denn er hat auch kein Bewußtsein von seiner Umgebung. Das war anders in den alten Zeiten; damals, wenn er herausrückte, hatte er ein dämmerhaftes Bewußtsein von dem Geistigen, was draußen vorging. Und jetzt können wir uns von einer anderen Tatsache eine Vorstellung machen, von einer wichtigen Tatsache, die daraus hervorging, daß die Erde sich von der Sonne trennte. Bevor dies geschehen war, stand der ganze Mensch hinsichtlich seines physischen, Ätherleibes und Astralleibes unter dem Einfluß, unter der Herrschaft der materiellen und geistigen Sonnenkräfte. Jetzt hing es von der Sonnenstellung ab, ob der Mensch in bezug auf seinen physischen, Äther- und Astralleib unter dem Einfluß der Sonne war, die ihn direkt beschien. Wir fragen uns aber jetzt: Gibt es in dieser Zeit nicht noch einen anderen Einfluß der Sonne? - Damals, als noch kein physisches Auge die Sonne hätte sehen können, als sie noch nicht die dichte Atmosphäre durchdrang, da empfingen

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der Ätherleib und der Astralleib, wenn sie draußen aus dem physischen Leibe waren, wichtige Einflüsse der geistigen Kräfte, die von der Sonne ausgingen. Wahrnehmen konnte der Mensch diese Ein­flüsse nicht, denn er war noch nicht reif dazu. Und dann später trat diese Möglichkeit ein dadurch, daß der Mensch eine Kraft empfing, die ihn fähig machte, wahrnehmen zu können, was geistig von der Sonne ausging.

Welches war nun das Ereignis, das den Menschen fähig machte, die Kräfte wahrzunehmen, die in der Sonne wohnten, jene erhabenen Kräfte, die weggehen mußten von der Erde, die sich mit der Sonne verbunden hatten? Wann wurde ihm diese Wahrnehmung verliehen?

Allmählich strömen die Kräfte in die Erde ein. Und der wichtigste Punkt, in welchem sich sozusagen die Sache entscheidet, wo der Mensch die vollen Kräfte erhielt, nicht nur die physischen, sondern auch die geistigen Kräfte der Sonne in vollem Bewußtseinszustand in sich auf­zunehmen, dieser Zeitpunkt ist die Erscheinung des Christus auf der Erde. So daß wir sagen können: Es gibt einen Moment, wo sich der Mensch physisch von der Sonne trennt. Es zeigt uns der Fisch den Ge­danken: Du erinnerst mich daran, was einstmals mein Zustand war, bevor ich mich aus der Sonne herauslösen mußte. Damals aber verlie­ßen die Erde auch unmittelbar die höheren Kräfte, deren Anführer der Christus ist, der hohe Sonnengeist. Und die Menschen reiften allmäh­lich heran, seine Kräfte ebenso zu empfangen, wie sie die physischen Kräfte der Sonne von außen empfingen. Und auf der Erde mußte als eine Tatsache die innere geistige Kraft erscheinen, wie früher die phy­sischen Kräfte der Sonne erschienen sind. An was durften denn die Eingeweihten die Menschen erinnern beim Erscheinen des Christus? An die alte Sonnenheimat; und das Symbolum, das sie an diese alte Heimat erinnerte, war das Fischsymbolum. Der Fisch erscheint in den Kata­komben deshalb als ein wahres Symbolum, das zusammenhängt mit der Menschheitsentwickelung. Und der Schüler der ersten Jahrhunderte, der das Fischsymbol überall sah, er empfand das, was ihm von den Ein­geweihten an sein Ohr drang, mit Schauern der Empfindung, denn das führte spirituell ihn hinein in die Heiligkeit der palästinischen Ge­schichte, und zugleich führte es ihn kosmisch hinaus in die mächtigen

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Entwickelungsphasen unserer Erde. Solche Dinge wurden in den Ein­weihungsschulen gepflogen, und in solchen Symbolen wie dem Fischsymbol, das wir an den Wänden der Katakomben finden, haben wir den äußeren Ausdruck dieser Mysterien, so wie der Geologe ein Zei­chen findet für etwas aus urferner Vergangenheit in einem Pflanzenabdruck. Wie aber dieser Abdruck nicht allein aus sich selbst existiert hat, so ist auch das Fischsymbolum wie ein Abdruck dessen, was in den Mysterien gepflogen worden ist. Und nicht plötzlich ist dieses Sym­bolum aufgetreten. Schon lange vor der Erscheinung des Christus sind die Schüler durch die Propheten des Messias hingewiesen worden, bis in die Druidenmysterien zurück, auf das Kommen des Christus, und überall spielt da schon dieses Symbol seine Rolle. So sehen wir, wie in dem Fischsymbol ein wichtiger Moment in der Erdentwickelung festgehalten ist. Gehen wir jetzt weiter!

Es gab einen Zeitpunkt, wo sich der Mond von der Erde trennte. Eine gewisse Zeit ging die Erde mit dem Monde zusammen, dann kam die dreifache Gestaltung: es entstanden Sonne, Mond und Erde. Es waren gewaltige Katastrophen, die sich da abspielten; die Geschehnisse damals waren stürmischer Art. Das, was der Mensch physisch war, stand damals noch nicht auf einer sehr hohen Stufe, und er ließ es zu­rück als eine verknöcherte Entwickelungsstufe. Um das zu verstehen, müssen wir vor allen Dingen eines in Betracht ziehen: Als die Sonne heraustrat, ging die Erde in ihrer Entwickelung zurück, sie wurde schlechter; erst als der Mond mit den allerschlechtesten Dingen hinaus­ging, trat wieder eine Verbesserung ein, eine Erhebung. So daß wir eine Zeitlang eine aufsteigende Entwickelung in der Evolution haben, bis die Sonne hinausging; dann eine absteigende, wo alles schlechter wurde, grotesker; und dann, als der Mond hinausging, stieg die Entwickelung wieder. Auch von dieser Entwickelungsstufe hat sich eine Form er­halten, die degeneriert ist und gar nicht ausschaut wie damals. Aber sie ist da; es ist diejenige Form, die der Mensch gehabt hat, bevor der Mond hinausgegangen ist, ehe der Mensch noch ein Ich hatte. Diejenige tie­rische Wesenheit, welche den Menschen sozusagen erinnert an den tief­sten Stand der Erdentwickelung, an denjenigen Punkt, wo wir am weitesten in die Leidenschaften hineingestiegen sind, wo der Astralleib

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des Menschen den schlechtesten äußeren Einflüssen zugänglich war; diejenige Wesenheit, in der festgehalten ist der Tiefstand unserer Schandentwickelung auf dem Erdenplaneten, ist, was wir heute, wenn auch degeneriert, in der Schlange sehen. Und so haben wir auf der anderen Seite auch dieses Schlangensymbol aus der Entwickelung her-ausgeholt. Das ist nichts Ausgedachtes, sondern ein Symbolum, das im Tiefsten wurzelt: Fisch- und Schlangensymbol sind aus den Rätseln unserer Entwickelung herausgeholt. Und wie es dem natürlichen Ge­müt wohl zumute ist, wenn es den leuchtenden Fischkörper sieht in dem reinen, keuschen Element, wie ihm da friedlich zumute ist, so wird es einem unverdorbenen Gemüt greulich zumute sein, wenn es die schlei­chende Schlange sieht. Solche Gefühle sind nicht unbegründete Er­innerungen an Tatsachen, die wir einst in der Entwickelung durchge­macht haben. So gern der Mensch die wunderbaren sonnig-lebendigen Fischgestalten im Wasser sieht und sich an seine ehemalige unschuldvolle Höhe erinnert, wo er noch kein Ich hatte, aber von den besten Geistern der Evolution dirigiert wurde, so wahr ist es, daß er sich an seine greulichste Zeit der Erdentwickelung erinnert, an die Zeit, da er nahe daran war, aus seiner Entwickelung herunterzufallen, wenn die schleichende Schlange an ihn herantritt. Das, was wir da im Ge­fühl erleben, hängt zusammen mit kosmischen Tatsachen, und wir be­greifen jene unbewußten Erlebnisse der Menschenseele, die uns so rät­selhaft erscheinen, die aber gerade dann mit solcher Vehemenz und Klarheit auftreten, wenn der Mensch noch nicht angeregt ist durch die Kultur. Das wird uns dadurch durchsichtig. Gewiß kann der Mensch über die Furcht vor der Schlange vollständig hinauskommen, aber das ist Kultur; das naive Gefühl sitzt doch im Grunde der Seele, und es führt auf solche uralte Zeiten zurück. Das aber sind zugleich die Zei­ten, wo der Mensch physisch erst auf der Stufe der Schlange war; wo diejenigen Elemente anfingen einzugreifen, von denen wir gesagt ha­ben, daß sie ihn vorbereitet haben zu seiner Freiheit, daß sie ihn vor­bereitet haben, den Christus in seiner vollen Bedeutung und Größe und mit rechter Würde zu empfangen.

Wir fragen uns: Welches sind denn diese Elemente, welche dem Menschen geholfen haben, nicht herunterzusinken in die Tiefe? Das

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sind diejenigen Wesenheiten, welche wir schon gestern genannt haben, und die auf ihn wirkten, als er im Tiefstande angekommen war und jetzt ihn wieder in die Höhe leiteten: das sind die luziferischen Wesen­heiten. Noch nicht wirkten auf ihn ein die Sonnengeister; aber diese Wesenheiten, die sich geopfert haben, sie wirkten auf ihn. In einer merkwürdigen Art sind sie unter dem, was die Erde an Menschen be­völkerte, umhergewandelt. Äußerlich hatten sie gewisse menschliche Gestalt, denn auch die höchsten Geister müssen sich in denjenigen Ge­stalten verkörpern, die da sind auf Erden. So nahmen auch gewisse Wesenheiten äußerlich die damalige Gestalt des Menschen an. Sie wan­delten so auf Erden umher, daß sie sich sagten: Wir sind in der Gestalt gleich mit den Menschen, aber unsere wahre Heimat ist nicht auf Er­den, unsere Heimat ist auf den beiden Zwischenplaneten, der Venus und dem Merkur. Sie wandelten unter den Menschen, aber sie blickten hinauf und wußten sich eins mit der Venus und dem Merkur. Dort waren ihre Seelen - das beste von ihnen - und ihre äußere Gestalt war im Grunde genommen eine Art von Trugbild. Sie konnten aber auch nur dadurch den Menschen geben, was sie brauchten: Leitung und Lehre, weil sie ihre Heimat nicht auf dem irdischen Planeten hatten, der sich erst bilden sollte, sondern auf der Venus und dem Merkur. Und sie sind es, die wir als die letzten Lehrer und Eingeweihten in der Menschheit zu bezeichnen haben, äußerlich wie die damaligen Men­schen, innerlich aber mit hohen bedeutungsvollen Fähigkeiten ausge­stattet, so daß sie wirken konnten auf die ganze Menschheit und zum Teil auch, in besonders abgesonderten Schulen, in den ersten Myste­rienschulen, auf die einzelnen vorgeschrittenen Menschen. Und immer gab es solche vorgeschrittenen Individualitäten, die ihre Heimat in den Sternen hatten und die, trotzdem sie mit den Sternen zusammenhingen, ihre Gestalt auf der Erde hatten und unter den Menschen umherwan­delten. Der Mensch selbst schritt immer mehr fort und näherte sich immer mehr der Mitte der atlantischen Zeit.

Die heutige Menschengestalt begann erst in der ersten Hälfte der atlantischen Zeit sich herauszubilden; da erst fing der Mensch an, sich in sie hineinzufinden. Es gab nun solche Wesenheiten, die schon in die­ser alten atlantischen Zeit auf der Stufe der Menschlichkeit tief unten

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standen, die dann die zurückgebliebenen Rassen wurden; ferner solche, die sich bildsam erhalten hatten, und solche, die nur ganz zeitweilig Menschenleiber bewohnten. Das, was ich jetzt erzählen will, kam in der ersten atlantischen Zeit sehr häufig vor. Denken Sie sich einen sol­chen alten Atlantier von einer für die Atlantier hohen Entwickelung. Ein solcher wurde häufig durch gewisse Tatsachen dazu veranlaßt, seinen physischen Leib, der ja sehr bildsam war, und seinen Äther-­und Astralleib abzusondern von den geistigen Teilen, die sich dann mehr in die geistige Welt zurückzogen, um später andere Leiblichkeit anzunehmen. Das kam sehr häufig vor, daß physischer, Äther­und Astralleib, lange bevor sie reif zum Sterben waren, willkürlich verlassen wurden von ihren seelisch-geistigen Wesenheiten. Und wenn sie besonders hohen Individualitäten angehörten, so waren es reine, gute Leiber. In solche Leiber ließen sich dann hohe geistige Wesenheiten nieder, und so kam es in der alten atlantischen Zeit häufig vor, daß Wesenheiten, die sich sonst nicht auf der Erde verkörpern konnten, solche vorgeschrittene Leiblichkeiten benutzten, um herabzusteigen un­ter die Menschen. Solche Wesenheiten waren es, die als die großen Leh­rer in den atlantischen Einweihungsschulen wirkten. Sie wirkten stark mit denjenigen Mitteln, mit denen man damals wirken konnte. Wenn der Mensch nachts sozusagen aus seinem physischen Leibe herausging, dann hatte er ein dumpfes hellseherisches Bewußtsein. Am Tage waren die äußeren Konturen noch verschwommen. Ein solch scharfer Unter­schied zwischen beiden Zuständen wie heute war damals nicht vor­handen. So kam es, daß der gewöhnliche Mensch eine solche Indivi­dualität abwechselnd sah, bei Tage menschenähnlich, bei Nacht aber ganz anders in geistig-seelenhafter Weise, aber er wußte: das ist der­selbe, der mir bei Tage in der physischen Leiblichkeit erscheint. Das waren diejenigen Wesenheiten, die gewissermaßen Venus- und Mer­kurwesen waren, die eingriffen in das Menschendasein und die Tag und Nacht bei den Menschen waren. Von diesen Wesenheiten blieb die Erinnerung in den Menschenseelen zurück, die sich immer wieder verkörperten, und solch eine Erinnerung war bei den Menschen, die Europa bevölkert hatten, vorhanden, wenn sie die Namen Wotan, Thor aussprachen. Wenn die alten Bewohner Europas von den Göttern

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sprachen, so waren das nicht Phantasiegebilde, sondern Erinne­rungen an atlantische Gestalten. Und ebenso wenn die Griechen Zeus, Apollo, Mars aussprachen, dann waren das Gestalten, die sie selbst in der atlantischen Zeit erlebt hatten. Während in der ägyptischen Zeit die Erinnerung an die alte Lemuria auftauchte, so tauchte damals in Griechenland dasjenige auf, was in der alten Atlantis Erdenerlebnis war.

Nun müssen wir uns klar darüber sein: wenn so alles in den späteren Religionssystemen Erinnerung früherer Erdenvorgänge ist, so mußte gerade in jenem Zeitpunkt, wo die letzte der Erinnerungen auftauchen konnte, ein wichtiges Ereignis eintreten. Und das war ungefähr die Zeit, wo das griechische und das römische Volk sich an die atlantischen Zei­ten erinnerten. Das war aber auch die Zeit, in der der Christus einen wesentlichen, einen neuen Einschlag in die Erdentwickelung hinein­gebracht hat. Was für ein Einschlag das war, haben wir ja schon heute berührt, indem wir sagten, daß nach der langen Zwischenzeit, in der die luziferischen Wesenheiten den Menschen zubereitet haben, ihn fähig gemacht haben, den ersten Impuls zu empfangen, daß da die Sonne ihn nicht nur äußerlich bestrahlte, sondern auch ihre inneren Kräfte auf den Menschen wirkten. Diese Zeit ist noch lange nicht zum Abschluß gebracht, sie ist erst in ihrem Anfange, denn erst mit der Er­scheinung des Christus ist der erste Impuls gegeben, daß das, was sonst bei der Sonne physisch-leiblich herunterscheint auf die Erde, auch in­nerlich-geistig ausstrahlt. Und immer größer wird das Licht werden, das als Sonnenlicht, als Geisteslicht, als Christus-Licht den Menschen von innen durchstrahlen wird, so wie das äußere Sonnenlicht ihn von außen umstrahlt. Das wird des Menschen Zukunft sein, daß er die Sonne nicht nur mit äußeren Augen anschauen und ihre Herrlichkeit empfinden wird, sondern daß er in seinem Inneren auch den geistigen Sinn der Sonne wird aufleben lassen. Wenn er dazu imstande sein wird, dann wird er erst voll verstehen, was eigentlich in der Gestalt, die wir als den Christus Jesus bezeichnen, auf Erden gewandelt ist. Das wird erst langsam und allmählich von dem Menschen verstanden werden können. Und ebenso wahr, als es ist, daß er in der vorchrist­lichen Zeit die ankündigenden geistigen Wesen begreifen mußte, die

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den Menschen sozusagen entlassen haben in die physische Welt hin­unter, ebenso wahr ist es, daß der Mensch nunmehr begreifen muß durch eine wirklich spirituelle Bewegung jene geistige Kraft, die da­mals mit der Sonne aus der Erde herausgegangen ist. Der Mensch muß sie als eine innerliche geistige Kraft wieder in Empfang nehmen kön­nen; er muß diese geistige Kraft, die ihm die großen Impulse in die Zukunft hinein gibt, er muß diese Christus-Kraft begreifen.

Und um diese Christus-Kraft zu begreifen, dazu gehört alle spiri­tuelle Wissenschaft, dazu gehört als Geistsame alles, was aufgebracht werden kann an geistigen Lehren. Man kann nicht sagen, daß die An­throposophie Christentum ist; sondern man muß sagen: dasjenige, was durch das Christus-Prinzip der Erde, dem Menschen gegeben worden ist, wird durch das Instrument der Anthroposophie allmählich begrif­fen werden. Dadurch aber, daß es begriffen wird, wird es immer mehr der Geistsame werden, wird immer mehr jener große Impuls in die Erdentwickelung hineingegeben werden. Denn der Mensch braucht es, nachdem er am tiefsten hinabgestiegen ist in die Materie, um sich ihr wieder zu entreißen, um wieder zurückzukehren in seine geistige Heimat.

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ACHTER VORTRAG Stuttgart, 12. August 1908

Wir werden auch heute zum genauen Verständnis dessen, was uns als unser eigentliches Ziel in den nächsten Vorträgen entgegentreten wird, einen Blick werfen in die großen Welten und dann wieder herunterschauen auf den engeren Kreis unseres irdischen unmittelbaren Daseins. Auf diese Weise werden wir die Möglichkeit gewinnen, uns eine ge­naue Vorstellung von dem zu machen, was man im geisteswissenschaft­lichen oder okkulten Sinne unter den drei Begriffen eigentlich zu ver­stehen hat, die wir zusammengestellt haben als Welt, Erde und Mensch. Denn aus gar mancherlei, was in diesen Vorträgen schon vorgekommen ist, werden Sie entnommen haben, daß man im geheimwissenschaft­lichen Sinne von einer Welt als einem bloß materiellen Inhalte gar nicht sprechen kann. Wir haben gesehen, daß die verschiedenen Weltwesen - wir möchten gar nicht sagen Weltkörper -, die uns entgegen­getreten sind, wie die verschiedenen Verkörperungen unserer Erde als Saturn, Sonne und Mond, wie auch schließlich dasjenige, was wir als den Gegensatz bezeichnen zwischen der Erde als Planeten und der Sonne als Fixstern, daß alles das etwas ganz anderes ist als ein bloß Materielles: ein jedes solcher Weltwesen ist ja, wie wir gesehen haben, der Schauplatz einer Summe von geistigen Wesenheiten, das heißt im Grunde genommen materiell nur so beschaffen, wie diese geistigen We­senheiten, die auf den Weltkörpern wohnen, es brauchen. Dann haben wir gesehen, daß die Sonne sich herausgetrennt hat aus der Erde, weiL auf ihr der Schauplatz sein mußte für gewisse erhabene Wesenheiten, die nur die feineren Substanzen zu ihrer Entwickelung brauchen konn­ten, während der Mensch auf der Erde die anderen Substanzen zurück­behalten mußte. Und wenn wir den ganzen weiten Weltenraum durchforschen würden, wir würden überall finden, daß wir nichts Mate­rielles für sich auskundschaften könnten, daß alles mit einem Geistigen verknüpft ist. Ferner sahen wir, inwiefern die verschiedenen Erdenwesen mit geistigen Wesen verknüpft sind. Die Steine, die Mineralien unserer Erde haben im Umkreise unserer Welt, im Universum ihr Ich;

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die Pflanzen haben ihr Ich lokalisiert im Mittelpunkt unseres Erd­planeten, und dann haben wir gesehen, daß die Pflanzen eine astrale Wesenheit haben, die sie sozusagen von außen umkreist und den Ab­schluß der Blüte bewirkt. So haben wir alles durchgeistigt gefunden, und dadurch erweitert sich der Begriff oder die Vorstellung eines Welt-körpers. Wir sehen hinauf zu irgendeinem Weltkörper und wissen, er ist nur der Ausdruck fur geistige Wesenheiten, die materiell mit ihm verknüpft sind. Nun ist der Mensch in der Tat durch die Entwicke­lung der in ihm befindlichen schlummernden Fähigkeiten in der Lage, sich eine gewisse Kenntnis zu verschaffen von solchen Weltkörpern, die draußen im Raume ausgebreitet sind, und wir werden heute den Men­schen im Zusammenhang mit den verschiedenen Weltkörpern vor un­sere Seele zu führen haben.

Wir auf unserer Erde sind ja umgeben von Mineralien, Pflanzen, Tieren und Menschengenossen! Wir wissen, daß daneben aber die An­gelegenheiten unserer Erde besorgt werden von höheren Wesenheiten, von Wesenheiten, die wir im christlichen Sinne als Engel, Erzengel und Urkräfte bezeichnet haben; wir wissen auch, daß noch andere Wesen­heiten, wenn sie auch von der Sonne oder dem Monde aus ihre Kräfte senden, mit der Erde zu tun haben. Heute soll nun noch etwas anderes hinzukommen. Es kann uns zunächst einmal die Frage vor die Seele treten: Inwiefern läßt sich einer der Planeten unseres Sonnensystems mit dem anderen hinsichtlich seiner Wesenheit vergleichen? Und wir wollen der Leichtigkeit halber auf diejenigen Wesenheiten sehen, die uns im heutigen Menschheitszyklus sozusagen sichtbar entgegentreten können. Wir fragen: Wie verhält es sich mit den Wesen, die uns als Mineralien, Pflanzen und Tiere und Menschen umgeben, in bezug auf andere Weltenwesen?

Selbstverständlich behandeln wir diese Frage von dem geisteswissen­schaftlichen Standpunkte aus, der sich ergibt durch die Entwickelung derjenigen Kräfte, die dem hellseherischen Bewußtsein offen liegen, und von deren Entwickelung wir noch sprechen werden, von dem also, was das hellseherische Bewußtsein wissen kann. Da fragen wir uns zu­nächst: Gibt es solche Menschen, wie sie sich auf unserer Erde ent­wickeln, für das hellseherische Bewußtsein auch auf anderen Planeten? -

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Und da antwortet uns das hellseherische Bewußtsein: Solche Menschen wie auf der Erde, in genau derselben Gestalt, finden wir auf anderen Planeten nicht. - Und wir finden erhärtet, daß jeder Planet, jeder Himmelskörper seine besondere Aufgabe, seine besondere Mission hat. Nichts wiederholt sich im Weltall, andere Weltenschauplätze ha­ben auch andere Missionen. Diese unsere Erde ist entstanden aus drei vorhergehenden Verkörperungen. Sie wissen, daß diejenige Stufe des Menschendaseins, die wir jetzt durchmachen, das Menschsein, aller­dings gewisse Wesenheiten schon durchgemacht haben, zum Beispiel die Engel auf dem Monde. Andere Wesenheiten, die Feuergeister, ha­ben diesen Zustand auf der Sonne durchgemacht, und noch andere, die Geister der Persönlichkeit, auf dem Saturn. Da könnte nun leicht der Irrtum entstehen: Dann gab es aber doch Menschen auf den vor­hergehenden Planeten! - Sie müssen aber vor Augen haben, daß es auf dem Monde kein festes Gestein und Mineral gab, und daß daher die Wesenheiten, die dort ihre Menschheitsstufe durchgemacht haben, es unter ganz anderen Verhältnissen getan haben. Wir reden daher von der Stufe der Menschheit, wissen aber, daß die Menschheit unter ganz anderen Verhältnissen durchgemacht worden ist. Unter verschiedenen Verhältnissen zum Beispiel haben auch die Feuergeister auf der alten Sonne ihre Menschheit durchgemacht, denn die Sonne bestand ja nur aus Luft und Gas. Eine solche Menschwerdung konnten natürlich nur Wesen durchmachen, die nicht einen Körper wie den unsrigen mit fester Substanz, Muskeln und so weiter brauchten. Auch im Werden auf der Erde wiederholt sich nichts, und jeder einzelne Punkt hat seine besondere Mission im großen Haushalt des kosmischen Daseins.

Betrachten wir jetzt einmal das Werden unserer Erde. So wie wir sie okkult betrachten, sehen wir sie als einen Körper, den der Mensch be­wohnt, auf dem sich der Mensch entwickelt. Nur dadurch ist diese Ent­wickelung ermöglicht worden, daß sich die Sonne und der Mond ab­getrennt haben von der Erde, und daß seine Kräfte zwischen Sonne und Mond im Gleichgewicht gehalten werden. Damals, als die Erde, wenn wir so sagen dürfen, selbst noch Sonne war, machte sie ihre Entwickelung so durch, daß die Sonne mit der Erde vereint war. Die Sonne selbst war also noch auf der Stufe des Planetendaseins und war

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bewohnt von den Feuergeistern. Nun aber durch die fortschreitende Entwickelung war es möglich, daß ein Teil dessen, was der Erde ein­verleibt war, zu höherem Dasein aufstieg, auf Kosten dessen, was sich als Erdenmond aus der Erde heraussetzte. So sehen wir, daß im gro­ßen Weltenall die Entwickelung so vor sich geht, daß etwas, das eine Weile mit anderem zusammengeht, sich trennt, und zwar steigt das eine dann hinauf in höhere Regionen, und das andere geht hinunter in eine tiefere Region. Damit gewisse höhere Wesenheiten sich hoch genug entwickeln konnten, mußte die Sonne für sich ein solcher Kör­per werden, daß er der Schauplatz höherer Wesenheiten sein konnte. Die Sonne ist also gleichsam avanciert, aufgestiegen aus dem Planeten­dasein zu einem Fixsterndasein, sagen wir einmal. So müssen wir überhaupt ein Weltwesen wie unsere Sonne betrachten, daß sie geworden ist, daß sie hervorgegangen ist aus einem Planeten; okkult sehen wir daher in einer Sonne einen aufgestiegenen Planeten. Nun aber haben wir gestern darauf hingewiesen, wie, nachdem alles sich vereinigt hatte und die Sonne in einem gewissen Zeitpunkt sich wieder abgetrennt hatte, auch innerhalb unseres engeren Erdendaseins der Mensch eine Zeitlang auf der Erde lebte ohne die geistigen Sonnenkräfte, und wie durch das Eintreten des Christus die geistige Sonnenkraft auf unserer Erde Platz gefaßt hat. Wenn nun der Christus unserer Erde sich ein­verleibt, so wird der Mensch durch die Aufnahme des Christus-Prin­zips immer reifer und reifer, und die materielle Gestalt, die ein Planet annimmt, ist abhängig von dem, was dieser Planet für Wesenheiten entwickelt. Geradeso wie die Sonne so wurde, wie sie ist, indem sie die feinsten Substanzen herausholte, weil die Wesenheiten diese Substan­zen brauchten, so wird es auch die Erde machen, so werden auch die Substanzen der Erde sich umwandeln, daß sie dem angemessen sein werden, was in einer fernen Zukunft aus dem Menschen geworden sein wird und aus den Erdenwesen, die der Mensch mit sich zieht; denn der Mensch wird, wenn er einmal mächtig geworden ist, auch die anderen Erdenwesen nachziehen. Was wird dann geschehen? Der Mensch, wenn er sich immer mehr mit dem Christus-Prinzip durchzieht, wenn er immer mehr die hohen Sonnenkräfte, die mit dem Christus auf die Erde herabstiegen, aufnimmt, wird selber immer christushafter werden.

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Dann durchstrahlt er selbst die ganze Erde mit dem Christus-Prinzip.

Was ist dieses Christus-Prinzip? Wir wollen es uns einmal so klar machen, wie wir es brauchen. Dazu müssen wir wissen, was die Mission unseres Erdendaseins ist, so daß wir diese Mission in einer bestimmten Weise, mit einem bestimmten Wort bezeichnen können. Was ist nun die Mission unseres Erdendaseins? Was war zum Beispiel die Mission des der Erde vorhergehenden Mondes? Wenn wir den geistigen Blick einmal zurückschweifen lassen auf unseren alten Mond, dann werden wir im Anfange seines Daseins etwas sehr Merkwürdiges finden in­nerhalb derjenigen Wesenheiten, die die Vorläufer unserer Erdenwesen sind. Vieles haben diese Wesenheiten, doch eines fehlt ihnen noch ganz im Beginn der alten Mondentwickelung: es fehlt ihnen dasjenige, was wir heute überall um uns herum im Erdendasein sehen. Unweise wirkten die Kräfte des Mondes, des Vorgängers unserer Erde, zusam­men; alles im Beginn des Mondendaseins ist noch so, daß man nirgends ein harmonisches Zusammenwirken in Weisheit wahrnehmen kann. Wenn man das Werden des alten Mondes hellseherisch verfolgt, so sieht man, wie von denjenigen Wesenheiten, welche im Umkreis des Mon­des wirken, den Wesen, die auf dem Monde lebten, aus dem Kosmos heraus die Weisheit einverleibt wurde. Deshalb nennen wir den alten Mond den Planeten der Weisheit. So daß, als das Mondendasein beendet war, Weisheit war in allen Dingen. Und als dann das Monden­dasein durchging durch einen Zwischenzustand wie durch einen Weltenschlaf und als Erdendasein wieder heraustrat, und als die Wesen wieder herauskamen aus dem Pralaya, da brachten sie auch die auf dem Monde ihnen einverleibte Weisheit mit. Und die Folge davon ist, daß in allen Wesenheiten der Erde die Weisheit drinnen ist; daß ein­geimpft ist die Weisheit auf dem Grunde aller Dinge. Wir betrachten die Wesenheiten um uns herum, die die Ergebnisse der Mondent­wickelung sind und noch eine weitere Mission haben, und wir finden Weisheit überall. Betrachten Sie, was Sie wollen; nehmen Sie zum Beispiel irgendeine Pflanzenblüte, je genauer Sie sie betrachten, desto wunderbarer wird es Ihnen erscheinen, wie die einzelnen Teile im Sinne einer höheren Weisheit angeordnet sind. Nehmen Sie ein Stück

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Knochen aus dem menschlichen Oberschenkel: Sie werden sehen, wie in höchster Weisheit die Balken zu einem Gerüst angeordnet sind, so daß der Oberleib getragen wird. Und keine Ingenieurkunst ist heute imstande, beim Brückenbau die hohe Weisheit dieses Gerüstes nachzu­ahmen. So sehen wir in allen übrigen menschlichen Organen, ja in der ganzen uns umgebenden Welt, Weisheit auf dem Grunde der Dinge. Der Mensch sollte auf der Erde erst in seinem Inneren diese Weisheit, man könnte sagen, wie ein Stümper aufnehmen; die mikrokosmische Weisheit ist etwas, was der Mensch erst hier von den Dingen lernt. Aber im Grunde der Dinge und im Grunde all dessen im Menschen, woran der Mensch im Inneren unbeteiligt ist, da ist die Weisheit bereits eingeformt. Wenn man die Geschichte entwickelt, rühmt man oft die menschliche Weisheit. Wie wunderbar nimmt es sich aus, wenn wir in der Schule lernen, daß der Mensch in einer bestimmten Zeit diese oder jene Erfindung oder Entdeckung gemacht hat. Wie wurde es uns zum Beispiel eingeimpft, daß so gegen die neuere Zeit die Menschen die Kunst entdeckt haben, Papier zu fabrizieren: menschliche Intelligenz hat es dahin gebracht. Nun, die Wespen können das schon lange, sie haben es viel früher als der Mensch gekonnt. Allerdings nicht die einzelne Wespe, aber die Gruppenseele der Wespen baut im Wespen­nest etwas, was genau aus demselben Stoff wie unser Papier ist! Diese Gruppenseelen sind längst so weit, wie es menschliche Weisheit all­mählich wird. Diese Weisheit, die sich im Grunde aller Wesen auf unserer Erde befindet, mußte auch erst nach und nach einverleibt wer­den, und wir werden sehen, wie sich im Verlaufe des Mondendaseins einverleibt hat diese Weisheit, wie da die Weisheit gegen die Unweis­heit kämpfte, und wie dann der alte Mond der Erde die Wesenskeime übergab, denen die Weisheit eingeimpft worden war.

Was soll in gleicher Weise den Wesen auf unserer Erde eingeimpft werden? So wie auf unserem Vorgänger, dem Monde, die Weisheit ein­geimpft worden ist, so soll auf unserem Planeten eingeimpft werden die Liebe. Unser Planet ist der Planet der Liebe. Deshalb hat begonnen die Entwickelung, sozusagen die Einträufelung der Liebe in ihrer nied­rigsten Form. Da alles herausgekommen war in der Zeit der Lemuria, als das Ich des Menschen Form annahm, da begann durch die Geschlechterteilung

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die Entwickelung der Liebe in ihrer niedrigsten Form. Und alle Weiterentwickelung besteht in einer zunehmenden Veredelung bis zur Vergeistigung dieses Liebeprinzips. Und ebenso wie auf dem Monde Weisheit den Wesen eingeträufelt worden ist, so wird, wenn unsere Erde einst an ihrem Ziele angelangt sein wird, Liebe auf dem Grunde aller Wesen sein.

Und jetzt lassen Sie uns kurz den Blick richten auf das nächste Pla­netendasein, das unsere Erde ablösen wird, auf den Planeten Jupiter. Wenn da wieder erscheinen werden die ihn bewohnenden Wesenheiten, dann werden sie in ihren Umkreis blicken auf die Wesenheiten mit ihren eigenen geistigen Kräften. Und wie wir mit dem Intellekt bewundern im Stein, in der Pflanze, im Tier, in allen Wesenheiten um uns herum die Weisheit, die da waltet in allem, wie wir die Weisheit heraussaugen, daß wir sie auch in derselben Weise haben können: so wird es bei den Wesenheiten des Jupiters sein, daß sie ihre Kräfte richten auf die Umwesen, und es wird ihnen entgegenduften die Liebe, die während der Erdentwickelung in sie eingeimpft worden ist. Wie wir analysieren ein Wesen und uns erbauen an der Weisheit, so werden sich die Jupiter­wesen erbauen an den aus den Wesen herauskommenden Liebesströ­mungen. Diese Liebe, die auf der Erde sich entwickeln soll, kann nur dadurch sich entwickeln, daß die Erden-Iche so einander gegenübertreten, wie wir es gesehen haben; nur dadurch konnte die Entwicke­lung beginnen, daß die Wesen in ihrer Gruppenseelenhaftigkeit aus­einandergerissen wurden und Wesen dem Wesen gegenübertrat, nur so konnte die wahre Liebe sich entwickeln. Wo die Iche in der Gruppen-seele miteinander verbunden sind, da ist nicht die richtige Liebe. Ge­trennt muß das Wesen vom Wesen sein und die Liebe darbieten als freie Gabe. Erst durch die Spaltung der Wesen, wie sie im Menschenreiche eingetreten ist, wo Ich dem Ich als selbständige Einzelheit ge­genübertritt, erst da ist die Liebe als freie Gabe von Ich zu Ich mög­lich geworden. So mußte auf Erden ein immer mehr zunehmender Individualismus eintreten und ein Zusammenführen der einzelnen We­senheiten. Denken wir uns die einzelnen Wesenheiten, die in einer Gruppenseele miteinander verbunden sind; die Gruppenseele dirigiert sie, wie sie sich verhalten sollen. Kann irgend jemand sagen, daß das

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Herz den Magen liebt? Nein, das Herz ist mit dem Magen verbunden durch die innere Wesenheit, die sie zusammenhält. So sind auch die Tiergruppen miteinander verbunden in der Gruppenseelenhaftigkeit, und was sie zu tun haben, wird ihnen angeordnet von der weisheits­vollen Gruppenseele. Erst wenn diese Gruppenhaftigkeit überwunden wird, wenn das einzelne Ich dem einzelnen Ich gegenübertritt, da kann die Sympathie der Liebe als freie Gabe von Wesen zu Wesen dar­geboten werden.

Zu dieser Mission konnte der Mensch erst allmählich vorbereitet werden. Daher sehen wir, wie er eine Art Vorschule durchmacht zu dieser Liebe, bevor der Mensch völlig individualisiert wird. Ehe er sein Ich völlig als sein eigen hat, sehen wir, wie er durch die leitenden Wesenheiten in Gruppen vereinigt wird, die blutsverwandt sind, und die sich lieben, insofern sie blutsverwandt sind. Das ist die große Vor­bereitungszeit der Menschheit. Wir haben schon angedeutet, wie die Liebe noch keine freie Gabe ist, sondern von einem Rest der Weisheit geleitet wird; wir haben gesehen, wie da hineinwirken die Geister der luziferischen Wesenheiten, die dem Zusammenwirken der Menschen in Stämmen und Völkern durch die Blutskraft ihre stark befreiende Kraft entgegensetzen: alles, was da wirkt, um die Menschen selbstän­dig zu machen, das wirkt durch die luziferischen Geister. Und so reift der Mensch heran, um nach und nach die höchste Potenz der Liebe zu empfangen, das Christus-Prinzip, jenes Prinzip, das seine Wesenheit ausdrücken durfte in den Worten: Wer nicht verläßt Vater, Mutter, Sohn, Tochter, wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, der ist meiner nicht wert. - Das ist nicht in trivialer Weise auf­zufassen, sondern so, daß die alte Blutsverwandtschaft durch die Auf­nahme des Christus-Prinzips neue Formen der Zusammengehörigkeit ausbilden soll, die ohne Rücksicht auf materielle Grundlagen, von Seele zu Seele, von Mensch zu Mensch gehen. Daß der Mensch den Menschen liebt, dazu hat das Christus-Prinzip den Impuls gegeben. Und so wird durch die Verchristung die Menschheit immer mehr ver­geistigt werden in der Liebe. Die Liebe wird immer seelenhafter und geistiger werden, und damit wird der Mensch auch die niedrigen We­sen der Erde mitreißen, er wird die ganze Erde dadurch umformen. In

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einer urfernen Zukunft wird er das ganze Material der Erde umfor­men und diesen Erdenleib wieder reif machen zur Vereinigung mit der Sonne. So hat der Christus als die geistige Sonne den Impuls gegeben, daß Erde und Sonne dereinst sich wieder zu einem Leibe vereinigen.

So sehen wir den Gang durch die Weltentwickelung: wie sich die Sonne erst von der Erde körperlich trennt, wie dann der mächtige Im­puls des Christus-Prinzips heruntergeschickt wird, und wie dadurch der Anstoß zu einer Wiedervereinigung von Erde und Sonne gegeben wird, um zu höheren Daseinsstufen hinaufzugehen. Und wir haben erkannt, daß unsere Erde nur solche Menschen mit solcher Mission bergen kann. Wenn wir also im Menschenreiche Umschau halten und den Erdenmenschen kennenlernen wollen, so können wir ihn nur auf der Erde finden, denn hier wurden die Bedingungen geschaffen zu solchen Menschen, wie sie heute hier sind.

Nun aber fragen wir uns: Wie steht es mit den anderen Reichen? Betrachten wir zunächst das Pflanzenreich. Wenn der hellseherische Blick umherschweift in unserer Welt und die zum Sonnensystem ge­hörigen anderen Planeten untersucht: ein Pflanzenreich ganz im Sinne unseres Pflanzenreiches finden wir überall bei den Planeten, die zu un­serer Sonne gehören; so daß wir in unserem Pflanzenreich etwas haben, was sozusagen Systemdasein hat, was zu unserem System gehört. Wir sehen also unser Sonnensystem bevölkert von Pflanzenwesen, und wenn wir die Sache okkult betrachten würden, dann würden wir auch jeden Planeten mit seiner Eigenart von Menschenwesen bevölkert sehen. Sie werden aber eine innige Verwandtschaft zwischen Pflanze und Sonne sehr bald einsehen können, und dann werden Sie auch glauben können, daß das Pflanzendasein innig verbunden mit dem Sonnendasein ist. Wenn das aber so ist, so muß es auch mit allen Planeten, die zu diesem Sonnensystem gehören, verbunden sein. Lassen wir den Blick zurückschweifen zu demjenigen Zustand, da die Erde noch der Sonnenplanet war, so wissen wir, daß damals der Mensch aus physischem und Ätherleib bestand, also auf der Stufe des Pflanzendaseins war. Der Mensch hatte damals den Wert einer Pflanze, er war sozusagen in der Lage, in der die Pflanzenwelt heute ist. Unsere Pflanzenwelt um uns herum hat Wesen, die aus physischem und Ätherleib bestehen. Diese Wesen

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treten uns so entgegen, daß wir sagen können: sie sind der Sonne treu geblieben, sie zeigen uns auch heute noch klar ihre Beziehungen zur Sonne. Betrachten wir ein solches Pflanzenwesen im Sinne der rosen­kreuzerischen Weisheit. Da sehen wir, wie die Pflanze mit der Wurzel im Boden haftet. Das ist das Organ, das sie hinlenkt zum Mittel­punkt der Erde, also zu ihrem Ich; und ihre Befruchtungsorgane lenkt sie der Sonne zu. Da nimmt sie auf den keuschen Sonnenstrahl. Stellen wir uns jetzt den Menschen vor: Es ist nicht schwer, sich den Menschen als eine umgekehrte Pflanze vorzustellen - denken Sie sich die Pflanze in genau der umgekehrten Lage, so haben Sie den Menschen. Er hat die Befruchtungsorgane dem Mittelpunkt der Erde zugewandt, und die Wurzel in den Weltenraum hinaus. Das Tier steht mitten darin. Daher sagt man in geistiger Beziehung: Als die Seelenhaftigkeit der Welt durch die verschiedenen Reiche hindurchging, ging sie durch Pflanzen-, Tier- und Menschendasein. Plato drückt es in einer großartigen Weise aus: Die Weltenseele ist am Kreuze des Weltenleibes gekreuzigt.

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Das Pflanzendasein hat der Mensch durchgemacht, dem Mittelpunkt der Erde zugekehrt; das Tier hat in seinem Rückgrat die entsprechende Richtung horizontal; der Mensch ist der Pflanze gegenüber völlig um­gekehrt: so entsteht das Kreuz. Die Weltenseele ist gekreuzigt, das ist die tiefste esoterische Bedeutung des Kreuzes. So daß wir in der heutigen

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Pflanze ein Wesen vor uns haben, das nach der Sonne strebt, das gewissermaßen mit der Sonne verbunden geblieben ist, daher hat es die umgekehrte Richtung wie der Mensch. Die Tierformen sind zum Teil gleich, zum Teil verschieden auf den verschiedenen planetarischen Da­seinsformen; das Tier steht auch hier in der Mitte zwischen Mensch und Pflanze.

Gehen wir jetzt zum mineralischen Reich, so finden wir, daß wir in den Kristallformen etwas haben, das uns hinausführt über unser Son­nensystem in den Weltenraum; wir können in den Gestaltungskräften des Mineralreichs Kräfte finden, die weit hinaus über unser Sonnen­system reichen. Wenn wir auf die Gestalten des Mineralreichs unseren Blick richten, vorzugsweise auf diejenigen Gestalten, die es bis zur Lichtdurchlässigkeit bringen, so werden wir also hinausgeführt, daß wir eine Ahnung erhalten können von dem, was weit über unser Son­nensystem hinaus in der Welt vor sich geht. Das Abstrakteste, das­jenige, was am wenigsten bestimmtes Dasein hat, was jetzt die Grund­lage unseres Daseins ist, das Mineralische, hat ein universelles Dasein, und je höher die Wesenheiten stehen, desto mehr sind sie unserem Sonnen- und Erdensystem angepaßt.

Nun aber wollen wir einmal dieselbe Frage in bezug auf den Men­schen aufwerfen! Würde der Mensch nur an diejenigen Kräfte ange­paßt sein, die auf der Erde walten, dann würde er verurteilt sein, nur auf der Erde zu existieren, nur auf der Erde sein Dasein zu fristen; er könnte niemals sich zu einem Weltenbürger machen, er könnte über­haupt nicht sprechen von irgend etwas, was über die Erde hinausgeht. Wenn er also auch in seiner äußerlichen Gestalt an die Erdenverhält­nisse angepaßt ist, so hat er doch durch seine höheren Kräfte teil an dem, was die höheren Wesenheiten sind, die mit unserer Erde in Ver­bindung stehen. Was den Menschen auf die Erde beschränkt, bezieht sich nur auf seine Leiblichkeit; was in ihm an geistigen Kräften ver­anlagt ist, das führt ihn wiederum über die Erde hinaus. Auch da müssen wir unterscheiden zwischen den verschiedensten Kräften. Blei­ben wir zunächst, damit wir uns verstehen, bei den Kräften, welche wir leicht einteilen können. Da haben wir zuerst diejenige Kraft, die wir sozusagen unter unseren geistigen Augen haben entstehen sehen in

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den voratlantischen Zeiten. Wir haben gesehen: der Mensch ist einge­treten mit einem Bilderbewußtsein, und erst im Laufe des Erdendaseins konnte er äußere Gegenstände im Gegenstandsbewußtsein erfassen. Und dieses Gegenstandsbewußtsein, das uns heute die Sinneswelt so darstellt, daß wir mit den Augen die Farben sehen können, daß wir Töne hören, daß wir riechen, schmecken, das hat sich, wie wir gesehen haben, erst aus der Wärmewahrnehmung heraus differenziert aus je­nem Organ, das wie eine Art von Laterne da war, aus der Zirbeldrüse. Und es ist rein irdisch, dieses Gegenstandsbewußtsein. Nur auf der Erde ist diese Sinnesempfindung heimisch. So sonderbar es erscheinen mag: alle unsere Empfindungen, wie der Mensch die Farben über die Dinge hingezogen sieht, wie er die Töne erklingen hört, alles das hat nur ein irdisches Dasein, und wenn Sie die Wesen anderer Planeten betrachten würden, dann würden Sie sehen, daß Sie sich mit ihnen nicht unmittelbar verständigen können. Wenn Sie diesen Wesen etwas von Rot sagen, dann wissen sie nichts davon; sie haben auf ihrem Planeten eine andere Art, Gegenstände und Wesenheiten wahrzunehmen. Das, was wir Sinnesempfindung nennen, ist für unseren besonderen Plane­ten dienlich.

Nun haben wir auch gesehen, wie die Sinnesempfindung, bevor sie sich differenziert hat, innig verbunden war mit der Befruchtung. Ge­nauso wie die Form unserer Sinnesempfindung irdisch ist, so ist nun auch die Form der Befruchtung, wie sie heute im Menschenreiche ist, irdisch und eignet diesem Planetendasein; sie ist dazu da, um die erste Grundlage zur Erdenmission, zur Liebe, auszubilden. Denn auf unse­rer Erde entwickelt sich die Liebe. Da haben wir also im Menschen in bezug auf seine äußere Fähigkeit etwas, was nur für die Erde gilt.

Nun kommen wir zu einer anderen Kraft. Betrachten Sie einen Sin­nesgegenstand. Solange Sie das Auge darauf richten, wissen Sie, daß Sie mit dem Gegenstande in Korrespondenz sind: er wirkt auf Sie. Jetzt drehen Sie sich um und behalten das Vorstellungsbild des Gegen­standes im Gedächtnis. Der Gegenstand ist fort, aber das Bild bleibt Ihnen. Wenn der Mensch nicht die Fähigkeit hätte, solche Bilder zu behalten, würde er ein ganz anderes Wesen sein. Denn die Bilder wür­den, sobald Sie den Blick abwenden, verschwunden sein; Sie würden

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also auch nicht die Fähigkeit haben, die Eigenschaften der Wesen mit Ihrem eigenen Wesen zu verbinden. Das, was den heutigen Menschen fähig macht, ein Bild zu behalten, auch wenn der Gegenstand fort ist, sich die Dinge wieder vorzustellen, diese Bewußtseinsfähigkeit hatte der Mensch schon auf dem alten Monde, denn es ist dieselbe Fähigkeit, die es ihm damals möglich machte, das Äußere im Bilde zu sehen. Äußere Gegenstände konnte er damals nicht sehen wie heute, aber wenn er sich einem Gegenstande genähert hätte, würde ihm ein astra­les Bild aufgestiegen sein, wie ein lebhaftes Traumbild, das aber in einer bestimmten Beziehung zu dem Gegenstande stand. Nicht ein Gegenstands-, sondern ein Bilderbewußtsein hatte der Mensch. Heute stellt sich der Mensch in Korrespondenz mit den Gegenständen, er hat das Bild über die Gegenstände ausgebreitet. Von dieser Fähigkeit ist ein letzter Rest zurückgeblieben in dem Erinnerungsbild. Dafür aber ist dies Erinnerungsbild auch etwas, was schon eine weitere Geltung hat als die bloße Betrachtung des äußeren Gegenstandes. Wenn Sie mehrere gleiche äußere Gegenstände betrachten, so bringen Sie sie unter einen gemeinschaftlichen Begriff. Es gibt viele Stücke Kreide, Sie bringen sie alle unter den gemeinschaftlichen Begriff Kreide. So kommt der Mensch hinauf zu allgemeinen Begriffen, für die keine äußeren Wesen existieren. Er kann innerlich arbeiten mit seinen Vorstellungen; und wenn Sie mit diesem innerlichen Arbeiten, mit diesem Vorstellen, ohne daß es auf Gegenstände bezogen ist, in Beziehung treten würden zu Wesen außerhalb unseres planetarischen Daseins, da würden Sie sich schon leichter verständigen können. Das Bilderbewußtsein, das der Mensch hatte, bevor er äußere Gegenstände wahrnehmen konnte, und das ein dämmerhaft-hellseherisches war, und auch das imaginative Be­wußtsein, das sich später einmal entwickeln wird, beide sind schon umfassender. Wenn der Mensch sich durch die okkulte Entwickelung das Bilderbewußtsein aneignet, so daß er nicht nur darauf angewiesen ist, äußere Gegenstände wahrzunehmen, sondern wenn er zum Bei­spiel die Aura eines Menschen ausströmen sieht, wenn er in Bildern das Seelisch-Geistige um sich herum sieht, wenn ihm in bildhaften Symbolen vor Augen tritt, was in der Welt lebt, dann ist er zu der Fähigkeit aufgestiegen mit diesem Bewußtsein, sich mit anderen Wesenheiten

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in Verbindung zu setzen, die die planetarische Welt be­wohnen.

Dann gibt es noch einen höheren Grad des Bewußtseins. In dumpfer Art hat der Mensch ihn gehabt während der Sonnenzeit, und in dump­fer Art er ihn heute noch, während er schläft. Das ist das traumlose Schlafbewußtsein. Der Mensch ist nicht ohne Bewußtsein, wenn er schläft, und auch die Pflanze ist nicht ohne Bewußtsein; sie hat das­selbe Bewußtsein, auch bei Tage, wie der Mensch es schlafend hat. Und es ist nur ein niedrigerer Grad des Bewußtseins; die Dinge ent­schlüpfen seiner Aufmerksamkeit, er kann sie nicht ins Auge fassen. Aber dadurch, daß er gewisse Kräfte in sich entwickelt, kann er sich zu der Fähigkeit aufschwingen, wahrzunehmen, was während des Zu­standes traumlosen Schlafes um ihn ist. Das ist ein höherer Bewußt­seinszustand als das Bilderbewußtsein, es ist ein Bewußtsein, das auch die Pflanze hat, aber in schlafender Form. Wenn Sie zu dem Bewußt­sein der Pflanze hinaufsteigen, es aber mit Ihrem Ich im hellen Tagesbewußtsein durchdringen, dann haben Sie in der okkulten Entwicke­lung die Stufe der Inspiration, des inspirierten Bewußtseins erreicht. Dies inspirierte Bewußtsein wirkt nicht bloß bildhaft. Wenn das, was aus den Dingen fließt, in das andere Wesen hineingeht: dieses Bewußt­sein läßt sich nicht mit dem Bilderbewußtsein vergleichen, es ist ein tönendes Bewußtsein. In eine geistige Tonwelt tritt da der Mensch hin­ein. Es ist jenes Bewußtsein, von dem schon Pythagoras als von der Sphärenharmonie spricht. Die ganze Welt tönt ihr Wesen hinaus, und wenn der Mensch abends einschläft, wenn sein Astralleib mit dem Ich hinausgeht aus seinem physischen und Ätherleibe, dann dringen die Harmonien und Melodien der Weltenmusik durch diesen Astral-leib; dann ist er eingebettet in sein eigentliches geistiges Dasein, und da erlangt er aus der Sphärenmusik heraus die Fähigkeit, die abgenützten Kräfte zu ersetzen. Der Mensch taucht unter in der Nacht in die Sphä­renmusik, und dadurch, daß ihn die Töne durchklingen, fühlt er am Morgen sich neu gekräftigt und gestärkt. Und wenn der Mensch das zum Bewußtsein bringt, dann ist er in der Inspiration, dann wird er fähig, alles das wahrzunehmen, was innerhalb seines Sonnensystems ist. Während der Mensch durch sein gewöhnliches Vorstellen nur die

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Dinge der Erde wahrnimmt, wird er durch die Imagination befähigt, in Korrespondenz mit den Wesenheiten der einzelnen Planeten zu tre­ten; mit dem Sonnensystem wird er in Zusammenhang treten, wenn er zur Inspiration dringt. Das hat man in gewissen Kreisen immer ge­wußt. Goethe, der ein unbewußter Eingeweihter war, wußte das. Des­halb läßt er im «Faust» im Prolog, der in der geistigen Welt, im Him­mel spielt, die Engel sagen:

Die Sonne tönt nach alter Weise

in Brudersphären Wettgesang.

Da sehen wir, wie ihm bewußt ist, daß alles das, was die Geheimnisse eines Sonnensystems sind, sich in Tönen ausdrückt, und daß der, der sich zur Inspiration erhebt, die Geheimnisse des Sonnensystems ken­nenlernt. Daß Goethe nicht zufällig sich so ausdrückt, das sehen wir daran, daß er in der Rolle bleibt. Denn da, wo Goethe im zweiten Teile Faust hinaufführt in die geistige Welt, spricht er dasselbe nochmals aus:

Tönend wird für Geistes-Ohren

Schon der neue Tag geboren.

Geistesohren sind die Ohren des Hellsehers, der die Sphärenharmonie eines Sonnensystems wahrnimmt. Und könnten Sie jene Sonnenkräfte wahrnehmen, die auf die Pflanzenleiber niederströmen, wenn sie aus der Erde herauswachsen, diese Pflanzenleiber mit ihren Wurzeln und Blättern, die oben sich abschließen in der Blüte, wo der Astralleib sie umspült, und in die die geistigen Kräfte der Sonne hineinwirken, könn­ten Sie diese Kräfte geistig wahrnehmen, die durch die Blüte geheim­nisvoll einziehen, Sie würden sie wahrnehmen als die geistige Sphä­renmusik, die allerdings nur Geistesohren hören können. Geistige Töne ziehen geheimnisvoll hinein in die Pflanzenblüte. Das ist das Geheim­nis des Pflanzenwerdens, daß man in jeder einzelnen Blüte einen Aus­druck hat für die Töne, die diese Blüte formen und der Frucht ihren Charakter geben. Aufgefangen werden die Sonnentöne von der Pflanze und walten darin als Geist. Vielleicht wissen Sie, wie man durch den Ton in der materiellen Welt Form geben kann. Denken Sie einmal an

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das Experiment der Chladnischen Klangfiguren, wie da auf einer Platte der Staub durch die Einwirkung des Tones zu Figuren angeordnet wird; in diesen Figuren finden Sie den Ausdruck für den Ton, der sie angeordnet hat. Und wie in diesem Staube gleichsam der physische Ton aufgefangen wird, so wird der geistige Ton der Sonne aufgefangen und aufgesogen von der Blüte und der Frucht. Im Samen ist er verborgen, geheimnisvoll, und wenn aus dem Samen die Pflanze herauswächst, dann ist es der eingefangene, der aufgesogene Sonnenton, der die Form der Pflanze herauszaubert. Das hellseherische Bewußtsein blickt auf un­sere Pflanzenwelt rings umher, und in den Blüten, die den Teppich unserer Erdoberfläche bilden, schaut er überall den Reflex der Sonnen-töne, und so ist es wahr, was Goethe gesagt hat: «Die Sonne tönt nach alter Weise.» Aber wahr ist es auch, daß diese Sonnentöne niederströ­men, aufgesogen werden von den Pflanzen und wiedererscheinen, wenn aus dem Samen die neue Pflanze entsteht; denn in den Pflanzenformen tönen die Sonnentöne, die Widerspiegelung der Sphärenmusik, in den Raum hinaus. - So sehen wir, wie Welt und Welt, wie Fixstern und Planet innerlich geistigen Zusammenhang haben. Wir lernen nicht nur anschauen, was in unserer Umgebung in der physischen Welt ist; wir erhalten eine Ahnung davon, wie der, der teilhaft ist der Inspiration, aufsteigt zur Sonne.

Und dann gibt es noch eine höhere Stufe des Bewußtseins, die wir im echten Sinne des Wortes die Intuition nennen, wo der Mensch so­zusagen hineinkriechen kann in die Dinge. Das ist nicht nur inspirier­tes Bewußtsein. Da taucht der Mensch gleichsam in die Wesenheiten hinein, er identifiziert sich mit ihnen. Das führt ihn noch weiter. Wohin kann das inspirierte Bewußtsein ihn führen? Es führt den Menschen dahin, daß er sich eins fühlt mit seinem Erdenpianeten, denn die Iche der Pflanzen sind im Mittelpunkt der Erde. Ergreift er den Sonnenton, dann wird er eins mit dem planetarischen Wesen, das im Mittelpunkt der Erde verkörpert ist: er wird eins mit seinem Planeten. Aber er kann eins werden mit einem jeglichen Wesen. Dann macht er allerdings Er­fahrungen, die über unser Sonnensystem hinausreichen. Dann erweitert sich sein Blick vom Systembewußtsein zum Weltenbewußtsein. Die Intuition führt über die einzelnen Sonnensysteme hinaus.

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So sehen wir, daß wir in dem Mineralreiche etwas haben, das uns in seiner einheitlichen Gestaltung einen Grundboden liefert, der weit hin­ausreicht über unser gewöhnliches Dasein. Wir sehen, daß die heutige Menschengestalt eine physisch-irdische Gestalt ist, daß der Mensch sich aber wieder erheben wird von dem gewöhnlichen Erdenbewußtsein zum Planetenbewußtsein in der Imagination, zum Systembewußtsein in der Inspiration und zum Weltenbewußtsein in der Intuition.

Das ist der Gang der Menschheit, insofern dieser Gang mit der ganzen Evolution unserer Welt verknüpft ist. Und wir werden nun im nächsten Vortrag heruntersteigen von dieser Betrachtung, die uns hinaufgeführt hat, zu dem, was sich abgespielt hat in den letzten Zei­ten unseres Erdendaseins durch die ägyptische, durch die griechische Zeit und durch die Jetztzeit. Und wir werden sehen, wie sich im ein­zelnen Menschen in der Weltanschauung und im Leben, wie sich im Mikrokosmos spiegelt dasjenige, wovon wir uns heute ein Ahnung verschafft haben: wie sich da spiegelt das große Weltendasein.

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NEUNTER VORTRAG Stuttgart, 13. August 1908

Es wird nunmehr unsere Aufgabe sein, den geistigen Horizont, inner­halb dessen der Mensch der Gegenwart steht, zu begreifen dadurch, daß wir seine Herkunft erforschen. Wir haben ja gesehen, wie der Mensch sozusagen immer ähnlicher und ähnlicher seiner gegenwärtigen Gestalt geworden ist, indem er sich durch das lemurische und atlan­tische Zeitalter hindurch entwickelte; und heute wollen wir unsere Betrachtung von diesem letzten Zeitalter, dem atlantischen, fortsetzen bis in unsere Zeit hinein, soweit wir sie zum Verständnis unseres The­mas brauchen.

Wir wissen, vor der Mitte der atlantischen Zeit waren die Bewußt­seinsverhältnisse des Menschen noch ganz andere. Während des Tages, während der Mensch in seinem physischen Leibe war - wenn wir so sprechen dürfen -, sah er die Gegenstände keineswegs in den scharfen Konturen wie heute, sondern alles war mehr oder weniger verschwom­men. Dafür aber, wenn der Mensch nachts seinen physischen Leib ver­ließ, breitete sich nicht ein traumloser Schlaf um ihn aus, sondern er konnte wahrnehmen geistige Wesenheiten einer geistigen Welt. Wir wollen nicht weiter berühren, daß jene geistigen Wesenheiten, die auch Verkörperungen suchten in atlantischen Leibern, eine gewisse Genos­senschaft mit den Menschen eingingen; wir wollen nur darauf den Blick richten, daß der Mensch in jener Zeit aus dem unmittelbaren Erleben heraus die Überzeugung hatte, daß sich an das Menschenreich, dem er selbst angehörte, andere Reiche nach oben hinauf anreihten:

das Reich der Engel, der Erzengel; und der Mensch lernte diese höhe-ren Wesenheiten - wenn wir den Ausdruck gebrauchen dürfen - von geistigem Angesicht zu geistigem Angesicht kennen, so wie jetzt in der physischen Welt ein Mensch den anderen kennenlernt. Dann kam die Zeit, in welcher das Gegenstandsbewußtsein am Tage, vom Aufwachen an bis zum Einschlafen, immer deutlicher wurde, und wo demgegen­über sich in der Nacht immer mehr Dumpfheit und Dunkelheit aus­breitete. Das aber war derselbe Zeitpunkt, in dem die erste Keimanlage

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zu dem Ich oder «Ich bin» in den Menschen gelegt wurde. Dadurch, daß der Mensch die Gegenstände um sich herum wahrnehmen lernte, erlangte er zugleich die Form und Gestalt seines Selbstbewußtseins, die er nun immer mehr ausbilden sollte.

Nun müssen wir uns alles in der Welt gradweise vorstellen; wir müssen uns denken, daß genau so, wie es in dem Tier- und Menschenreiche alle möglichen Grade von Wesen gibt, auch in der Reihe von Wesenheiten über den Menschen hinaus die verschiedensten Grade vor­handen sind. Es gibt Wesenheiten in dem Reiche der Engel, die dem Menschen sehr nahe stehen; dann aber auch solche, die auf einer höhe­ren, auf einer erhabenen Stufe sind - alle nur denkbaren Grade würden wir antreffen, wenn wir den Blick auf diese höheren Welten richten würden. Vor allen Dingen müssen wir uns darüber klar sein, daß diese höheren Wesenheiten damals, als der Mensch noch während der Nacht im dumpfen, hellseherischen Bewußtsein in die höheren Welten hinaufstieg, in einer gewissen Beziehung - ganz trivial gesprochen - auch etwas hatten von dieser Gabe des Menschen; daß sie durch den Verkehr mit den Menschen eine Bereicherung ihres eigenen Inneren erfuhren. Denn diese Wesenheiten waren damals auch noch innig mit dem Men­schen verbunden; sie inspirierten ihn, sie nahmen Einfluß auf sein ima­ginatives Bewußtsein, das ja freilich nur ein dumpfes war. So daß wir uns den Menschen in jener alten Zeit so vorstellen müssen, daß, wenn er aus seinem physischen und Ätherleibe herausrückte, es so war, wie wenn ihn ein solches höheres Wesen, und im weiteren Sinne eine Schar von höheren Wesen, aufnehmen würde. Im Grunde genommen ist das auch noch heute der Fall, nur weiß der Mensch nichts davon, während er es damals, wenn auch nur dumpf-hellseherisch, gewußt hat. Wir haben schon in anderen Vorträgen erwähnt, daß auch heute der Schlaf keineswegs etwas Unnötiges für den Menschen ist; er hat seine gewal­tige Aufgabe. Der Mensch nützt während des Tages seinen physischen Leib und seinen Ätherleib fortwährend ab. Das Leben, das wir vom Morgen bis zum Abend führen, ist ein Abnützen dieser beiden Leiber, und was Sie abends als Ermüdung spüren, ist nichts anderes als der Ausdruck davon, daß innerhalb Ihres physischen und Ätherleibes, auf dem Umwege durch den Astralleib, Wahrnehmungen der äußeren Welt

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stattgefunden haben, daß Gefühle, Impulse, Leid und Schmerz, daß alles mögliche sich in Ihnen abgespielt hat. Und das, was sich so ab­spielt, das nützt den ganzen Tag über unseren physischen und Äther-leib ab, und wir sind des Abends ermüdet, weil wir den ganzen Tag an der Zerstörung unseres physischen und Ätherleibes gearbeitet ha­ben. Wenn Sie nun nachts Ihren physischen Leib und Ihren Ätherleib im Bette liegen haben, dann ist der Astralleib mit dem Ich nicht etwa untätig, sondern er schickt die ganze Nacht über seine Kraft in den physischen und Ätherleib hinein; er arbeitet, um die zerstörten und verbrauchten Kräfte wiederherzustellen. Aber das könnte er nicht, wenn er nicht beim Herausrücken aus dem physischen und Ätherleibe in ein anderes Reich aufgenommen würde. Über dem menschlichen Reiche breitet sich in der Tat ein geistiges Reich aus, das Reich der Engel, Erzengel und anderer Wesenheiten. Es ist wie ein Ozean von geistigen Wesenheiten, die uns da umgeben, und von denen wir am Tage getrennt sind, weil wir innerhalb der Haut unseres Leibes, in­nerhalb unserer Wahrnehmungen eingeschlossen sind. In der Nacht aber tauchen wir in diesen Ozean der Geister unter, und der Astralleib saugt daraus die Kräfte, die er dann in den physischen und Ätherleib hineingießt, um diese wieder auszubessern. Davon weiß heute der Mensch nichts. Damals aber, als der Mensch noch das dumpfe, hell­seherische Bewußtsein hatte, da sah er, wie das Ich und der Astralleib heraustraten und aufgenommen wurden von der göttlich-geistigen Welt.

Nun ist es so, daß die Dinge, die sich in unserer physischen Welt in einer gewissen Weise darstellen, sich da oben ganz anders ausnehmen. Man darf sagen, auch die Götter profitieren von jener Teilnahme an der Menschheit. Wir müssen uns da eine Vorstellung aneignen, die nicht so ganz leicht ist, die man aber notwendig hat, wenn man das Ver­hältnis des Menschen zu der Welt verstehen will. Wir haben gesagt, daß die Erde der Planet der Liebe ist; und richtig ausgebildet wird die Liebe erst auf der Erde. Sie wird, grob ausgedrückt, gezüchtet; und durch ihre Teilnahme an den Menschen lernen die Götter ebenso die Liebe kennen, wie sie in einer anderen Beziehung sie schenken. Das ist schwer sich vorzustellen. Es ist durchaus möglich, daß ein Wesen in

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ein anderes Wesen eine Gabe förmlich einträufelt, und diese Gabe durch das andere Wesen erst kennenlernt. Denken Sie sich eine ungeheuer reiche Persönlichkeit, die nie etwas anderes kennengelernt hat als Reichtum, ohne jene tiefe seelische Befriedigung, die Wohltun ver­ursachen kann. Und nun tut diese Persönlichkeit wohl; sie schenkt einer armen Persönlichkeit etwas. In der Seele dieser armen Persönlichkeit wird durch die Geschenke der Dank bewirkt, und dies Dankesgefühl ist auch eine Gabe: es wäre nicht da, wenn die reiche Persönlichkeit nicht geschenkt hätte. Die reiche Persönlichkeit hat aber das Dankesgefühl nicht gefühlt, sondern sie hat es hervorgebracht. Sie ist die Ge­berin des Dankesgefühls, aber kennenlernen kann die reiche Persönlich­keit dieses Dankesgefühl erst in der Reflexion, wenn es zurückstrahlt von denen, in denen sie es entzündet hat. So ist es ungefähr mit der Gabe der Liebe, die von den Göttern den Menschen eingeträufelt wird. Die Götter sind so weit, daß sie im Menschen die Liebe entzünden kön­nen, so daß die Menschen imstande sind, die Liebe erleben zu lernen, aber die Götter lernen die Liebe als Realität erst durch die Menschen kennen. Sie tauchen von den Höhen herunter in den Ozean der Mensch­heit und fühlen die Wärme der Liebe. Ja, wir wissen, daß die Götter etwas entbehren, wenn die Menschen nicht in Liebe leben, daß sozu­sagen die Götter ihre Nahrung in der Liebe der Menschen haben. Je mehr Liebe der Menschen auf der Erde, desto mehr Nahrung der Göt­ter im Himmel - je weniger Liebe, desto mehr Hunger der Götter. Das Opfer der Menschen ist im Grunde genommen nichts anderes als das, was zu den Göttern hinaufströmt als die in den Menscheri erzeugte Liebe.

Nun können wir uns vorstellen, daß diese gegenseitige Mitteilung von den Menschen und Göttern in alten Zeiten, als die Menschen selbst noch ein Bewußtsein hatten von dem Göttlichen, etwas ganz anderes war als später. Ja, es gab gewisse Wesenheiten unter den göttlich-gei­stigen Wesen, die dadurch, daß der Mensch sozusagen nicht mehr hin-auf konnte mit seinem dumpf-hellseherischen Bewußtsein, auch nicht mehr herunter konnten, die Sphäre der Menschheit nicht mehr er­reichen konnten. Der Mensch hat während der atlantischen Zeit mit einer Anzahl von göttlich-geistigen Wesenheiten gelebt, und je mehr er

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unfähig wurde, hinaufzuschauen zu den Göttern, um so weniger konnte eine gewisse Kategorie von göttlichen Wesenheiten das erleben, was sie sonst von den Menschen erleben konnte. Wir haben unter den atlan­tischen Göttern durchaus solche, die, als die Atlantis zugrunde ging, immer mehr und mehr entbehrten, die sozusagen immer mehr an Hun­ger litten dadurch, daß sie den Weg zu den Menschen nicht mehr fanden.

Von diesem Gesichtspunkte müssen wir uns einmal die Weiterent­wickelung vorstellen. Wir wissen, daß in der Nähe des heutigen Irland sich ein Reich, ein Landstrich befand, wo die vorgeschrittensten We­senheiten der atlantischen Zeit lebten, jene Menschen, welche am mei­sten reif waren, die fortschrittliche Entwickelung durchzumachen. Diese zogen nun vom Westen nach dem Osten, bevölkerten Europa, und dort blieben gewisse Menschen auf einer bestimmten Entwicke­lungsstufe zurück, während andere weiterzogen. Die Vorgeschritten­sten zogen in die Gegend des heutigen mittleren Asien, andere nach Afrika. Dort aber waren schon Bevölkerungen aus der alten Zeit der Atlantis und der Lemuria; mit diesen nun vermischten sich die an­deren in mannigfaltiger Weise und dadurch entstanden jene Mischun­gen, die die Griechen in den verschiedenen Kunstformen als Satyr-, Merkur- und Zeustypus wiedergaben. So war der Zug von Westen nach Osten, und wir müssen uns vorstellen, daß damit auch der Bewußt­seinszustand des Menschen sich mehr und mehr änderte. Die Men­schen, die herübergezogen waren, hatten noch mehr oder weniger Reste des alten hellseherischen Bewußtseins, aber das nahm nun immer mehr ab. Es gab solche, die schon bei dem Hereinbrechen der atlantischen Katastrophe jede Spur von hellseherischem Bewußtsein verloren hat­ten, aber auch solche gab es, die sich noch einen Rest davon erhalten hatten, auch unter den nach Asien, Europa und Afrika ausgewander­ten. Überall gab es solche, die in gewissen Zuständen, zum Beispiel zwi­schen Schlafen und Wachen, einen genauen Einblick in die geistigen Welten gewinnen konnten. So war zum Beispiel jene geistige Wesen­heit, die als Wotan bezeichnet wird, eine «Persönlichkeit», welche den alten Atlantiern wohl bekannt war; man kann sagen, alle Atlantier standen mit ihr in einer näheren oder entfernteren Verbindung, wie

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etwa heute die Menschen mit einem Monarchen. Aber immer mehr ver­lor sich der bewußte Zusammenhang. Nun gab es unter der europäi­schen Bevölkerung, bei den Vorgermanen, zahlreiche Menschen, die in einem Zwischenzustand zwischen Wachen und Schlafen in eine Be­ziehung oder Verbindung mit diesem Wotan treten konnten, der in der geistigen Welt wirklich existierte, durch seine Entwickelung aber gebunden war und sich nicht mehr in der alten Weise populär machen konnte. Auch in Asien gab es solche Menschen. Dies ging bis in späte Zeiten hinein, in die uns selbst die Geschichte noch zurückweist, wo ein ursprüngliches, natürliches Hellsehen sich bewahrt hatte, wo die Menschen aus eigenem Erleben heraus von den Göttern erzählen konnten.

Jetzt müssen wir uns aber wieder die Tatsache vor Augen halten, daß die Menschen immer mehr und mehr herunterzogen auf den phy­sischen Plan, in die materielle Welt; dadurch waren die Götter immer weniger in der Lage, Verbindungen mit den Menschen aufrechtzu­erhalten. Nach und nach war es manchen von ihnen nur noch möglich geworden, mit auserlesenen Wesenheiten Gemeinschaft zu haben. Ge­wisse Göttergestalten waren es, die nicht mehr zu dem gewöhnlichen Menschen hinabsteigen konnten, die nur noch mit solchen Persönlich­keiten in Verbindung treten konnten, die ihnen in einer gewissen Weise entgegenkamen, die sich zu ihnen hinaufentwickelten. Nun mischten sich in merkwürdiger Weise Gesinnung und übriggebliebenes Hellsehen und Einweihungsprinzip so, daß der Ausdruck dieser Mischung in dem germanischen Bewußtsein erhalten blieb. Während der atlan­tischen Zeit wußten die Menschen: Geradeso wie ich im Schlafe, wenn ich aus dem physischen und dem Ätherleibe heraus bin, in das Reich der Götter aufsteige, so steige ich nach dem Tode in das Reich der Göt­ter hinauf; sie sind mir etwas Bekanntes, dort kann ich ihnen wieder begegnen. - Und als eine Art von Strafe lernte man es empfinden, wenn der Mensch nach dem Tode zeitweilig der Möglichkeit entzogen war, zu den Göttern aufzublicken, in ihre Gemeinschaft aufgenom­men zu werden, wenn er eine gewisse Prüfungszeit nach dem Tode durchzumachen hatte, weil er sich zu sehr in das materielle Leben ver­strickt hatte. Diejenigen Menschen aber, die in der Lage waren, das

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materielle Leben nicht höher einzuschätzen als etwas anderes Nicht­materielles, von denen war man überzeugt, daß sie nicht von der ma­teriellen Welt zurückgehalten wurden, sondern daß sie gleich nach dem Tode in das Reich des Geistes eintreten konnten, das ihnen ja wohlbekannt war. Nach der Gesinnung derjenigen Völker, welche sich über Europa ausbreiteten, betrachtete man nun vor allen Dingen denjenigen Menschen als nicht am materiellen Leben hängend, der auf dem Schlachtfelde tapfer kämpfte, der den Tod als Krieger fand, der die Ehren des Krieges höher schätzte als das Materielle. Und von einem solchen war man überzeugt, daß er unmittelbar nach dem Tode irgend­einer Gottheit ansichtig wurde. Wer aber nicht als Krieger auf dem Schlachtfelde sterben konnte, wer nicht ein geistiges Gut höher schät­zen gelernt hatte als das materielle Leben, von dem sagte man, daß er den Strohtod starb, daß er nicht reif war, unmittelbar aufgenommen zu werden in das Reich des Geistes, daß er vorher in ein Reich eintre­ten mußte, in dem er gewisse Prüfungen durchzumachen hatte. Und die Begegnung mit der Walküre ist der Ausdruck für diese Gesinnung in Verknüpfung mit der Erinnerung an das alte Hellsehen. Man stellte sich mit Recht vor, daß derjenige, der den Tod auf dem Schlachtfelde fand, aufgenommen wurde von der Walküre; und es liegt ganz im Stile einer solchen Vorstellungsart, wenn sich das, was sich so in Europa herausgebildet hatte, in dieser alten Zeit herausgestaltete als die Sym­bolik für die Einweihung. In anderen Völkern hatten sich andere Vor­stellungen ausgebildet; innerhalb der europäischen Gegend aber galt persönliche Tapferkeit und Tüchtigkeit als das Wertvollste.

Nun verstand man immer mit Recht unter der Einweihung, daß der Mensch schon während des Lebens erfahren kann, was er normaler­weise erst nach dem Tode erfährt: die unmittelbar erlebte Gemein­schaft mit der geistigen Welt. Wie der Krieger die Begegnung mit der Walküre erst auf dem Schlachtfelde erlebte, so war es klar, daß der­jenige, der die Einweihung suchte, diese Begegnung schon im physischen Leben erleben mußte. Und als der letzte der Einweihungshelden galt innerhalb eines Teiles von Europa Sieg£ried, der sich in der Siegfriedgestalt erhalten hat. Daher erzählt die Sage, daß er sich mit der Wal­küre während des Lebens verbindet, wie der Krieger es auf dem

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Schlachtfelde tut. So sehen wir, wie für den einzelnen Menschen im Kleinen alles zusammenstimmt, was im Großen für das Prinzip der Einweihung gilt.

Jetzt versuchen wir, uns in den Gemütszustand dieser von Westen nach Osten, nach Europa, gezogenen Bevölkerung zu versetzen. Sie waren in einer gewissen Weise durchaus bis zu der Höhe hinaufge­kommen, wo sie in eine Weiterentwickelung eintreten konnten. Sie waren nicht verknöchert, sondern sie hatten den Keim zur vollen Wei­terentwickelung. Aber gerade sie verblieben mit einer verhältnismäßig starken Gabe hellseherischen Vermögens. Unter fast allen Völkern, die von dem atlantischen Kontinent hinausgezogen waren, war es die euro­päische Bevölkerung, die mit der stärksten hellseherischen Anlage be­gabt war; weniger stark begabt war die afrikanische Bevölkerung. In Asien war die vorgeschrittenste Bevölkerung, die schon früh hinüber-gezogen war, mit einer noch älteren zusammengestoßen, und sie hatten diese Völker im Besitz eines noch älteren hellseherischen Bewußtseins angetroffen, so daß es auch dort viel Hellsehen in jener Zeit gab. Dann aber gab es eine gewisse kleine Kolonie, die gerade aus den am weite­sten vorgeschrittenen Menschen der atlantischen Zeit bestand, die in der Nähe der Wüste Gobi war. Was waren das für Menschen? Was heißt das überhaupt: am weitesten vorgeschritten? Das bedeutete: am wenig­sten hineinsehen können in die geistige Welt. Denn darin bestand ja der Fortschritt, daß sie herausgegangen waren aus dem Geistigen und hineinzogen in die physische Welt. Es waren Menschen, die empfin­den mußten: Wir haben früher einmal einen Zusarnmenhang mit der geistigen Welt gehabt, jetzt aber haben wir ihn nicht mehr. - Wehmut über den Verlust der geistigen Welt war es, was in den Herzen dieser Menschen lebte, Sehnsucht nach dieser Welt, die die wertvollere war und aus der sie herausgedrängt waren.

Andere Verhältnisse waren in der europäischen Bevölkerung: da waren viele, die in gewissen Zuständen noch in die geistigen Welten hineinschauen konnten. Und in jener Zeit, als in Europa noch die My­sterien waren, war es so: wenn die Eingeweihten, die durch ihre okkulte Entwickelung im vollen Bewußtsein hinaufsteigen konnten, davon sprachen, daß es geistige Welten gebe, wenn sie von dieser oder jener

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Gestalt erzählten oder von dieser oder jener Rolle, die der Mensch nach dem Tode zu spielen habe, und wenn sie das in Mythen und Sagen, in Legenden und in gewaltigen Bildern verkündeten, dann fanden sie Menschen, die sie verstanden, denn sie hatten es zum Teil selbst noch gesehen. Die eigenartigen Lebens- und Wohnverhältnisse des alten Europa gestatteten es durchaus, daß auch die Uneingeweihten, wenn auch nicht die hohen Götter, doch die geistigen Welten erleben konn­ten, und dadurch hatten sie den Glauben an diese geistigen Welten. Ihnen waren diese Welten wirklich noch mehr als halb vertraut, sie fühlten daher auch ihre Menschheit noch in einem ganz anderen Sinne als andere Bevölkerungen der Erde.

Versetzen wir uns in die Gemütsart dieser alten Europäer. Sie alle sagten sich: Ich sehe ja, daß ich mit den Göttern zusammenhänge, ich reiche ja hinauf in das Reich der Götter. - Und dadurch entwickelte sich gerade auf dem Boden Europas ein starkes Persönlichkeitsbewußt­sein, ein Bewußtsein von dem eigenen göttlichen Werte der mensch­lichen Persönlichkeit, ein starkes Freiheitsbewußtsein vor allen Din­gen. Diese Gemütslage müssen wir uns denken, denn dieses Persönlich­keitsbewußtsein war es, das auch diejenigen europäischen Völkermas­sen mirbrachten, die dann hinunterzogen und die griechische und ita­lische Halbinsel bevölkerten. Namentlich sehen wir die Nachzüg­ler dieses Freiheitsgefühls in den alten Etruskern. Selbst in der eigen­tümlichen Kunst sehen wir dieses starke Freiheitsgefühl der Etrusker strömen, die sich dieses Gefühl auf spirituellem Grunde erhalten hat­ten. Bevor das eigentliche königlich-römische Reich sich aufgerichtet hatte auf der italischen Halbinsel, war die Etrusker-Bevölkerung da und hatte in ihrer Verfassung etwas in hohem Grade Freiheitliches; sie war auf der einen Seite freilich etwas hierarchisch aufgebaut, an­dererseits aber war sie auch im höchsten Sinne freiheitlich. Jede Stadt sorgte stark für ihre Freiheit, und irgendeinen Staatsverband im spä­teren Sinne würden die alten Etrusker als etwas Unerträgliches emp­funden haben. Und alles, was da an Freiheit und Persönlichkeitsgefühl nach der südlichen Halbinsel hinunterzog, das kam aus den Ursachen heraus, die wir eben geschildert haben. Jene anderen Menschen aber, die fern hinübergezogen waren nach Asien, die enthielten ein Häuflein,

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von dem die göttlich-geistigen Welten sich am meisten zurück­gezogen hatten. Aber sie hatten sich eines dafür erobert, eines hatten sie sich aus dieser in tiefstes Dämmerdunkel hinabgegangenen Welt ge­rettet: das «Ich», das «Ich bin» - dieses, daß sie fühlten, daß in dem «Ich bin» ein ewiger Mittelpunkt ihres Wesens war, der aus der gei­stigen Welt selber stammte; daß alle Gestalten, die man früher gesehen hatte, sozusagen eine heilige Erinnerung bildeten, und daß ihre Stärke auf diesem festen Mittelpunkt beruhte, der ihnen geblieben war. Sie empfanden ihn noch nicht in seiner vollen Gestalt - dazu war eine spätere Zeit notwendig -, aber eine gewisse Gesinnung bildete sich gerade bei denen heraus, die am weitesten fortgeschritten waren, die am tiefsten hinuntergestiegen waren, eine Gesinnung, die ungefähr so geschildert werden könnte: Das, was wir vor allen Dingen zu pflegen haben, ist, unserer Göttlichkeit uns bewußt zu sein in dem, was wir im tiefsten Inneren unserer Seele finden. Wenn auch diese Seele vergessen hat, was sie einst an göttlichen Gestalten schaute, so können wir doch den Weg wiederum zu dem Göttlichen dadurch finden, daß sie in ihr Inneres, in das Ich-Gefühl hineinschaut. - Kurz, es bildete sich die Vorstellung des gestaltlosen Gottes heraus, der nicht in äußeren For­men erscheint, den man in seinem innersten Wesen suchen soll; eine Vorstellung, die uralt ist in dieser Strömung, und die sich in der sich fortentwickelnden Menschheit umgebildet hat in das Gebot: Du sollst dir von deinem Gotte kein Abbild, kein Gleichnis machen.

In uralten Zeiten hatte man den Gott selbst als Bild erlebt. Jetzt hatte sich das Bild in die Verborgenheit zurückgezogen, und man suchte alle Stärke aufzubringen, um den Gott aus dem Ich, wo er gestaltlos ist, in Vorstellung und Denken herauszuholen, eine Idee, eine Kraft des Gottes zu fassen und zu fühlen. Das war aber nicht sofort möglich; in den ersten Zeiten der nachatlantischen Kulturen war die Erinnerung an das, was man verloren hatte, noch zu stark, zu groß; die Seele fühlte: das Tor hat sich geschlossen; und die Sehnsucht, wieder hinauf-zukommen in diese geistige Welt, war zu gewaltig. Daher bildete sich als eine erste Kulturepoche diejenige aus, die vorzugsweise dieses Ge­fühl, die Sehnsucht nach der verlorenen, verborgenen geistigen Welt empfand; die in göttlicher Verehrung zu den Eingeweihten hinaufsah

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und flehte: Laßt uns teilhaft werden dieser verlorenen Welt. - Und unter dem Einflusse dieser Eingeweihten ward durch koloniale Strö­mung die uralte indische Kultur begründet, die vorvedische, wunder­bare, Schauer der Ehrfurcht weckende Kultur, die in den Veden ihren letzten Niederschlag gefunden hat; die Kultur, in der die Sehnsucht nach der geistigen Welt so groß war, daß man danach strebte, auf künstlichem Wege einen Zusammenhang mit den alten Göttern und Geistern wiederzugewinnen. Die Sehnsucht, aus dieser Welt zu fliehen, in die man eingetreten war, die entstand als starkes Gefühl in dieser ersten nachatlantischen Kulturepoche. Und dieses Gefühl sehen wir auf dem Grunde der Seelen, die noch die Unterweisung der Eingeweih­ten, der heiligen Rishis, erfahren durften. Wir sehen, wie sich bei ihnen dies Gefühl entwickelt: Die Welt, die wir um uns herum sehen, die Welt, die wir uns jetzt errungen haben, die Welt des physischen Planes ist nur eine Illusion, sie ist wertlos, sie ist Maja; wertvoll aber ist die Welt, die hinter diesem täuschenden physischen Plane liegt. - Und so entwickelt sich das Gefühl von der Wertlosigkeit des physischen Pla­nes, von der Notwendigkeit, ihn zu fliehen und zum Geistigen zu ge­langen; es entwickelt sich dasjenige, was wir als die Basis dieser uralten Kultur kennen, was aber damit zusammenhängt, daß der Mensch sein starkes Persönlichkeitsgefühl verlieren muß, wenn er sich sozusagen ganz und gar herausgestellt sieht aus dem Göttlichen und in der Sehn­sucht nach diesem Göttlichen lebt. Er strebt danach, ganz aufzugehen im Göttlichen, mit Auslöschung seiner Persönlichkeit; lieber ist ihm die Vernichtung des Eigenwertes der Persönlichkeit als das Leben in­nerhalb dieser Persönlichkeit. Wir müssen diese alte Kultur vorzugs­weise als Stimmung begreifen, dann verstehen wir jenes Fliehen vor dem Materiellen: wie der Mensch, wenn er das Göttliche aufsuchen wollte, frei sein mußte von den Banden des Sinnlichen, wie er heraus sein mußte aus aller Illusion, aller Maja.

Das war die erste nachatlantische Kulturepoche. Die Mission der nachatlantischen Kultur aber besteht darin, daß der Mensch die Welt, in die er hineingestellt ist, sich immer mehr zu eigen macht, sich immer mehr erobert. So sehen wir, daß in der persischen, in der Vor-Zara­thustrischen Kultur, die erste Phase dieses Eroberns der äußeren physischen

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Welt sich abspielt. Den alten Persern - und es sind hier die vor­historischen Perser gemeint, denen eine Kolonie der hinübergewander­ten letzten Atlantier zugrunde liegt - eignete schon ein anderes Be­wußtsein; sie empfanden den physischen Plan schon als etwas Reales. Nicht mehr als etwas Fremdes erschien dem alten Perser der physische Plan; er sagte sich: In diesem physischen Plane sind auch Möglich­keiten, den Geist zu pflanzen und zu pflegen. - Er beachtete die phy­sische Welt bereits; er studierte sie noch nicht, aber er beachtete sie. Der alte Perser empfindet in ihr noch ein Feindliches, aber so, daß er den Feind überwinden kann. Er macht sich zum Freunde, zum Genos­sen des Gottes Ormuzd, um die Materie zu erlösen. Er arbeitet in das Physische hinein; nach und nach beginnt er etwas davon zu ahnen, daß diese Welt nicht nur Maja, nicht bloß wesenloser Schein, sondern eine zu beachtende Wirklichkeit ist.

Und dann sehen wir, wie ein anderer Zug mehr nach Vorderasien und Afrika geht und dort die chaldäische und die ägyptische Kultur begründet. Da ist man schon wieder ein Stück weiter in der Eroberung des physischen Planes. Da sind die Menschen so, daß sie das Äußere, Sinnliche nicht mehr als bloß feindlich empfinden oder gar als nichtig. Da richtet der Mensch schon seinen Blick hinauf zu den Sternen und sagt sich: Nicht Maja sind diese Sterne, nicht bloß Schein! - Und er vertieft sich in den Gang der Sterne, er studiert, wie Stern an Stern sich nähert, welche Wandlungen die Sternbilder machen. Und er sagt sich:

Das ist ein äußerer Ausdruck der waltenden Götter, eine Schrift, die die Götter geschrieben haben. Das Äußere, Sinnliche ist nicht nur Schein, es ist eine Offenbarung der Götter. - Ein weiterer Schritt ist getan: das Sinnlich-Materielle wird als ein Ausdruck des Göttlichen betrachtet, man fängt an, Weisheit im Sinnlichen zu suchen. Und man richtet den Blick hinunter vom Himmel auf die Erde in der ägyptischen Welt; man studiert Geometrie, um die Erde zu beherrschen; man ver­mählt das, was der Geist erreichen kann, mit der sinnlichen Materie -ein wesentlicher Fortschritt in der Entwickelung. So geht es stufenweise weiter.

Und jetzt, innerhalb der dritten Kulturepoche, bildet sich wiederum ein kleines, abgesondertes Häuflein, das in gewisser Weise alles das

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aufnimmt, was an alten Traditionen und an neuen Errungenschaften hat gewonnen werden können; ein kleines Häuflein, dessen Einge­weihte die uralte Weisheit, die frühere Genossenschaft mit den Göttern bewahrt hatten; dessen Eingeweihte wiederzugeben wußten, was man als Erfahrung wissen konnte aus der geistigen Welt, und die zugleich chaldäische Weisheit - Gottesschrift im Weltenraum - und ägyptische Weisheit, die in der symbolischen Vermählung des Geistigen mit dem Physischen aufgeht, in sich aufgenommen hatten. Und diese Gruppe von Menschen ist es, die in diesem Sinne das auserwählte Volk zu nennen ist. Es ist dasjenige Volk, das den größten Zeitraum der Welt­geschichte vorzubereiten hatte, das alttestamentliche Volk, das in seinem Alten Testament, in bezug auf alle uralten Ereignisse und auch auf das Fortlebende, in der Tat das größte und bedeutsamste Doku­ment hatte. Und es ist nicht nur eine gelehrte Verirrung, sondern eine Farce, wenn irgendeine Schöpfungsgeschichte auch nur annähernd als von gleichem Werte mit der alttestamentlichen angesehen wird. Denn das Alte Testament enthält in gewaltigen Bildern das Herabsteigen des Menschen aus göttlichen Höhen und verknüpft zugleich die histori­schen Erlebnisse des Menschen mit diesen kosmischen Ereignissen. Alles das enthält die alttestamentliche Geschichte genau, und vor allen Din­gen das, was dem Weltenzusammenhange voll entspricht.

Wir haben gesehen, wie des Menschen Keimanlage zu dem «Ich bin» sich Stufe für Stufe in der Erdentwickelung vorbereitet hat. Wir haben gesehen, daß diese Keimanlage sich niemals hätte ausbilden kön­nen, wenn die Sonne sich nicht von der Erde getrennt hätte; daß auch der Mond sich von der Erde hat trennen müssen, und daß dann diese Keimanlage sich erst allmählich dadurch weiter ausbilden konnte, daß der Horizont gegenüber der göttlich-geistigen Welt sich verschlossen hatte. Machen wir uns klar, wie diese Keimanlage sich ausgebildet hat. Was lernt denn der Mensch allmählich in seiner Erdentwickelung? Wir sehen zurück auf alte Zeiten, wo er noch nicht hat wahrnehmen können, wo er bloß in der geistigen Welt gelebt hat; dann kam die Zeit, wo die Dinge im Physischen ihm nur verschwommen erschienen, wo er immer noch die geistigen Reiche wahrnehmen konnte. Wer war es denn, der diesen Menschen so vorbereitete, daß er in späteren Zeiten, als er die

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volle Sonne hat sehen können, auch reif dazu war? Derjenige Gott war es, der den Menschen sozusagen aufpäppelte zu der vollen Reife, den wir Jehova genannt haben, der sich getrennt hat von den Elohim, um von dem Monde aus vorzubereiten den höchsten Augenblick des Erdendaseins. Während der Mensch noch nicht hat wahrnehmen kön­nen in der äußeren Welt, träufelte der Gott Jehova das Ich-Bewußtsein ein. Er war es, der sich einschlich in die alten Einweihungen, die bei dumpfem Bewußtsein stattfanden; der den Menschen im Traum er­schien, der die Menschen langsam vorbereitet hat für die Ich-Reife, die sie erst durch den Herabstieg des Christus erlangen konnten. Nicht auf einmal ist er gekommen, der Christus, nicht auf einmal hinuntergestie­gen, sondern das war nur die letzte, persönliche Erscheinung; gewirkt aber hat er schon in jenen alten Zeiten durch die Propheten. Weist doch der Christus im Johannes-Evangelium selbst darauf hin, daß diejenigen, die nicht an Moses und an die Propheten geglaubt haben, auch nicht an ihn glauben würden; denn er sagt, Moses und die Propheten haben von ihm gesprochen, zwar noch nicht von dem, der auf der Erde gestanden hat, aber der angekündigt worden ist. Der Christus hat in diesem Sinne eine gewisse Geschichte in der Erdentwickelung. Wenn wir zurück­gehen in die alten Mysterien, können wir überall diese Geschichte des Christus und sein Herabsteigen finden.

Studieren wir einmal die europäischen Mysterien. Da herrscht über­all ein gewisser tragischer Zug. Wenn Sie sich hineinversetzen in diese alten Mysterien, dann können Sie sehen, daß die Lehrer überall zu ihren Schülern sagen: Ihr könnt euch erheben zu hohem Göttlichem, in hohem Sinne eingeweiht könnt ihr werden; aber es gibt etwas, was ihr jetzt noch nicht voll erkennen könnt, auf das ihr warten müßt, auf das wir auch nur hinweisen können: das ist der kommende Christus. - Überall in den nordischen Mysterien hat man von dem Christus als von einem Kommenden gesprochen; gekannt haben sie ihn überall, nur nicht als einen, der schon auf Erden war. Gekannt haben ihn die Eingeweih­ten drüben in Asien, in Ägypten, überall haben sie gewußt, es ist der Christus im Anzuge, er wird einst da sein. Und überall haben sie ge­wußt, daß die alten Mysterien nicht zur höchsten Stufe hinaufführen können. Das ist symbolisch erhalten geblieben. Wir dürfen nur nicht

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die Dinge pressen, nicht in scharfen Konturen, sondern ganz subtil sind sie zu nehmen, teils als Wahrheit und teils nur vergleichsweise. Es ist etwas von jenem tragischen Zuge geblieben gegenüber den alten Göttern und dem Warten auf den Christus, da der Glanz der Götter verschwinden wird vor dem Glanze des Christus. Wir finden es bis in die spätesten Sagen der germanischen Götter. Etwas Merkwürdiges hat die Sage dem Siegfried zugeschrieben: Er war unverwundbar; er hatte die Stärke des Eingeweihten im Sinne der europäischen Myste­rien. Aber eine Stelle war verwundbar geblieben, da wurde auch er ver­wundet, und das hat ihm auch den Tod gebracht. Welche Stelle war das? Jene Stelle, wo später bei dem, den man erwartet hat, das Kreuz gelegen hat. Die Stelle, an der Siegfried noch verwundbar war, sie ist zugedeckt worden bei dem Gange nach Golgatha durch das Kreuz. Das ist die letzte Erinnerung an jenen tragischen Zug, der durch die alten europäischen Mysterien gegangen ist. Aber oft hat man auch in jenen Mysterien, aus denen das Alte Testament hervorgegangen ist und in die Moses eingeweiht war, und die Moses dann innerhalb seines Volkes so weit verpflanzt hat, als es ihm möglich erschien - oft hat man auch da hingewiesen auf diesen eigentümlichen Entwickelungsgang der Menschheit. Und es ist mehr als ein bloßes Bild, es ist etwas, was dem Bilde eine tiefe Wirklichkeit gibt, was wir etwa so aufzeichnen können.

Nehmen wir an, wir haben den Menschen vor uns in seiner Vier­gliedrigkeit, und sein Ich, sein Astral-, Äther- und physischer Leib werden von der Sonne beschienen. Dadurch, daß der Christus auf die Erde gekommen ist, ist der Mensch fähig geworden, die physischen und geistigen Kräfte der Sonne aufzunehmen. Vorher war das anders. Da fiel während des Schlafes, wenn der Astralleib mit dem Ich außerhalb des physischen und Ätherleibes war, während der Nachtzeit sozusagen nicht das direkte, sondern das reflektierte Sonnenlicht vom Monde auf den Menschen herab; er nahm dies reflektierte Licht auf, nicht das direkte Sonnenlicht. Das ist als äußerlicher symbolischer Tatbestand genau so, wie es mit dem Christus war, der als geistiger Sonnenstrahl lebte, und mit Jehova, der so lange das reflektierte Christus-Licht zu­rückstrahlte, bis der Mensch reif wurde, das direkte Sonnen-Christus-Licht

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zu empfangen. Wie aus einem Spiegel sandte Jehova den Christus zur Menschheit nieder. Wie sprach man also von dem Christus, wenn man vor seinem Erscheinen sprach? Man sprach von ihm, indem man von Jehova sprach, und deshalb sagt Jehova zu Moses: Sage deinem Volke, ich bin der Ich-bin. - Das ist derselbe Name, der später dem Christus beigelegt wird. Er will gar nicht sein eigenes Antlitz schon der Menschheit zuwenden, er bereitet den Christus vor, das Bild des Chri­stus gibt er der Menschheit, bevor der Christus selbst zu ihr herunter-steigt. Und weil die Menschen in ihrem tiefsten Inneren, mit ihrem «Ich bin» diesen Christus erfassen sollen, weil sie in ihm den ganzen Her­unterstieg in diese physische Welt erfassen sollen, deshalb bewahrte sich diese Menschengruppe, die den Christus am echtesten vorbereiten sollte, am festesten die Idee des gestaltlosen Gottes. Eine neue Vorstellung des Gottes mußte sie sich erringen, nicht nur sich erinnern der alten Ge­stalt. Und so wird dieses Volk in seiner Jehoväreligion in der Tat das auf den Christus vorbereitende Volk. Nun aber muß man sich klar sein, daß alles das, was in der Welt besonders stark angestrebt werden soll, sozusagen auch von starken Impulsen ausgehen muß. Daher muß­ten auch die Kräfte des bildlosen Gottes gewissermaßen überspannt werden innerhalb des Alten Testamentes: ein ganz abstrakter bildloser Gott, der in den Mittelpunkt einer bloßen Ich-Wesenheit zusammenge­drängt ist, steht im Mittelpunkt der alttestamentlichen Religion, ein Ich-Gott, ein bildloser Gott.

Wo konnte nun dieser Gott zuerst eine solche Gestalt gewinnen, daß er von den Menschen, die nunmehr auf dem physischen Plan lebten und ihn sich erobern sollten, begriffen werden konnte? Da ist durch eine weise Fügung im Süden Europas etwas Merkwürdiges entstanden. Es haben Züge von Asien und von Afrika stattgefunden; sie haben sich vermischt mit denen, die vom Norden heruntergezogen waren. Die­jenigen, die vom Orient herüber die starke Überzeugung brachten von der Wertlosigkeit der Maja, von der Notwendigkeit, daß dieses ma­terielle Reich der Menschen in das Reich des Geistes verwandelt wer­den müsse, sie vermengten sich mit denen, die sich das starke Persön­lichkeitsgefühl errungen hatten. Und die stärksten spirituellen Kräfte, die auf der Wanderung vom Westen nach dem Osten am meisten zurückgeblieben

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waren, sie haben sich getroffen in Kleinasien, auf der griechischen, auf der italischen Halbinsel, und da hat sich die vierte Stufe herausgebildet, und wieder ist die Eroberung der physischen Welt einen Schritt vorwärts gegangen. Den Gott in der Tiefe zu erfassen und zu ahnen, das war die Mission der dritten Kulturepoche, der chal­däisch-ägyptischen Kultur; aus ihr mußte hervorgehen diejenige Volks­gruppe, welche den Gott in abstrakter Weise suchen konnte, als gei­stige Wesenheit, mit dem geringsten sinnlichen Inhalt. Aber im Süden Europas bildete sich eine andere Gruppe. Indem die Menschen mit dem starken nordischen Persönlichkeitsbewußtsein da heruntergezo­gen sind, bildete sich die Vermählung der menschlichen Seele mit der Materie, die wir in dem griechischen Tempel, in den griechischen Kunst­werken, in der griechischen Tragödie bewundern, wo der Mensch an­fängt, sein eigenes Schicksal zur Darstellung zu bringen, wo er seinen eigenen Geist in die Materie hineingeheimnißt, ihn den äußeren Tat­sachen einverleibt. Man möchte sagen: eine Ehe zwischen Geistigem und Physischem wird geschlossen, wo beide gleichen Anteil haben. An dem griechischen Kunstwerk, an allem, was der Grieche schafft, haben gleichen Anteil das Geistige und das Physische. Und in gewisser Be­ziehung ist das beim Römer ebenso; er weiß: In mir lebt der Geist, in mir kann das Geistige Persönlichkeit werden.

Nur auf dieser Stufe der Menschheitsentwickelung kann das, was sich angekündigt hat, auch seine äußere wirkliche Gestalt auf dem physischen Plan annehmen. Erst da konnte der Christus auf den phy­sischen Plan heruntersteigen, als der Mensch sich diesen physischen Plan erobert hatte. Ein Christus wäre nicht möglich gewesen in der alten Kultur, als nur die Maja der physischen Welt empfunden wurde, als nur die Sehnsucht nach der Vergangenheit in den Menschen lebte. Immer mehr wandte sich der Mensch zum physischen Plane hin in jener Zeit, als diese Ehe sich vollzog, die wir in der griechischen Kunst sehen, die in dem starken römischen bürgerlichen Bewußtsein ihren Ausdruck fand. Und das war auch die Zeit, wo das Christus-Prinzip im Fleische erscheinen konnte.

Daher müssen wir alle diejenigen, die vorher gewirkt haben, als wohl vertraut mit dem Christus ansehen; wir müssen sie ansehen als

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Propheten, die nur hinweisen konnten; die in dem Herabsteigen des Christus die Erfüllung dessen sahen, was sie selbst anstrebten.

Nunmehr werden wir in den nächsten Vorträgen sehen, wie das Christentum und andere Elemente zusammen einfließen in unsere nachchristliche Zeit und unsere Gegenwart bewirken. Heute sollte hin­gewiesen werden auf den Zeitpunkt, wo der Mensch durch die Erobe­rung des physischen Planes sich reif gemacht hat, um den Gottmen­schen, den Christus zu verstehen.

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ZEHNTER VORTRAG Stuttgart, 14. August 1908

Wir haben gestern gesehen, wie in der nachatlantischen Epoche der Menschheitsentwickelung die Menschen sich nach und nach den physi­schen Plan, das heißt also unsere physische Welt, erobert haben; wie sie immer mehr Verständnis dafür gewonnen haben, daß diese physi­sche Welt, in die der Mensch ja erst im Laufe der Zeit eingetreten ist, nachdem sie ihm vorher in verschwommenen Umrissen erschienen war, daß diese physische Welt der Ausdruck ist hinter ihr befindlicher gei­stiger Mächte und Kräfte. Wir haben gesehen, wie in der Zeit, in wel­cher die Griechen und Römer die führenden Völker sind, sozusagen eine Art Gleichgewicht besteht zwischen dem Verständnis der physisch-materiellen Welt und der aus den Menschen selbst herausgeborenen geistigen Welt. Der Mensch hat sich, wenn man so sagen darf, abge­funden mit der äußeren materiellen Welt, er hat sie nach und nach ver­stehen und lieben gelernt. Nun dürfen wir nicht glauben, daß diese Vorgänge nicht ihre entsprechenden Parallelen gehabt hätten in der anderen, der geistigen Welt. Ja, wir können sogar weiter zurückgehen in der Menschheitsentwickelung und wir finden, daß in demselben Maße, wie sich die Verhältnisse außen für den Menschen in bezug auf die Beobachtung und Wahrnehmung der physischen Welt ändern, sich auch die Verhältnisse für das andere Bewußtsein wesentlich umgestal­ten. Wir haben ja bisher den Hauptwert eigentlich darauf gelegt, wie dieses Bewußtsein war, wenn der Mensch sich im Schlafe aus seinem physischen Leibe herausgezogen hatte; wir haben gesehen, wie in der atlantischen Zeit, nachdem er im Wachen verschwommene Konturen wahrgenommen hatte, die göttlich-geistigen Wesenheiten in einer Art von dämmerhaftem Hellsehen vor ihm aufgetaucht sind.

Um die ganze menschliche Wesenheit aber zu verstehen, müssen wir auch Rücksicht nehmen auf jene anderen Wechselzustände im Bewußt­sein, die mit dem zusammenhängen, was wir Tod nennen und was jen­seits des Todes liegt; und da werden wir sehen, daß unser gewöhnliches Leben, das wir zwischen Geburt und Tod beobachten können, noch

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eine wesentlich andere Seite hat. Wir müssen die Frage möglichst präzis stellen. Wir haben ja die Schicksale der Menschen betrachtet in dem Leben zwischen Geburt und Tod seit den atlantischen Zeiten bis hinein in die griechisch-römische Zeit. Wie gestalten sich die Schicksale der Menschen zwischen Tod und neuer Geburt, denn das Leben des Men­schen läuft ja weiter nach dem Tode? In demselben Augenblick, wo während der alten lemurischen Zeit der Mensch sich überhaupt zum ersten Male in eine irdische Inkarnation begibt, und also sozusagen für ihn ein Abwechseln entsteht zwischen einem Leben in einem phy­sischen Leibe und einem Leben außerhalb desselben, das heißt also zwi­schen Tod und neuer Geburt, in demselben Augenblick hat der Mensch, wenn er sein ganzes Leben ins Auge faßt, ja gewissermaßen ein Dop­pelleben, ein Doppelschicksal, eines auf der Erde und eines zwischen seinem Tode und der neuen Geburt in der geistigen Welt. Und obzwar vielfach der Glaube besteht, daß es Veränderungen nur in der phy­sischen, irdischen Welt gebe, und daß alles zwischen dem Tode und einer neuen Geburt im Grunde genommen mit wenigen charakteristi­schen Worten bezeichnet werden könne, so ist dieser Glaube doch durchaus unrichtig. Es ändern sich die Schicksale auch innerhalb dieser geistigen Entwickelungsepoche des Menschen.

Wir werden am besten verstehen, wie diese Veränderungen vor sich gehen, wenn wir ganz im groben einen Blick werfen auf das Leben, das der Mensch in der physischen Welt hier führt, und auf sein Verhältnis zu den anderen Reichen um ihn. Der Mensch ist ja, so wie er jetzt ent­wickelt ist, keineswegs ein Wesen, das absolut bloß für sich da ist, son­dern er steht in mannigfaltigster Beziehung zu alldem, was um ihn herum ist. Denken Sie sich einmal, wie das Bewußtsein des Menschen, das Selbstbewußtsein abhängig ist von dem, was um ihn herum ist! Wären keine anderen Reiche um uns, kein Mineralreich, kein Pflanzen- und Tierreich, gäbe es keinen Luftkreis, keine Wolkenbildung, die uns das Licht zurückwirft, so würde unser Ich, so wie es jetzt ist, sich nicht haben entzünden können an einer Außenwelt. So ist der Mensch schon in bezug auf sein Selbstbewußtsein während des Tages gleichsam hineingetaucht in seine Umwelt. Er ist auch hineingetaucht in eine Um­welt zwischen Geburt und Tod dadurch, daß er einen Ätherleib, einen

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physischen Leib hat. Er nimmt seine Genuß- und Nahrungsmittel aus den unteren Reichen der Natur. Das Mineral-, das Pflanzenreich, auch das tierische Reich, sie geben ihm Stoffe und Kräfte, die durch den Menschen hindurchgehen, so daß der Mensch sozusagen die Reiche der äußeren Natur durch sich hindurchfließen läßt. Wir können sagen:

Indem der Mensch sich entwickelt bis zur Geburt und dadurch ein­tritt in das irdische Dasein, geht er eine Verbindung mit den unteren Reichen der Natur ein. Allerdings geht er diese Verbindung erst in dem Maße ein, in dem er einen physischen Leib annimmt; da erst ist er darauf angewiesen, die anderen Reiche als seine Nahrungsmittel, als seine Unterhaltungsmittel in sich aufzunehmen. Der Mensch ist also hier in der physischen Welt kein absolutes Wesen. Denken Sie zum Beispiel, wie der Mensch fortwährend darauf angewiesen ist, ein gewisses Quantum Luft in sich aufzunehmen und wieder auszu­strömen. So ist er gar nicht abgeschlossen innerhalb seiner Haut, es dehnt sich seine Wesenheit in die Luft hinaus. So daß der Mensch, wenn er hereintritt in das physische Dasein, in einer gewissen Beziehung ein Verhältnis eingeht zu den unter ihm befindlichen Reichen, in sie untertaucht.

Wenn der Mensch nun im Tode seinen Leib verläßt, dann steigt er in die höheren Reiche hinauf, in das Reich der Engel, der Erzengel, der Urkräfte, ja in noch höhere Reiche steigt er hinauf. Genau so, wie er durch die Bedürfnisse seines physischen Leibes ein Verhältnis zu den unteren Reichen eingeht, so geht er nach dem Tode ein Verhältnis zu den höheren Reichen ein. Und nun versetzen wir uns einmal zurück in die Zeit, wo der Mensch erst angefangen hat, seine irdischen Inkar­nationen anzutreten, in die lemurische Vergangenheit, wo der Mensch zwar in einen physischen Körper untertauchte, aber noch sehr wenig Zusammenhang mit der physischen Welt hatte, wo sein physischer Leib ihm eigentlich noch kaum die Spuren von Sinnesorganen eingegliedert hatte, so daß er also kaum eine Wahrnehmung der äußeren physischen Welt hatte; wo er auch von den physischen Stoffen und Kräften noch wenig brauchte, wo er noch wenig heimisch in der physischen Welt war. Solch einen Zustand, wo der Mensch noch sehr wenige Beziehungen zu der physischen Welt hatte, gab es in der Tat im Beginne der Menscheninkarnationen.

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Um so mehr aber war er heimisch in den geistigen Wel­ten. Es war das ja zugleich die Zeit, in welcher der Mensch, wenn er herauskam aus seinem physischen Leib - nicht nur im Schlafe, sondern auch nach dem Tode -, eintauchte in eine Welt voll des geistigen Lich­tes, wo er eine Welt von geistigen Wesenheiten wahrnahm und gewis­sermaßen aus diesen geistigen Wesenheiten ebenso seine Kräfte herauszog, wie der Mensch es jetzt aus der physischen Welt tut, wo er sich in die über ihm aufgebauten höheren Reiche ebenso hinausdehnte, wie er heute sich in die physische Welt hineindehnt, wo er sich ausdehnte in die Reiche der Engel und der Erzengel und der höheren Reiche, die in das seinige hineinragten. Es war so, daß der Mensch mit dem Tode erst so recht sein zwar dämmerhaft-dumpfes, aber eben doch sein Be­wußtsein erlangte. So lebte er sich hinein, sich geistig ernährend - bild­lich gesprochen - von der Anschauung der göttlich-geistigen Wesen­heiten. Sein Ich hat sich der Mensch erobert im Laufe der Zeiten, als er durch die verschiedenen Inkarnationen in der äußeren physischen Welt gegangen ist; das hatte er früher nicht.

Andere Wesenheiten, von denen wir gesagt haben, daß sie auf frü­herer Stufe ihre Menschheit durchgemacht haben, hatten das Ich, und der Mensch lernte, indem er diese Wesenheiten anschauen kormte, das Ich kennen; er lernte es im rechten Maße eigentlich erst kennen in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt. Es war so, daß damals der Mensch, wenn er starb, das Gefühl hatte: jetzt beginne ich erst zu le­ben, jetzt lebe ich in der Anschauung von göttlich-geistigen Wesenhei­ten. Und es war tatsächlich so: je weiter er sich von dem Tode ent­fernte, je längere Zeit er nach dem Tode verlebte, desto höhere Stufen erreichte er, in die Sphären um so höherer Wesenheiten kam er. Immer bewußter und bewußter wurde er, bis eine Zeit kam - zwischen dem Tode und einer neuen Geburt -, wo ihm dasjenige Wesen erschien, das seinem Leben eigentlich erst den rechten Inhalt gegeben hatte, dem­gegenüber er empfand: aus dem bin ich, dem gehöre ich an. Das war in jener uralten Zeit dasselbe Wesen, das dann später auf der Erde er­schien, inkarniert als der Christus. Der Mensch hat zwar in der alten lemurischen Zeit den Christus nicht in einem physischen Leib gesehen, aber er hat ihn in der Mitte zwischen Tod und neuer Geburt gesehen,

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und so war er seiner teilhaft geworden, er kannte ihn in der geistigen Welt. Und immer näher rückte die Zeit heran, wo der Mensch be­wußter wurde in der physischen Welt. Wir wissen, dieses volle Be­wußtsein ist erst in der Mitte der atlantischen Zeit eingetreten, aber es geschah stufenweise. Je mehr der Mensch in der physischen Welt bewußt wurde, je mehr er die Keimanlage zum Ich in der physischen Welt hatte, desto weniger reichte sein Bewußtsein nach dem Tode in die höheren Welten hinauf. Zuerst konnte er sich nicht mehr auf­schwingen zu dem Anblicke der Christus-Gestalt, er sah nur noch En­gel und Erzengel; und später in der atlantischen Zeit ward ihm auch der Anblick der Engel und Erzengel nicht mehr, nur noch den Fort­geschrittenen war dieser Anblick vergönnt. Normalerweise hat der Mensch nur in dem alten dämmerhaften Bewußtsein die Engel wahr­genommen, und Engel sind es auch im christlichen Sinne, was in der Erinnerung die Griechen im Zeus und die Germanen im Wotan als ihre Gottheit angesprochen haben.

Wir haben davon gesprochen, daß der Mensch während der atlan­tischen Zeit auch im Schlafe der Genosse der Götter war, insbesondere aber in der Zeit zwischen Tod und einer neuen Geburt; das waren Engel, und im höchsten Fall Erzengel, und nur dann, wenn der Mensch sich in diesem Leben durch das, was man als gute Taten empfand, vor­bereitet hatte, wurde ihm in gewisser Beziehung der Anblick des Chri­stus durch die untergeordneten Wesenheiten des Christus vermittelt. Aber der Mensch kannte ihn noch, diesen Christus, gleichsam durch die Taten und die Wesenheiten der Engel und Erzengel hindurch. Wie durch ein gefärbtes Glas das Licht, gefärbt zwar, aber doch erscheint, so erschien die Christus-Gestalt mit allmählich abnehmender Stärke. Es war nichts anderes als der Sonnengeist, der mit abnehmender Stärke erschien; deshalb mit abnehmender Stärke, weil der Mensch immer mehr auf der anderen Seite der Welt herausrückte, auf der physischen Seite, und sie liebgewann.

So lebte sich der Mensch aus den alten Zeiten herüber. Und wir haben gesehen, wie in den Kulturepochen der nachatlantischen Zeit wiederum auflebte die Erinnerung an jene alte, tatsächlich durchlebte Epoche; in der ägyptischen Zeit lebte die Erinnerung an die lemurische

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Zeit auf. Wie wird also der Eingeweihte den Menschen das Leben nach dem Tode dargestellt haben? Er hat dafür gesorgt, daß die Menschen, wenn auch im schwachen Nachklange, nach dem Tode die Erfahrung haben machen können, daß sie sich bis zu dem erhoben, worin sich die alte Menschheit eigentlich geborgen fühlte, bis zu dieser Spitze, die der Sonnengeist in alten Zeiten war. Diesen Sinn hatte das, was man das alte ägyptische Totengericht nennt, dieses Totengericht, wo der Tote sozusagen vor seinen Richter gestellt wurde, der seine Taten wog. Sind die Taten für würdig befunden worden, so darf er durch seine Verdienste in der physischen Welt des Wesens teilhaft werden, darf anschauen das, was man in der charakterisierten Weise als einen Lichtgott, als einen Sonnengott empfunden hat. Es war das Wesen wieder­um, das nun Osiris genannt wurde. Die Fahrt zum Osiris, das Eins-werden mit ihm, das war es, was dem Toten zuteil werden sollte in der Wiederholung eines früheren faktischen Zustandes. So begreifen wir, was uns im Totenbuche, jener merkwürdigen Urkunde des Ägypter-volkes, erhalten worden ist. In meiner Schrift «Das Christentum als mystische Tatsache» konnte, durch die Natur der Verhältnisse bedingt, selbstverständlich nicht die volle Esoterik solcher Dinge angeschlagen werden, aber es handelt sich darum, daß man diese Dinge wesentlich vertiefen kann. Hatte man im Sinne der alten ägyptischen Anschauung gefunden, daß eine solche Seele nach dem Tode ihrer Taten wegen würdig war dieses Anblicks, so durfte sie sich mit Osiris vereinen. Ja, man spricht sie sogar selbst als einen Osiris an, weil sie sich ja mit ihm vereint hatte. Die Formel war: Der Osiris war geläutert in dem Teiche, der da ist südlich vom Felde Hotep und nördlich von dem Felde der Heuschrecken, wo die Götter des Grünens sich waschen in der vierten Stunde der Nacht und in der achten des Tages mit dem Bilde des Her­zens der Götter, übergehend von der Nacht zum Tage. - Es ist un­möglich, all die tiefen Beziehungen dieser Formel zum Ausdruck zu bringen. Wichtig ist es, zu verstehen den Ausdruck «von der Nacht zum Tage». Es ist vorher Nacht; aber übergeführt wird die Seele in einen Tag, in einen geistigen Tag, wo sie vereinigt sein wird mit Osiris, wo sie selbst ein Osiris sein darf.

So erlebt tatsächlich die Seele in einer anderen Welt, die zwischen

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Tod und Geburt verläuft, ihr Schicksal. Und immer mehr und mehr verdunkelt sich das Bewußtsein, niemals aber vollständig, denn nie­mals ist das Bewußtsein zwischen Tod und Geburt erloschen. Aber es verdunkelt sich, trivial ausgedrückt: Der Mensch muß sich immer mehr mit dem Anschauen niedrigerer Wesen begnügen, je mehr er die sinn­lich-physische Welt liebgewinnt; immer weniger können die höheren Wesen Gemeinschaft mit dem Menschen halten, der Mensch entschlüpft den höheren Wesenheiten. Alle die Wesenheiten, die noch in der atlan­tischen Zeit, als der Mensch noch hellseherisch war, gute Genossen des Menschen waren, namentlich in der Zeit zwischen Tod und neuer Ge­burt, sie entschwinden; nach und nach verliert sich das Verbindungsband zwischen dem Menschen und jenen alten Göttern. Wir haben ge­sehen, wie es noch Nachzügler gab des alten Hellsehens bis hinein in spätere Zeiten der europäischen Kultur, wie es noch Menschen gibt, die sich in gewissen Zuständen ihres Bewußtseins erheben können zu der Anschauung der Götter. Solche Menschen genießen auch nach dem Tode eine um so lebendigere Gemeinschaft mit den Göttern, um so inniger leben sie mit ihnen zusammen. Und das ist nicht nur den Men­schen wohl, das ist auch den Göttern wohl, denn die Menschen bringen hinauf das, was sie sich hier in der physischen Welt an Liebe erobert haben. Die Götter empfangen das als Opfer zurück, was die Menschen in der physischen Welt als Liebe empfangen. Aber immer weniger sind die Menschen geeignet dazu, weil sie die physische Welt immer lieber gewinnen.

Und für die Seelen derer, die in den Gegenden leben, aus denen die germanischen Völker hervorgegangen sind, ist es so, daß sie nach und nach nur selten zwischen Tod und Geburt des Anblicks der Götter teil-haft werden, daß die Götter nur wenig Gemeinschaft haben mit ihnen. Dadurch entwickelt sich eine gewisse Grundstimmung, eine gewisse Empfindung, daß die Götter den Zusammenhalt, die Herrschaft über die Erde verlieren, die sie ja selbst geschaffen haben. Und aus dieser Empfindung heraus fließt die Vorstellung von der Götterdämmerung. Das ist der wirkliche Grund für die Darstellung der Götterdämmerung:

Die Götter müssen sich von der Welt, die sie selbst geschaffen haben, sozusagen zurückziehen. Sie, die selbst noch in der atlantischen Zeit

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herabgestiegen sind in den Leib vorzüglicher Menschen und die höhe­ren Geheimnisse in den atlantischen Mysterien gelehrt haben, sie muß­ten sich nach und nach zurückziehen, und es war ihnen nur noch mög­lich, dadurch mit der physischen Welt in eine Berührung zu kommen, daß sie die fortgeschrittensten Menschen zu ihrem Werkzeug, zu ihrer Hülle machten. Es kam durchaus in der nachatlantischen Zeit vor, und diejenigen, die eingeweiht waren in die alten Druidenmysterien, wissen es, daß zum Beispiel eine uralte atlantische Individualität, die man immer als Sig bezeichnet hat, noch lange nach der atlantischen Kata­strophe in der mannigfachsten Weise in den Leibern der europäischen Menschen erschien, und alle die Namen, die sich erhalten haben als Sig­fried, Sigurd, die sollen nur exoterisch darauf hindeuten, daß eine alte Individualität immer wieder da war, zuletzt nur noch wahrnehmbar und sichtbar für die in die Mysterien Eingeweihten. Die verbanden sich mit einem solchen höheren Eingeweihten, und immer mehr wurde es notwendig, je mehr wir in unsere Zeit hereinkommen, daß eine sol­che Individualität sich diejenigen aufsuchte, die schon durch viele Inkarnationen hindurchgegangen und dadurch geläuterte Menschen waren.

Nunmehr müssen wir, um unsere Zeit vollständig verstehen zu kön­nen, den Rand eines großen Geheimnisses berühren, das uns vieles von dem, was sich in unserer Kultur zugetragen hat, verständlich macht. Wir wenden den Blick zunächst noch einmal auf den Mittelpunkt der atlantischen Entwickelung zurück, wo der Mensch, man könnte sagen, zuerst eröffnet erhalten hat die physische Welt. Das war eine Art von Kreuzweg für die Götter, für diejenigen, die in höheren Regionen die alten Genossen der Menschen waren. Der Mensch war aus geistigen Höhen herabgestiegen, immer tiefer in die physische Welt hinein. Er war durch drei Zeitepochen gegangen. Die dritte war die lemurische, die vierte war dann die atlantische, und auf sie folgen drei andere. Wir sind jetzt in der fünften Epoche. Die lemurische Epoche ist diejenige, die durch große Feuerkatastrophen zugrunde gegangen ist, die atlan­tische ging durch gewaltige Eis- und Wasserkatastrophen unter; unsere Zeit wird ihren Untergang finden durch andere Kräfte, durch ein ge­waltiges Überhandnehmen des Egoismus der menschlichen Natur, und

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dadurch durch einen Krieg aller gegen alle. Nur diejenigen, die sich dem spirituellen Leben zuwenden, werden, ebenso wie aus der lemu­rischen und atlantischen Zeit sich ein Häuflein Menschen den Weg ge­funden hat, einen Weg finden über die Katastrophe, die da bedeutet den Krieg aller gegen alle, und dieser Krieg aller gegen alle wird noch viel furchtbarer sein für die Menschenmassen, in denen er auftritt, als die Feuer- und Wasserkatastrophen es waren, wie furchtbar auch der Mensch sie sich vorstellen mag. Und es kann nur die Aufgabe sein derer, die sich heute dem spirituellen Leben zuwenden, daß sie alles daran setzen, daß möglichst viel von den guten Keimen unserer Zeit hinüber-gerettet wird in den sechsten Zeitraum, der den fünften ablösen wird. Dieser fünfte besteht ja aus großen Unterabteilungen: die altindische Zeitepoche, die persische, die ägyptische, die griechisch-lateinische und unsere, in der wir leben; und zwei andere, die sechste und siebente, wer­den ihr folgen bis zum Kriege aller gegen alle.

So stehen wir heute in der Entwickelung drinnen. Wir haben den Mittelpunkt der Erdentwickelung überschritten. Wären damals gegen die Mitte der atlantischen Zeit, also gerade vor dem Zeitpunkte, wo sie vollständig in die physische Welt eintraten, die Menschenwesen wie­derum der Vergeistigung entgegengegangen, dann wären alle die Er­oberungen des physischen Planes, von denen wir gestern sprachen, nicht eingetreten. In Wahrheit ist die Menschheit einen Weg hinuntergegan­gen, immer tiefer in die physische Entwickelung hinein. Der Mensch ist unter denjenigen Punkt hinuntergegangen, der den tiefsten Punkt dar­stellen würde, wenn er damals schon der Vergeistigung wieder entge­gengegangen wäre. Dieser Punkt, der so in der Mitte der atlantischen Zeit liegt, ist ein wichtiger Scheideweg, ein Kreuzweg gewesen für ge­wisse geistige Wesenheiten. Für sie sollte sich sozusagen entscheiden, ob sie mit hinuntersteigen wollten in eine Art von Abgrund, aus dem sie später sich wieder um so stärker erheben können, eben weil sie dann tiefer gesunken sind und deshalb größere Kräfte entwickeln müssen, oder ob sie den direkten Weg einschlagen wollten. Gewisse geistige We­senheiten, die früher Genossen der Menschen gewesen waren, schlugen nun den direkten Weg ein, sie beschlossen gewissermaßen, sich nie wie­der in menschliche Leiber hineinzubegeben, sie blieben im Reiche der

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Geister. An ihnen geht also diese Entwickelung der Menschheit mehr oder weniger spurlos vorüber. Dagegen gab es andere göttliche Wesen­heiten, unter denen sich zum Beispiel eine große Zahl in der Erinnerung der europäischen und anderer Völker erhalten hat unter den Namen Zeus und Wotan, die beschlossen haben, immer wieder zum Heile der Menschheit menschliche Leiber zu beziehen und herunterzusteigen, um für sie zu wirken. Aber es war nicht allen möglich, in demselben Maße herunterzusteigen, denn dadurch, daß der Mensch immer weiter hinabstieg in die physische Welt, wurden die Leiber ja ein immer weniger geeignetes Werkzeug für die göttlichen Wesenheiten. Immer mehr konnten diese Leiber die sich fortentwickelnden Menschenseelen auf­nehmen, und immer weniger konnten sie Werkzeug und Hüllen der göttlichen Wesenheiten sein. Nur diejenigen, die in einer gewissen Weise ihren Leib hinaufläuterten, die durch viele Inkarnationen hindurch ei­nen edlen Leib zustande gebracht hatten, die so stark geläuterte Äther- und physische Leiber hatten, daß sie gewisse Zusammenhänge mit der physischen Welt vollständig in ihrer Seele auslöschten; Menschen, die ihrer ganzen Gesinnung und Wesenheit nach mehr in dem lebten, was nicht auf der Erde war, als in dem, was die Erde bot; nur solche konn­ten noch die Seelen höherer geistiger Wesenheiten in sich aufnehmen, wie der Mensch in seinem physischen Leibe seine Seele aufnimmt. Aber daher geschah es auch, daß solche Wesenheiten, in denen göttlich-gei­stige Wesenheiten verborgen waren, welche sozusagen nicht tief genug hinuntersteigen konnten in die physische Welt, in einer eigenartigen Weise vor der Welt dastanden.

Denken wir uns eine solche Wesenheit, die durch viele Inkarnatio­nen hindurch ihren Leib, das heißt die Kräfte ihres Leibes, die innere Beherrschung ihrer Kräfte so weit ausgebildet hatte, daß sie mehr in der geistigen als in der physischen Welt lebte und dadurch der Träger einer solchen höheren Wesenheit werden konnte. Konnte solch ein Wesen vollständig verstanden werden von denjenigen Menschen, die ganz in die physische Welt herabgestiegen waren, die immer mehr sich bemüh­ten, gerade diesen physischen Plan liebzugewinnen und ihre Arbeit auf diesem physischen Plane zu verrichten? Oder konnte es nicht vielmehr von denen besser verstanden werden, die sich mehr den Charakter einer

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früheren Zeit erhalten hatten, die mehr Nachzügler früherer Zeitalter geblieben waren? In der Tat konnte eine solche Wesenheit weit besser verstanden werden von den Nachzüglern selbst der atlantischen Zeit. Namentlich sind es die mongolischen Völkerschaften, die nicht so tief hinabgestiegen sind, sich nicht so verstrickt haben in den physischen Plan, auch nicht so viel für dessen Eroberung getan haben wie die euro­päischen Völker. Wir sehen ja, wie gerade von den letztgenannten Völ­kern das geleistet wird, was wir die äußere physische Kultur, die Er­oberung des physischen Planes nennen, während die Nachzügler, die Spätlinge der atlantischen Kultur etwas Stationäres haben, sich daher nicht in die Welt der nachatlantischen Entwickelung hineinfinden können, weil sie sich gewisse Charaktereigenschaften bewahrt haben und dann degeneriert sind. Man weist vielfach heute darauf hin, daß die Japaner eine bedeutsame Entwickelung durchmachen aus ihren Cha­raktereigenschaften heraus; das ist eine Illusion. Das ist keine Entwicke­lung, die sie aus ihren Eigenschaften heraus durchmachen; wenn sie im letzten Kriege mit den von europäischen Völkern erfundenen Kriegs­schiffen und Kanonen gesiegt haben, so haben sie sich fremder Kultur bedient. Das ist keine Fortentwickelung, wenn ein Volk das angenom­men hat, was aus dem Wesen eines fremden Volkes entsprungen ist, sondern nur, wenn es sich aus seiner eigenen Wesenheit heraus entwic­keln kann. Darauf kommt es an. Von solchen Völkern, die in einer gewissen Weise stationär geblieben sind, die Zustände darstellen in einer späteren Zeit, über die die europäischen Völker durch das persönliche Bewußtsein, durch das Freiheitsgefühl herausgewachsen sind, von sol­chen Völkern konnten geistige Individualitäten, die in der atlantischen Zeit noch Genossen der Menschen waren, verstanden werden. Solchen Menschen mußte daher auch ihre Erziehung zugewendet werden. Und wir sehen da jenes große Geheimnis sich vollziehen, daß in der Tat diese Wesenheiten, welche damals, als die europäische Bevölkerung noch auf einer früheren Stufe der Entwickelung war, vollständig verstanden wurden, sich auch dort inkarnierten und als Lehrer in den großen Ein­weihungsschulen erschienen und deshalb später auch als Götter verehrt wurden. Wir sehen, wie Wotan, der früher als Eingeweihter in einem Menschenleib gewohnt und in den heiligen Mysterien gelehrt hatte, wie

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Wotan gerade dadurch, daß er nicht tief genug hinabgestiegen war, sich in jener Menschengruppe verkörpern konnte, die in einer gewissen Weise zurückgeblieben war, die eben deshalb etwas von der Nichtig­keit des physischen Planes fühlte, ihn nicht als vollwertigen Ausdruck der Gottheit ansah, sondern ihn als eine Stätte des Leides, des Wehs, des Schmerzes betrachtete, so daß es wirklich der Seligkeit entspre­chend sei, sich von diesem physischen Plane zurückzuziehen.

Diese Individualität des Wotan - wir sprechen innerhalb einer Ge­meinschaft von Schülern der Geisteswissenschaft und deshalb darf hier ein solches Geheimnis berührt werden -, diese Individualität, die wirk­lich als Wotan gelehrt hat in den Mysterien der germanischen Völker, ist dieselbe, die später zu derselben Mission wieder erschien als Buddha. Keine andere Individualität ist derjenige gewesen, der den Zusammen­hang zwischen unserer Welt und den höheren Welten als Buddha ver­mittelt hat, als jene, die einstmals über die Gegenden Europas zog und deren Erinnerung sich im nordischen Europa unter dem Namen Wotan erhalten hat.

Auf diese Weise sehen wir, wie für diejenigen Menschen sozusagen gesorgt wurde, die sich gewisse Neigungen und Zusammenhänge mit früheren Zuständen bewahrt hatten, die ein religiöses Leben führten und den physischen Plan nicht liebgewinnen wollten. Und auch die äußerliche historische Erscheinung von der guten Aufnahme des Bud­dhismus bei den mongolischen Völkerschaften wird Ihnen nun begreif­lich erscheinen. Das alles entspricht einer solchen weisen Führung der Menschheit.

Indem also die Menschheit sich mehr und mehr den physischen Plan erobern mußte, war es in einer späteren Zeit nicht mehr möglich, daß sich solche geistige Wesenheiten unmittelbar in einem Menschenleib verkörperten. Dazu bedurfte es einer stärkeren geistigen Wesenheit, jener Wesenheit, die früher von allen verkündet worden ist, die vor ihr gelehrt haben. Sogar die alten Ägypter, die in dem Osirisnamen noch an ihre Zugehörigkeit zu dem alten Geist der Sonne erinnern, sie sagten: Das Reich des Osiris wird wieder begründet werden auf Er­den. - Eine solche Individualität war dazu nötig wie diejenige, die wir als den Christus erkennen. Während er sich sozusagen immer mehr

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und mehr aus dem Reiche der Gestorbenen zurückzog - und wir sehen ihn förmlich auf der Seite jenseits des Lebens verschwinden -, rückt er von der anderen Seite immer mehr heran, bis er in der vierten Epoche sichtbar verkörpert ist in einem Menschenleibe, allerdings in einem Leibe, der ganz besonders dazu präpariert werden mußte. Solch ein Menschenleib wie diejenigen, die ganz bis zum physischen Plane her­untergestiegen sind, konnte das Christus-Prinzip nicht unmittelbar auf­nehmen. Dazu war etwas anderes notwendig. Selbst eine Wesenheit wie diejenige, welche wir ansprechen als Jesus von Nazareth, die viele Inkarnationen durchlebt hatte und auf hoher Stufe angelangt war und eine hohe Einweihungsstufe erreicht hatte, selbst sie war nicht etwa bei ihrer Geburt schon fähig, der Träger der Christus-Individualität zu werden. Wohl aber, nachdem sie sich durch ein Leben von dreißig Jah­ren dazu vorbereitet hatte, war sie fähig geworden, die äußeren mensch­lichen Hüllen, den physischen Leib, den Äther- und Astralleib so weit zu läutern und zu reinigen, daß die Individualität des Jesus von Na­zareth diese gereinigten Leiber verlassen konnte. Die Individualität des Jesus von Nazareth verließ im dreißigsten Jahre seines Lebens die äuße­ren Hüllen, die durch die Kraft dieser Individualität gereinigt worden waren. Angedeutet wird dieses Verlassen der äußeren Leibeshüllen im Evangelium durch die Johannes-Taufe im Jordan. Da ist es, wo die Wesenheit ausgetauscht wird, wo die Christus-Individualität Besitz ergreift, jetzt nicht von einem gewöhnlichen Menschenleibe, sondern von einem Leibe, der rein, geläutert ist in dreißig Jahren. So haben wir die drei Jahre, in denen der Christus auf Erden wandelte im Leibe des Jesus, und die im Evangelium als die Jahre zwischen der Taufe und dem Mysterium von Golgatha angedeutet werden. Nicht wie im ge­wöhnlichen Laufe der Dinge erschien hier eine Individualität so, daß sie schon bei der Geburt sich solche Gestalt zu geben vermochte, wie sie die Erfahrung vieler Inkarnationen möglich machte, sondern so, daß diese Individualität in einem Leibe aufgenommen wurde, der in einem dreißigjährigen Verstricktsein in der physischen Welt gelebt, der voll der physischen Welt zugewendet war, welche durch den Christus den großen Impuls empfangen sollte. Dadurch geschah bei dieser Auf­nahme der Christus-Individualität in die drei Leiber des Jesus von

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Nazareth etwas sehr, sehr Bedeutungsvolles, etwas, was der Esoteriker auch im Evangelium lesen kann, wenn er wirklich in ihm zu lesen ver­steht. Es steht darinnen, nur stehen solche Dinge verhüllt.

Bei dieser Taufe, da, wo das bedeutungsvolle Symbol der Taube er­scheint über dem Kopfe des Jesus, der nicht bloß inspiriert, sondern unmittelbar intuitiert wird von dem Christus, schießt etwas durch den ganzen Leib des Jesus von Nazareth bis in diejenigen Glieder hinein, welche in der heutigen Menschheitsentwickelung am meisten dem Ein­flusse des Menschen entzogen sind: bis in die Knochen hinein geschieht etwas. Jetzt sage ich etwas, was dem materialistischen Bewußtsein der Gegenwart als ein Wahnsinn erscheint, aber das macht nichts. Bis in die Knochen hinein erstreckte sich die Wirkung, als durchglüht und durchfeuert wurde der Leib des Jesus von Nazareth von der Chri­stus-Individualität, von dem hohen Sonnengeiste. Wenn Sie einen Knochen verbrennen, dann verbrennt die Knorpelmasse, und die Kno­chenasche bleibt zurück. Es ist etwas, was Ihnen dadurch anschaulich wird, daß sozusagen durch die dem Feuer entgegengesetzte, aber daher auch mit ihm verbundene Macht zusammengehalten wird Knochen­mineralmasse und Knorpelmasse. Das ist heute vollständig der Will­kür des Menschen entzogen: das wurde in die Willkür dessen gestellt, der später das Ereignis von Golgatha durchmachen sollte. Der Mensch ist heute imstande, seine Hand zu bewegen, aber er hat keine Gewalt, hineinzuwirken in die chemischen Kräfte seiner Knochen, er ist ver­festigt in seinen Knochen. Herrschaft über die Kraft, die Knorpel-masse und Knochenasche zusammenhalten, erhielt als einziger Leib, den es je auf der Erde gegeben hat, der Leib des Jesus von Nazareth durch die Intuition des Christus. Das wird uns damit angedeutet, daß durch dieses Beherrschen der Knochen diejenige Kraft in die Welt kam, welche imstande ist, den Tod wirklich zu besiegen in der physischen Materie. Denn die Knochen sind schuld an dem Tode des Menschen; dadurch, daß der Mensch so gestaltet wurde, daß er die feste Knochenmasse sich eingliederte, verstrickte er sich mit dem Mineralischen der Erde. Dadurch wurde ihm der Tod eingeboren, und nicht umsonst wird der Tod durch das Skelett dargestellt; solche Darstellung hat ihre große Berechtigung.

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Das ist die lebendige Kraft, die in der Lage ist, die Knochen einst wiederum zurückzuverwandeln, das heißt, allmählich in die Geistig­keit zu führen, was in der künftigen Mission der Erdentwickelung ge­schehen wird. Daher durfte auch keine fremde physische Macht ein­greifen in dieses Knochengewebe: Ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen! -Den anderen, die ans Kreuz gehängt wurden, wurden die Beine zer­brochen. An ihm mußte sich das Prophetenwort erfüllen: «es soll ihm kein Bein zerbrochen werden», damit dasjenige, was als ein großer, gewaltiger Zentrumsimpuls der Erde mitgeteilt worden war, nicht zer­stört würde durch einen fremden Einfluß. So wirkte damals in dem Mysterium, das sich bei der Johannes-Taufe vollzog, der hohe Sonnen-geist, der durch seine Trennung von der Erde die Menschheit in die physische Materie kommen ließ, der sie erst in die Verknöcherung ge­bracht hatte: so wirkte er, daß sie nun den Impuls bekam, diese Ver­knöcherung aufzuheben, zu vergeistigen. So gewagt es erscheint, in unserer heutigen Zeit solche Dinge zu sagen: es ist die Mission der an­throposophischen Weltbewegung, diese Dinge auch einmal auszuspre­chen, die in den Mysterien immer bekannt waren und immer gelehrt und geschaut wurden. Dadurch aber, daß dies sich vollzogen hat, wurde ein anderes Mysterium möglich, und nur dadurch wurde es möglich.

Sie wissen alle, daß die einzelnen Teile des physischen Leibes den menschlichen Wesensgliedern entsprechen: der physische Leib ent­spricht sich selbst, das Drüsensystem entspricht dem Ätherleib, das Nervensystem dem Astralleib, das Blutsystem dem Ich. Äußerlich phy­sisch schlug das Ich in die Menschheit dadurch ein, daß die Menschen physisch immer mehr und mehr mit dem Blute begabt wurden, und da­durch wurde der Mensch immer mehr fähig, sich in die physische Welt, in das Materielle hinunterzubegeben, daß die Welt des Blutes immer stärker und stärker wurde. Es mußte ein Zeitpunkt kommen, wo das überschüssige Blut geopfert werden mußte. So horribel es auch für den Chemiker erscheinen mag, es ist doch wahr, daß das überschüssige Ich, jenes Ich, welches die Menschheit ganz und gar hineingebracht hätte in den Krieg aller gegen alle durch das Überhandnehmen des Egoismus, daß jenes überschüssige Blut abgeflossen ist durch die Wunden des Erlösers

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auf Golgatha. In demselben Augenblick, da die Wunden des Er­lösers flossen, in demselben Augenblick war in der Menschheit der Keim gelegt, sich wieder zu erheben aus dem Orte, wohin sie tief hin­untergesunken war. Wären die Menschen damals schon, in der mittel-atlantischen Zeit, umgekehrt, dann wären sie niemals zur vollen Selb­ständigkeit gelangt. Sie mußten den physischen Plan erobern. Dann aber war auf diesem physischen Plane ein um so stärkerer Impuls nötig, und dieser Impuls kam durch den Christus. Und weil er stär­ker war, konnte er nicht nur die Menschheit aus der Gesunkenheit heraufführen, sondern noch etwas anderes, Wichtiges ist dadurch gesche­hen! Ein Stück Welt ist erobert worden durch den Menschen, das ein­gefügt wird den geistigen Welten, das zurückgetragen wird zu den geistigen Welten.

Wir sahen gestern, daß, als die griechisch-lateinische Zeit gekommen war, die Menschen so weit in der Eroberung der physischen Welt wa­ren, so tief in diese physische Welt verstrickt waren, daß sie einen Gott in Menschengestalt haben mußten, um ihn überhaupt wahrzu­nehmen, denn sie wären nicht mehr hinaufgedrungen in die geistige Welt, um so etwas zu begreifen. In der Zwischenzeit hatten sich auch auf der anderen Seite des Lebens - zwischen Tod und neuer Geburt -die Verhältnisse geändert. Dadurch, daß der Mensch mehr und mehr hinabgestiegen ist auf den physischen Plan, ihn immer mehr liebgewonnen hat, immer mehr Genuß aus ihm gesogen hat, ist ihm immer weniger wahrnehmbar geworden, was drüben, jenseits des Lebens war. Der Mensch blieb sozusagen mit einem guten Stück Erinnerung an diese Welt, wenn er drüben zwischen Tod und neuer Geburt lebte. Auch das hat sich in der Sage erhalten. Wenn uns aus der griechischen Kultur heraus erzählt wird, daß der Held Achilleus sagt: Lieber ein Bettler sein auf der physischen Welt, als ein König auf der anderen Seite -, so ist das ein wahrer Ausdruck für diese Zeit. Dadurch, daß der Mensch so viel von diesem physischen Plane erobert hatte, sehnte er sich zurück nach diesem physischen Plane, der ihn aber nicht viel hat mitnehmen lassen hinüber in jener Zeit. Erst dadurch> daß der Christus auf der Erde erschienen ist, daß der Mensch schon in Vor­bereitung während der alttestamentlichen Zeit von einem Christus erfahren

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hat, erst dadurch, daß der Mensch sozusagen hier im irdischen Dasein die Gestalt des Christus in seinen Geist, in seine Vorstellung auf­nahm, nahm er aus der physischen Welt in das Jenseits mit hinüber, was ihm das Licht wiederum brachte in der jenseitigen Welt. Er nahm das mit hinüber, was diese jenseitige Welt wieder hell und klar macht, was ihm dort den Christus wieder gibt, und zwar in höherem Glanze gibt als in der diesseitigen Welt. Daher sehen wir, wie sich das jenseitige Bewußtsein der Menschheit immer mehr trübt, je mehr es sich der Zeit nähert, die wir gestern beschrieben haben, und wie es sich dann aufhellt dadurch, daß der Mensch im Diesseits den Christus kennenlernt, daß er kennenlernt, was von dem Christus berichtet wird. Denn das, was er in der diesseitigen Welt von ihm aufnimmt, das geht ihm in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt nicht verloren, das nimmt er mit sich, und das ist es, was dem Ausdruck «sterben in den Christus hinein» entspricht.

So sehen wir, wie durch diese Entwickelung der Welt nicht nur das Leben der Lebendigen, sondern das Leben der Toten sich verändert. Und weil die Toten von dem, was sie hier von dem Christus lernten, von der Kraft, die sie hier von dem Christus erworben haben, zehren zwischen Tod und Geburt, weil ihnen das dort ihre Früchte bringt, und weil sie doch immer wiederkehren in immer neuen Inkarnationen, werden sie auch in immer mächtigeren, Christus-erfüllten Menschenleibern erscheinen und die Erde immer mehr zu einem Ausdruck dessen machen, was der Christus in der Umgestaltung der physischen Welt, in der Höherführung der Erde zu kommenden Stufen werden kann.

So sehen wir, wie Diesseits und Jenseits zusammenarbeiten, um die Erde wieder reif zu machen zu dem, was wir betrachtet haben: daß durch die Einverleibung des Christus-Geistes sie sich wieder vereinigen wird mit der Sonne, und daß dadurch innerhalb des ganzen Kosmos eine höhere Stufe erstiegen wird. Daher ist dies Ereignis, die Erschei­nung des Christus, nicht nur eine Tatsache, die für die Menschen von Wichtigkeit ist, sondern die Bedeutung hat für die Entwickelung des Kosmos.

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ELFTER VORTRAG Stuttgart, 16. August 1908

Wir haben weite Strecken der Menschheitsentwickelung und im Zu­sammenhang damit auch der Weltentwickelung vor dem Blicke unserer Seele vorüberziehen lassen. Wir haben gesehen, wie geheimnisvolle Zusammenhänge in der Weltentwickelung sich widerspiegelten in der eigentlichen menschlichen Kulturentwickelung, in der sogenannten nachatlantischen Zeit. Wir haben gesehen, wie die erste Periode unse­rer Erdentwickelung sich in der indischen Kultur spiegelte; wie die zweite, die der Trennung der Sonne von der Erde, sich in der persischen Kultur spiegelte; und dann haben wir versucht, soweit die Zeit es uns erlaubte, ganz besonders zu schildern und zu zeichnen, wie die man­nigfachsten Geschehnisse und Ereignisse der lemurischen Zeit, die die dritte Epoche unserer Erdentwickelung bildet und wo der Mensch die erste Anlage zum Ich erhielt, wie alle diese Geschehnisse sich in der ägyptischen Kultur widerspiegelten. Wir haben gesehen, wie die Ein­weihungsweisheit der alten Ägypter eine Art Erinnerung an diese Zeit ist, die die Menschheit erst während der Erdentwickelung durchge-macht hat. Und dann haben wir gesehen, wie der vierte Zeitraum, die Zeit der eigentlichen Ehe zwischen Geist und Leib, die uns so schön in den Kunstwerken der Griechen entgegentritt, eine Spiegelung der Er­lebnisse ist, die der Mensch mit den alten Göttern hatte, jenen Wesen­heiten, die wir als Engel bezeichnen. Und wir sahen: nichts ist zurück-geblieben, was sich spiegeln könnte für unsere Zeit, für den fünften Zeitraum, der sich jetzt bei uns abspielt. Aber es bestehen geheimnis-volle Zusammenhänge zwischen den einzelnen Kulturepochen der nachatlantischen Zeit, Zusammenhänge, auf die wir schon im ersten Vortrage hindeuteten. Sie erinnern sich, daß wir darauf hinwiesen, wie das Gebanntsein des gegenwärtigen Menschen an die unmittelbar sinnliche Umgebung, wie dieser, man möchte sagen, materialistische Glaube, daß nur das wirklich ist, was Geschehnis zwischen Geburt und Tod ist, was im Fleisch verkörpert ist, wie das darauf zurückzufüh­ren ist, daß die alten Ägypter solche besondere Sorgfalt auf die Konservierung

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ihrer Leichname verwandt haben. Damals hat man versucht, das, was physische Form ist vom Menschen, zu bewahren. Und das ist nach dem Tode nicht ohne Wirkung auf die Seele geblieben. Wenn die Form in dieser Weise konserviert wird, so ist in der Tat die Seele nach dem Tode in einer gewissen Beziehung noch mit der menschlichen Form verbunden, die sie während des Lebens hatte. Es bilden sich dann in der Seele Gedankenformen, die festhalten an dieser sinnlichen Form; und da der Mensch sich immer wieder und wieder verkörpert, die Seele in immer neuen Leibern auftritt, so bleiben diese Gedankenformen. Es hat sich fest eingewurzelt in der menschlichen Seele alles das, was sie erleben mußte, wenn sie aus geistigen Höhen hinunterschaute auf ihren als Mumie konservierten Leichnam. Daher hat die Seele es ver­lernt, den Blick abzuwenden von dem, was in das physische Fleisch eingebannt ist, und das hat es gemacht, daß zahlreiche Seelen, die im alten Ägypten verkörpert waren, heute mit der Frucht der Anschau­ung des sinnlichen Leibes wiederum verkörpert sind, sie können nur glauben, daß dieser sinnliche Leib das Wirkliche ist. Das wurde damals der Seele eingepflanzt. Denn all solche Dinge, die sich in einer Kulturepoche abspielen, sind durchaus nicht ohne Zusammenhang mit an­deren Kulturepochen.

Wenn wir die sieben aufeinanderfolgenden Kulturepochen der nachatlantischen Zeit betrachten, so nimmt der vierte Zeitraum, der gerade in der Mitte ist, eigentlich eine gewisse Ausnahmestellung ein. Man braucht diesen Zeitraum nur exoterisch zu betrachten, und man wird gewahr werden, daß da im exoterischen Leben die wunderbarsten äußeren physischen Dinge geschaffen werden, durch die der Mensch sozusagen in einer ganz einzigartigen harmonischen Weise die phy­sische Welt erobert. Wer zurückblickt auf die ägyptischen Pyramiden, der wird sich sagen: In diesen Pyramiden sehen wir noch eine Art geometrischer Form herrschen, die uns symbolisch zeigt, wie die Dinge etwas bedeuten. Es hat sich noch nicht jene tiefe Ehe vollzogen zwi­schen dem Geiste, dem formenden Menschengeiste, und der physischen Form. Insbesondere sehen wir das deutlich an der Sphinx, deren Ur­sprung wir ja aus einer Erinnerung an die atlantische ätherische Men­schengestalt hergeleitet haben. Wir sehen, daß diese Sphinx im physischen

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Leibe uns unmöglich eine unmittelbare Überzeugung geben kann, trotzdem es eine große Menschheitskonzeption ist; wir sehen in ihr den Gedanken verkörpert, daß der Mensch unten noch tierisch ist und erst im Ätherkopfe sich der Mensch bildet. Aber was uns auf dem physischen Plane entgegentreten kann, das sehen wir in den griechi­schen plastischen Gestalten veredelt, und was uns im moralischen Le­ben, im Schicksale der Menschen entgegentreten kann, das sehen wir in der tragischen Kunst der Griechen. In einer ganz wunderbaren Weise sehen wir da hinausgetragen auf den physischen Plan das innere Gei­stesleben; wir sehen den Sinn der Erdentwickelung, soweit die Göt­ter damit verknüpft waren.

Solange die Erde mit der Sonne verbunden war, waren auch die hohen Sonnengeister mit dem menschlichen Geschlecht verbunden. Aber nach und nach mit der Sonne verschwanden auch die hohen Göt­ter aus dem Bewußtsein der Menschen, stufenweise bis in die letzte at­lantische Zeit hinein. Es war das Bewußtsein der Menschen selbst nach dem Tode nicht mehr fähig, sich in die hohen Regionen hinaufzube­geben, wo eine unmittelbare Anschauung der Sonnengötter möglich gewesen wäre. Wenn wir uns - und vergleichsweise darf das ja gesche­hen - auf den Standpunkt der Sonnengötter stellen, so können wir sagen: Ich war verbunden mit der Menschheit, aber ich mußte mich zurückziehen eine Zeitlang. Sozusagen verschwinden im menschlichen Bewußtsein mußte die göttliche Welt, um dann in einer erneuerten, hö­heren Gestalt durch den Christus-Impuls wieder aufzugehen. - Ein Mensch, der in der griechischen Welt stand, konnte noch nicht wissen, was der Erde durch den Christus kommen würde, aber der Einge­weihte, der, wie wir ja sahen, den Christus schon vorher kannte, er konnte sich sagen: Diese geistige Gestalt, die als Osiris festgehalten wurde, mußte für eine Weile untergehen für den Blick des Menschen, verfinstern mußte sich der Götterhorizont; aber das sichere Bewußt­sein ist in uns, daß sie wiedererscheinen wird, die Gottesherrlichkeit auf Erden. - Das war das kosmische Bewußtsein, das man hatte, und dieses Bewußtsein von einem Heruntersinken der Gottesherrlichkeit und von dem Wiederaufgehen, das spiegelte sich im griechischen tra­gischen Kunstwerke ab, wo wir sehen, wie der Mensch selbst als Abbild

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der Götter hingestellt wird, wie er lebt und strebt und einen tra­gischen Untergang findet. Aber diese Tragik schließt zu gleicher Zeit in sich, daß der Mensch doch durch seine geistige Kraft siegen könne. So sollte das Drama, das Anschauen des lebenden und sterbenden Menschen, im Grunde auch ein Abbild des großen Zusammenhanges sein. Überall sehen wir so in Griechenland, auf allen Gebieten, diese Ehe zwischen dem Geist und dem Sinnlichen. Das war ein einzigartiger Zeitpunkt in der nachatlantischen Zeit.

Nun ist es merkwürdig, wie gewisse Erscheinungen der dritten Epoche wie durch unterirdische Kanäle mit unserem fünften Zeitraum in Verbindung stehen; gewisse Dinge, die wie Keime gelegt worden sind während der ägyptischen Periode, erscheinen wieder während un­serer Zeit; andere, die während der persischen Zeit als Keime gelegt wurden, werden in der sechsten Epoche wieder erscheinen, und Dinge der ersten Epoche werden im siebenten Zeitraum wiederkehren. Alles hat einen tiefen gesetzmäßigen Zusammenhang, und das Vorherge­hende deutet auf Zukünftiges hin. Am besten wird uns dieser Zu­sammenhang dadurch klar, daß wir es an dem extremsten Falle dar­stellen, an dem, was den ersten Zeitraum mit dem siebenten verbindet. Wir blicken zurück auf diesen ersten Zeitraum, und wir müssen da nicht auf das, was die Geschichte berichtet, Rücksicht nehmen, sondern auf das, was in den uralten vorvedischen Zeiten da war. Vorbereitet hat sich alles das, was später hervorgetreten ist; vorbereitet hat sich vor allen Dingen das, was wir als die Einteilung der Menschen in Kasten kennen. Gegen diese Kasten mag der Europäer viel einzuwenden ha­ben, aber in jener Kulturrichtung, die damals vorhanden war, haben diese Kasten ihre Berechtigung gehabt, denn sie hingen im tiefsten Sinne mit dem Menschheitskarma zusammen. Die Seelen, die aus der Atlantis herüberrückten, waren wirklich von ganz verschiedenem Wert, und es paßte in einer gewissen Weise auf diese Seelen, von denen die einen vorgeschrittener als die anderen waren, das Gliedern in solche Kasten nach ihrem vorher in sie gelegten Karma. Und da in jener alten Zeit die Menschheit sich nicht so überlassen war wie in unserer heutigen Zeit, sondern wirklich in einem weit höheren Sinne, als wir uns heute vorstellen können, gelenkt und geleitet wurde in ihrer Entwickelung -

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da vorangeschrittene Individualitäten, die wir die Rishis nennen, ein Verständnis dafür hatten, was eine Seele wert ist, welcher Unterschied zwischen den einzelnen Kategorien von Seelen besteht -, so liegt dieser Kasteneinteilung ein wohlbegründetes kosmisches Ge­setz zugrunde. Mag es in einer späteren Zeit noch so sehr als Härte er­schienen sein, in jenen alten Zeiten, wo die Lenkung eine spirituelle war, war dieses Kastenwesen ein wirklich der Menschennatur Ange­paßtes. Und ebenso wie es wahr ist, daß im allgemeinen in der norma­len Entwickelung des Menschen derjenige, der mit einem bestimmten Karma in die neue Epoche hinüberlebte, auch in eine bestimmte Kaste kam, ebenso wahr ist es, daß man nur dann über die Bestimmungen dieser Kaste hinauskommen konnte, wenn man eine Einweihungsent­wickelung durchmachte. Nur wenn man zu den Stufen kam, wo man abstreifte das, wohin einen das Karma hineingestellt hatte, nur wenn man in Joga lebte, dann konnten unter Umständen diese Kastenunter­schiede überwunden werden. Wir wollen uns des geisteswissenschaft­lichen Grundsatzes bewußt sein, daß jede Kritik der Evolution uns fernliegen muß, daß wir nur danach streben müssen, die Dinge zu ver­stehen. Mag diese Kasteneinteilung einen noch so schlimmen Eindruck machen, sie war mm vollsten Sinne begründet, nur müssen wir sie im Zusammenhang mit einer umfassenden, gesetzmäßigen Bestimmung in bezug auf das Menschengeschlecht betrachten.

Wenn man heute von Rassen spricht, bezeichnet man etwas, was nicht mehr ganz richtig ist; auch in theosophischen Handbüchern wer­den hier große Fehler gemacht. Man spricht davon, daß unsere Ent­wickelung sich so vollzieht, daß Runden, und in jeder Runde Globen, und in jedem Globus Rassen sich hintereinander entwickeln, so daß wir also in allen Epochen der Erdevolution Rassen haben würden. Das ist aber nicht so. Es hat zum Beispiel schon gegenüber der heutigen Menschheit keinen rechten Sinn mehr, von einer bloßen Rassenentwik­kelung zu sprechen. Von einer solchen Rassenentwickelung im wahren Sinne des Wortes können wir nur während der atlantischen Entwicke­lung sprechen. Da waren wirklich in den sieben entsprechenden Perio­den die Menschen nach äußeren Physiognomien so sehr voneinander verschieden, daß man von anderen Gestalten sprechen konnte. Aber

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während es richtig ist, daß sich daraus die Rassen herausgebildet haben, ist es schon für die rückliegende lemurische Zeit nicht mehr richtig, von Rassen zu sprechen; und in unserer Zeit wird der Rassenbegriff in einer gewissen Weise verschwinden, da wird aller von früher her gebliebene Unterschied nach und nach verwischt. So daß alles, was in bezug auf Menschenrassen heute existiert, Überbleibsel aus der Differenzierung sind, die sich in der atlantischen Zeit herausgebildet hat. Wir können noch von Rassen sprechen, aber nur in einem solchen Sinne, daß der eigentliche Rassenbegriff seine Bedeutung verliert. Was aber wird dann für ein Begriff an die Stelle des heutigen Rassenbegriffs treten?

Auch in der Zukunft, und mehr noch als in der Vergangenheit, wird die Menschheit sich sozusagen differenzieren, sich gliedern in gewisse Kategorien, aber nicht in aufgezwungene Kategorien, son­dern die Menschen werden aus ihrer eigenen inneren geistigen Fä­higkeit heraus dazu kommen, daß sie wissen, daß die Menschen zu­sammenarbeiten müssen zum gesamten sozialen Körper. Kategorien, Klassen wird es geben, aber wenn auch heute der Klassenkampf noch so sehr wütet, in denjenigen Menschen, die nicht den Egoismus aus­bilden, sondern das spirituelle Leben in sich aufnehmen, in denen, die sich nach dem Guten hin entwickeln, wird es so kommen, daß sie sich freiwillig eingliedern in die Menschheit. Sie werden sich sagen: der eine muß dies, der andere jenes tun. Teilung der Arbeit, Teilung sogar bis in die feinsten Impulse hinein muß eintreten; und es wird sich so gestalten, daß derjenige, der Träger für das eine oder das andere ist, nicht nötig haben wird, seine Autorität den anderen aufzuzwingen. Alle Autorität wird immer mehr freiwillig anerkannt werden, so daß wir im siebenten Zeitraum bei einem kleinen Teile der Menschheit wie­derum eine Einteilung haben werden, welche das Kastenwesen wieder­holt, aber so, daß keiner sich in die Kaste hineingezwungen fühlt, son­dern daß jeder sich sagt: Ich muß einen Teil der Menschheitsarbeit übernehmen und einem anderen einen anderen Teil überlassen - und beide werden gleich anerkannt werden. Die Menschheit wird sich nach moralischen und intellektuellen Differenzierungen gliedern und auf solcher Grundlage wird eine wiederum vergeistigte Kastenbildung ein­treten. So wird, wie durch einen geheimnisvollen Kanal hinübergeleitet,

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sich in der siebenten Epoche wiederholen, was in der ersten sich prophetisch gezeigt hat. Und so hängt auch die dritte, die ägyptische Kulturentwickelung zusammen mit der unsrigen. So wenig es auch einem oberflächlichen Blicke erscheinen könnte, so treten doch all die­jenigen Dinge in unserer Zeitepoche hervor, die während der ägyp-tischen Periode sozusagen veranlagt worden sind. Denken Sie sich ein­mal, daß die Seelen, die heute leben, zum großen Teile in ägyptischen Leibern verkörpert waren, die ägyptische Umwelt erlebt haben, dann nach anderen Zwischeninkarnationen jetzt wieder verkörpert sind und sich nun nach den angedeuteten Gesetzen unbewußt alles dessen er-innern, was sie in der ägyptischen Zeit durchlebt haben. In geheimnis­voller Weise tritt das nun wieder auf, und wenn Sie solche geheimnis­volle Beziehungen der großen Weltengesetze von einer Kultur zur an­deren erkennen wollen, dann müssen Sie sich mit der Wahrheit be­kanntmachen, nicht mit all den legendenhaften und phantastischen Darstellungen, die uns von den Tatsachen der menschlichen Entwicke­lung gegeben werden.

So wird zum Beispiel über den geistigen Fortschritt der Menschheit ziemlich oberflächlich gedacht. Man sieht, daß in einem bestimmten Zeitalter Kopernikus aufgetreten ist. Man sagt sich: Nun ja, er tritt auf, weil die Beobachtung in dieser Zeit gerade dahin geführt hat, daß man das Sonnensystem in Gedanken geändert hat. Wer eine solche An­schauung hat, der hat nicht einmal exoterisch studiert, wie Kopernikus zu seinen Ideen über den Zusammenhang am Himmel gekommen ist. Wer das studiert, und namentlich wer die großen, gewaltigen Ideen des Kepler verfolgt hat, der weiß etwas anderes darüber zu sagen, und er wird noch bestärkt durch das, was der Okkultismus dazu zu sagen hat. Nehmen wir das einmal, um es uns klar vorzustellen, recht hand­greiflich. Wir versetzen uns in die Seele des Kopernikus Diese war da in der alten ägyptischen Zeit; sie hat damals an einer besonders her­vorragenden Stelle den Osiriskultus erlebt und hat gesehen, wie Osiris als ein Wesen betrachtet worden ist, das dem hohen Sonnenwesen gleichkommt. Die Sonne stand in geistig-spiritueller Beziehung in dem Mittelpunkte des ägyptischen Denkens und Fühlens, aber nicht die äußerliche sinnliche Sonne, die nur als der körperliche Ausdruck des

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Geistigen angesehen wurde. So wie das Auge der Ausdruck der Seh-kraft ist, so war für den Ägypter die Sonne das Auge des Osiris, der Ausdruck, die Verkörperung dessen, was der Geist der Sonne war. Das alles hatte die Seele des Kopernikus einst durchlebt, und die unbewußte Erinnerung daran war es, die ihn dazu bewog, in der Gestalt, wie es in einem materialistischen Zeitalter sein konnte, diese Idee wieder zu er­neuern, diese alte Osirisidee, die damals spirituell war. Sie tritt uns da, wo die Menschheit tiefer heruntergestiegen ist auf den physischen Plan, in der materialistischen Ausgestaltung als Kopernikanismus ent­gegen. Die Ägypter haben das spirituell gehabt; sich an diesen Gedan­ken zu erinnern, war das Weltenkarma des Kopernikus, und das hat herausgezaubert jene Richtungskombination, die zu seinem Sonnen­system geführt hat. Und ähnlich war es bei Kepler, der in noch viel umfassenderem Sinne in seinen allerdings uns sehr abstrakt erschei­nenden drei Gesetzen den Wandel der Planeten um die Sonne darge­stellt hat. Er hat es aber herausgeholt aus einer tiefen Konzeption. Was aber auffallend ist bei diesem genialen Geiste, das ist die Stelle, die er selbst geschrieben hat, die uns mit Schauern erfüllt, wenn wir sie lesen und wo uns das eben Gesagte handgreiflich entgegentritt. Schrieb doch Kepler die Worte nieder: Ich habe mich hineinvertieft in dieses Sonnensystem, es hat sich mir enträtselt; ich will die heiligen Zeremo­niengefäße der Ägypter in die moderne Welt hereinbringen.

Die Gedanken, die im alten Ägypten den Seelen eingepflanzt wor­den sind, treten uns wieder entgegen, und unsere modernen Wahrhei­ten sind wiedergeborene ägyptische Mythen. In viele Einzelheiten hin­ein könnten wir das verfolgen, wenn wir wollten. Wir können es ver­folgen bis in die Anlagen der Menschen hinein. Wir gedenken noch ein­mal der Sphinx, jener wunderbaren rätselhaften Gestalt, die dann in der griechischen Kultur die Ödipus-Sphinx geworden ist, die den Men­schen das bekannte Rätsel aufgibt. Wir wissen aber auch schon, daß sie zusammengesetzt ist aus derjenigen menschlichen Gestalt, die auf dem physischen Plane noch der Tierform analog war, während ihr Äthe­risches schon menschliche Gestalt angenommen hatte. In der ägyptischen Zeit war der Mensch nur imstande, die Sphinx wirklich als ätherische Gestalt zu sehen, wenn er gewisse Einweihungsstufen durchgemacht

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hatte. Dann aber stand sie vor ihm. Und nun ist das Wichtige, daß, wenn man eine wirklich hellseherische Anschauung hat, man sie nicht nur wie einen Holzklotz vor sich hat, sondern daß sich gewisse Ge­fühle notwendig mit dieser Anschauung verknüpfen. Ein kalter Mensch kann unter Umständen an einer noch so bedeutsamen künstlerischen Erscheinung vorübergehen, ein kalter Mensch kann ungerührt bleiben; das hellseherische Bewußtsein ist nicht in dieser Lage: wenn es wirk­lich ausgebildet ist, wird das entsprechende Gefühl in ihm angeregt. Es ist in der griechischen Sage das richtige Gefühl ausgedrückt, das der Hellseher noch während der alten ägyptischen Zeit und in den griechischen Mysterien hatte, wenn er so weit war, daß ihm die Sphinx vor das Auge trat. Was war es denn, was ihm da vor das Auge trat? Etwas Unfertiges, etwas, was werden sollte. Er sah diese Gestalt, die in gewisser Beziehung noch tierische Formen hatte, im Ätherkopf sah er, was hineinwirken sollte in die physische Form, um diese menschen-ähnlicher zu gestalten. Wie dieser Mensch werden sollte, welch eine Aufgabe die Menschheit in der Entwickelung hatte, diese Frage stand lebendig vor ihm als eine Frage der Erwartung, der Sehnsucht, der Entfaltung des Kommenden, wenn er die Sphinx sah. Daß alle mensch­liche Forschung und Philosophie aus der Sehnsucht heraus entsteht, ist ein griechischer Ausspruch, aber zugleich auch ein hellseherischer. Man hat vor sich eine Gestalt, die nur mit astralischem Bewußtsein wahr­genommen wird, aber sie quält einen, sie gibt einem ein Rätsel auf: das Rätsel, wie man werden soll. Nunmehr hat sich diese Äthergestalt, die in der atlantischen Zeit da war und in der ägyptischen Zeit in der Er­innerung lebte, mehr und mehr dem menschlichen Wesen einverleibt, und sie erscheint auf der anderen Seite in der Menschennatur wieder, sie erscheint in all den religiösen Zweifeln, in dem Unvermögen unserer Kulturepoche gegenüber der Frage: Was ist der Mensch? - In all den unbeantworteten Fragen, in all den Aussprüchen, die sich um das «Ignorabimus» drehen, erscheint die Sphinx wieder. In den Zeiten, die noch spirituell waren, konnte der Mensch sich aufschwingen, die Sphinx wirklich vor sich zu haben; heute lebt sie in seinem Inneren als die zahl­reichen Fragen, die ohne Antwort sind. Daher kann der Mensch so schwer zu einer Überzeugung von der geistigen Welt kommen, weil die

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Sphinx, die früher außen war, nachdem gerade in dem mittleren Zeit­raum sich der gefunden hat, der das Rätsel gelöst, der sie in den Ab­grund, in das eigene Innere des Menschen gestürzt hat, weil diese Sphinx jetzt im Inneren des Menschen erscheint.

Nachdem die griechisch-lateinische Zeit mit ihren Nachwirkungen bis in das 13. und 14.Jahrhundert sich ausgelebt hat, leben wir seither in dem fünften Zeitraum. Seither haben sich immer mehr und mehr anstelle der alten Gewißheit neue Zweifel gesetzt. Immer mehr treten solche Dinge uns entgegen, und wenn wir nur wollen, können wir in vielen, vielen Einzelheiten der neueren Entwickelung die nur ins Mate­rialistische umgesetzten ägyptischen Vorstellungen wiederfinden. Nur müssen wir uns fragen, was da denn eigentlich geschehen ist; denn eine gewöhnliche Übertragung ist es nicht: es treten uns diese Dinge nicht unmittelbar entgegen, sondern so, daß sie modifiziert sind. Alles ist in mehr materialistischer Weise ausgebildet, sogar den Zusammen­hang des Menschen mit der Tierheit sehen wir, in materialistische An­schauung umgesetzt, wieder auftauchen. Daß der Mensch wußte, daß er früher seinen äußeren Leib noch nicht anders als tierähnlich gestalten konnte, daß er deshalb in der ägyptischen Erinnerung selbst seine Göttergestalten noch in Tierformen abgebildet hat, das tritt uns in den Weltanschauungen entgegen, die in materialistischer Weise den Menschen vom Tier abstammen lassen. Auch der Darwinismus ist nichts anderes als altes ägyptisches Erbgut in materialistischer Form.

Wir sehen also: nicht bloß ein gerader Fortgang der Entwickelung ist es, der uns da entgegentritt, sondern etwas wie eine Spaltung der Entwickelung. Ein Zweig wurde mehr materiell, einer mehr geistig. Das, was früher mehr in einer Linie gelaufen ist, spaltet sich in zwei Zweige der Menschheitsentwickelung. Gehen Sie in die alten Zeiten zurück, in die ägyptische, in die persische, in die altindische Kultur:

eine für sich bestehende Wissenschaft, einen für sich bestehenden Glau­ben gab es da nicht. Das, was man erfaßte über die geistigen Urgründe der Welt, geht in einer geraden Linie bis zu dem Wissen von den Ein­zelheiten herunter, und man kann aufsteigen von dem Wissen der ma­teriellen Welt bis zum höchsten Gipfel, einen Widerspruch zwischen Wissen und Glauben gibt es da nicht. Was wir heute diesen Gegensatz

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nennen, das würde ein altindischer Weiser, ein chaldäischer Priester nicht verstanden haben; sie wußten noch nicht von einem Unterschied, und auch die Ägypter wußten noch keinen Unterschied zwischen dem, was man bloß glauben soll und was ein Wissen sein soll. Dieser Unter­schied machte sich erst geltend, als der Mensch tiefer hineinsank in die Materie, als immer tiefer die materielle Kultur von der Menschheit erobert wurde. Dazu aber war noch eine andere Einrichtung not­wendig.

Denken wir uns einmal, daß dieser Abfall des Menschen nicht statt­gefunden hätte, was wäre dann geschehen? Wir haben einen ähnlichen Abfall schon gestern betrachtet, der aber anderer Natur war; dies ist ein erneuter Abfall auf anderem Gebiet, der etwa eintritt, als eine selbständige Wissenschaft neben der Erfassung des Geistigen auftritt. Das ist erst in der griechischen Welt der Fall, vorher gab es diesen Ge­gensatz zwischen Wissenschaft und Religion nicht; für den ägyptischen Priester hätte solche Trennung keinen Sinn gehabt. Versenken Sie sich in das, was Pythagoras von den Ägyptern gelernt hat: die Zahlenlehre. Sie war ihm nicht abstrakte Mathematik, sie war ihm das, was ihm die Musikgeheimnisse der Welt in der Harmonie der ZaMen gab; eine heilige, mit religiöser Grundstimmung verbundene Weisheit war ihm die Mathematik, die heute dem Menschen als etwas Abstraktes er­scheint. Aber der Mensch mußte immer mehr heruntersteigen mit der Wissenschaft in die materielle, physische Welt hinein, und wir sehen ja, wie selbst das, was die spirituelle Weisheit der Ägypter war, uns entgegentritt - wie in der Erinnerung umgestaltet - in der materia­listischen Weltanschauungsmythe. Für die Zukunft werden all die Theorien der heutigen Menschen ebenso als etwas, was nur zeitlichen Wert hat, empfunden werden, wie heute die alten Theorien von der Menschheit empfunden werden. Hoffentlich sind dann die Menschen so gescheit, daß sie nicht in den Fehler verfallen wie die heutigen Men­schen, die da sagen: Bis in das 19. Jahrhundert hat der Mensch unbe­dingt dumm sein müssen in der Wissenschaft, da erst ist er gescheit geworden, denn alles, was früher über den Menschenleib, über Anato­mie gesagt wurde, ist ja Unsinn, und wahr ist nur, was das letzte Jahr­hundert gebracht hat. - Aber der Mensch in der Zukunft wird gescheiter

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sein, er wird nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Er wird auf unsere Mythen der Anatomie, der Philosophie, des Darwinismus nicht so wegwerfend herunterschauen, wie der heutige Mensch auf die alten Wahrheiten herunterschaut. Aber es ist doch so, daß auch das vergängliche Formen der Wahrheit sind, was man heute als so fest be­gründet ansieht: das Kopernikanische Weltensystem, es ist nur eine vor­übergehende Form. Sie wird ersetzt werden durch etwas anderes. Die Formen der Wahrheit ändern sich fortwährend, das ist herbeigeführt worden durch das Untertauchen des Menschen in die Materialität. Dafür mußte aber, damit im Menschen nicht aller Zusammenhang verlorenginge, ein um so stärkerer geistiger Impuls kommen, ein Im­puls nach der Spiritualität hin. Diesen starken Impuls haben wir gestern charakterisiert in dem Christus-Impuls. Es mußte sozusagen die Menschheit «wissenschaftlich» eine Weile allein gelassen werden, und das Religiöse mußte in eine andere Strömung gebracht werden, ge­rettet werden vor dem fortschreitenden Einfall der Wissenschaft. So sehen wir, wie sich da abspaltet eine Weile die Wissenschaft, die auf das äußere Materielle geht, und das Spirituelle, das in einer besonderen Strömung fortgeht. Wir sehen, wie die zwei Strömungen, der Glaube für das Spirituelle und das Wissen für das äußere Materielle, neben­einander hergehen. Ja, wir sehen sogar, daß in einer ganz bestimmten Periode der mittelalterlichen Entwickelung, in einer Periode, die der unseren eben vorangegangen ist, Wissen und Glauben sich bewußt gegeneinander stellen, aber noch eine Verbindung suchend.

Sehen Sie sich die Scholastiker an. Sie sagen: Es ist dem Menschen durch Christus ein Glaubensgut gegeben, das dürfen wir nicht antasten, das ist unmittelbar gegeben; alle Wissenschaft aber, die die Zeit hat hervorbringen können, seitdem jene Spaltung geschehen ist, kann nur dazu verwendet werden, um dieses Glaubensgut zu beweisen. - So sehen wir, wie in der Scholastik die Tendenz herrscht, alle Wissen­schaft dazu anzuwenden, um die geoffenbarte Wahrheit zu beweisen. Da wo die Scholastik in ihrer Blüte steht, da sagt man: Man kann so­zusagen von unten hinaufblicken in das Glaubensgut, und bis zu einem gewissen Grade kann menschliche Wissenschaft es durchdringen. Aber dann muß man sich dem Geoffenbarten hingeben. - Dann aber verliert

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sich im weiteren Verlauf der Zeiten die Verwandtschaft zwischen Glau­ben und Wissenschaft, man hat keine Hoffnung mehr, daß sie zu­sammengehen können; und das äußerste Extrem sehen wir in der Kant­schen Philosophie, wo Wissenschaft und Glauben ganz und gar aus­einandergetrieben werden, wo auf der einen Seite der kategorische Im­perativ mit seinen praktischen Vernunftspostulaten hingestellt wird, und auf der anderen Seite die rein theoretische Vernunft, die allen Zu­sammenhang verloren hat, die sich sogar eingesteht: es gibt keine Mög­lichkeit, von dem Wissen aus einen Zusammenhang mit den spirituellen Wahrheiten zu finden.

Aber es ist auch schon ein starker Impuls wieder da, der wiederum eine Erinnerung alter ägyptischer Gedankeneinflüsse darstellt. Wir sehen, wie sich wiederum Geister finden, die nun einen Zusammen­fluß von Glauben und Wissen suchen, die in einer wissenschaftlichen Vertiefung wiederum das Göttliche zu erkennen suchen, und die da suchen, in dem Gott alles so klar und sicher zu erfassen, daß es wieder wissenschaftlicher Gedankenform zugänglich ist. Ein Typus eines sol­chen Denkens und Anschauens ist Goethe, bei dem tatsächlich Reli­gion, Kunst und Wissenschaft in eines zusammenfließen, der ebenso dem griechischen Kunstwerke gegenüber Religion empfindet, wie er eine Summe von Pflanzenformen durchforscht, um den großen Ge­danken der Gottheit wieder manifestiert zu finden im äußeren Aus­druck.

Da sehen wir, wie das Ägyptertum sich an seinem Ausgangspunkte widerspiegelt. Wir können die ganze moderne Kultur durchnehmen:

sie erscheint uns als eine Erinnerung des alten Ägyptertums. Aber diese Spaltung in der modernen Kultur ist nicht ohne weiteres zustande ge­kommen, sie hat sich langsam vorbereitet, und wenn wir verstehen wollen, wie das geschehen ist, dann müssen wir noch einen kurzen Blick darauf werfen, wie sich in der atlantischen Zeit die nachatlan-tische veranlagt hat.

Wir haben gesehen, daß ein kleines Häuflein von Menschen in der Gegend des heutigen Irland am meisten vorgeschritten war, wie sie diejenigen Fähigkeiten gehabt haben, die nach und nach in aufeinan­derfolgenden Kulturepochen heraustraten. Die Ich-Anlage hat sich ja,

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wie wir wissen, seit der lemurischen Zeit her entwickelt, aber jene Stufe der Ichheit, die in diesem kleinen Häuflein Menschen lebte, das sozu­sagen die Kulturströmung von Westen nach Osten geschickt hat, be­stand in der Anlage zum logischen Erwägen, zur Urteilskraft. Vorher gab es so etwas nicht; wenn ein Gedanke da war, war er auch schon bewiesen. Ein urteilendes Denken war bei diesem Völkchen veranlagt, und sie brachten diese Keimanlage hinüber vom Westen nach dem Osten, und bei jenen Kolonisationszügen, von denen einer nach Süden hinunterging, nach Indien, da wurde die erste Anlage zur Gedanken­bildung gemacht. Dann wurde der persischen Kultur der kombinie­rende Gedanke eingeflößt, und in der dritten, in der chaldäischen, wurde dieser kombinierende Gedanke noch intensiver; die Griechen aber brachten es so weit, daß sie das herrliche Denkmal der aristote­lischen Philosophie hinterließen. So geht es immer weiter, das kom­binierende Denken entwickelt sich immer mehr und mehr, es geht aber immer auf einen Mittelpunkt zurück, und es finden Nachschübe statt. Wir müssen uns das so vorstellen: Als die Kultur von jenem Punkte hinübergezogen ist nach einem Punkte in Asien, da wandte sich ein Zug nach Indien, der noch am schwächsten durchtränkt war vom rei­nen logischen Denken. Der zweite Zug, der nach Persien ging, war schon mehr durchdrungen davon, der ägyptische noch mehr, und in­nerhalb dieses Zuges hat sich das Volk des Alten Testaments abgeson­dert, welches gerade diejenige Anlage zur Kombination hatte, die ent­wickelt werden mußte, um wiederum einen Schritt vorwärts zu ma­chen in dieser reinen logischen Erkenntnisform des Menschen. Nun ist aber auch das andere damit verknüpft, was wir betrachtet haben:

das Heruntersteigen auf den physischen Plan. Je mehr wir herunterstei-gen, desto mehr wird der Gedanke bloß logisch und auf die äußere Urteilskraft angewiesen. Denn logisches Denken, reine bloße mensch­liche Logik, die von Begriff zu Begriff geht, die braucht zu ihrem In­strument das Gehirn; das ausgebildete Gehirn vermittelt bloß das lo­gische Denken. Daher kann dies äußerliche Denken, selbst da, wo es eine erstaunliche Höhe erreicht, niemals zum Beispiel die Reinkarna­tion durch sich selbst erfassen, weil dieses logische Denken zunächst nur anwendbar ist auf das Äußerliche, Sinnliche um uns herum.

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Die Logik ist zwar für alle Welten anwendbar, aber unmittelbar angewendet kann sie nur in bezug auf die physische Weit werden. Also an ihr Instrument, an das physische Gehirn ist die Logik unbe­dingt gebunden, wenn sie als menschliche Logik auftritt; nie hätte das rein begriffsmäßige Denken in die Welt kommen können ohne das Wejterheruntersteigen in die sinnliche Welt. Sie sehen, die Ausbildung des logischen Denkens ist verknüpft mit dem Verlust der alten hell­seherischen Anschauung wirklich hat der Mensch das logische Denken erkaufen müssen mit g: sem Verlust Er muß sich die hellseherische Anschauung wiederum iheinzuerwerben zu dem logischen Denken. In späteren Zeiten wird der Mensch die Imagination dazu erhalten, aber das logische Denken wird ihm bleiben. Erst mußte das menschliche Gehirn erschaffen werden heraustreten mußte der Mensch in die phy­sische Welt. Der Kopf mußte erst ganz ausgestaltet werden, dem Äther-kopfe gleich, damit dieses Gehirn im Menschen sei. Da erst war es möglich, daß der Mensch in die physische Welt herabsteigen konnte. Zur Rettung des Spirituellen aber mußte der Zeitpunkt gewählt wer-den, wo noch nicht der letzte Impuls zum rein mechanischen, zum rein äußerlichen Denken gegeben war. Wenn der Christus einige Jahrhun­derte später erschienen wäre, dann wäre er sozusagen zu spät gekom­men, dann wäre die Menschheit zu weit heruntergestiegen gewesen, sie hätte sich mit dem Denken zu weit verstrickt gehabt, sie hätte den Christus nicht mehr verstehen können. Vor dem letzten Impulse mußte der Christus erscheinen da noch konnte die religiös spirituelle Strö­mung als eine Glaubensströmung gerettet werden. Und dann konnte der letzte Impuls gegeben werden der das Denken des Menschen herunter-stieß in den tiefsten Punkt, so daß die Gedanken ganz gefesselt, ge­bannt wurden an das physische Leben. Das wurde durch die Araber und Mohammedaner gegeben. Der Mohammedanismus ist nichts an­deres als eine besondere Episode in diesem Arabertum, denn in seinem Herüberziehen nach Europa gibt er den letzten Einfluß in das rein le­gische Denken, das sich nicht erheben kann zu Höherem, Geistigem.

Der Mensch wird durch das was man eine geistige Weltenführung, eine Vorsehung nennen kann 5,0 geführt: Erst wird das spirituelle Le­ben gerettet im Christentum, dann zieht um den Süden herum der

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Arabismus nach Europa, das der Schauplatz für die äußere Kultur werden soll. Der Arabismus ist nur imstande, das Äußere zu erfassen. Sehen wir nicht, wie die Arabeske selbst sich nicht zum Lebendigen erheben kann, wie sie bei der Form stehenbleibt? Wir können es an der Moschee sehen, wie der Geist sozusagen herausgesogen ist. Die Menschheit mußte erst herabgeführt werden in die Materie. Und auf dem Umwege durch die Araber, durch die Invasion der Araber, durch das, was man nennen kann den Zusammenstoß des Arabismus mit dem Europäertum, das aber schon in sich das Christentum aufgenommen hat, sehen wir, wie die moderne Wissenschaft erst veranlagt wird.

So sehen wir, daß auf der einen Seite die alte ägyptische Erinnerung wieder auflebt. Was aber macht sie materialistisch? Was macht sie zu der Gedankenform des Toten? Wir können es handgreiflich zeigen. Wäre der Weg glatt fortgegangen, dann wäre in unserem Zeitraum die Erinnerung von dem Früheren aufgetreten. So aber sehen wir, wie sich das Spirituelle in den Glauben hineinrettet, und wie der eine Flü­gel der europäischen Entwickelung von dem Materialistischen ergrif­fen wird; wie dem Menschen, der sich an die alte ägyptische Zeit er­innert, diese Erinnerung auf dem Wege durch den Arabismus so um­gestaltet wird, daß sie ihm in materialistischer Form erscheint. Daß Kopernikus das moderne Sonnensystem überhaupt erfaßt hat, war eine ägyptische Erinnerung. Daß er es in materialistischer Weise gedeutet hat, daß er es zu einem Mechanischen, zu einem toten Rotieren gemacht hat, kommt davon her, daß von der anderen Seite her der Arabismus diese Erinnerung ins Materialistische herunterzog.

So sehen wir, wie geheimnisvolle Kanäle gehen von dem dritten zum fünften Zeitalter. Das sehen wir selbst in dem Einweihungsprin­zip. Denn als das moderne Leben ein Einweihungsprinzip erhalten sollte in dem Rosenkreuzertum, was war es? Wir haben gesehen in der modernen Wissenschaft die Ehe zwischen der ägyptischen Erinnerung und dem Arabismus, der auf das Tote gerichtet ist. Auf der anderen Seite sehen wir eine andere Ehe sich vollziehen, eine Verbindung zwi­schen dem, was die ägyptischen Eingeweihten ihren Schülern einge­pflanzt haben und dem Spirituellen. Wir sehen eine Ehe zwischen der Weisheit und dem, was an Glaubenswahrheit gerettet worden ist. Jenen

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harmonischen Zusammenklang von ägyptischer Erinnerung in der Weisheit mit dem christlichen Kraftimpuls, wir sehen ihn in dem Ro­senkreuzertum. So sehen wir den alten Samen, der in den ägyptischen Zeiten gelegt worden ist, wiederkehren, aber nicht als eine bloße Wie­derholung, sondern differenziert, auf höherer Stufe angekommen.

Das sind allerdings Gedanken, die nicht nur Gedanken sein sollen, um uns über irgend etwas von Welt, Erde und Mensch zu unterrichten, sondern die zugleich in unsere Empfindung, selbst in unsere Willens-impulse hineingehen sollen, die uns beflügeln können, denn sie zeigen uns die Wege, die wir zu schreiten haben. Sie zeigen uns die Wege zum Spirituellen, sie zeigen uns aber auch, wie wir das, was wir im guten Sinne und guten Stile auf rein materiellem Felde gewonnen ha­ben, in die Zukunft hineinführen können. Wir sehen, wie sich die Wege trennen und wieder zusammenfügen; und die Zeit wird wieder­kommen, wo nicht nur die ägyptische Erinnerung sich mit den spiri­tuellen Glaubenswahrheiten vereinigt, so daß wir eine rosenkreuze­rische Wissenschaft haben werden, die zugleich Religion ist, und da­neben eine sich ans Materielle heftende Wissenschaft, sondern auch diese beiden werden sich vereinen, die Wissenschaft mit der Rosen­kreuzerei. Auch das wird uns eine Mythe der dritten Kulturepoche in einer bildlichen Veranschaulichung zeigen können.

Wir suchen sie in der babylonischen Zeit. Da werden wir hinge-wiesen auf den Gott Marduk, der dem bösen Prinzip, dem Materia­listischen, der alttestamentlichen Schlange, entgegentritt und ihr den Kopf spaltet, so daß in einer gewissen Weise das, was früher Wider­sacher war, in zwei Teile geteilt wird. Wir sehen in der Tat, was da­mals geschehen ist, die Trennung dessen, was vorlag in den alten Ur­gewässern, symbolisiert durch die Schlange; wir sehen das Obere in den Glaubenswahrheiten, das Untere in der rein materiellen Weltauf­fassung. Vereinigt müssen beide werden, die Wissenschaft und das Spi­rituelle, und sie werden wieder vereinigt werden in der Zukunft. Und gerade dann wird es sein, wenn durch die rosenkreuzerische Weisheit der Spiritualismus vertieft, zur Wissenschaft geworden ist, wenn er selbst sich wiederum treffen wird mit dem, was auf wissenschaftlichem Boden erforscht ist. Und dann wird eine große harmonische Einheit

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wieder erstehen, die verschiedenen Kulturströmungen werden zusam­menfließen durch die Kanäle der Menschheit. Sehen wir nicht, wie in der neuesten Zeit diese Vereinigung angestrebt wird?

Wenn wir zurückblicken könnten auf die alten ägyptischen Myste­rien, dann würden wir sehen, wie Religion, Wissenschaft und Kunst noch eines sind. Da wird die Weltenevolution in dem Herabsteigen des Gottes in die Materie gezeigt in einem äußeren großen, gewaltigen dramatischen Symbolum. Und wer dies Symbolum genießt, hat Wis­senschaft vor sich, denn er erfährt da in einer lebendigen Darstellung, wie sich das abgespielt hat, wie der Mensch sich hineingesenkt hat, wie er allmählich hinabgeflossen ist in die Welt. Aber er hat noch etwas anderes vor sich, er hat auch Kunst vor sich, denn er sieht in dem Bilde ein symbolisches Abbild dessen, was Wissenschaft ist. Aber beides, Wissenschaft und Kunst, stehen nicht nur vor ihm, sie werden für ihn zugleich zur Religion, denn das, was sich ihm bildlich zeigt, erfüllt sich mit religiösem Gefühl. Und dann, später, spaltet sich das, dann gehen Religion, Wissenschaft und Kunst getrennte Wege. Aber die Menschen fühlen schon in unserer Zeit wieder, daß sie wieder zusammenfließen müssen. Was war denn das bedeutungsvolle Streben Richard Wagners anderes als das, was wir als spirituelles Streben hingestellt haben, in einer großen, gewaltigen Ahnung zu einem Kulturimpulse gemacht? Bei den Ägyptern war es im anschaulichen Bilde, weil das äußere Auge es brauchte. In unserer Zeit wiederholt es sich, es soll wieder aus den einzelnen Kulturströmungen ein Ganzes zusammengebaut werden, aber in einem Kunstwerke, dessen Element vorzugsweise das Fließen des Tones ist. Überall können wir den Zusammenhang zwischen Ägypter­tum und moderner Zeit finden, überall diese Spiegelung beobachten.

Dann aber wird es uns um so mehr vor die Seele treten, wie jede Zeit nicht nur Wiederholung ist, sondern wie ein Aufsteigen, eine fort­währende Entwickelung der Menschheit stattfindet. Und dann muß auch das tiefste Bestreben der Menschheit, die Initiationsbestrebung, eine Fortentwickelung finden. Was im ersten Zeitraum das Einwei­hungsprinzip war, kann nicht das Einweihungsprinzip sein für die ver­änderte Menschheit von heute. Da gilt es nicht, daß wir darauf hin­gewiesen werden, daß die Ägypter schon in Urzeiten die urewige

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Wahrheit und Weisheit gefunden haben, daß wir schon in den alten orientalischen Religionsbekenntnissen und Philosophien die Urweisheit finden können, und daß alle anderen später im Grunde genommen nur dazu da waren, um immer wieder dasselbe zu durchleben, wenn es zur höchsten Initiation kommen soll. Nein! Davon kann niemals die Rede sein. Eine jede Zeit braucht bis in die Tiefen der menschlichen Seele hinein ihre ganz besondere Kraft.

Wenn von einigen Seiten behauptet wird - was ja wirklich ge­schieht -, es wären unter den Theosophen einige, die da sagen: Es gibt eine westliche Einweihung für unsere Kulturstufe, aber das sei ein Spätprodukt, die wahre Initiation könne nur im Osten geholt wer­den -, so muß geantwortet werden, daß nicht ohne weiteres darüber geurteilt werden darf. Man muß da tiefer in die Dinge eindringen, als man es gewöhnlich tut. Es mag Leute geben, die da sagen, Buddha ist in die höchsten Regionen hinaufgestiegen, und Christus hat gegenüber Buddha nichts Neues gebracht; aber nur in dem, was uns positiv ent­gegentritt, kann erkannt werden, um was es sich handelt. Fragen wir diejenigen, die auf dem Boden der westlichen Initiation stehen, ob sie irgend etwas negieren, verneinen von der östlichen Einweihung, ob sie über den Buddha anders reden als diejenigen, die im Östlichen stehen? Nein, alles das gilt ihnen, sie sagen zu alledem ja. Aber sie verstehen die Fortentwickelung und unterscheiden sich von denen, die zum west­lichen Initiationsprinzip nein sagen, dadurch, daß sie es verstehen, zu dem ja zu sagen, was im Orientalismus gegeben wird, außerdem aber die fortgeschrittenen Formen wissen, die notwendig geworden sind im Laufe der Zeiten. Sie sagen ja, und zu nichts auf dem Gebiete der östlichen Initiation sagen sie nein. Nehmen Sie eine Charakteristik des Buddha von dem, der auf dem Standpunkte der westlichen Esoterik steht. Sie wird sich in nichts unterscheiden von dem, was derjenige sagt, der auf dem Boden der östlichen Esoterik steht. Aber er weiß - dieser, der auf dem Standpunkte des Westlichen steht -, er weiß zu zeigen, wie in dem Christus noch etwas anderes liegt, was darüber hinausgeht. Das tut der, der auf dem östlichen Standpunkte steht, nicht. Nicht da­durch entscheidet sich etwas, daß man behauptet, Buddha sei größer als Christus, sondern auf das, was man Positives sagt, darauf kommt es

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an. Und da spricht der, der auf dem westlichen Standpunkte steht, über Buddha ganz dasselbe wie der östliche. Nicht nein sagt der west­liche zu dem, was der östliche sagt, sondern ja, aber er sagt ja noch zu etwas anderem auch.

Man kann nicht so denken, daß man meint: Oh, diese Orientalisten verstehen sehr schlecht das Leben des Buddha, wenn sie glauben, es wörtlich nehmen zu müssen, daß der Buddha am Genuß von zu vielem Schweinefleisch zugrunde gegangen ist. Mit Recht wendet man dage­gen vom Standpunkt des christlichen Esoterikers ein, daß diejenigen nichts davon verstehen, die irgend etwas Triviales darunter verstehen; das ist nur ein Bild dafür, wie Buddha stand zu seiner Zeitgenossen­schaft. Er hatte zuviel von dem, was die heiligen brahmanischen Geheim­nisse sind, mitgeteilt der Außenwelt. An einem Zuviel des Okkultis­mus, den er der Welt gegeben hat, ging er zugrunde. Er ging zugrunde, wie jeder, der Verborgenes mitteilt, zugrunde geht. Das ist in jenem sonderbaren Bilde gesagt. Man mag das mit aller Schärfe betonen, daß man in dem Orientalismus keinen Widerspruch findet, sondern daß man nur den Esoterismus solcher Sachen verstehen lernen muß. Wenn man aber sagen wollte, man dürfe es nur als etwas Minderwertiges an­sehen - denn noch niemals hätte sich zum Beispiel jemand etwas dabei denken können, wenn uns verkündet wird, daß die Apokalypse von dem Schreiber derselben unter Blitz und Donner empfangen wurde -, und wenn man durchaus daraus Veranlassung nehmen wollte, über die Apokalypse zu spotten, dann würde man darauf erwidern können:

Schade, daß der, der so etwas sagt, nicht weiß, was es heißt, daß die Apokalypse unter Blitz und Donner der Erde mitgeteilt wurde.

Da müssen wir festhalten, daß keine Negation über die Lippen des westlichen Esoterikers kommt und daß vieles von dem, was rätselhaft dasteht im Beginne der theosophischen Bewegung, durch westliche Esoterik seine Erklärung findet. Wer auf dem Boden des westlichen Esoterismus steht, weiß, daß er niemals in den geringsten Zwiespalt kommt mit dem, was an großen, gewaltigen Wahrheiten der Welt durch Helena Petrowna Blavatsky mitgeteilt wurde. Wenn wir zum Beispiel uns daran erinnern, daß wir bei Buddha zu unterscheiden haben den Dhyani-Buddha, den Adi-Buddha und den menschlichen Buddha,

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dann erfährt das erst seine volle Erklärung durch den westlichen Eso­teriker. Denn wir wissen allerdings, daß dasjenige, was als der Dhy­ani-Buddha angesehen wird, nichts anderes ist als der göttererfaßte Ätherleib des historischen, realen Buddha, daß der Ätherleib von dem erfaßt war, was wir gestern als die Individualität des Wotan bezeich­net haben. Es steht das allerdings schon darinnen, nur muß es durch eine westliche Esoterik erst in der richtigen Weise erfaßt werden. Die anthroposophische Bewegung wird insbesondere darauf achten müssen, daß, was uns aus einer solchen Betrachtung als ein Empfindungsimpuls vor die Seele getreten ist, uns anregen soll, uns entwickeln zu wollen, so daß wir keinen Moment stillstehen dürfen. Wertvoll wird die geistes-wissenschaftliche Bewegung nicht dadurch, daß man alte Dogmen er­hält, wenn sie auch erst fünfzehn Jahre alt sind, sondern daß man den richtigen Sinn einer solchen Bewegung erfaßt, der in nichts anderem bestehen kann als in der Erschließung immer neuer Keime, immer neuer spiritueller Quellen. Dann wird sie eine lebendige Strömung wer­den in der Menschheit, und dann wird sie jene Zukunft herbeiführen, die uns, wenn auch nur in skizzenhafter Andeutung, heute aus dem­jenigen vor die Seele getreten ist, was wir aus der Vergangenheit be­trachten konnten. Das ist das beste, was wir mitnehmen können als einen solchen Empfindungsimpuls.

Nicht darum handelt es sich, theoretische Wahrheiten mitzuteilen, sondern daß unser Gefühl, unsere Empfindung kräftig und stark wird zum Wirken. Wir haben die Entwickelung von Welt, Erde, Mensch betrachtet; wir wollen das, was wir ihr haben entnehmen können, so auffassen, daß wir selbst jederzeit bereit sein wollen, in die Entwicke­lung einzutreten. Das, was wir Zukunft nennen, muß allerdings wur­zeln in der Vergangenheit. Das. Wollen der Zukunft muß der Erkennt­nis der Vergangenheit entsprechen; aber diese Erkenntnis hat keinen Wert, wenn sie sich nicht umwandelt in Triebkräfte für die Zukunft. Was wir gesehen haben, hat uns ein Bild gegeben solcher bedeutungs­voller Triebkräfte, daß nicht nur unser Wollen, unser Enthusiasmus, sondern daß auch unsere Lebensfreude und Sicherheit angeregt wird. Wenn wir ein solches Zusammenfließen der verschiedenen Strömun­gen sehen, dann sagen wir: Viele Samen sind im Zeitenschoße, sie alle

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sollen reifen. Der Mensch aber soll durch seine immer mehr sich ver­tiefende Erkenntnis die Möglichkeit erwerben, ein immer besserer Pfle­ger aller dieser Keime zu werden, die in dem Zeitenschoße liegen. Er­kenntnis um des Wirkens, um der Lebenssicherheit willen, das ist es, was als ein Gefühlsimpuls alle geisteswissenschaftliche Betrachtung durchdringen muß. Nur darauf noch will ich am Schluß hinweisen, daß alle sogenannten geisteswissenschaftlichen Theorien dann erst die letzte Wahrheit erreichen, wenn sie umgewandelt werden in Leben, in Ge­fühlsimpulse und Lebenssicherheit, so daß wir nicht nur theoretisch betrachten, sondern wirklich eintreten in die Entwickelung.

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HINWEISE

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22 ich bin der «Ich bin»: Moses 2, 3,14 (Ejeh asher ejeh).

23 «Ich bin, was da war. . .»: Nach Plutarch, «Über Isis und Osiris». Inschrift auf dem Isis-Tempel in Sais in Ägypten.

ihr Griechen bleibt euer Leben lang Kinder: Die Erzählung vom ägyptischen Priester, der dem Solon dies sagte, steht bei Plato, Timaios.

Arnold Böcklin, 1827-1901: Das Bild «Pietá» befindet sich in Basel.

«Alle Kreatur seufzet . . .»: Römer 8, 19.

60 Friedrich Schiller, 1759-1805.

Franz von Assisi, 1182-1226.

70 Kant-Laplacesche Theorie: Der französische Mathematiker Laplace (1749 bis

1827) entwickelte in Übereinstimmung mit Kant die bekannteste Hypothese über die Entstehung des Planetensystems.

Arrhenius: Svante Arrhenius, 1859-1927, schwedischer Naturwissenschafter, Verfasser populärwissenschaftlicher Werke.

94 Iehova strömte dem Menschen den lebendigen Odem ein»: Moses 1, 2,7.

121 Druidenmysterien: Vgl. die Vorträge vom 1. und 6. Mai 1909 in «Wo und wie findet man den Geist?», Bibl.-Nr. 57, Gesamtausgabe Dornach 1961.

134 «Wer nicht verläßt Vater, Mutter ...»: Matth. 10, 37-38.

136 Die Weltenseele ist am Kreuze des Weltenleibes gekreuzigt: Plato, Timaios

8. Kap.

142 Chladnische Klangliguren: Ernst F. Chladni, deutscher Physiker (1756 bis

1827), machte grundlegende Forschungen über die Schwingungen von Körpern.

Der Osiris war geläutert in dem Teiche: Die Quelle des Zitats konnte bisher nicht nachgewiesen werden.

Druidenmysterien: Vgl. Hinweis zu S.121.

176 Ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen: Joh. 12, 36; bezieht sich auf Moses 2, 12,46.

177 Lieber ein Bettler sein: Nach Homers Odyssee, 11. Gesang, wo Odysseus die Unterwelt besucht.

185 Nikolaus Kopernikus, 1473-1543. Johannes Kepler, 1571-1630.

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186 Schrieb doch Kepler die Worte nieder: Der Wortlaut bei Kepler: «Jetzt, nachdem vor achtzehn Monaten das erste Morgenlicht, vor drei Monaten der helle Tag, vor ganz wenig Tagen aber die volle Sonne einer höchst wunderbaren Schau aufgegangen ist, hält mich nichts mehr zurück. Jawohl, ich überlasse mich heiliger Raserei, ich trotze höhnend den Sterblichen mit dem offenen Bekenntnis: Ich habe die goldenen Gefäße der Ägypter geraubt, um meinem Gott daraus eine heilige Hütte einzurichten weitab von den Grenzen Ägyp­tens. Verzeiht ihr mir, so freue ich mich. Zürnt ihr mir, so ertrage ich es. Wohlan ich werfe den Würfel und schreibe ein Buch für die Gegenwart oder die Nachwelt. Mir ist es gleich. Es mag hundert Jahre seines Lesers harren, hat doch auch Gott sechstausend Jahre auf den Beschauer gewartet.» Vorrede zum 5. Buch von «Harmonices mundi» (1619) in der Übersetzung von Max Caspar.

187 «Ignorabimus» (-- wir werden nichts wissen): Bezieht sich auf Emil Du Bois­Reymonds Schrift «Über die Grenzen des Naturerkennens» (Leipzig 1872), wo es heißt: «Gegenüber dem Rätsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muß er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen: «Ignorabimus,.»

198 daß der Buddha am Genuß von zu vielem Schweinefleisch zugrunde ge­gangen ist: Vgl. hierzu Hermann Beckh, Buddhismus (Samml. Göschen, Leip­zig 1919 Bd. 1, S.73). Rudolf Steiners Ausführungen beziehen sich auf eine Fußnote bei H. P. Blavatsky (1831-1891), «Die Geheimlehre» 3. Bd., S.89, Theosophisches Verlagshaus, Leipzig o. J., wo gesagt wird, daß die Orientalisten die esoterische Bedeutung dieser Legende vom Tode Buddhas nicht be­griffen hätten.

daß wir bei Buddha zu unterscheiden haben den Dhyani-Buddha: H.P. Bla­vatsky, «Die Geheimlehre», 3. Bd., S.376 ff.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.