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GA 187
ERSTER VORTRAG Basel, 22. Dezember 1918
#G187-1967-SE009 - Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?
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ERSTER VORTRAG
Basel, 22. Dezember 1918
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Gleich zwei mächtigen Geistessäulen hat das christliche Welternpfin-den die beiden Jahresfeste, das Weihnachts- und das Osterfest, in den Jahreslauf hineingestellt, der da sein soll ein Symbolum für den menschlichen Lebenslauf. Und man darf sagen, in dem Weihnachts-gedanken und in dem Ostergedanken stehen vor der menschlichen Seele jene beiden Geistessäulen, auf denen verzeichnet sind die beiden großen Geheimnisse physischen menschlichen Daseins, auf welche der Mensch in einer ganz andern Art hinblicken muß als auf andere Er¬eignisse seines physischen Lebenslaufes. Gewiß, es ragt in diesen phy¬sischen Lebenslauf - durch Sinnesbetrachtung, durch Verstandesurteil, durch Gefühl und Willensinhalt - Übersinnliches herein. Aber dieses Übersinnliche ist sonst ein unmittelbar sich als Übersinnliches Ankündendes, so wie etwa die christliche Weltempfindung es vet¬sinnlichen will durch das Pfingstfest. Mit dem Weihnachtsgedanken aber und mit dem Ostergedanken ist hingewiesen auf jene beiden in dem physischen Lebenslauf sich vollziehenden Ereignisse, die durch¬aus ihrem äußeren Anscheine nach physische Ereignisse sind, die aber entgegen allen andern physischen Ereignissen sich, so wie sie sind, nicht unmittelbar als physische Ereignisse ankünden. Man kann mit Naturanschauung das physische Leben des Menschen überblicken, und man kann mit Naturanschauung die Außenseite dieses physischen Lebens, die äußere Offenbarung des Geistigen sinnlich schauen. Man kann aber niemals sinnlich schauen, man kann auch nicht die Außen-seite, die äußere Offenbarung der zwei Grenzerlebnisse des mensch¬lichen Lebenslaufrs sinnlich schauen, ohne daß man durch das sinn-liche Schauen selber auf das gewaltige Rätselhafte, auf das Geheimnis¬volie dieser beiden Ereignisse hingewiesen wird. Es sind die Ereig¬nisse von Geburt und Tod. Und im Leben des Christus Jesus - und an sie erinnernd im Weihnachts- und im Ostergedanken - stehen vor der menschlichen Seele diese beiden Ereignisse des menschlichen phy¬sischen Lebens vor dem christlichen Gemüte da.
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Im Weihnachtsgedanken und im Ostergedanken will die mensch-liche Seele hinblicken auf die beiden großen Geheimnisse. Und so wie sie hinblickt, findet sie aus der Betrachtung lichtvolie Stärkung für den Gedanken, kraftvollen Inhalt für das menschliche Wollen, Auf-richtung des ganzen Menschen, aus welcher Lage heraus er auch immer diese Aufrichtung braucht. So wie sie dastehen, diese beiden Geistsäulen, der Weihnachtsgedanke und der Ostergedanke, so haben sie einen Ewigkeitswert.
Das menschliche Vorsteliungsvermögen hat sich aber vielfach im Laufe seiner Entwickelung in verschiedener Art genähert dem großen Weihnachtsgedanken und dem großen Ostergedanken. Während in den ersten Zeiten der christlichen Entwickelung, da die Wirkung des Ereignisses von Golgatha erschütternd in viele Gemüter eingezogen ist, die Menschen alirnählich sich hingefunden haben zu der Anschau¬ung des auf Golgatha sterbenden Erlösers, während sie in dem am Kreuze hängenden Cruzifixus in den ersten Jahrhunderten des Chri¬stentums den Erlösungsgedanken empfunden haben und sich da all¬mählich ausgestaltet hat die große, gewaltige Imagination des sterben¬den Christus am Kreuze, hat das christliche Empfinden, insbesondere als die neuere Zeit begonnen hat, sich mehr anpassend an den in der Menschheitsentwickelung heraufkommenden Materialismus, sich hin-gewendet zu dem Bilde des kindhaften, in die Welt tretenden, des geborenwerdenden Jesus.
Nun kann man ja allerdings sagen, daß man mit einer feineren Emp-findung in der Art, wie in den verflossenen Jahrhunderten das christ¬liche Gemüt Europas sich hingewendet hat zur Weihnachtskrippe, etwas darin finden kann von materialistischem Christentum. Das Be¬dürfnis - es ist nicht in einem schlimmen Sinne gemeint, wenn ich das sage -, gewissermaßen zu kosen mit dem lieben Jesulein, das ist ein triviales Bedürfnis geworden im Lauf der Jahrhunderte. Und man¬ches heute noch als schön, oder wie manche Leute sagen, als herzig empfundene Lied auf das liebe Jesulein will uns den ernst gewor¬denen Zeiten gegenüber heute doch zu wenig ernst anmuten.
Aber der Ostergedanke und der Weihnachtsgedanke, sie sind ewige Säulen, ewige Denksäulen des menschlichen Gemütes. Und man kann
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wohl sagen, daß in unserer Zeit neuer Geistesoffenbarungen auch neues Licht sich ergießen wird über den Weihnachtsgedanken, daß der Weihnachtsgedanke in einer grandiosen Weise allmählich in neuer Gestalt empfunden werden wird. Und an uns wird es sein, zu ver¬nehmen aus dem Weltengeschehen heraus den Ruf nach Erneuerung mancher alten Vorsteliungswelt, den Ruf nach neuer Offenbarung des Geistes. An uns wird es sein, zu verstehen, wie ein neuer Weihnachts-gedanke zur Stärkung und Aufrichtung der menschlichen Seele sich herausarbeitet aus diesem Weltengeschehen.
Die Geburt und der Tod des Menschen, man mag sie noch so sehr zergliedern, noch so sehr anschauen, sie stellen sich dar als Ereignisse, die unmittelbar auf dem physischen Plane sich abspielen, und in denen Geistiges so waltet, daß niemand, der ernsthaft die Dinge betrachtet, sagen sollte, diese zwei Ereignisse, diese Erdenereignisse des mensch¬lichen Lebens seien nicht so, daß sie unmittelbar als physische Ereig¬nisse zeigten, indem sie sich am Menschen abspielen, wie der Mensch Bürger einer geistigen Welt ist. Keiner Naturanschauung kann es je gelingen, innerhalb dessen, was Sinne schauen können, was der Ver¬stand begreifen kann, in Geburt und Tod etwas anderes zu finden als ein solches, in dem sich unmittelbar im Physischen das Eingreifen des Geistigen zeigt. So, in solcher Art treten nur diese beiden Ereignisse an das menschliche Gemüt heran. Und auch für das Weihnachtsereig¬nis, für das Geburtsereignis wird das menschlich-christliche Gemüt immer tiefer und tiefer empfinden müssen den Mysteriencharakter dieses Ereignisses.
Man kann sagen, nur selten haben Menschen sich aufgeschwungen, im rechten Sinne zum Mysteriencharakter der Geburt hin ihren Blick zu wenden. Selten, aber dann in wunderbar tief in die menschliche Seele hereinsprechenden Vorstellungen. So in jener Vorstellung, die sich anknüpft an den schweizerischen Geisteshelden des 15. Jahrhun¬derts, an Nikolaus von der Flüe. Von ihm wird erzählt - und er hat es selbst von sich erzählt -, daß er vor seiner Geburt, bevor er physische Luft außen atmen konnte, geschaut hat sein eigenes menschliches Bild, das er leibhaftig an sich tragen werde, nachdem seine Geburt wird eingetreten sein und sein Leben verlaufen wird. Und geschaut
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hat er vor seiner Geburt seinen Taufakt mit denjenigen Personen, welche anwesend bei diesem Taufakte und bei seinen ersten Erlebnis¬sen waren. Mit Ausnahme einer einzigen älteren Persönlichkeit, die dabei war, die er nicht wiedererkannte, hat er die andern erkannt, weil er sie schon gesehen hatte, bevor er das Licht der Welt erblickt hat. Man nehme diese Erzählung auf, wie man sie aufnehmen will, aber man wird nicht urrin können, in ihr einen bedeutsamen Hinweis auf das Geburtsmysteriurn des Menschen zu sehen, welches so großartig symbolisiert in dem Weihnachtsgedanken vor der Weltgeschichte da-steht. Man wird hingewiesen finden in der Erzählung des Nikolaus von der Flüe, daß sich etwas mit dem Eintritt in das physische Leben ver¬bindet, was nur durch eine sehr, sehr dünne Wand verborgen ist der gewöhnlichen menschlichen Anschauung des Alltags, durch eine dünne Wand, die durchbrochen werden kann, wenn ein solches kar¬misches Verhältnis vorhanden ist, wie es bei Nikolaus von der Flüe vorhanden war. Noch da und dort tritt uns solch ergreifender Hin¬weis auf das Geburts-Weihnachtsrnysteriurn entgegen. Aber man kann sagen: Wenig ist sich die Menschheit noch bewußt geworden, wie in den beiden Grenzsäulen des menschlichen Lebens Geburt und Tod unmittelbar in der physischen Welt dastehen als zwei schon in ihrer physischen Erscheinung sich offenbarende geistige Ereignisse, die nie¬mals sich abspielen können innerhalb des bloßen Naturablaufes, son¬dern in denen ein unmittelbares Eingreifen göttlich-geistiger Gewal¬ten da ist, welches sich dadurch ankündigt, daß eben durch ihre phy¬sische Erscheinung diese beiden Grenzerlebnisse des menschlichen physischen Daseinslaufes Geheimnisse bleiben müssen.
Sie lenkt uns nun hin, die neue christliche Offenbarung, diesen menschlichen Lebenslauf so zu betrachten, wie ihn, man darf wohl sagen, der Christus im 20. Jahrhundert von den Menschen betrachtet haben will. Wir gedenken heute, wo wir uns versenken wollen in den Weihnachtsgedanken, eines dem Christus Jesus in den Mund gelegten Ausspruches, welcher uns so recht hinweisen kann zu dem Weih-nachtsgedanken. Der Ausspruch heißt: «Und so ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnet ihr nicht eintreten in die Reiche der Himmel.» «Und so ihr nicht werdet wie die Kindlein...» es ist wahrhaft nicht
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eine Aufforderung daz:u, allen Mysteriencharakter abzustreifen von dem Weihnachtsgedanken, und den Weihnachtsgedanken herunter-zuziehen in die Trivialität des lieben Jesulein, wie viele Volks- und ähnliche Lieder, aber weniger Volks- als Kunstlieder, im Laufe der materialistischen Entwickelung des Christentums getan haben. Gerade dieser Ausspruch: «So ihr nicht werdet wie die Kindiein, so könnet ihr nicht eintreten in die Reiche der Himmel», er läßt uns aufschauen zu gewaltigen Impulsen, die durch die Menschheitsentwickelung wal¬len. Und in unserer heutigen Zeit, wo durch die Weltereignisse wahr¬haftig nicht ein Anlaß gegeben ist, in triviale Weihnachtsgedanken zu verfallen, wo durch das menschliche Herz so Schmerzvolles zieht, wo dieses menschliche Herz zurückschauen muß auf Millionen von Menschen, die den Tod gefunden haben in den letzten Jahren, hin¬schauen muß auf unzählige Menschen, die hungern, in dieser Zeit ge¬ziemt es sich wahrlich nicht anders, als hinzuschauen auf die mäch¬tigen, den Menschen treibenden weltgeschichtlichen Gedanken, auf die man hingelenkt werden kann durch das Wort: «So ihr nicht wer¬det wie die Kindlein...» und das man ergänzen kann durch das andere:
« Und so ihr nicht euer Leben verbringet in dem Lichte dieses Ge-dankens, so könnet ihr nicht eintreten in die Reiche der Himmel.»
Indem der Mensch als Kind in die Welt eintritt, kommt er unmittel-bar aus der geistigen Welt heraus. Denn das, was sich im physischen Leben vollzieht, die Erzeugung und das Wachstum seines physischen Leibes, das ist die Umkleidung desjenigen Ereignisses, das nicht an¬ders bezeichnet werden kann als so, daß man sagt: Des Menschen tiefste Wesenheit geht heraus aus der geistigen Welt. Der Mensch wird aus dem Geiste heraus in den Leib hineingeboren. Und wenn der Rosenkreuzer sagt: Ex deo nascimur - so meint er den Menschen, in¬sofern er in der physischen Welt auftritt. Denn dasjenige, was den Menschen zunächst umhüllt, was ihn zum physischen Ganzen hier auf dem Erdenrund macht, das ist dasjenige, was mit dem Worte Ex deo nascimur getroffen wird. Sieht man auf das Zentrum des Menschen, auf das eigentliche innere Mittelpunktswesen, dann muß man sagen:
Der Mensch wandert aus dem Geiste heraus in diese physische Welt herein. - Durch dasjenige, was sich in der physischen Welt abspielt,
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dem er zugeschaut hat aus den geistigen Landen vor seiner Empfäng¬nis oder seiner Geburt, wird er urnkleidet mit seinem physischen Leibe, um in diesem physischen Leibe Dinge zu erleben, die eben nur im physischen Leibe erlebt werden können. Aber der Mensch kommt in seinem Mittelpunktswesen aus der geistigen Welt heraus. Und er ist so, daß er in den ersten Jahren seines physischen Daseins - für denjenigen, der die Dinge anschauen will so, wie sie sind in der Welt, der nicht geblendet ist durch Illusionen des Materialismus -, er ist so, dieser Mensch, daß er ankündigt noch in den ersten Jahren, wie er aus dem Geiste heraus gekommen ist. Dasjenige, was man am Kinde erlebt, stellt sich für den wirklich Einsichtigen so dar, daß man in ihm empfinden kann die Nachwirkung der Erlebnisse in der geistigen Welt.
Auf dieses Geheimnis wollen solche Erzählungen hinweisen wie die-jenige, die anknüpft an den Namen des Nikolaus von der Flüe. Eine Trivialanschauung, die stark beeinflußt ist von materialistischer Den¬kungsart, die spricht in ihrer Einfalt, daß der Mensch nach und nach im Leben sein Ich entwickelt von der Geburt bis zum Tode hin, daß dieses Ich immer machtiger und immer starker wird, immer deutlicher hervortritt. Es ist eine einfältige Denkungsart. Denn sieht man hin auf das wahre Ich des Menschen, auf dasjenige, was zur physischen Umkleidung mit der Geburt des Menschen aus der geistigen Welt her¬aus kommt, dann spricht man über diese ganze physische Entwicke¬lung des Menschen anders. Dann weiß man nämlich, daß das wahre Ich des Menschen nach und nach, indem er physisch heranwächst in dem physischen Leib, aus dem Leib gerade herausverschwindet, daß es immer weniger und weniger deutlich wird, und daß dasjenige, was sich entwickelt hier in der physischen Welt zwischen Geburt und Tod, nur ein Spiegelbild geistiger Ereignisse ist, ein totes Spiegelbild eines höheren Lebens. Das ist die richtige Ausdrucksweise, daß man sagt: In den Leib hinein verschwindet nach und nach die ganze Fülle des menschlichen Wesens; sie wird immer unsichtbarer und unsichtbarer. Der Mensch lebt sein physisches Leben hier auf der Erde, indem er sich nach und nach an den Leib verliert, um sich im Tode im Geiste wiederzufinden. - So spricht derjenige, der die Verhältnisse kennt. Derjenige aber, der die Verhältnisse nicht kennt, spricht so, daß er
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sagt: Das Kind ist unvollkommen, und nach und nach entwickelt sich das Ich zu immer größerer und größerer Vollkommenheit, es wächst heraus aus den unbestimmten Untergründen des menschlichen Da¬seins. - Die Erkenntnis desjenigen, was der Geistes sucher schaut, muß anders sprechen gerade auf diesem Gebiete, als da spricht das in äußere Illusionen verstrickte sinnliche Bewußtsein unserer heute noch immer materialistisch empfindenden Zeit.
Und so tritt dann der Mensch als Geisteswesen in die Welt ein. Sein Leibeswesen ist, indem er Kind ist, noch unbestimmt; es hat noch wenig in Anspruch genommen das Geistige, das wie hereinschläft in das physische Dasein, das aber nur deshalb uns so wenig inhaltsvoll er¬scheint, weil wir es eben so wenig im gewöhnlichen physischen Leben wahrnehmen, wie wir das schlafende Ich und den schlafenden Astral¬leib wahrnehmen, wenn sie vorn physischen und Ätherleib getrennt sind. Deshalb aber ist ein Wesen nicht unvollkommener, weil wir es nicht sehen. Das muß der Mensch mit seinem physischen Leibe er¬kaufen, daß er sich immer mehr und mehr eingräbt in den physischen Leib, um durch dieses Eingraben Fähigkeiten zu bekommen, die nur auf diese Weise erlangt werden können, daß sich das Geist-Seelen-wesen des Menschen eine Zeitlang an das physische Dasein im physi¬schen Leibe verliert. Daß wir uns an diesen unseren Geistursprung immerdar erinnern, daß wir erstarken in dem Gedanken: Wir sind aus dem Geiste herausgewandert in die physische Welt -, dazu steht der Weihnachtsgedanke wie eine mächtige Lichtsäule da innerhalb der christlichen Weltempfindung. Dieser Gedanke als Weihnachtsgedanke muß immer mehr und mehr erkrafret werden in der zukünftigen geistigen Entwickelung der Menschheit. Dann wird dieser Weih¬nachtsgedanke für diese Menschheit wieder stark werden, dann wer¬den die Menschen wiederum dem Weihnachtsfeste so entgegenieben können, daß sie Kraft für das physische Dasein schöpfen aus diesem Weihnachtsgedanken, der sie in rechtem Sinne an ihren Geistes-ursprung erinnern kann. So kraftvoll wie dieser Weihnachtsgedanke dann empfunden werden wird, so wird er heute noch wenig von den Menschen gefühlt; denn es ist eine merkwürdige, aber durchaus in den Gesetzen des geistigen Daseins begründete Tatsache, daß dasjenige,
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was in der Welt Menschen vorwärtsbringend, Menschen för¬dernd auftritt, nicht gleich in seiner letzten Gestalt auftritt, daß es gewissermaßen zuerst tumultuarisch, wie von unrechtmäßigen Gei-stern der Weltentwickelung vorweggenommen, vor den Menschen tritt. Wir verstehen die geschichtliche Entwickelung der Menschheit nur in rechtem Sinne, wenn wir wissen, daß Wahrheiten nicht nur so genommen werden müssen, wie sie manchmal in die Weltgeschichte eintreten, sondern daß bei Wahrheiten hingeschaut werden muß auf die rechte Zeit, in der sie im rechten Lichte in die Menschheitsent¬wickelung eintreten können.
Unter den mancherlei Gedanken, die in die neuere Menschheits-entwickelung - ganz gewiß angeregt durch den Christus4mpuls, aber in einer zunächst verfrühten Gestalt - hereingetreten sind, ist der tief christliche, aber einer immer weitergehenden Vertiefung fähige Ge¬danke der Gleichheit der Menschheit vor der Welt und vor Gott, der Gleichheit aller Menschen. Aber man darf diesen Gedanken nicht in solcher Allgemeinheit hinstellen vor das Menschengemüt, wie ihn, als er zuerst tumultuarisch in die Menschheitsentwickelung eingetreten ist, die Französische Revolution hingestellt hat. Man muß sich bewußt sein, daß dieses Menschenieben von der Geburt bis zum Tode in Ent¬wickelung ist, und daß die Hauptimpulse auf dieses Menschenleben verteilt sind. Fassen wir den Menschen ins geistige Auge, wie er in das sinnliche Dasein eintritt: er tritt voll ein in dieses sinnliche Da¬sein, durchimpulsiert von dem Impuls der Gleichheit des Menschen-wesens aller Menschen. Und man empfindet das kindliche Dasein am allerintensivsten, wenn man hinblickt auf das Kind, das durchdrungen ist in seiner Wesenheit von dem Gedanken der Gleichheit aller Men¬schen. Noch nichts, was die Menschen in Ungleichheit bringt, noch nichts, was die Menschen so organisiert, daß sie sich als verschieden von andern Menschen fühlen, noch nichts von alldem tritt im kind¬lichen Dasein zunächst auf. Alles das wird dem Menschen erst gegeben im Laufe seines physischen Menschenlebens. Ungleichheit erzeugt das physische Dasein; aus dem Geiste heraus wandert der Mensch gleich vor der Welt und vor Gott und vor andern Menschen. So verkündet das Mysterium des Kindes.
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Und an dieses Mysterium des Kindes schließt sich an der Weih-nachtsgedanke, der in neuer christlicher Offenbarung seine Vertiefung finden wird. Denn diese neue christliche Offenbarung wird rechnen mit der neuen Trinität: dem Menschen, wie er die Menschheit un¬mittelbar repräsentiert, dem Ahrirnanischen und dem Luziferischen. Und indem man erkennen wird, wie der Mensch hineingestellt ist in das Weltendasein als in den Gleichgewichtszustand zwischen dem Ahrimanischen und dem Luziferischen, wird man verstehen, was die¬ser Mensch auch im äußeren physischen Dasein in Wirklichkeit ist.
Vor allen Dingen muß Verständnis fallen, christliches Verständnis fallen auf eine gewisse Seite dieses menschlichen Lebens. Laut wird es verkünden der christliche Gedanke in der Zukunft, was sich bei einzelnen Geistern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, ich möchte sagen, in stammelnder Erkenntnis, wenn auch durchaus nicht deut-lich, schon angekündigt hat. Wenn man erfaßt, was eine Tatsache ist, daß das Kind mit Gleichheitsgedanken in die Welt hereintritt, daß aber später im Menschen, wie heraus aus dem Geborenwerden, Un¬gleichheitskräfte sich entwickeln, die scheinbar nicht von dieser Erde sind, so tritt damit gerade gegenüber dem Gleichheitsgedanken ein neues gewaltiges Mysterium an den Menschen heran. Dieses Myste¬rium zu durchschauen und durch das Durchschauen dieses Myste¬riurns eine richtige Anschauung über den Menschen zu erlangen, das wird zu wichtigen und notwendigen Bedürfnissen in der zukünftigen menschlichen Seelenentwickelung von der Gegenwart ab gehören. Die Frage steht bange vor dem Menschen: Ja, die Menschen werden verschieden, wenn sie es auch noch nicht in der Kindheit sind, durch etwas, was scheinbar mit ihnen geboren ist, was im Blute liegt, durch ihre verschiedenen Begabungen und Fähigkeiten.
Die Frage der Begabungen und Fähigkeiten, welche so viele Un-gleichheiten unter den Menschen bewirken, sie tritt an den Menschen heran im Zusammenhang mit dem Weihnachtsgedanken. Und das Weihnachtsfest der Zukunft, es wird in ernster Weise den Menschen immerzu gemahnen an den Ursprung seiner ihn über die Erde hin differenzierenden Begabungen, Fähigkeiten, Talente, vielleicht sogar genialen Fähigkeiten. Er wird nach diesem Ursprung fragen müssen.
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Und das richtige Gleichgewicht innerhalb des physischen Daseins wird er nur erlangen, wenn er in der rechten Art auf den Ursprung seiner ihn von den andern Menschen unterscheidenden Fähigkeiten hin¬weisen kann. Das Weihnachtslicht oder die Weihnachtslichter müssen der sich entwickelnden Menschheit Aufschluß geben über diese Fähig¬keiten, müssen die große Frage lösen: Besteht Ungerechtigkeit inner¬halb der Weltenordnung für den einzelnen persönlichen Menschen zwischen Geburt und Tod? Wie ist es mit den Fähigkeiten, mit der Begabung?
Nun, manches wird anders werden in der menschlichen Anschau-ung, wenn die Menschen mit dem neuen christlichen Empfinden durchdrungen sein werden. Verstehen wird man vor allen Dingen, warum die alttestarnentliche Geheirnanschauung eine besondere An¬sicht hatte über das Prophetentum. Was waren sie im Alten Testa¬ment, die auftretenden Propheten? Sie waren von Jahve geheiligte Persönlichkeiten; sie waren diejenigen Persönlichkeiten, die in recht¬mäßiger Weise besondere Geistesgaben, die über die Menge hervor-ragten, gebrauchen durften. Jahve mußte erst heiligen diejenigen Fähigkeiten, welche dem Menschen wie durch das Blut eingeboren sind. Und wir wissen, Jahve wirkt auf den Menschen vom Einschla¬fen bis zum Aufwachen. Wir wissen, Jahve wirkt nicht herein in das bewußte Leben. Jeder wirkliche Bekenner des Alten Testamentes sagte sich in seinem Gemüte: Dasjenige, was die Menschen unter¬scheidet hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Begabungen, was sich in den Prophetennaturen sogar zu genialer Höhe erhebt, es ist zwar mit dem Menschen geboren, aber der Mensch wendet es nicht zum Guten an, wenn er nicht einschlafend untersinken kann in jene Welt, in der Jahve seine Seelenimpulse lenkt und dasjenige, was physische Be¬gabung, an dem Leibe hängende Begabungen sind, von der geistigen Welt aus umwandelt. - Auf ein tiefstes Geheimnis des alttestament¬lichen Anschauens weisen wir dabei hin. Die alttestamentliche An¬schauung, auch die Anschauung über das Prophetenturn, sie muß dahingehen. Neue Anschauungen müssen zum Heile der Menschheit in die weltgeschichtliche Entwickelung eintreten. Dasjenige, wovon die alten Hebräer glaubten, daß es geheiligt werde durch Jahve im
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bewußtlosen Schlafzustand, das muß in der neueren Zeit der Mensch iähig werden zu heiligen, während er wach ist, bei vollem Bewußt-sein. Das aber kann er nur, wenn er weiß, daß auf der einen Seite alles dasjenige, was natürliche Begabungen, Fähigkeiten, Talente, Genies vielleicht sind, luziferische Gaben sind, die luziferisch in der Welt wirken, solange sie nicht geheiligt und durchdrungen werden von alldem, was als Christus-Impuls in die Welt eintreten kann. Ein ungeheuer bedeutungsvolles Mysterium der neueren Menschheits¬entwickelung berührt man, wenn man den Keim des neuen Weih¬nachtsgedankens erfaßt und hinweist darauf, daß der Christus ver¬standen und empfunden werden muß von den Menschen so, daß die Menschen nun als neutestamentliche Menschen vor dem Christus ste¬hen und sagen: Ich habe zu der Gleichheitsprätention, zu der Gleich¬heitsaspiration des Kindes hinzubekommen die verschiedenen Fähig¬keiten und Begabungen und Talente. Sie führen aber auf die Dauer nur zum Guten, zum Heile des Menschen, wenn diese Begabungen, diese Talente, diese Fähigkeiten gestellt werden in den Dienst des Christus Jesus, wenn der Mensch anstrebt, sein ganzes Wesen zu durchchristen, damit Luzifer entrissen werden die menschlichen Be¬gabungen, Talente, Genies.
Das durchchristete Gemüt entreißt Luzifer dasjenige, was sonst luziferisch im physischen Dasein des Menschen wirkt. Das muß als starker Gedanke hindurchgehen durch die künftige Entwickelung der menschlichen Seele. Das ist der neue Weihnachtsgedanke, die neue Verkündigung von der Wirksamkeit des Christus in unserer Seele zur Umwandlung des Luziferischen, das in uns nicht hineinkommt, in-sofern wir aus dem Geiste heraus wandern, sondern das wir in uns dadurch finden, daß wir mit einem blutdurchdrungenen physischen Leib umkleidet werden, der uns aus der Vererbung heraus die Fähig¬keiten gibt. Innerhalb der luziferischen Strömung, innerhalb desjeni¬gen, was in der physischen Vererbungsströrnung wirkt, treten diese Eigenschaften auf, aber gewonnen, erobert wollen sie sein während des physischen Lebens von dem, was der Mensch nun nicht durch Jahve-Inspirationen im Schlafe, sondern in vollem Bewußtsein, durch Ausnützung seiner Erlebnisse an dem Christus-Impuls empfinden
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kann. Wende dich hin, 0 Christ, zu dem Weihnachtsgedanken - so redet das neue Christentum - und bringe dar auf dem Altare, der zu Weihnacht aufgerichtet wird, alles dasjenige, was du an Menschen-differenzierung empfängst aus dem Blute heraus, und heilige deine Fähigkeiten, heilige deine Begabungen, heilige selbst dein Genie, in-dem du es beleuchtet siehst von dem Lichte, das von dem Weih-nachtsbaum ausgeht.
In neuen Worten muß sprechen die neue Geistverkündung, und wir müssen nicht stumpf und gehörlos sein gegenüber dem, was in unserer von Ernst durchdrungenen Zeit an neuen Offenbarungen des Geistes zu uns spricht. Dann, wenn wir so empfinden, dann leben wir auch mit jener Kraft, mit der heute der Mensch leben soll, um die großen Aufgaben zu lösen, die der Menschheit gerade in unserem Zeitalter gestellt sein werden. Empfunden werden muß die ganze Schwere des Weihnachtsgedankens: In unserem Zeitalter muß in das volle wache Bewußtsein hereintreten das, was der Christus zu den Menschen sagen wollte, als er die Worte sprach: « So ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnet ihr nicht eintreten in die Reiche der Him¬mel.» Der Gleichheitsgedanke, den das Kind offenbart, wenn wir es in richtigem Sinne anschauen, der wird nicht Lügen gestraft durch diese Worte; denn das Kind, an dessen Geburt wir uns in der Weih¬nachtsnacht erinnern, verkündet - den Menschen in ihrer Entwicke¬lung durch die Weltgeschichte immer neue Gedanken offenbarend -klar und deutlich, daß in das Licht des Christus, der durchseelt hat dieses Kind, gerückt werden muß dasjenige, was wir an uns differen¬zierenden Begabungen tragen, daß auf dem Altare dieses Kindes dar-gebracht werden muß dasjenige, was diese verschiedenen Begabungen aus uns Menschen machen.
Fragen können Sie nun, angeregt durch den Ernst des Weihnachts-gedankens: Wie erfahre ich den Christus-Impuls in meiner eigenen Seele? - Oh, der Gedanke, er liegt in dem Menschen oftmals schwer!
Nun, nicht in einem Augenblick, nicht so, daß man sagen kann, unmittelbar, stürmisch pflanzt sich das in unsere Seele ein, was wir als den Christus-Impuls bezeichnen können. Und zu verschiedenen Zeiten pflanzt es sich verschieden ein. Heute hat der Mensch durch
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sein volles, lalares, waches Bewußtsein aufzunehmen solche Welten-gedanken, wie sie stammelnd mitzuteilen versucht werden durch die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, zu der wir uns be¬kennen. So wie diese Gedanken sich ihm ankündigen, wenn er sie recht versteht, können sie das Vertrauen in ihm erwecken, daß auf den Flügeln dieser Gedanken die neue Offenbarung, das heißt der neue Christus-Impuls unserer Zeit, wirklich in ihn einzieht. Und er wird ihn verspüren, wenn er nur darauf aufmerksam sein will, dieser Mensch!
Versuchen Sie es, so wie es hier gemeint ist, recht lebendig im heu-tigen zeitgemäßen Sinne, die Geistgedanken der Weltenlenkung in sich aufzunehmen; versuchen Sie sie aufzunehmen nicht bloß wie eine Lehre, nicht bloß wie eine Theorie, versuchen Sie sie aufzunehmen so, daß sie diese Ihre Seele im tiefsten Inneren bewegen, erwärmen, durchleuchten und durchströmen, daß Sie sie lebendig tragen. Ver¬suchen Sie, diese Gedanken in solcher Stärke zu empfinden, daß sie Ihnen sind wie etwas, was wie durch den Leib in Ihre Seele eintritt und den Leib verändert. Versuchen Sie, alle Abstraktionen, alles Theoretische von diesen Gedanken abzustreifen. Versuchen Sie, dar¬auf zu kommen, daß diese Gedanken solche sind, welche eine wirk¬liche Speise der Seele sind, versuchen Sie, darauf zu kommen, daß durch diese Gedanken nicht bloß Gedanken in Ihre Seele einziehen, sondern daß geistiges Leben, das herauskommt aus der geistigen Welt, durch diese Gedanken in unsere Seele einzieht. Machen Sie sich intim innerlichst eins mit diesen Gedanken, und Sie werden ein Dreifaches bemerken. Sie werden bemerken, daß diese Gedanken allmählich et¬was in Ihnen selber austilgen, was insbesondere in unserer Zeit des Bewußtseinsseelenzeitalters so deutlich in die Mensi:henseelen herein-zieht: daß diese Gedanken, mögen sie sonst wie immer lauten, aus-tilgen im Menschen die Selbstsucht! Wenn Sie zu bemerken anfangen: diese Gedanken töten den Egoismus, lähmen die Selbstsucht -, dann, meine lieben Freunde, haben Sie verspürt das Durchchristete der anthroposophisch orientierten geisteswissenschaftlichen Gedanken. Und wenn Sie zweitens verspüren, daß in dem Augenblick, wo irgend¬wie in der Welt an Sie herantritt die Unwahrhaftigkeit, entweder in¬dem Sie selber versucht werden, es mit der Wahrheit nicht genau zu
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nehmen, oder von anderer Seite Ihnen die Unwahrhaftigkeit entgegen-tritt, wenn Sie verspüren, daß in dem Augenblicke, wo die Unwahr¬haftigkeit in Ihre Lebenssphäe hereintritt, warnend oder auf die Wahrheit hinweisend, ein Impuls dasteht neben Ihnen, der die Un¬wahrheit nicht in Ihr Leben hereintreten lassen will, der Sie immerzu mahnend auffordert, mit der Wahrheit es zu halten: dann verspüren Sie wiederum gegenüber dem zum Scheine heute so vielfach neigen-den Leben den lebendigen Christus-Impuls. Der Mensch wird nicht leicht gegenüber den anthroposophisch orientierten Geistgedanken lügen können oder keine Empfindung haben für den Schein und die Unwahrheit. Ein Wegweiser zum Wahrheitsempfinden, von allem übrigen Verständnis abgesehen, er kann von Ihnen gefühlt werden in den Gedanken der neuen christlichen Offenbarung. Wenn Sie es da¬hin bringen, nicht bloß theoretisches Verständnis zu suchen für die Geisteswissenschaft, wie man es für eine andere Wissenschaft sucht, sondern wenn Sie es dahin bringen, daß die Gedanken so in Sie ein¬dringen, daß Sie fühlen: Es ist so, indem diese Gedanken mit meiner Seele intim werden, wie wenn sich eine zur Wahrheit mahnende Ge-wissensmacht neben mich hinstellte, dann haben Sie den Christus-Im¬puls in der zweiten Art gefunden. Und wenn Sie drittens auch noch fühlen, daß ausströmt von diesen Gedanken etwas bis in den Leib hinein, aber insbesondere in der Seele Wirkendes, Krankheit Über¬windendes, den Menschen Gesundmachendes, Frischmachendes, wenn Sie verspüren die verjüngende, erfrischende krankheitsfeindliche Kraft dieser Gedanken: dann haben Sie den dritten Teil des Christus-Im-pulses dieser Gedanken empfunden. Denn das ist es, wonach die Menschheit mit der neuen Weisheit, mit dem neuen Geiste strebt: aus dem Geiste selber heraus die Möglichkeit zu finden, Selbstsucht zu überwinden, den Schein des Lebens zu überwinden; Selbstsucht durch Liebe, den Schein des Lebens durch die Wahrheit, das Krankmachende durch die gesunden Gedanken, die uns unmittelbar in Einklang ver¬setzen mit den Harmonien des Weltenalls, weil sie aus den Harmonien des Weltenalis stammen.
Nicht alles von dem Gesagten kann heute schon erreicht werden, denn der Mensch trägt ein altes Erbgut in sich herum. Und nur unverständig
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ist es, wenn zum Beispiel solche geistige Hinterstuben¬politiken wie die Christian Science den Gedanken des Gesundmachen¬den des Geistes zur Karikatur verzerren. Aber wenn auch der Ge¬danke wegen des alten Erbgutes heute noch nicht mächtig genug sein kann, um vielleicht dasjenige, was der Mensch durch ihn wünscht, selbstsüchtig wünscht, zu erreichen, er ist ein Gesundendes. In diesen Dingen denkt man nur immer verkehrt. Es kann Ihnen jemand sagen, der die Dinge versteht: Dich machen gewisse Gedanken gesund -, der Betreffende wird dann in einem bestimmten Zeitpunkt von dieser oder jener Krankheit befallen. - Ja, daß wir heute noch nicht von allen Krankheiten genesen können durch bloßen Gedankeneinfluß, das ist eine alte Erbschaft. Aber vermöchten Sie zu sagen, welche Krankheit Sie bekommen hätten, wenn Sie diese Gedanken nicht ge¬habt hätten? Vermöchten Sie zu sagen, daß Ihr Leben in ebensolcher Gesundheit verlaufen wäre, wenn Sie die Gedanken nicht gehabt hät¬ten? Vermögen Sie zu sagen bei einem Menschen, der sich anthropo¬sophisch orientierter Geisteswissenschaft zugewendet hat und fünf¬undvierzig Jahre alt geworden ist: Nun ist er mit fünfundvierzig Jah¬ren gestorben - wenn Sie nicht den Beweis liefern können, daß er ohne diese Gedanken mit zweiundvierzig, mit vierzig Jahren gestor¬ben wäre? Der Mensch denkt immer von der verkehrten Seite, wenn er sich so diesen Gedanken nähert. Der Mensch sieht auf dasjenige hin, was ihm nicht gegeben werden kann, vermöge seines Karma; er sieht nicht auf dasjenige hin, was ihm gegeben wird vermöge seines Karma. Aber wenn Sie trotz allem, was in der äußeren physischen Welt widerspricht, hinblicken durch die Kraft inneren Vertrauens, das Sie durch intimere Bekanntschaft mit den Gedanken der Geistes¬wissenschaft gewinnen, dann verspüren Sie auch das Gesundende, das bis in den physischen Leib hinein Gesundende, Erfrischende, Ver¬jüngende als das dritte Element, als das Element, das der Christus als Heiland mit seinen immer dauernden Offenbarungen in die mensch¬liche Seele hineinbringt.
Wir wollten uns vertiefen, meine lieben Freunde, in den Weihnachts-gedanken, der so nahe zusammenhängt mit dem Mysterium der Men¬schengeburt. Dasjenige, was uns heute aus dem Geiste geoffenbart
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wird als die Fortführung des Weihnachtsgedankens, mit einigen Stri¬chen wollten wir es vor unsere Seele führen. Fühlen können wir, daß es ein Stärkendes ist, daß es ein Tragendes im Leben ist. Fühlen kön¬nen wir, daß es uns hineinstellt in die Impulse der Weltenentwicke¬lung, was auch kommen mag, so daß wir uns eins fühlen können mit diesen göttlichen Impulsen der Weltenentwickelung, daß wir sie ver¬stehen können, daß wir Kraft schöpfen können für unseren Willen aus diesem Verstehen, Licht schöpfen können für unser Vorstellungs¬leben aus diesem Verstehen. Der Mensch ist in Entwickelung; un¬recht wäre es, diese Entwickelung zu leugnen. Recht ist es allein, mit dieser Entwickelung zu gehen. - Der Christus hat auch gesagt: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende des Erdeniaufes.» Das ist nicht eine Phrase, das ist eine Wahrheit. Der Christus hat sich nicht nur geoffenbart durch die Evangelien, der Christus ist bei uns, der Chri¬stus offenbart sich fortwährend. Ohren sollen wir haben, hinzuhören auf dasjenige, was er in neuen Zeiten immer neu offenbart. Schwach kann es uns machen, wenn wir keinen Glauben haben an diese neuen Offenbarungen; stark wird es uns aber machen, wenn wir ihn haben.
Stark wird es uns machen, wenn wir den Glauben haben an diese neuen Offenbarungen, und tönten sie auch aus den scheinbar wider¬sprechenden Schmerzen und dem Unglück des Lebens heraus. Mit unserer eigenen Seele gehen wir durch wiederholte Erdenleben, in denen sich unser Schicksal vollzieht. Zu diesem Gedanken selber, der das Geistige hinter dem äußeren physischen Leben verspüren läßt, kommen wir nur, wenn wir im rechten christlichen Sinne die sich fortsetzenden Offenbarungen in uns aufnehmen. Der Christ, der rechte Christ soll im Sinne unserer Zeit dann, wenn er die Lichter des Weih¬nachtsbaurnes vor sich hat, mit den stärkenden Gedanken beginnen, die heute aus der neuen Weltenoffenbarung ihm kommen können zur Erkraftung seines Willens, zur Durchleuchtung seines Vorstellungs¬lebens. Und er soll sich erfühlen so, daß er mit der Kraft und mit dem Lichte dieses Gedankens sich nähern kann im christlichen Jahre dem andern Gedanken, der an das Mysterium des Todes mahnt: dem Ostergedanken, der das Enderlebnis des menschlichen irdischen Da¬seins als ein Geistiges vor unsere Seele hinstellt. Den Christus werden
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wir immer mehr und mehr empfinden, wenn wir vermögen, unser eigenes Dasein mit seinem Dasein in das rechte Verhältnis zu setzen. Der an das Christentum anknüpfende mittelalterliche Rosenkreuzer sagte: Ex Deo nascimur, In Christo morimur, Per Spiritum Sanctum reviviscimus. - Aus dem Göttlichen sind wir geboren, indem wir uns als Menschen hier auf dem Erdenrund betrachten. In dem Christus sterben wir. In dem Heiligen Geiste werden wir wiederum auferweckt werden. - Doch das bezieht sich auf unser Leben, auf unser mensch¬liches Leben. Blicken wir von unserem Leben auf das Leben des Christus hin, so haben wir das, was in unserem Leben als Spiegelbild sich darstellt: Aus dem Göttlichen sind wir geboren, in dem Christus sterben wir, durch den Heiligen Geist werden wir wieder auferweckt werden. - Wir können es als die Wahrheit des als unser erster Bruder unter uns lebenden Christus so aussprechen, daß wir es nun als von ihm ausstrahlende, in unserer menschlichen Wesenheit gespiegelte Christus-Wahrheit empfinden: Aus dem Geiste ward Er gezeugt - wie es im Lukas-Evangelium steht, in dem Symbolum der herabsteigen¬den Taube dargestellt wird -, aus dem Geiste ward Er gezeugt, in dem Menschenleibe starb Er, in dem Göttlichen wird Er wieder er¬stehen.
Die Wahrheiten, die ewige sind, nehmen wir nur im rechten Sinne wahr, wenn wir sie in ihrer gegenwärtigen Spiegelung sehen, nicht nur verabsolutiert, verabstrahiert in einer Form. Und wenn wir uns fühlen als Mensch nicht nur im abstrakten Sinne, sondern als Mensch so recht darinstehend in einer Zeit, in der es unsere Pflicht ist, aus der Zeit heraus zu handeln und zu denken, dann werden wir den Christus, der bei uns ist alle Tage bis ans Ende des Erdeniaufes, zu vernehmen versuchen in seiner gegenwärtigen Sprache, wie er uns über den Weih¬nachtsgedanken belehrt, erleuchtet, mit dem Weihnachtsgedanken durchkraftet. Dann werden wir diesen Christus in seiner neuen Sprache in uns aufnehmen wollen, denn verwandt muß der Christus uns wer¬den. Dann können wir die rechte Christus-Aufgabe auf dem Erden-runde und nach dem Tode durch uns selber erfüllen. Der Mensch jedes Zeitalters muß in seiner Art den Christus in sich aufnehmen. Die Menschen empfanden das, wenn sie im rechten Sinne hinblickten
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auf die beiden großen starken Geistsäulen, auf den Weihnachtsgedan¬ken und den Ostergedanken. So hat der tiefsinnige deutsche Mystiker, der schlesische Angelus, Ängelus Silesius, hinblickend auf den Weih¬nachtsgedanken, gesagt:
Wird Christus tausendmal zu Bethiehem geboren
Und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.
Und hinblickend auf den Ostergedanken:
Das Kreuz zu Golgatha kann dich nicht von dem Bösen,
Wo es nicht auch in dir wird aufgericht't, erlösen.
Wahrhaftig, det Christus muß in uns leben, da wir Menschen nicht im absoluten Sinne, sondern Menschen einer bestimmten Zeit sind. Der Christus muß in uns geboren werden so, wie seine Worte durch unser Zeitalter tönen. Den Christus müssen wir versuchen, in uns zu gebären, zu unserer Stärkung, zu unserer Durchleuchtung, so wie er jetzt bei uns geblieben ist, wie er bei den Menschen bleiben will durch alle Zeiten bis ans Ende der Erdentage, wie er jetzt in unserer Seele geboren werden will. Wenn wir also versuchen, in unserer eigenen Seele die Geburt des Chritus zu erleben am heutigen Tage, wie sie hereinleuchtet und hereinkraftet in unsere Seele als das ewige Licht und die ewige Kraft in die Zeit, dann sehen wir in richtiger Weise auf die historische Geburt des Christus in Bethiehem und auf ihr Ab¬bild in unserer eigenen Seele hin.
Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren
Und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.
So wie er es uns heute in die Seele legt, hinzublicken auf diese seine Geburt, seine Geburt im Menschengeschehen, seine Geburt in unserer eigenen Seele, so vertiefen wir uns recht in den Weihnachtsgedanken. Und dann blicken wir hin auf jene Weihenacht, die wir aufgehen fühlen sollten für eine neue Erkraftung und Erleuchtung der Menschen
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auf mancherlei Übel und Schmerzen hin, die in der Gegenwart sie durchbebt haben und sie noch durchbeben werden.
«Mein Reich», so sagt der Christus, «ist nicht von dieser Welt.» Ein Wort, das uns auffordert, wenn wir auf seine Geburt im rechten Sinne hinblicken, in unserer eigenen Seele zu finden den Weg nach jenem Reiche, wo Er ist, uns zu erkraften, wo Er ist, uns zu erleuch-ten, wenn es finster und kraftlos werden will, aus den Impulsen, die aus jener Welt sind, von der Er selber sprach, von der immerdar sein Erscheinen in der Weihenacht künden will. « Mein Reich ist nicht von dieser Welt.» Aber Er hat dieses Reich in diese Welt gebracht, so daß wir aus diesem Reiche immer Kraft, Trost, Zuversicht und Hoffnung in allen Lebenslagen werden finden können, wenn wir nur zu Ihm kommen wollen, seine Worte beherzigend, solche Worte wie diese: «Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, werdet ihr nicht ein¬treten in die Reiche der Himmel.»
ZWEITER VORTRAG Dornach, 24. Dezember 1918
#G187-1967-SE028 - Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?
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ZWEITER VORTRAG
Dornach, 24. Dezember 1918
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Die unsere Zeit erfüllende Stimmung ist vielleicht nicht dazu angetan, gegenwärtig bei vielen Menschen jene innere Vertiefung herbei¬zuführen, von der Legenden und Sagen sprechen, indem sie auf jene Nächtereihe hindeuten, die auf die Weihenacht folgt und in welcher das dazu vorbereitete Gemüt durchleben kann etwas von der geistigen Welt. Sie kennen eine solche sehr ergreifende Legende aus den Dar¬stellungen, die auch hier gepflogen worden sind: diejenige von Olaf Ästeson. Und vieles Ähnliche weist auf die Weihnachtszeit in einer so eindringlichen Weise hin.
Allein nicht nur für den intimeren Beobachter des menschlichen Gemütes, sondern auch für den, der heute im Äußeren die allgemeine Zeitstimmung ins Auge faßt, ist es klar, daß Weihnachtsstimmung, Weihnachtsimpuls erst wiederum gesucht werden muß von den Men¬schen. Dasjenige, was lebt in der Weihnachtserinnerung, in dem Weih¬nachtsgedanken, es muß in einer neuen Art die Menschenseele wieder ergreifen. Sehen wir doch einmal, um eben nach dem weiteren Um-kreise der heutigen religiösen geistigen Stimmung hinzuschauen, wie wenig in der gegenwärtigen Zeit auch nur die Neigung vorhanden ist, den Christus als solchen ins Auge zu fassen, ins Seelenauge herein-zunehmen.
Wenn Sie in den Worten derjenigen, die heute glauben, von dem Christus zu reden, wenn Sie in ihren Reden nach den unterscheidenden Merkmalen zwischen dem Christus und dem Vatergott suchen, werden Sie kaum einen andern als einen Narnensunterschied finden. Während allerdings bei manchen Gläubigen der Christus heute noch im Mittel¬punkte des religiösen Bekenntnisses steht und daneben alles übrige Göttliche sozusagen an Glanz entschwindet, sahen wir schon seit langem heraufkommen eine Theologie, welche im Grunde den Chri¬stus verloren hat, welche von einem Gotte im allgemeinen spricht, auch wenn sie von dem Christus spricht. Das Besondere, das Eigen¬tümliche, von dem gesprochen werden muß, wenn das menschliche
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Herz zu Christus aufschaut, das will erst wiederum gefunden werden. Und vielleicht ist gerade heute die würdigste Feier des Weihnachtsfestes die, einmal sich so recht in die Seele zu schreiben, wie die Menschheit den Christus wieder finden kann. Da muß allerdings vielleicht man¬cherlei aus der Entwickeiungsgeschichte der Menschheit auch in Be¬tracht gezogen werden, in geisteswissenschaftlichem Sinne in Betracht gezogen werden, wenn der Impuls recht wieder erweckt werden soll, der die Menschenseelen zum Christus hinführt.
Das Weihnachtsfest kann uns ja nicht nur erinnern, wie es das soll, an das Hereintreten des Jesus in das Erdendasein, sondern es kann uns auch erinnern gewissermaßen an die Geburt des Christentums selbst, an dies Hereintreten des Christentums in den Lauf der Erden¬entwickelung. Und so sei denn heute zunächst unser geistiger Blick auf die Weihenacht, möchte ich sagen, des Christentums selbst hin¬gelenkt, auf das Hereintreten, auf das Geborenwerden des Christen¬tums innerhalb des Erdenbereiches. Die äußeren Tatsachen sind ja allgemein bekannt, aber sie sollten vertieft werden.
Inmitten der Bekenner des Alten Testarnentes trat das Christentum in die Welt. Es trat in die Welt mit der Persönlichkeit des Christus Jesus. Wir blicken auf die Erscheinungen, die sich abgespielt haben innerhalb der Bekennerschaft des Alten Testamentes, als das Christen¬tum geboren worden ist. Wir sehen, wie diese Bekennerschaft äußer¬lich in zwei voneinander geschiedenen Strömungen lebt: in der Pharisäerströrnung und Sadduzäerströmung. Im Grunde ist es not¬wendig, alle diese Dinge von der Gegenwart ab wiederum in einem neuen Lichte anzusehen. Wenn wir uns vor die Seele führen die Art, wie wir den allgemeinen Weg anschauen, den der einzelne Mensch macht, und den Weg, den die Menschheit, den eigentlich das ganze Erdendasein macht, so wird uns dieser Weg immer deutlicher dadurch werden, daß wir ihn als einen Gleichgewichtszustand auffassen zwi¬schen dem Luziferischen und Ahrimanischen. Aber im Grunde ist das nur die Benennung, die wir gebrauchen. Ein Bewußtsein von dem Tatsachenbestand des Luziferischen, des Ahrimanischen und des Gleichgewichtszustandes dazwischen war bei den tieferen Naturen der Menschheit immer vorhanden. Und im Grunde genommen ist das
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pharisäische Element innerhalb der althebräischen Entwickelung, mit seinem Gegensatz zum sadduzäischen Element, nichts anderes als der Gegensatz des Ahrirnanischen und Luziferischen. In die Gleich¬gewichtsströrnung ist hineingestellt der Jesus, der eintritt in das äußere Erdendasein. Er tritt ein in dieses äußere Erdendasein an der¬jenigen Stätte, deren innerste Charakteristik doch bis zu dem Myste¬rium von Golgatha dadurch gegeben war, daß an dieser Stätte auf¬gerichtet war der Salomonische Tempel. In einem gewissen Sinne versteht man das ganze Wesen des Salomonischen Tempels nur, wenn man diesen Tempel zugleich im Gegensatz auffassen kann zum wer¬denden, zum geborenwerdenden Christentum. Bekannt ist, wie rasch nach dem Entstehen des Christentums der Salomonische Tempel für das äußere Weltendasein zerstört worden ist. An derjenigen Stätte, von der ausgesttörnt ist die Geistigkeit des Christentums, sollte fortan das äußere Denkmal der alten Entwickelung, aus der hervorgegangen ist diese Geistigkeit des Christentums, nicht mehr vorhanden sein. Ein Gegensatz ist zwischen dem Wesen des Salomonischen Tempels und dem Wesen des Christentums. Der Salomonische Tempel faßte zu¬sammen in wunderbaren, großartigen, zum Teil gigantischen Sym¬bolen dasjenige, was die Weltanschauung des Alten Testamentes in sich geschlossen hat. Der Salomonische Tempel ist ein Bild gewesen des ganzen Weltenalls, soweit es in seiner Gesetzmäßigkeit, in seiner inneren Struktur, in seinem Durchwalltsein von göttlich-geistigen Wesenheiten vorgestellt werden konnte durch die Weltanschauung des Alten Testamentes. Dieser Salomonische Tempel ist aber doch ein Bild des Weltenalis, welches in einer gewissen Beziehung nach einer Richtung außergewöhnlich einseitig ist. Der Salomonische Tempel ist nämlich ein Raumbild des Weltenalis, ein Bild, das räumliche Ver¬hältnisse, räumliche Gestalten zu Hilfe nimmt, wenn die Geheimnisse dieses Weltenalls ausgedrückt werden sollen. Aber dasjenige, was an Symbolismus am Salomonischen Tempel war, belebte sich für die Anschauung derjenigen, die dieses Anblickes teilhaftig wurden aus dem Geiste des Alten Testamentes heraus.
Sehen wir auf der einen Seite, im pharisäischen Judentum und im sadduzäischen Judentum, die Veräußerlichung desjenigen, was durch
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das Alte Testament der Menschheit gegeben war, so sehen wir auf der andern Seite in der Symbolik des Salomonischen Tempels die dem alttestamentlichen Leben mögliche Verinnerlichung dieses Lebens. Man möchte sagen: Dasjenige, was eingeflossen war in die ganze alt¬testamentliche Offenbarung, es äußerte sich nach diesen zwei Seiten, nach der Seite, die äußerlich, exoterisch gegeben war im pharisäischen und sadduzäischen Judentum, nach der andern Seite esoterisch durch dasjenige, was gegeben war in den geheimnisvollen Symbolen des Salomonischen Tempels. Und aus dieser Exoterik und Esoterik sproß heraus dasjenige, was dann zum Christentum wurde.
Unbekannt zunächst der großen Welt in derjenigen Zeit, in der es geboren wurde, war dieses Christentum für diejenige Welt, innerhalb welcher die damalige Geistigkeit der Menschheit lebte: innerhalb der griechischen Welt. Innerhalb des sich immer mehr und mehr aus¬breitenden römischen Weltreiches, in dessen Bereich sogar das My¬sterium von Golgatha durch Jesu Geburt sich vorbereitete, wußte man nicht, welch Gewichtiges sich abgespielt hatte inmitten des jü¬dischen Volkes. Man wußte nichts von dem Wichtigsten, das sich vor¬bereitete als der Sinn der Erde. Dennoch, wenn auch die Menschheit der damaligen Zeit äußerlich vorübergehen ließ dieses großartigste Ereignis der Erdenentwickelung, innerlich war mit aller damals in Betracht kommenden Welt das werdende Christentum verbunden.
Aber wie verbunden? Der Sinn dessen, was die Weihenacht birgt, er enthüllt sich doch erst im Ostergedanken. Und der Ostergedanke, der den Weihnachtsgedanken eigentlich vertieft, was ist denn sein Bedeutsames? Das Bedeutsame des Ostergedankens ist der Hinblick auf den Menschheitserlöser, der gekreuzigt stirbt: das Kreuz mit dem toten Gotte. Aus der Menschheit heraus ist die Absicht, ist die Tat entstanden, den unter ihr erscheinenden Gott zu töten. Es sollte die ganze Größe, die ganze Gewalt dieses Gedankens sich wiederum in die Seelen der Menschen hineindrücken. Der Hinblick auf die Tat, durch die der auf der Erde erschienene Gott durch die Menschen getötet worden ist, diesen Gedanken sollte man sich übersetzen in die Sprache, durch die er verstanden werden kann! Versuchen wir das wenigstens von einem Gesichtspunkte aus.
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Wenn wir hinblicken auf das Mysterium von Golgatha - Sie wissen es aus meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache» -, so ist dieses Mysterium von Golgatha wie ein großer weltgeschichtlicher Zu¬sammenfluß desjenigen, was in alten Mysterien dargestellt worden ist. Dasjenige,wasin alten Mysterien als Opferhandlung, als Initiationshand¬lung stattfand, was in den Tempeln, man möchte sagen, mit einer einge¬schränkten Geltung stattfand, wurde hinausgestellt auf den großen Plan der Weltgeschichte, spielte sich ab im Umfang des ganzen Erdendaseins. Gewissermaßen wurde die Initiation der Menschheit selbst herausgeholt aus den Tempeln und hingestellt vor die ganze Erden-Weltgeschichte.
Nun muß man sich fragen: Was dachte sich denn eigentlich der alte Mensch, der teilnehmen durfte an den Weihehandlungen der Mysterien, in jener Zeit, als die Mysterien noch ihre wirkliche, alte Bedeutung hatten? Der Mensch war vermöge seines Vorbereitungs-unterrichtes für die Mysterien sich völlig klar darüber, daß dasjenige, was zunächst in der äußeren Sinneswelt sich ausbreitet, was auch der menschliche Verstand begreifen kann, eine bloße Phänomenenwelt sei, eine Welt des äußeren Sinnenscheines, daß dasjenige, was der Mensch zunächst in seinem Umkreis erlebt in seiner Wachezeit zwischen Geburt und Tod, nur die äußere Anschauung, Erscheinungsoffenbarung der inneren Wesenheit sei und daß diese innere Wesenheit aber sich im all¬gemeinen Leben des Menschen verbirgt. Aber in den Mysterienweihe¬handiungen, da suchte der Mensch gewissermaßen aus den Tiefen des Seins heraus dasjenige, was ihm als Wesen zuströrnte, was sich heraus¬holen, herausschälen ließ aus dem bloßen phänomenalen, aus dem bloßen Scheindasein als das Wesentliche, als das wahrhaft Wirkliche. Der alte Teilnehmer an den Mysterien, er war jederzeit geneigt, sich zu sagen: Wenn ich so durch die Welt schreite, mir anschaue die äußere Natur: das ist Schein. Wenn ich dieses oder jenes in der Welt erlebe: das ist Schein. Wenn ich dieses oder jenes für diese Welt arbeite: das ist Schein. Wenn ich aber in dem Tempel teilnehmen darf an der heiligen Mysterienhand¬lung, so geschieht etwas, was Wahrheit ist, was nicht Schein ist. Es wird gleichsam etwas herausgezogen aus dem Scheindasein der Welt, wel¬ches umgesetzt wird in eine sakramentale Handlung, und diese sakra-mentale Handlung enthält gerade die Wahrheit gegenüber dem Schein.
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Man muß sich den ganzen Unterschied zwischen dieser Mysterien-anschauung und der Anschauung, die zum Beispiel heute im materia¬listischen Zeitalter herrscht, klarmachen, wenn man in aller Schärfe gerade auf das Wesen dieser Mysterienanschauung hinweisen will. Man muß sich klarmachen, daß alles dasjenige, was der Mensch heute im materialistischen Zeitalter Wirklichkeit nennt, von dieser Myste¬rienanschauung als Schein erklärt worden ist, während zum Beispiel die sakramentale Handlung, der Initiationsritus, der verrichtet wurde und der heute den meisten Menschen als Phantastik gilt, den Mysterien-kennern als das einzig Wirkliche galt, das ihnen im Leben entgegen¬treten könne. Daher wurde auch solche Mysterienhandlung nicht be¬liebig verrichtet, sondern zu gewissen Zeiten, wenn man der Ansicht war, daß durch die Erscheinungen des äußeren Lebens etwas durch¬dringen konnte von dem wahren Wesen, welches man dann gleichsam auffangen konnte durch die sakramentalen Handlungen im Myste¬rium. Es ist oftmals hingewiesen worden darauf, daß eine wichtige sakramentale Handlung in den Mysterien darin bestand, daß gezeigt wurde die Opferung des Gottes, das Sterben des Gottes und das Wiederauferstehen des Gottes nach drei Tagen. In dieser Mysterien-handlung war darauf hingewiesen, wie dem tieferen Durchdringer der äußeren Welt - wenn er in sie sieht - der Tod in dieser äußeren Welt verraten kann das wahre Wesen dieser Welt, wie gesucht werden muß jenseits des Todes dasjenige, was wahrhaft Wirklichkeit ist.
Aber all das, was so aus der Mysterienstimmung heraus in die Menschenseele kommen konnte, denken wir es uns zusammengefaßt im Beginne unserer christlichen Zeitrechnung als Ausdruck des Wichtigsten in den Welterscheinungen. Jemand, der im Beginne die¬ser christlichen Zeitrechnung mit dem Gange unserer Erdenentwicke¬lung vollständig hätte fühlen können, er hätte sich sagen können: Es war in alten Zeiten die Möglichkeit für die Menschen vorhanden, jr' atavistischer Weihewissenschaft etwas von dem Göttlich-Geistigen zu erfahren. Diese Zeit ist vorbei. Überblickt man die Erdenentwicke¬lung, so kann man sagen: In alten Zeiten, da offenbarte sich den Men¬schen aus dieser Erdenentwickelung heraus etwas von der göttlich-geistigen Welt. Doch die Zeit ist eingetreten, wo nichts mehr herausgeholt
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werden kann aus dem Welteninhalt für dasjenige, was den Menschen hinführt zum Göttlich-Geistigen. Die Welt hat verloren ihr göttlich-geistiges Leben. - So würde eine solche Seele gesagt haben. Auf was muß man blicken, wenn man diesen Sinn der Entwickelung der Erdenrnenschheit ins Auge faßte? Wo ist dasjenige, was in der Zeit der Entstehung des Christentums wirklicher Erdensinn ist? Wo ist dasjenige, was ausspricht, was im Innersten gewollt wird in dieser Zeit? Zu Golgatha auf dem Kreuz: der Tod ist es! Das was früher aus der Erdenentwickelung hervorquoll, was zum Heile der Menschen war, es ist selber gestorben. In dem Hinblicke auf den toten Gott ist der wirklich tiefer in das Weltenwesen eindringenden Seele der Erdenimpuls, der tiefste Erdenimpuls selber gegeben zur Zeit der Entstehung des Christentums.
Und so empfunden, stellt sich erst die ganze Größe desjenigen dar, auf das es in diesem Zusammenhange ankommt. Das alte Welten-wissen, die alte Weltanschauung war zusammengeflossen in dem Salo¬monischen Tempel; aber diese alte Weltanschauung barg nichts mehr von dem, was sie groß gemacht hätte. Ein Neues mußte in die Welt¬entwickelung hereintreten. Und so fließen in der Zeitentwickelung unmittelbar zusammen der Niederbruch des Salomonischen Tempels und der Aufgang, die Geburt des Christentums - der Salomonische Tempel: ein symbolisches Raumesbild des Welteninhaltes; das Christen¬tum, zusammengefaßt als Zeiterscheinung: ein neues Weltenbi ld. Beim Christentum ist nicht die Hauptsache irgend etwas, was als Raumes-bild auftreten kann wie beim Salomonischen Tempel; beim Christen¬tum ist das Wesentliche, daß man versteht: Die Erdenentwickelung ging bis zum Mysterium von Golgatha; das Mysterium von Golgatha hat eingegriffen, dann geht es durch den in die Menschheit sich aus-gießenden Christus in dieser oder jener Weise weiter. - Das Christen¬tum versteht nur derjenige, der es auffaßt durch Bilder, die in der Zeit ablaufen. Der tiefere Inhalt des Christentums läßt sich nicht im entferntesten vergleichen mit dem, was in Raumesbildern auftritt, auch nicht in den gigantischen, großartigen Raurnesbildern des Salo¬monischen Tempels. Doch der Salomonische Tempel, wie auch das¬jenige, was das Innerliche des pharisaischen, des sadduzäischen Lebens
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war, enthlelten die Seele des damaligen Weltenbewußtseins. Wer nach der Seele des Weltenbewußtseins vor zweitausend Jahren sucht, der findet zu jener Zeit diese Seele im alttestamentlichen Judentum. In diese Seele ward gesenkt der Keim des Christentums, ein neuer Keim gewissermaßen aus alldem, was im Raume ausdrückbar war: das¬jenige, was nur in der Zeit ausdrückbar ist. Das Werden, hingestellt nach dem Sein: das ist die innere Beziehung des geborenwerdenden Christentums zu dem Seelischen der damaligen Welt, zu dem Juden¬tum, das dasteht im Salomonischen Tempel, der aber in der Welten-folge zusammenbricht. In die Seele, die im alten Judentum gegeben war, wurde das Christentum hineingeboren.
Den Geist hat dieses Christentum aufgesucht im Griechentum. Wie im Judentum das Christentum die Seele aufgesucht hat, so hat es im Griechentum den Geist aufgesucht. Die Evangelien selber sind, so wie sie der Welt überliefert worden sind - abgesehen von demjenigen, was nicht überliefert worden ist -, so wie sie hinausgezogen sind in die Welt, im wesentlichen durch griechischen Geist gegangen. Die Ge¬danken, durch welche die Welt das Christentum denken konnte, sie sind griechische Geistesweisheit. Die ersten Verteidigungsschriften der Kirchenväter - in griechischer Sprache sind sie erschienen. So wie das Christentum hineingeboren ist in die Seele, die im Judentum ge¬geben war für die damalige Menschheit, so ist dieses Christentum hineingeboren in den Geist, der für die damalige Menschheit gegeben war durch das Griechentum.
Das Römerturn aber gab den Leib. Das Römertum war im wesent-lichen für die damalige Zeit dasjenige, was die äußere Organisation, den Reichsgedanken verwirklichen konnte. Judentum war Seele, Griechentum war Geist, Römerturn war Leib - Leib natürlich in dem Sinne, wie die soziale Struktur der Menschheit Leib ist. Römerturn ist im wesentlichen Gestaltung der äußeren Neigungen, Einrichtungen, und die Gedanken über die äußeren Einrichtungen leben in äußeren Einrichtungen: Leibliches in geschichtlichem Sein, Leibliches in geschichtlichem Werden. Wie das Christentum in die Seele des Juden¬tums, in den Geist des Griechentums hineingeboren worden ist, so ist es in den Leib des Römischen Reiches hineingeboren worden.
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Oberflächliche Naturen finden sogar, daß alles dasjenige, was das Christentum birgt, sich erklären ließe aus Judentum, Griechentum und Römertum. Nun ja, wie materialistische Naturforscher finden, daß alles dasjenige, was im Menschen ist, von seinen Eltern, Großeltern und so weiter abstammt, und nicht bedenken, daß die Seele aus gei¬stigen Reichen kommt und sich nur den Leib als Kieid umlegt, so sind solche oberflächliche Naturen geneigt, zu sagen, das Christentum ist nur in demjenigen bestehend, was es sich eigentlich umgelegt hat. Das Wesentliche des Christentums tritt natürlich mit dem Christus Jesus selbst in die Welt, aber hineingeboren wird dieses Christentum in die Judenseele, in den Griechengeist und in den Leib des römischen Imperiums, des Römischen Reiches. Das ist gewissermaßen, ange¬schaut durch den Weihnachtsgedanken, die Geburt des Christentums selber.
Wichtig ist es, diesen Gedanken nicht bloß als einen äußeren theo-retischen zu nehmen, sondern ihn wirklich zum Weihnachtsgedanken zu vertiefen, gewissermaßen lernen hinzuschauen, was dieser Ge¬danke eigentlich für eine Tragkraft haben kann mit Bezug auf den neu geborenwerdenden Geist, der mit den Geistern der Persönlich¬keit, wie ich neulich hier angeführt habe, in das Weltenwerden herein-tritt. Das, was im Weltenwerden sich einpflanzen will dem Geschehen, das hat zunächst sich durchzuringen durch dasjenige, was vom Alten bleibt. Das ist ja das Geheimnis des Weltenwerdens, daß gewisser¬maßen eine normal fortgehende Entwickelung da ist, und ein luzi¬ferisches und ahrimanisches Zurückbleibendes, das modifiziert, stört, aber auch in einer gewissen Weise das fortschreitende Weltenwerden trägt. Ich habe öfter darauf aufmerksam gemacht: Man kann dieses Ahrimanisch-Luziferische nicht einfach fliehen, man muß es ruhig ins Auge fassen, man muß sich bewußt ihm entgegenstellen, aber man soll nur nicht unbewußt diese Dinge einfach über sich ergehen lassen. Von den Weltenimpulsen bleiben gewissermaßen Schatten zurück, die weiter wirken, wenn das Neue schon da ist, die aber in ihrem luziferischen oder ahrimanischen Charakter durchschaut werden müssen. Es muß dieses Ahrimanisch-Luziferische weiter mit der Ent¬wickelung gehen, aber es darf nicht verabsolutiert werden, es muß
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in seinem luziferischen und ahrirnanischen Charakter durchschaut werden. Es ist zurückgeblieben Schattenhaftes vom Salomonischen Tempel, zurückgeblieben Schattenhaftes vom Griechentum, zurück-geblieben Schattenhaftes vom Römischen Reich. Vor zweitausend Jahren nahezu war es selbstverständlich, daß aus diesen dreien - aus Seele, Geist und Leib - herausgeboren wurde das Christentum. Aber Seele, Geist und Leib konnten nicht gleich verschwinden. Sie blieben in einer gewissen Weise nachwirkend. Heute ist die Zeit, wo dieser Tatbestand durchschaut werden muß, wo durchschaut werden muß das völlige Einzigartige des Christus-Impulses selbst.
Ein Schatten ist zurückgeblieben auch von dem wesenhaftesten Extrakt des esoterischen Alten Testamentes, von dem Geheimnisse des Salomonischen Tempels, ein Schatten ist zurückgeblieben von dem Griechentum, und ein Schatten ist zurückgeblieben vom Römischen Reich. Man muß lernen, die Schatten zu unterscheiden von dem Lichte. Das wird die Aufgabe der Menschheit von der Gegenwart an in die nächste Zukunft sein: die Schatten und das Licht in der richtigen Weise auseinanderzuhalten.
Wir sehen den Schatten des Römischen Reiches im römischen Katholizismus heute. Dieser Schatten ist nicht das Christentum, es ist der Schatten des alten Römischen Reiches, in das hinein das Christen¬tum geboren werden mußte, in dessen Formen noch immer fortlebt dasjenige, was dazumal als Struktur des Christentums sich heraus-bilden mußte. Aber wir müssen lernen, die Menschheit muß lernen unterscheiden den Schatten des alten Römischen Reiches von dem Christentum. In der Konstitution der katholischen Kirche hat man nicht dasjenige, was die Essenz des Christentums ist, das hat man überhaupt nicht in der Konstitution der christlichen Kirchen. In der Konstitution dieser christlichen Kirchen lebt das, was gelebt hat in dem Römischen Reiche von Rornulus bis zum Kaiser Augustus, was sich da ausgebildet hat. Die Täuschung entsteht nur dadurch, daß in diesen Leib hineingeboren worden ist das Christentum.
Auch der Salomonische Tempel ist in dieser Richtung wie ein Schat-ten zurückgeblieben. Dasjenige, was die Geheimnisse des Salomoni-schen Tempels waren, ist mit einigen Ausnahmen fast restlos aufgegangen
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in all die maurerischen und andern Geheimgeselischaften der jetzigen Zeit. Wie die römische Kirche der Schatten des alten Römischen Reiches ist, so ist, mögen sie auch anderes behaupten wollen, - sogar wenn sie Judentum ausschließen - dasjenige, was durch diese Gesellschaften fortlebt, der Schatten des alten Judentums, der Schatten des esoterischen Jehovadienstes. Wiederum muß unter¬schieden werden der Schatten von dem Lichte, wie unterschieden werden muß der Schatten, der ausgedrückt ist in dem fortwirkenden Lateinerreich in der katholischen Kirche, in den Kirchen überhaupt, von dem Lichte. Wie unterschieden werden muß der Schatten von dem Licht, das im Christentum leuchtet, so muß unterschieden werden dasjenige, in das hinein als Seele geboren werden mußte das Christen¬tum, das aber als Schatten fortwirkt in denjenigen Gesellschaften, die in ihren Untergründen Symbolik haben, an die salomonische erin¬nernde Symbolik.
Diese Dinge müssen erkannt werden. Diese Dinge müssen recht angeschaut werden, diese Dinge müssen in unserer Zeit aber beleuchtet werden mit den neuen Offenbarungen, von denen wir in diesen Tagen gesprochen haben.
Der Schatten des griechischen Geistes, in den hineingeboren werden mußte das Christentum, das ist nun - trotz aller Schönheit des Griechentums, trotz alles ästhetischen und sonstigen bedeutsamen Inhaltes des Griechentums, trotz des Wirksamen, das das Griechen¬tum für uns hat -, das ist die moderne Weltanschauung der gebildeten Welt, die es dazu gebracht hat, daß diese furchtbare Katastrophe über die Menschheit hereingebrochen ist. Als das Griechentum gelebt hat mit seiner Weltanschauung, da war das etwas anderes. Ein jegliches ist das Rechte zu seiner Zeit. Wird es absolut genommen, wird es antiquiert weitergetragen, dann wird es der Schatten seiner selbst, und der Schatten, er ist nicht das Licht, er kann in das Gegenteil des Wesens umschlagen. Aristotelismus zeigt noch etwas von alter griechi¬scher Größe, Aristotelismus in neuem Gewande ist Materialismus. Das-j enige, in was das Christentum hineingeboren worden ist, das ist jüdische Seele, griechischer Geist, römischer Leib; die drei aber haben ihre Schatten zurückgelassen. Der Ruf geht wie ein Engelsposaunenklang
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durch unsere Zeit, diese Tatbestände in ihrem wahren Wesen zu durchschauen, durch die Schatten hindurch auf das Licht zu schauen.
Wahrhaftig, wer heute sich in die Zeit versenkt, wer unbefangen, ohne Vorurteil dasjenige aufnimmt, was aufgenommen werden kann, was aber eingelaufen ist in diese furchtbaren, schmerzlichen Tatsachen der letzten Jahre, der kann nicht umhin, doch vielleicht den Blick zu richten darauf, ob nicht irgendein Licht gesucht werden müsse, das anders leuchte in den Finsternissen der Erde als diejenigen Lichter, an welche die Menschen vielfach heute als an die einzigen Lichter nur noch glauben wollen. Den guten Willen, ihn sollte man suchen, um den Weg durch die Schatten zum Lichte hin zu finden. Denn die Schatten werden sich sehr geltend machen. Die Schatten werden sich geltend machen durch jene Menschen, die für sich selber vielleicht wenig gelitten haben unter den großen Leiden der Menschheit in der Gegenwart und die keine oder nur geringe Teilnahme haben für das ungeheuer Schmerzvolle, das die Welt durchzuckt und das für sich ein Beweis ist, wie viele von den Gedanken, die heraufgekommen sind, Schiffbruch zu leiden bestimmt waren. Wer versucht, mit tie¬ferem Verständnis dasjenige zu überschauen, was heute wahrhaftig nicht schwer ist zu sehen, wer den guten Willen hat, vorurteilslos die Blicke hinzuwenden auf das, was heute unter Menschen geschieht, der wird den Impuls zum Suchen des Lichtes empfangen. Und man sollte auf diesen inneren Antrieb in der Menschenseele heute einigen Wert legen, man sollte nicht hinhören auf diejenigen, die - je nach dem Platze, auf den sie gestellt sind - nur irgendeinen alten Schatten ver¬teidigen wollen, sondern hinhören auf sein Eigenes, das deutlich genug sprechen muß, wenn man es nur nicht übertönen will durch das, was aus den äußeren Schattenbehauptungen heraustönt.
Man wird sich schon heute überzeugen können - wenn man hin-blickt, teilnahms-, mitleidsvoll hinblickt auf dasjenige, was geschehen ist, was geschieht, was geschehen wird -, man wird schon sehen, daß eine merkwürdige, das rechte Menschliche verzerrende Gestalt vor den Menschen steht, eine Gestalt, welche an sich trägt jene Gewänder, die aus den Schatten gewoben sind, eine Gestalt, welche in sich ver¬einigt in Gedanken, Empfindungen, in Gefühlen und in Willensimpulsen
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dasjenige, was die Menschheit auf eine schiefe Bahn ge¬bracht hat und geeignet ist, weiter auf eine schiefe Bahn zu bringen. Im Innersten dessen, was außen geschieht, leben die drei charakteri-sierten Schattengedanken.
Wer aber sich geeignet macht, den Blick hinzuwenden auf diese Gestalt, deren Gewand aus den Schatten gewoben ist, der bereitet sich auch in der richtigen Weise vor, nach anderem hinzuschauen:
hinzuschauen nach jenem Baume, der in der Finsternis doch heute schon leuchten kann mit seinen Lichtern, nach jenem Baurne, den man anschaut, wenn man sich nicht beirren läßt durch das dreifache Schattendasein, sich nicht beirren läßt von antiquierter Symbolik, von antiquiertern Kirchentum, von antiquierter materialistischer Wissenschaft, sondern reinen Herzens hinschaut auf dasjenige, was leuchten will in der Finsternis als ein wirklicher Weihnachtsbaurn, unter dem da liegt das durch das Weihnachtslicht neu beleuchtete Christus-Jesuskind. Das möchte Geisteswissenschaft, anthroposo¬phisch orientiert, letzten Endes tun: das Weihnachtslicht suchen, damit das Jesuskind, das in die Welt eingetreten ist, um erst zu wirken und dann verstanden zu werden, allmählich verstanden werden könne. In bescheidener Weise beleuchten das Größte der Ereignisse im Erdendasein, das möchte innerhalb der religiösen Menschheits-strömungen anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft. Man wird nicht verstehen dieses Licht, das diese Geisteswissenschaft an¬erkennen will als ihr Weihnachtslicht, wenn man nicht den Willen hat, das dreifache Schattendasein unserer Zeit wirklich zu durchschauen. Ernst sind die Zeiten. Und wer nicht den guten Willen hat, die Zeiten ernst zu nehmen, der wird vielleicht in dieser Inkarnation noch nicht hinschauen können auf dasjenige, was für jeden Menschen, der guten Willens ist, in dieser Zeit wahrhaftig da sein sollte zum Heilen für so viele Wunden, die sonst der Menschheit noch geschlagen werden müßten. Hinschauen müßte der Mensch, der heute guten Willens ist, auf dasjenige, was erscheinen kann, indem das Weihnachtslicht anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft entzündet wird. Das Licht ist wahrhaftig klein, und derjenige, der sich zu dem Lichte bekennt, der bleibt bescheiden. Er will nicht dieses Licht als etwas
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Besonderes der Welt anpreisen, denn er weiß, daß es heute noch klein und unbedeutend brennen kann, daß viele Menschen und viele Ge¬nerationen werden kommen müssen, damit dasjenige, was heute noch schwach brennt, stärker brennen kann. Aber wenn auch das Licht schwach brennt, es leuchtet hin auf etwas, das nicht schwach wirkt innerhalb der Menschen-Erdenentwickelung, sondern das stark wirkt als der Menschenentwickelung tiefster Sinn; es leuchtet hin auf das¬jenige, was wir nennen können: Geburt des Christentums, Weihenacht des Christentums. Möge man neben dem Ostersinn der anthroposo¬phisch orientierten Geisteswissenschaft vor allen Dingen diesen ihren Weihnachtssinn verstehen; mögen in dieser Gesinnung recht viele Seelen erwarten können die Vertiefung der Nächtereihe, die da folgen soll auf die Weihenacht: dann werden diese Seelen empfinden können, wie gegenwärtig schon durch die Welt der Ruf geht, hinzublicken auf die Erscheinung des Jesus, der da auf Erden jenen Zeitpunkt er-wartet, in dem er den Tod finden sollte, um in seinem Geistleben nach dem Tode der Menschheit und der Erdenentwickelung einen neuen Sinn zu geben.
Fühlen wir etwas von dieser Weihenachtsstiimung, die gerade aus der Geisteswissenschaft in unsere Seele einziehen soll! Indem ich vor Ihnen die Empfindung zum Ausdruck bringen möchte als einen innerlichsten seelischen Weihe-Weihnachtsgruß, daß in Ihnen recht viel sei von dieser Weihestimmung, welche die neue Christus-Offen-barung zu empfangen guten Willens ist, möchte ich in diesem Augen¬blick diese Weihenacht festlich beginnen, indem ich voraussetze, daß Sie mit jenem Ernste sie beginnen, von dem ich in meinen heutigen Worten sprechen wollte, mit jenem Ernste, der aber der gegenwärtigen Weltenlage angemessen ist. Aus diesem Ernste heraus, meine lieben Freunde, von ganzem Herzen: Eine heilige, feierliche Weihenacht!
DRITTER VORTRAG Dornach, 25. Dezember 1918
#G187-1967-SE042 - Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?
#TI
DRITTER VORTRAG
Dornach, 25. Dezember 1918
#TX
Als ich am letzten Sonntag einige Andeutungen machte über die Er-neuerung des Weihnachtsgedankens, da sprach ich davon, wie der Mensch - ich meinte den wirklichen inneren Menschen, der sich, herauskommend aus der geistigen Welt, verbindet mit dem, was ihm übergeben wird aus der Vererbungsströmung heraus -, wie dieser Mensch beim Eintritt in das Dasein, das er verlebt zwischen der Ge¬burt und dem Tod, hereinkommt mit einem gewissen Impulse der Gleichheit. Ich sagte, man könne, verständig beobachtend, dieses Geltendmachen des Gleichheitsimpulses beim Kinde bemerken: das Kind kennt noch nicht die Differenzierungen, die innerhalb der Menschheit in der sozialen Struktur auftreten durch die Verhältnisse, in die das Karma den Menschen einführt. Ich sagte dann: Klar und unbefangen besehen, stellten sich gewisse Fähigkeiten, Begabungen, selbst das Genie so dar, daß wir die Kräfte, die in diesen Fähigkeiten, Begabungen, selbst im Genie leben, vielfach zuzuschreiben haben den Impulsen, die in der Vererbungslinie, Vererbungsströmung auf den Menschen wirken und daß man solche Jmpulse zunächst, wie sie rein im Naturlauf der Vererbungsströmung auftreten, als luziferische Impulse anzusprechen habe, daß in unserer gegenwärtigen Zeit-epoche diese Impulse nur dann von dem Menschen in der rechten Weise in die soziale Struktur hereingestellt werden, wenn er sie an¬sieht als luziferische Impulse und wenn er dazu erzogen wird, das Luziferische abzustreifen, gewissermaßen darzubringen am Altar des Christus dasjenige, was die Natur ihm übermittelt hat, es umzuwan¬deIn, zu metamorphosieren.
Zwei Gesichtspunkte halten wir also auseinander. Den einen Ge-sichtspunkt: was zu tun ist mit den durch die Blutsverhälmisse, durch die Geburtsverhältnisse auftretenden Differenzierungen der Mensch¬heit. Und den andern: daß der eigentliche Wesenskern des Menschen beim Anfang des irdischen Lebens wesentlich den Impuls der Gleich¬heit in sich trägt. Damit ist hingewiesen darauf, daß der Mensch
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nur richtig betrachtet wird, wenn er in seinem ganzen Lebenslauf betrachtet wird, wenn die zeitliche Entwickelung zwischen Geburt und Tod wirklich ins Auge gefaßt wird. Wir haben gerade hier in einer andern Beziehung hingewiesen darauf, wie Entwickelungs-motive sich verändern im Laufe des Lebens zwischen Geburt und Tod. Und in anderer Weise finden Sie hingewiesen auf diese Ent-wickelungsmotive in meinem Aufsatz, den ich in der letzten Nummer des «Reiches» geschrieben habe über das Ahrimanische und Luziferi¬sche im menschlichen Leben. Da ist darauf hingewiesen, wie das Luziferische in der ersten Lebenshälfte eine gewisse Rolle spielt, das Ahrimanische in der zweiten Lebenshälfte, wie diese Impulse des Ahriman und Luzifer durch das ganze Leben hindurch wirken, aber in verschiedener Art.
Neben der Idee der Gleichheit haben sich in der neueren Zeit an-dere Ideen, wie ich dazumal am Sonntag sagte, in tumultuarischer Weise vorgedrängt, gewissermaßen vorausnehmend die ruhige Ent¬wickelung der Zukunft, zunächst in der Idee vorausnehmend das¬jenige, was langsam in der Menschheitsentwickelung sich ausleben muß, wenn es zum Heile und nicht zum Unheil gereichen soll. Es haben sich andere Ideen neben die Idee der Gleichheit hingestellt; aber auch diese andern Ideen kann man hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Leben nur dann richtig verstehen und würdigen, wenn man sie in den Zeitenlauf des menschlichen physischen Daseins richtig hineinstellt.
Neben der Idee der Gleichheit tönt gewissermaßen durch die mo-derne Welt die Idee der Freiheit. Ich habe über die Idee der Freiheit vor einiger Zeit zu Ihnen in Anlehnung an die Neuauflage meiner «Philosophie der Freiheit» gesprochen. Wir sind also in der Lage, die ganze Wichtigkeit und Tragweite dieser Idee der Freiheit im Zu-sammenhang mit dem innersten Wesenskern des Menschen zu wür¬digen. Vielleicht wissen aber auch einige von Ihnen, daß öfters durch Fragen da und dort notwendig geworden ist, auf das ganz Besondere der Freiheitsauffassung hinzuweisen, wie sie in meiner «Philosophie der Freiheit» herrscht. Ich habe immer nötig gehabt, einen Gesichts¬punkt mit Bezug auf die Freiheitsidee besonders hervorzuheben,
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nämlich den, daß die ganze neuere Zeit, die verschiedenen philo-sophischen Anschauungen über die Freiheit eigentlich den Fehler gemacht haben - wenn man es Fehler nennen will -, die Frage so zu stellen: Ist der Mensch frei oder unfrei? Kann man dem Menschen freien Willen zuschreiben oder darf man ihm nur zuschreiben, daß er in einer wie absoluten Naturnotwendigkeit drinnensteht und auch aus dieser Notwendigkeit heraus seine Handlungen, seine Willensent¬schlüsse vollführt? - Die Fragestellung ist unrichtig. Es gibt kein solches Entweder-Oder. Man kann nicht sagen, der Mensch ist entweder frei oder unfrei, sondern er ist begriffen in der Entwickelung von der Unfreiheit zur Freiheit. Und die Art und Weise, wie Sie auf¬gefaßt finden den Freiheitsimpuls in meiner «Philosophie der Frei¬heit», zeigt Ihnen, daß der Mensch immer freier und freier wird, daß er sich herauswindet aus der Notwendigkeit und immer mehr und mehr in ihm die Impulse wachsen, die ihm möglich machen, ein freies Wesen innerhalb der sonstigen Weltenordnung zu sein.
So hat denn der Impuls der Gleichheit seine Kulmination beim Geborenwerden - wenn auch nicht im Bewußtsein, da das noch nicht so entwickelt da schon leben kann -, dann fällt er ab. Der Impuls der Gleichheit hat also eine absteigende Entwickelung. Schematisch können wir das so zeichnen:
# Bild s. 44
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Bei der Geburt ist eine Kulmination der Gleichheitsidee da, und die Gleichheit bewegt sich in einer absteigenden Kurve. Umgekehrt ist es nun bei der Freiheitsidee. Die Freiheit bewegt sich in einer auf-steigenden Kurve und hat ihre Kulmination im Tode. Ich will damit nicht sagen, daß der Mensch, indem er durch die Pforte des Todes geht, den höchsten Gipfel eines freitätigen Wesens erreicht. Aber re¬lativ, mit Bezug auf das Menschenleben entwickelt der Mensch den Impuls der Freiheit gegen den Moment des Todes hin immer mehr und mehr, und relativ hat er sich am meisten die Möglichkeit, ein freies Wesen zu sein, in dem Augenblick erworben, wo er durch des Todes Pforte in die geistige Welt eintritt. Während er also, indem er durch die Geburt in das physische Dasein eintritt, aus der geistigen Welt herausträgt die Gleichheit, die dann absteigt in der Entwickelung des physischen Lebenslaufes, entwickelt er gerade im physischen Lebens-laufe den Freiheitsimpuls und steigt mit dem ihm im physischen Lebenslauf erreichbaren Höchstmaß des Freiheitsimpulses durch die Pforte des Todes in die geistige Welt hinein.
Sie sehen daraus wiederum, wie einseitig oftmals das Menschen-wesen betrachtet wird. Man bezieht nicht die Zeit in dieses Menschen¬wesen ein. Man redet vom Menschen im allgemeinen, in abstracto, weil man heute nicht geneigt ist, auf Wirklichkeiten einzugehen. Aber der Mensch ist nicht ein stehenbleibendes Wesen, er ist ein Wesen im Werden. Und je mehr er wird, je mehr er sich selbst in die Möglich¬keit versetzt, zu werden, desto mehr erfüllt er gewissermaßen hier im physischen Lebenslaufe schon seine wirkliche Aufgabe. Diejenigen Menschen, die starr bleiben, die abgeneigt sind, eine Entwickelung durchzumachen, entwickein wenig von dem, was eigentlich ihre irdische Mission ist. Was Sie gestern waren, sind Sie heute nicht mehr, und was Sie heute sind, werden Sie morgen nicht mehr sein. Es sind das allerdings kleine Nuancen. Wohl dem, bei dem es überhaupt Nuancen sind, denn das Stehenbleiben ist ahrimanisch. Nuancen soll¬ten da sein. Es sollte wenigstens gewissermaßen im Leben des Men¬schen kein Tag vor sich gehen, ohne daß er wenigstens einen Ge¬danken in sich aufnimmt, der ein wenig sein Wesen ändert; der ein wenig ihn in die Möglichkeit versetzt, ein werdendes Wesen, nicht
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bloß ein seiendes Wesen zu sein. Und so kann rnan den Menschen wirklich nur betrachten seiner eigentlichen Natur nach, wenn man nun nicht sagt im absoluten Sinn: Der Mensch hat in der Welt die Prätention auf Freiheit, Gleichheit -, sondern wenn man weiß, wie der Impuls der Gleichheit seine Kulmination erlangt im Lebensbeginn, wie der Impuls der Freiheit seine Kulmination erlangt am Lebens-ende. Man schaut erst dann in dieses Kompliziene des menschlichen Werdens auch im Lebenslauf Her auf der Erde Hnein, wenn man solche Dinge in Betracht zieht, wenn man nicht abstrakt einfach hin¬sieht auf den ganzen Menschen und sagt: Er hat Anspruch, verwirk¬licht zu sehen in der sozialen Struktur Freiheit, Gleichheit und so weiter. - Das sind die Dinge, die durch Geisteswissenschaft wiederum dem menschlichen Gemüt nahekommen müssen, die außer acht ge¬lassen worden sind von der nach Abstraktion und dadurch nach Ma¬terialismus hinstrebenden neueren Entwickelung.
Nun der dritte der Impulse: die Brüderlichkeit. Ihr ist eigen, daß sie die Kulmination in einem gewissen Sinne in der Mitte des Lebens hat. Ihre Kurve steigt an (siehe Zeichnung Seite 44) und fällt wieder¬um. Man kann allerdings dafür die Sache nur so aussprechen, daß man sagt: In der Mitte des Lebens, wenn der Mensch in seinem labilsten, das heißt schwankenden Zustand ist mit Bezug auf das Verhältnis des Seelischen zum Leiblichen, da hat der Mensch die stärkste Ver¬anlagung, die Brüderlichkeit zu entwickeln. Er entwickelt sie nicht immer, aber er hat Veraniagung dazu. Es sind sozusagen für die Ent¬wickelung der Brüderlichkeit die stärksten Vorbedingungen gegeben in der Lebensmitte.
So verteilen sich diese drei Impulse über das ganze menschliche Leben hin. Jn der Zeit, der wir entgegenieben, wird es notwendig für das Verständnis des Menschen und dann selbstverständlich auch für die sogenannte Selbsterkenntnis des Menschen, daß so etwas berück¬sichtigt werde. Man wird nicht zu richtigen Ideen über das Zusammen¬leben der Menschen kommen können, wenn man nicht wissen wird, wie sich die Impulse auf den Lebenslauf des Menschen verteilen. Man wird gewissermaßen nicht konkret leben können, wenn man diese Erkenntnis sich nicht wird erwerben wollen; denn man wird nicht
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wissen, wie konkret ein junger Mensch zu einem alten, ein älterer zu einem in miffieren Lebensjahren stehenden Menschen steht, wenn man nicht die besondere Konfiguration dieser inneren Impulse des menschlichen Wesens ins Auge faßt.
Fassen Sie aber das, was wir jetzt auseinandergesetzt haben, zu-sammen mit Betrachtungen, die wir früher hier angestellt haben über das allmähliche Jüngerwerden des ganzen Menschengeschlechtes. Erinnern Sie sich, wie ich auseinandergesetzt habe, daß die eigentüm¬liche Abhängigkeit, welche der Mensch vom Körperlichen mit Bezug auf die seelische Entwickelung heute nur in seinen allerjüngsten Le¬bensjahren hat, gefühlt wurde, erlebt wurde in alten Zeiten - wir sprechen jetzt nur von nachatlantischen Zeiten - bis ins hohe Alter hinauf. Bis in die Fünfzigerjahre hinauf war der Mensch, sagte ich, in der urindischen Kultur so abhängig von seiner physischen, so¬genannten physischen Entwickelung, wie er es heute nur in den jüngsten Jahren ist. Der Mensch ist in den ersten Lebensjahren ab¬hängig von seiner physischen Entwickelung. Wir wissen, was für einen Einschnitt in der physischen Entwickelung der Zahnwechsel bildet, dann wiederum die Geschlechtsreife und so weiter. In den ersten Entwickelungsj ahren sehen wir einen deutlichen Parallelismus zwischen seelischer und körperlicher Entwickelung. Das hört dann auf, das schwindet dann. Und ich habe darauf aufmerksam gemacht, wie das in älteren Kulturepochen der nachatiantischen Zeit nicht der Fall war. Jene Möglichkeit, zu naturgegebener Weisheit zu kommen einfach dadurch, daß man Mensch war, zu jener hohen Weisheit zu kommen, die man verehrte bei den alten Indern, die man noch ver¬ehren konnte bei den alten Persern und so weiter, jene Möglichkeit war dadurch gegeben, daß die Sache nicht so war wie jetzt, wo der Mensch in den Zwanzigerjahren ein fertiges Wesen wird, wo er nicht mehr abhängig bleibt von seiner physischen Organisation. Die phy¬sische Organisation gibt ihm dann nichts mehr. Das war nicht der Fall in alten Zeiten, sagte ich. Da gab die physische Organisation selbst die Weisheit den Menschen in die Seelen herein bis in die Fünfzigerjahre hinauf Da war man in der zweiten Lebenshälfte auch ohne besondere okkulte Entwickelung in die Möglichkeit versetzt,
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auf elementare Art aus der körperlichen Entwickelung die Kräfte herauszusaugen, um zu einer gewissen Weisheit und Willensent-wickelung zu kommen. Ich habe Sie aufmerksam gemacht, was das bedeutete für die alten indischen oder für die persischen Zeiten, selbst noch für die ägyptisch-chaldäischen Zeiten, wo dann, wenn man jung war, ein Knabe oder Mädchen oder Jüngling oder Jungfrau war, man hingewiesen werden konnte darauf: Wenn du alt wirst, hast du zu erwarten, daß einfach durch das Altwerden hereinbricht in dein Menschenleben dasjenige, was dir beschert ist dadurch, daß du eben eine Entwickelung durchmachst bis zum Tode hin. - Auch das war gegeben, daß man mit Ehrfurcht zum Alter hinaufsah, weil man sich sagte: Es wirkt mit dem Alter etwas herein in das Leben, was man noch nicht wissen kann, nicht wollen kann, wenn man noch ein junger Mensch ist. - Das gab dem ganzen sozialen Leben eine gewisse Struk¬tur, die eigentlich erst aufhörte, als das während der griechisch-latei¬nischen Zeit zurückging bis in die mittleren Lebensjahre des Men¬schen. Bis in die Fünfzigerjahre war in der urindischen Kultur der Mensch entwickelungsfähig. Dann verjüngte sich der Mensch, also ging das Alter des Menschengeschlechtes, das heißt, diese Entwik¬kelungsfähigkeit zurück bis zum Ende der Vierzigerjahre während der urpersischen Zeit, und nur noch zwischen dem fünfunddreißigsten bis zweiundvierzigsten Jahre wirkte sie während der ägyptisch-chaldäischen Zeit. Während der griechisch4ateinischen Zeit war der Mensch nur entwickelungsfähig zwischen dem achtundzwanzigsten und fünfunddreißigsten Jahre. In der Zeit, als das Mysterium von Golgatha geschah, war der Mensch entwickelungsfähig eben bis zum dreiunddreißigsten Jahre. Das ist das Wunderbare, das man in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit entdeckt: daß das Alter des durch den Tod auf Golgatha gehenden Christus Jesus zusammenfällt mit jenem Alter, bis zu dem die Menschheit dazumal zurückgegangen war. Und dann haben wir noch darauf hingewiesen, wie die Mensch¬heit immer jünger und jünger wird, das heißt, bis zu einer immer ge¬ringeren Anzahl von Jahren entwickelungsfähig bleibt, wie es etwas Besonderes bedeutet, wenn der Mensch heute gerade im charakte¬ristischen Jahre, in dem die Menschheit heute steht - im siebenundzwanzigsten
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Jahre sagte ich Ihnen -, eintritt in das öffentliche Leben und nichts anderes mitbekommen hat als dasjenige, was von außen bis zum siebenundawanzigsten Jahre aufgenommen wurde. Ich führte an, wie Lloyd George gerade in dieser Beziehung der repräsentative Mensch unserer Zeit ist, weil er mit siebenundzwanzig Jahren in das öffentliche Leben eingetreten ist. Ungeheuer vieles folgt daraus. Sie können das in der Biographie von Lloyd George nachlesen. Diese Dinge machen aber möglich, die Verhältnisse der Welt von innen heraus zu durchschauen.
Nun, was ist Ihnen aber die Hauptsache, wenn Sie diesen Gesichts-punkt, den wir da für das Immer-Jüngerwerden des Menschen-geschlechtes ins Auge gefaßt haben, verbinden mit den Gesichts-punkten, die wir gerade in diesen Tagen im Zusammenhang mit dem Weihnachtsgedanken uns vor die Seele geführt haben? Das ist das Charakteristische für unsere Gegenwartsentwickelung nach dem My¬sterium von Golgatha, daß wir eigentlich durch das, was dem Men¬schen von Natur zugeteilt ist, aus unserem Organismus heraus nichts gewinnen können von den Dreißigerjahren an. Würde nicht das Mysterium von Golgatha eingetreten sein, wir würden gewisser¬maßen von unseren Dreißigerjahren an hier auf der Erde herumgehen und würden uns dann sagen: Eigentlich leben wir ja nur richtig bis so zum zweiunddreißigsten, dreiunddreißigsten Jahre höchstens. Da gibt uns unser Organismus die Möglichkeit des Lebens. Dann könn¬ten wir ebensogut sterben. Denn durch den Naturlauf, durch die elementarischen Naturereignisse können wir nichts mehr durch die Impulse unseres Organismus für unsere seelische Entwickelung ge¬winnen. - Das würden wir sagen müssen, wenn das Mysterium von Golgatha nicht eingetreten wäre. Voll müßte die Erde sein, wenn dieses Mysterium von Golgatha nicht eingetreten wäre, von den Klagen der Menschen, die dahingingen, daß die Menschen sagten: Was habe ich eigentlich von meinem Leben vom dreiunddreißigsten Lebensjahre an! Bis dahin ist es möglich, daß mir mein Organismus etwas gibt. Von da ab könnte ich ebensogut tot sein, ich gehe eigent¬lich als ein lebendiger Leichham hier auf der Erde herum. - Das wür¬den viele Menschen empfinden, daß sie wie ein lebendiger Leichnam
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auf der Erde herumgehen würden, wenn dieses Mysterium von Gol-gatha nicht eingetreten wäre. Aber dieses Mysterium von Golgatha soll eben auch noch fruchtbar gemacht werden. Wir sollen nicht bloß unbewußt, wie es für die Menschen der Fall ist, in uns den Impuls von Golgatha aufnehmen, sondern wir sollen ihn bewußt aufnehmen. Wir sollen bewußt ihn so aufnehmen, daß wir gewissermaßen durch den Impuls von Golgatha jugendfrisch bleiben bis in das Alter hinein. Und er kann uns gesund und jugendfrisch erhalten, wenn wir ihn in der richtigen Weise bewußt aufnehmen. Und wir werden uns dann auch dieses Erfrischenden des Mysteriums von Golgatha für unser Leben bewußt werden. Und das ist wichtig, meine lieben Freunde!
Sie sehen also, dieses Mysterium von Golgatha kann als erwas sehr, sehr Lebendiges innerhalb unseres irdischen Lebenslaufes aufgefaßt werden. Ich sagte vorhin, die Menschen sind am meisten veranlagt in der Lebensmitte, so um das dreiunddreißigste Jahr herum, für die Brüderlichkeit. Aber sie bilden nicht immer diese Brüderlichkeit aus. Hier haben Sie den Grund in dem, was ich eben gesagt habe. Die¬jenigen, die die Brüderlichkeit nicht ausbilden, bei denen es etwas mangelt an der Brüderlichkeit, die sind eben zu wenig durchchristet. Weil der Mensch gewissermaßen in der Lebensmitte erstirbt durch die Kräfte des Naturlaufes, kann er sowohl den Impuls, den Instinkt der Brüderlichkeit wie namentlich den Impuls der Freiheit, den die Men¬schen heute so wenig aufnehmen, nicht ordentlich entwickeln, wenn er nicht lebendig macht in sich Gedanken, die unmittelbar von dem Christus-Impuls herkommen. Daher ist der Christus-Impuls unmittel¬bar, indem wir zu ihm uns hinwenden, die Anfeuerung zur Brüder¬lichkeit. In dem Maße, in dem man empfindet die Notwendigkeit der Brüderlichkeit, durchchristet man sich. Aber der Mensch würde allein während des Restes der Erdenzeit - in künftigen Entwickelungen wird es anders sein - nicht dahin kommen, die ganze Stärke des Frei¬heitsimpulses zu entwickeln. Da tritt dasjenige in unsere Erdenent¬wickelung als Menschen ein, was beim Tode des Christus Jesus aus¬geflossen ist und sich mit der Erdenentwickelung der Menschheit vereinigt hat. Daher ist Christus im wesentlichen auch der Führer der
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heutigen Menschheit zur Freiheit. Wir werden in Christo frei, wenn wir den Christus4mpuls so verstehen, daß wir ganz darauf ein-zugehen wissen, daß der Christus eigentlich nicht älter werden konnte im physischen Leib, oder nicht länger leben konnte im physischen Leibe als bis zum dreiunddreißigsten Jahre hin. Nehmen wir hypo¬thetisch an, er hätte länger gelebt, so würde er in einem physischen Menschenleibe in die Zeit hineingelebt haben, wo dieser physische Leib eigentlich nach der gegenwärtigen Erdenentwickelung zum Er-sterben bestimmt ist. Da würde er die Ersterbekräfte gerade als der Christus aufgenommen haben. Wäre er vierzig Jahre alt geworden, so hätte er im Leibe erlebt die Ersterbekräfte. Die konnte er nicht er¬leben wollen. Er konnte nur dasjenige erleben wollen, was noch die erfrischenden Kräfte des Menschen sind. Bis dahin wirkt er, bis zum dreiunddreißigsten Jahre, bis zur Lebensmitte, regt als der Christus die Brüderlichkeit an, übergibt dann dasjenige, was in des Menschen Kraft liegen soll, indem er ausfließen läßt in die Entwickelung der Menschen den Geist, dem Heiligen Geiste. Durch diesen Heiligen Geist, diesen gesundenden Geist entwickelt sich der Mensch gegen sein Lebensende hin zur Freiheit. So gliedert sich der Christus¬Impuls ein in dieses konkrete menschliche Leben.
Solch eine innerliche Durchdringung des Menschenwesens mit dem Christus-Prinzip, das ist es, was als ein neuer Weihnachtsgedanke aufgenommen werden muß vom Menschenwissen. Wissen muß man, wie der Mensch mit der Gleichheit aus der geistigen Welt heraus¬kommt. Das ist etwas, was ihm mitgegeben wird, was gewissermaßen aus dem Vatergott ist. Dann kann aber die Kulmination der Brüder¬lichkeit in der richtigen Weise nur durch des Sohnes Hilfe und durch den mit dem Geist vereinigten Christus die Entwickelung zum Frei¬heitsimpuls gegen den Tod hin in die Menschheitsentwickelung ein¬treten.
Dieses Mitwirken des Christus-Impulses in der konkreten Mensch-heitsausgestaltung, das ist dasjenige, was von jetzt ab in das Bewußt¬sein der Seelen aufgenommen werden muß. Das allein wird richtig heilsam sein, wenn die Forderungen der Menschen immer drängender und brennender werden in bezug darauf, wie man gestalten soll die
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soziale Struktur. Aber in dieser sozialen Struktur leben Kinder, junge, miffiere und alte Leute, und eine soziale Struktur, die alle umfaßt, wird man nur finden können, wenn man weiß, daß Mensch nicht einfach gleich Mensch ist. Das fünfjährige Kind ist Mensch, der zwanzigjährige Jüngling, die zwanzigjährige Jungfrau ist Mensch, der vierzigjährige Mensch ist Mensch, alles ist Mensch. Aber dieses chaotische Durcheinanderwerfen, das bringt es nicht zu einer solchen Erkenntnis des Menschen, wie sie notwendig ist, um die Forderungen der Zukunft, der Gegenwart auch, zu erfüllen. Das chaotische Durch¬einanderwerfen bringt es höchstens dazu, daß man meint: Mensch ist Mensch, also muß er mit zwanzig Jahren ungefähr ins Parlament ge¬wählt werden. - Diese Dinge sind zerstörend für die wirkliche so¬ziale Struktur. Sie beruhen darauf, daß der Mensch in der Gegenwart nicht eintreten will in die Menschenbeobachtung und das daraus hervorgehende Menschheitsbewußtsein, welches den Menschen kon¬kret so nimmt, wie er ist. Aber konkret genommen ist die Abstraktion Mensch, Mensch, Mensch, gar nicht vorhanden, sondern es ist immer ein konkreter Mensch eines bestimmten Lebensalters mit bestimmten Impulsen. Menschenerkenntnis muß erworben werden; aber sie muß erworben werden, wenn man die Entwickelung desjenigen, was als Wesenskern im Menschen von der Geburt bis zum Tode lebt, ins Auge faßt. Das ist etwas, was auftreten muß! Und man wird wahr¬scheinlich nur geneigt sein, solche Dinge aufzunehmen in das Mensch¬heitsbewußtsein, wenn man wiederum in der Lage ist, Rückblicke auf die Menschheitsentwickelung zu machen.
Gestern habe ich Sie hingewiesen auf etwas, was in die Mensch-heitsentwickelung eingetreten ist mit dem Christentum, indem das Christentum gewissermaßen herausgeboren ist aus der jüdischen Seele, aus dem griechischen Geist, aus dem römischen Leib. Das sind ge¬wissermaßen die Hüllen des Christentums geworden. Aber im Christen¬tum ist das lebendige Ich darinnen, und das kann wiederum abge¬sondert betrachtet werden, indem man zurückblickt auf diese Geburt des Christentums. Für die äußere Geschichtsschreibung ist diese Geburt des Christentums ziemlich chaotisch geworden. Dasjenige, was heute gewöhnlich - sei es von katholischer, sei es von protestantischer
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Seite - geschrieben wird über die ersten Jahrhunderte des Christentums, ist eine ziemlich chaotische Weisheit. Manches, was gelebt hat in den ersten Jahrhunderten des Christentums, ist über-haupt gerade für die Theologen der Gegenwart seiner eigentlichen Wesenheit nach entweder ganz vergessen oder zu einem Horror, könnte man sagen, geworden. Denn lesen Sie nur nach, in welche sonderbaren Konvulsionen des Intellektuellen, Konvulsionen, daß die Leute fast schon, möchte ich sagen, bis zu einer Art intellektueller Epilepsie kommen, wenn sie charakterisieren sollen dasjenige, was in den ersten Jahrhunderten des Christentums als Gnosis gelebt hat. Das ist schon so eine Art Teufel, so etwas Dämonisches, etwas, das man nur ja nicht ordentlich hereinlassen soll in das menschliche Leben, diese Gnosis! Und wenn nun gar solch ein Theologe oder sonstiger offizieller Vertreter dieses oder jenes Bekenntnisses die Anthroposo¬phie anschuldigen kann, daß sie etwas gemein hätte mit der Gnosis, dann glaubt er schon, das Allerschlimmste gesagt zu haben.
Nun, alldem liegt aber zugrunde, daß in den ersten Jahrhunderten der Entwickelung des Christentums diese Gnosis in der Tat viel be-deutsamer in das geistige Leben der europäischen Menschheit ein-griff, soweit sie dazumal für die Zivilisation in Betracht kam, als man heute glaubt. Man hat auf der einen Seite gar keine Vorstellung davon, was diese Gnosis eigentlich war, und hat auf der andern Seite, ich möchte sagen, eine geheimnisvolle Furcht. Es ist diese Gnosis für die meisten gegenwartigen offiziellen Vertreter dieses oder jenes Reli¬gionsbekennmisses etwas Horribles. Man kann sie aber nun wirklich betrachten ohne besondere Sympathie und Antipathie, rein als etwas Tatsächliches. Dann muß man die Sache wohl geisteswissenschaftlich studieren, weil die äußere Geschichte nicht viel bietet. Die kirchliche Entwickelung des Abendiandes hat dafür gesorgt, daß eigentlich alle historischen Denkmäler dieser Gnosis mit Stumpf und Stiel ziemlich ausgerottet wurden. Es ist nur Weniges, wie Sie wissen, und was nur ein unklares Bild von der Gnosis wiedergibt, wie die «Pistis Sophia» und dergleichen, übriggeblieben. Sonst weiß man aus der Gnosis nur die Sätze, die von den Kirchenvätern widerlegt werden. Also im Grunde genommen kennt man die Gnosis nur aus der Schriftstellerei
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der Gegner, während das, was äußerlich historisch eine Vorstellung von ihr geben könnte, ziemlich mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden ist.
Nun würde aber ein verständiges Betrachten der theologischen Entwickelung des Abendlandes - nur findet ein solches verständiges Betrachten in der Regel nicht statt - die Menschen auch auf diesem Punkte bedenklicher machen. Man würde zum Beispiel, wenn man verständig die Entwickelung der christlichen Dogmatik betrachtete, darauf kommen, daß diese christliche Dogmatik doch noch in etwas anderem wurzeln müsse als in irgendeiner bloßen Willkür oder der¬gleichen. Im Grunde wurzeln diese Dogmen alle in der Gnosis. Nur ist das Lebendige der Gnosis abgestreift worden und die abstrakten Gedanken und Begriffshülsen sind geblieben, so daß man in den Dog¬men diesen lebendigen Ursprung nicht mehr erkennt. Dieser lebendige Ursprung liegt aber eigentlich in der Gnosis. Wenn Sie die Gnosis, soweit sie geisteswissenschaftlich studiert werden kann, wirklich ver¬folgen, dann wirft sich einem auch ein gewisses Licht auf die wenigen Dinge, die historisch übriggelassen worden sind von den Gegnern der Gnosis. Und dann sagen Sie sich wahrscheinlich: Diese Gnosis weist hin auf die ganz ausgebreitete, sehr konkrete atavistische Hellseher-weltanschauung der alten Zeiten, die in ihren Resten noch ziemlich vorhanden war in der Zeit des ersten nachatlantischen Kulturzeit¬raumes, im zweiten schon weniger; dann sind im dritten die letzten Reste des alten Hellsehertums über die Welt bearbeitet worden und sind eben in der Gnosis in einem wunderbaren Begriffssystem, das aber ganz außerordentlich bildlich ist, zutage getreten. Wer von diesem Punkte aus die Gnosis ansieht, wer in der Lage ist, auch nur historisch zurückzugehen zu den spärlichen Resten, die dann in der heidnischen Gnosis reichlicher als in der christlichen Literatur zutage gefördert werden können, der findet, daß in dieser Gnosis tatsächlich wunderbare Weisheitsschätze schon da waren, eine Weisheit, die sich auf eine Welt bezog, von der die Menschen gegenwärtig überhaupt nichts wissen wollen. So daß es gar nicht zu verwundern ist, daß selbst gutmeinende Menschen mit der alten Gnosis nicht viel anzufangen wissen, etwa solche Menschen wie der Professor Jeremias in Leipzig,
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der ja willig wäre, auf die Dinge einzugehen; aber er kann keine Vorstellung erwerben, auf was sich eigentlich diese alten Begriffe be¬ziehen, auf was es sich bezieht, wenn da gesprochen wird von einem geistigen Wesen Jaldabaoth, das in einem gewissen Hochmut sich aufgeworfen hätte zum Herrn der Welt, dann von seiner Mutter zurechtgewiesen worden wäre und so weiter. Solche mächtigen Bilder strahlen herein selbst aus dem historisch Aufbewahrten, solche mäch¬tige Bilder wie dieses, wo wirklich Jaldabaoth sagt: Ich bin Vatergott, über mir ist niemand. - Und die Mutter erwidert: Lüge nicht, über dir ist der Vater von allem, der erste Mensch und des Menschen Sohn.
- Da rief - so wird weiter erzählt - Jaldabaoth seine sechs Mitarbeiter, und sie sprachen: Laßt uns den Menschen machen nach unserem Bilde.
Da haben Sie einen merkwürdigen Dialog zwischen Jaldabaoth und seiner Mutter, und dann das Heranrufen der sechs andern Mit-arbeiter, die zu dem Entschluß kommen: Laßt uns den Menschen machen nach unserem Bilde. - Aber solche Bilder, solche Imagina-tionen, die eigentlich ganz anschaulich sind, sie waren zahlreich und umfangreich vorhanden in dem, was als Gnosis herrschte. Man hat im Alten Testament eigentlich nur Reste: diejenigen Reste, die die jüdische Überlieferung behalten hat, von einer umfangreichen Bilder-weisheit, die in der alten Gnosis enthalten war, vorzugsweise im Oriente lebte, deren Strahlen aber herüberwirkten ins Abendland, und die eigentlich erst im 3., 4. Jahrhundert für das Abendland mehr oder weniger verglommen sind, dann noch nachgewirkt haben bei den Waldensern und Katharern, aber doch verglommen sind.
Wie es ausgeschaut hat in den ersten christlichen Jahrhunderten in den Seelen der Menschen, in denen nicht etwa bloß die Vorstellungen lebten, die heute bei den Katholiken leben, sondern in denen durchaus Nachklänge dieser mächtigen Bilderwelt der Gnosis lebendig waren, davon machen sich die heutigen Menschen nicht viele Begriffe. Es sieht ungeheuer anders aus, wenn man zurückschaut in das, was in den Seelen der ersten Jahrhunderte innerhalb der europäischen zivilisierten Länder lebte, ungeheuer anders, als wenn man in die Bücher hinein-sieht, welche die kirchlichen und weltlichen Theologen und sonstigen
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Gelehrten über diese ersten Jahrhunderte schrieben. Denn für diese Bücher fällt all das fort, was lebendig war in solchen mächtigen, ge¬waltigen Bildern, die sich, wie gesagt, auf eine Welt bezogen, von der sich die heutigen Menschen keine Vorstellung machen. Daher weiß ein im Sinne der heutigen Bildung ausgebildeter Mensch nichts an¬zufangen mit diesen Begriffen, die da zu ihm herüberkommen. Den Jaldabaoth, dessen Mutter, die sechs Mitarbeiter, andere Dinge, die auftreten: er weiß sie auf nichts anzuwenden. Sie sind Worte, sind Worthülsen; er weiß nicht, worauf sie sich beziehen. Und noch weniger weiß er, wie die Menschen einmal dazu gekommen sind, solche Vor¬stellungen sich zu bilden. Daher kann der moderne Mensch nicht anders als sich sagen: Nun, die alten Orientalen haben eine starke Phantasie gehabt, die haben das alles phantastisch ausgebildet! -Man ist immer nur sehr verwundert darüber, daß diese Herren gar keine Ahnung davon haben, wie eigentlich der elementarisch lebende Mensch wenig Phantasie hat, wie diese Phantasie zum Beispiel bei den Bauern eine ungeheuer geringe Rolle spielt. In dieser Beziehung haben auch die Mythenforscher Ungeheures geleistet. Sie haben näm¬lich ausgedacht, wie die einfachen Leute die ziehenden Wolken, die vom Winde getriebenen Wolken phantastisch zu allen möglichen We¬sen umgestaltet haben und so weiter. Die Leute haben keine Ahnung davon, wie eigentlich die Menschen, denen sie das zuschreiben, in ihrer Seele beschaffen sind, daß diese so weit wie nur irgend möglich entfernt sind, in solcher Weise poetisch das auszugestalten. Die Phantasie herrscht nur in den Kreisen der Mythologen, der Gelehrten, die so etwas ausdenken. Das ist wirkliche Phantasie.
Das, was die Leute sich so ausgedacht haben als den Ursprung der Mythologie und so weiter, ist eben bloßer Irrtum. Und es wissen die Menschen heute nicht, auf was eigentlich sich die Worte, die Begriffe beziehen, von denen da gesprochen wurde. Gewisse, ich möchte sagen, deutliche Hinweise, wie die Dinge gemeint sind, können daher auch gar nicht mehr richtig berücksichtigt werden. Plato hat die Leute noch sehr genau darauf aufmerksam gemacht, daß der Mensch, indem er hier im physischen Leibe lebt, sich an etwas erinnert, was er vor diesem physischen Leben in der geistigen Welt erlebt hat. Aber mit
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diesem platonischen Gedächtuiswissen wissen die heutigen Philo-sophen nichts anzufangen. Das sei auch so etwas, was Plato phan-tasiert habe - während Plato eben noch wußte, daß die griechische Seele schon so veranlagt war, aber nur die letzten Reste dieser Ver-anlagung noch hatte, etwas in sich zu entwickeln, was vor der Geburt in der geistigen Welt erlebt war. Wer zwischen Geburt und Tod nur wahrnimmt im physischen Leibe und die Wahrnehmung mit dem heutigen Verstande verarbeitet, der kann keinen vernünftigen Sinn verbinden mit den Betrachtungen, die gar nicht gefaßt worden sind im physischen Leibe zwischen Geburt und Tod, sondern die gefaßt worden sind zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, die da durch-lebt worden sind, bevor man geboren wurde. Da waren die Menschen in einer Welt, in der sie reden konnten von Jaldabaoth, der sich in Hochmut auflehnt, den seine Mutter ermahnt, der die sechs Mit¬arbeiter herbeiholt. Das ist für den Menschen zwischen Tod und neuer Geburt eine solche Wahrheit, wie hier für den in den Leib ein¬gebannten Menschen Pflanzen, Tiere, Mineralien und andere Men¬schen die Welt sind, von der er redet. Und die Gnosis enthielt das¬jenige, was bei der Geburt mitgebracht wurde in die physische Welt herein. Und bis zu einem gewissen Grade war es den Menschen mög¬lich bis zum agyptisch-chaldäischen Zeitraum hin, also bis in das 8. Jahrhundert der vorchristlichen Zeitrechnung, vieles mitzubringen aus der Zeit, die zwischen Tod und neuer Geburt durchlebt wurde. Was da mitgebracht wurde und in Begriffe, in Ideen gekleidet wurde, das ist Gnosis. Das lebte dann fort im griechisch-latelnischen Zeit¬raum, wo es nicht mehr unmittelbar wahrgenommen wurde, wo es als ein Erbgut in Ideen noch vorhanden war, wo nur auserlesene Geister den Ursprung wußten, wie Plato, in einem geringen Grade auch Aristoteles, &okrates wußte auch davon, Sokrates büßte in Wirk-lichkeit gerade dieses Wissen mit dem Tode. Da muß man den Ur-sprung der Gnosis suchen.
Nun, wie ist es eigentlich mit diesem vierten nachatlantischen, dem griechisch-lateinischen Zeitraume? Sehen Sie, nur spärlich konnte man die Erinnerung an vorgeburtliche Zeit noch in das Leben herein mitnehmen. Aber man nahm doch, und zwar in der griechischen Zeit
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noch deutlich, etwas mit von dem, was man da durchlebte vor der Geburt. Die Menschen sind heute ungeheuer stolz auf ihre Denkkraft, aber sie können eigentlich mit dieser Denkkraft furchtbar wenig be¬greifen. Die heutige Denkkraft ist nämlich ein Gegenstand, auf den man nicht besonders stolz sein kann, denn es wird sehr wenig damit begriffen. Die Denkkraft, die zum Beispiel die Griechen entwickelten, war anderer Natur. Die war so, daß, indem man durch die Geburt durchging, die Bilder der Erlebnisse vor der Geburt gewissermaßen verlorengingen; aber jene Denkkraft blieb noch, die man vor der Geburt brauchte, um mit diesen Bildern einen vernünftigen Sinn zu verbinden. Das ist das Eigentümliche bei dem griechischen Denken, daß es nämlich ganz verschieden ist von unserem sogenannten norma¬len Denken. Denn dieses griechische Denken ist das, was man lernen kann an dem Verarbeiten der Imaginationen, die man gehabt hat vor der Geburt. An die Imaginationen vor der Geburt erinnerte man sich wenig, aber das Wesentliche, was da blieb, war der Scharfsinn, den man brauchte vor der Geburt, um sich zurechtzufinden in der Welt, über die man sich Imaginationen machte. Und das ist gerade die Ent¬wickelung des vierten nachatlantischen Zeitraumes, der, wie Sie wis¬sen, bis in das 15. nachchristliche Jahrhundert hereinging, das ist gerade das Wesentliche, daß diese Denkkraft abnimmt. Und jetzt im fünften Zeitraum müssen wir sie aus der Erdenkultur heraus wieder entwickeln. Wir müssen sie langsam, stammelnd aus der naturwissen¬schaftlichen Weltanschauung heraus entwickeln. Wir sind heute im Anfang davon. Während des vierten nachatlantischen Zeitraumes, also von 747 an, dann bis 1413 - dazwischen liegt das Ereignis von Golgatha -, ist eine fortwährende Abnahme der Denkkraft. Dann erst wiederum steigt langsam die Denkkraft an und wird bis ins 3. Jahrtausend wiederum eine anständige Höhe haben. Auf die heutige Denkkraft braucht die Menschheit nicht besonders stolz zu sein. Also die Denkkraft geht herunter. Die allerdings noch verhältnismäßig hoch entwickelte Denkkraft-Erbschaft hatte noch die Gedanken, mit denen man die gnostischen Bilder ordnete und durchdrang. Sie hatte nicht mehr in derselben Schärfe, wie zum Beispiel die Ägypter oder Babylonier, die Bilder, aber sie hatte noch die Denkkraft; diese nahm
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dann allmählich ab. Das ist das eigentümliche Zusammenwirken in den ersten christlichen Jahrhunderten.
Das Mysterium von Golgatha bricht herein, es wird das Christen¬tum geboren. Die abnehmende Denkkraft, die im Orient noch sehr lebendig ist, aber auch nach Griechenland herübergreift, sucht dieses Ereignis zu verstehen. Die Römer haben wenig Verständnis dafür. Diese Denkkraft aber sucht gewissermaßen das Ereignis von Gol¬gatha zu begreifen vom Standpunkt des Denkens vor der Geburt, vom Standpunkt des Denkens in der geistigen Welt drinnen. Aber jetzt tritt etwas Eigentümliches ein: Dieses gnostische Denken, das steht nun auch dem Mysterium von Golgatha gegenüber. Sehen Sie sich die gnostischen Lehren über das Mysterium von Golgatha an, jene Lehren, die so horribel sind für den heutigen, namentlich christ¬lichen Theologen: da wird vieles aus den alten atavistischen Lehren oder aus solchen Lehren, die eben mit dieser Denkkraft durchsetzt sind, viel Großes und Gewaltiges über den Christus gesagt, das heute ketzerisch, furchtbar ketzerisch ist. Langsam und allmählich nimmt diese Fähigkeit der gnostischen Denkkraft ab. Wir sehen sie noch bei Manes im 3. Jahrhundert, und wir sehen sie noch übergehen auf die Ka¬tharer - lauter ketzerische Leute im katholischen Sinne -: da ist eine große, gewaltige, grandiose Auffassung des Mysteriums von Golgatha. Das schmilzt merkwürdigerweise zusammen in den ersten Jahrhunder¬ten, und man beschränkt sich darauf, möglichst wenig Denkscharfsinn auf das Mysterium von Golgatha und sein Verständnis zu verwenden. Und diese zwei Dinge liegen im Kampfe: auf der einen Seite die gnostische Lehre, mit einem mächtigen spirituellen Denken das Myste¬rium von Golgatha begreifen wollend, und dann das andere, rechnend mit dem, was kommen soll, rechnend mit der nicht mehr vorhandenen Denkkraft, mit dem unscharftinnigen Denken - daher möglichst ab¬strakt, so wenig wie möglich gebend, um das Mysterium von Golgatha zu verstehen. Es schrumpft das Geheimnis von Golgatha als kos¬misches Geheimnis fast in die paar Sätze zusammen, die den Anfang des Johannes-Evangeliums bilden: vom Logos und seinem Eintritt in die Welt und seinem Schicksal in der Welt - möglichst wenig Begriffe, denn es soll gerechnet werden mit dem, was abfallende Denkkraft ist.
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Und so sehen wir, wie die gnostische Auffassung des Christentums verglimmt, wie auf kommt eine andere Auffassung des Christentums, die wenig, möglichst wenige Begriffe geltend machen will. Aber natürlich geht eines in das andere über. Solche Begriffe wie das Trinitätsdogma oder andere Dogmen werden herübergenommen aus gnostischen Anschauungen und eben hier vetabstrahiert, in Begriffs¬hülsen gebracht. Aber das eigentlich Lebendige ist das, daß im Kampfe liegt eine ungeheuer geniale gnostische Auffassung des Mysteriums von Golgatha und jene andere, die mit möglichst wenig Begriffen arbeitet, die damit rechnet, wie die Leute sein werden bis zum 15. Jahr¬hundert hin und wie die alte, vererbte scharfsinnige Denkkraft immer weiter herunterkommt und eben primitiv wieder erworben werden muß an der Betrachtung der Naturobjekte in der Naturwissenschaft. Sie können es studieren von Etappe zu Etappe, Sie können es studieren selbst in einem inneren Seelenkampfe, wenn Sie hinschauen auf Augu¬stinns, der in seiner Jugend bekannt wird mit dem gnostischen Mam¬chäertum, aber das nicht verdauen kann und dann sich zur sogenann¬ten Einfachheit wendet, primitive Begriffe bildet. Die Begriffe werden immer primitiver und primitiver. Nur geht bei Augustinus schon der erste Morgenstrahl desjenigen auf, was nun wiederum erworben wer¬den muß: die Erkenntnis vom Menschen aus, vom konkreten Men¬schen aus. In den alten gnostischen Zeiten hat man versucht, von der Welt auszugehen und zum Menschen hinzugehen. Nunmehr muß vom Menschen ausgegangen werden und durch Menschenerkenntnis wiederum Welterkenntnis erworben werden. Vom Menschen zum Kosmos wird man künftig gehen müssen; in alten Zeiten ist man vom Kosmos zum Menschen gegangen. Ich habe das vor einiger Zeit hier auseinandergesetzt, habe versucht diesen ersten Morgenstrahl im Menschen zu fassen. Sie finden das zum Beispiel in den Bekenntnissen des Augustinus, aber es ist durchaus noch chaotisch. Die Haupt¬sache, worauf es ankommt, ist, daß immer unfähiger und unfähiger die Menschheit sich erweist, aufzunehmen dasjenige, was aus den geistigen Welten hereinstrahlt, was in Form einer imaginativen Weis¬heit bei den Alten vorhanden war, was in der Gnosis wirkte, von der dann zurückblieb scharfsinnige Denkkraft, die noch bei den Griechen
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vorhanden war. So daß in der griechischen Weisheit vieles, wenn es auch in abstrakte Begriffe gebannt ist, so wirkt, daß man noch ge-wissermaßen die Ideen hatte, die eigentlich etwas verstehen können von der geistigen Welt. Das hört dann auf, man kann nichts mehr ver¬stehen von der geistigen Welt mit den Ideen, die eben verglimmen.
Es ist das merkwürdig im Griechentum, daß der heutige Mensch sehr leicht bei den griechischen Ideen das Gefühl haben kann: sie sind eigentlich auf etwas ganz anderes anwendbar, als worauf sie an¬gewendet werden. Die Griechen haben noch die Ideen, aber nicht mehr die Imaginationen. Besonders bei Aristoteles ist das so unend-lich auffällig. Es ist sehr merkwürdig: Sie wissen, es gibt ganze Bibliotheken über Aristoteles. Alles bei Aristoteles wird so oder so ausgelegt, die Leute streiten sich selbst darüber, ob Aristoteles ein wiederholtes Erdenieben oder die Präexistenz angenommen habe. Das rührt alles davon her, weil seine Worte so oder so ausgelegt wer¬den können, weil Aristoteles mit einem Begriffssystem arbeitete, das auf eine übersinnliche Welt anwendbar ist, aber keine Anschauung mehr von ihr hatte. Plato hatte noch viel mehr Verständnis dafür, kann daher sein Begriffssystem in jenem Sinne mehr ausarbeiten; aber Aristoteles ist schon in abstrakten Begriffen befangen und kann daher nicht mehr hinblicken auf dasjenige, worauf sich die Gedankenformen beziehen, die er ausbildet. Das ist das Eigentümliche, daß in den ersten Jahrhunderten im Kampfe liegt eine Auffassung des Mysteriums von Golgatha, die dieses Mysterium von Golgatha beleuchtet mit dem Lichte der übersinnlichen Welt, und daß dann die Notwendigkeit sich herausbildet, die zum Fanatismus wird, dieses zurückzuweisen. Nicht alle durchschauen diese Dinge, aber manche. Die sie durchschauten, behandelten sie nicht ehrlich. Zum Fanatismus führte eine primitive Auffassung des Mysteriums von Golgatha, eine Auffassung, die wütig darauf aus war, nur wenige Begriffe zu verwenden.
So sehen wir, daß gewissermaßen immer mehr und mehr heraus-geworfen wird aus der christlichen Weltanschauung, überhaupt aus der Weltanschauung herausgeworfen wird das übersinnliche Denken, das verglimmt, das aufhört. Wir können von Jahrhundert zu Jahr¬hundert, möchte ich sagen, verfolgen, wie den Leuten vorliegt das
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Mysterium von Golgatha als ein ungeheuer Bedeutsames, das in die Erdenentwickelung eingreift, wie ihnen aber entschwindet die Mög-lichkeit, mit irgendwelchen Begriffssystemen dieses Mysterium von Golgatha zu begreifen, oder überhaupt die Welt kosmisch zu be-greifen. Sehen Sie auf das Werk aus dem 9. Jahrhundert, «Die Ein-teilung der Natur» von Scotus Erigena. Da ist noch viel vorhanden an Bildern, wenn sie auch verabstrahlert sind, diese Bilder eines Welten¬werdens. Vier Etappen eines Weltenwerdens führt Scotus Erigena sehr schön an, aber überall ungenügende Begriffe. Man sieht, er ist nicht imstande, das Netz seiner Begriffe auszuspannen und verständ¬lich, plausibel zu machen dasjenige, was er eigentlich zusammenfassen will. Überall reißen, möchte ich sagen, die Fäden der Begriffe ab. Das ist sehr interessant, wie sich dieses von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr zeigt, wie endlich ein Tiefstand im Spinnen von Begriffsfäden im 15. Jahrhundert eintritt. Da beginnt dann wiederum ein Aufstieg, der aber im Allerelementarsten steckenbleibt. Das ist interessant. Auf der einen Seite ist das Mysterium von Golgatha da, das man eigentlich hat, auf das man sich hinwendet mit dem Gemüt, von dem man aber erklärt: es ist nicht zu verstehen. Es wird allmählich überhaupt die Empfindung Platz greifen, daß es nicht zu verstehen ist. Auf der andern Seite kommt die Beobachtung der Natur herauf; gerade in dem Zeitalter kommt sie herauf, wo die Begriffe schwinden. Die Be-obachtung der Natur tritt ein in das Leben, aber es sind keine Be-griffe da, um die Naturerscheinungen, die in die Beobachtung des Lebens eintreten, wirklich zu fassen.
Das ist das Gemeinsame dieses Zeitalters in der Wende des vier¬ten zum fünften nachatlantischen Zeitraum in der Mitte des Mittel¬alters, daß man weder in der aufkeimenden Naturbeobachtung, noch in dem Geoffenbarten der Heilswahrheiten genügende Begriffe hat, genügende Begriffe anwenden kann. Sehen Sie, wie die damals wir-kende Scholastik in diesem Falle ist: Sie hat auf der einen Seite die religiöse Offenbarung, aber sie kann keine Begriffe aus der Zeit-bildung heraus gewinnen, um diese religiöse Offenbarung zu ver-arbeiten. Anwenden muß diese Scholastik den Aristotelismus; der muß erneuert werden. Man greift zurück zum Griechentum, zu Aristoteles,
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um diese Begriffe zu haben, um damit die religiösen Offen¬barungen zu durchdringen. Und mit dem griechischen Verstande ver¬arbeitet man die religiösen Offenbarungen, weil die Zeitbildung, wenn ich mich des paradoxen Ausdruckes bedienen soll, keinen Verstand hat. Und gerade diejenigen, die am ehrlichsten wirken in dieser Zeit, die Scholastiker, die bedienen sich nicht des Zeitverstandes, weil er nicht da ist in jener Zeit, weil er nicht zur Zeitkultur gehört. Sie neh-men sowohl zur Naturerklärung - das ist das Wesentliche im 10., 11., 12., 13., 14., 15. Jahrhundert, daß gerade die ehrlichsten der Schola¬stiker dies zur Naturerklärung nehmen - und ebenso zur Ausgestal¬tung religiöser Offenbarungen alte aristotelische Begriffe. Dann erst kommt, wie aus grauer Geistestiefe herauf wiederum bis heute noch nicht sehr weit entwickelt, ein selbständiges Denken: das kopernika¬nische, galileische Denken, das sich weiter ausbilden muß, um sich nun wiederum zu erheben in übersinnliche Regionen.
So kann man in die Seele, gewissermaßen in das Ich des Christen-tums hineinblicken, das sich nur umhüllt hat mit der jüdischen Seele, dem griechischen Geist, dem römischen Leib. Aber dieses Christen¬tum selbst mußte seinem Ich nach Rechnung tragen dem Verglimmen des übersinnlichen Verständnisses, und daher gewissermaßen zu¬sammenschrumpfen lassen die umfassende gnostische Weisheit, man kann schon sagen, zu dem Wenigen, was den Anfang des Johannes-Evangeliums bildet. Denn im wesentlichen besteht die Entwickelung des Christentums in dem Sieg der Johannes-Evangeliumworte über die Gnosis. Dann ist natürlich alles in Fanatismus übergegangen und die Gnosis ist mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden.
Das sind auch Dinge, die zu der Geburt des Christentums gehören. Das ist etwas, was man berücksichtigen muß, wenn man so recht den Impuls in sich aufnehmen will für das neu sich entwickeln müssende Menschheitsbewußtsein, für den neuen Weihnachtsgedanken. Wir müssen wiederum zu einer Art von Erkenntnis kommen, die sich auf das Übersinnliche bezieht. Dazu müssen wir das in das Menschen-wesen hereinwirkende Übersinnliche durchschauen, damit wir es er¬weitern können in das Kosmische hinaus. Wir müssen Anthropo¬sophie, Menschenweisheit erringen, die kosmisches Empfinden wiederum
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erzeugen kann. Und das ist der Weg. In alten Zeiten konnte der Mensch die Welt überschauen, indem er durch die Geburt mit den Erinnerungen an die Erlebnisse ins Dasein hereintrat, die er vor der Geburt gehabt hat. Da war ihm diese Welt, die ein Abbild ist der Geisteswelt, eine Antwort auf Fragen, die er mitgebracht hat durch die Geburt ins Dasein. Jetzt steht der Mensch dieser Welt gegenüber, bringt nichts mit, muß mit so primitiven Begriffen arbeiten wie denen, mit welchen etwa die heutige Naturanschanung arbeitet. Aber er muß sich wiederum hinaufarbeiten, er muß jetzt vom Menschen ausgehen, um vom Menschen zum Kosmos aufzusteigen. Im Men¬schen muß die Erkenntnis des Kosmos geboren werden. Dies ist auch etwas vom Weihnachtsgedanken, wie er sich in der Gegenwart aus¬bilden soll, damit er in die Zukunft hinein fruchtbar werden kann.
VIERTER VORTRAG Dornach, 27. Dezember 1918
#G187-1967-SE065 - Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?
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VIERTER VORTRAG
Dornach, 27. Dezember 1918
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Vorgestern ist hier versucht worden, hinzuweisen auf die Impulse, aus denen sich das Christentum herausentwickelt hat. Wir konnten sehen, wie das eigentliche Ich des Christentums, das Zentrale des Christentums sich gewissermaßen verleiblicht hat - man kann das natürlich nicht gut sagen, aber vergleichsweise kann man es sagen -in drei Elementen: in der althebräischen Seele, in dem griechischen Geist, in dem römischen Leib. Nun wollen wir, um die Anwendung pflegen zu können, um von der Anwendung des christlichen Ge-dankens auf die unmittelbare Gegenwart sprechen zu können, diese Betrachtung zunächst noch etwas fortsetzen, wollen gewissermaßen über dieses Innere, dieses Zentrale des Christentums heute noch eInige Einblicke zu gewinnen versuchen.
Wenn man auf die Entwickelung des Christentums eingehen will, so kann man es nicht anders - und Sie sehen das schon aus meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache» -, als indem man auch zeigt, inwiefern sich das Christentum aus dem Mysterienwesen der vorchristlichen Zeit heraus entwickelt hat. Es ist heute im all-gemeinen nicht leicht, über das Mysterienwesen zu sprechen aus dem Grunde, weil im Entwickelungsgange der Menschheit - durch not¬wendige Gesetzmäßigkeit ist dies bedingt - gerade der Zeitpunkt, die Epoche, besser gesagt, eingetreten ist, in gewissem Sinne stecken wir noch drinnen, in der das Mysterienwesen zurückgegangen ist, in der es nicht mehr jene Rolle spielen kann, die es zum Beispiele gespielt hat in der Zeit, in der sich das Christentum, so wie aus anderem, so auch aus dem Mysterienwesen heraus entwickelt hat. Daß das Mysterienwesen in unserer Zeit zurückgegangen ist, hat seine gute Begründung, und wir werden gerade in Anlehnung an das heute und in den nächsten Tagen zu Besprechende auf diese Begründung eingehen und auch sehen können, in welcher Weise dieses Mysterienwesen neu zu begründen ist.
Dasjenige, was in alten Zeiten - ich spreche also zunächst von vor-christlichen Zeiten, sagen wir zunächst von der vorchristlichen griechischen
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und der vorchristlichen ägyptisch-chaldäischen Zeit -, was in diesen alten Zeiten die Menschen zu dem Mysterienwesen ge¬trieben hat, das ist der Umstand, daß sie durch ihre damalige Welt¬anschauung gezwungen waren, die Überzeugung in sich aufzu¬nehmen: die Welt, die ringsherum sich um sie ausbreitet, ist nicht un¬mittelbar die wahre Welt; man muß Mittel und Wege suchen, um in die wahre Welt als Mensch einzudringen. Eine starke Empfindung von einer gewissen Tatsache war den Menschen jener alten Zeiten eigen, die sich überhaupt irgendwelche Rätsel der Erkenntnis vor¬legten. Die Tatsache war diesen Menschen bekannt, daß - wie man sich auch mit äußeren Anschauungen bemühen mag, in das Wesen der Welt einzudringen - man in dieses Wesen der Welt durch äußere Anschauung nicht eindringen könne. Man muß, um das ganze Ge-wicht dieser Erkenntnis jener alten Zeiten sich vor die Seele zu rücken, sogar berücksichtigen, daß wir von Zeiten sprechen, in denen die weitaus größte Anzahl der Menschen sogar noch eine volle äußere Anschauung hatte von geistigen elementaren Tatsachen. Es war nicht so für diese Menschen, wie es heute für die große Mehrzahl der Men¬schen ist, daß sie nur die Impression der äußeren Sinne wahrnahmen; sie nahmen noch geistig Wesenhaftes wahr, diese Leute, gewisser¬maßen durch die Naturerscheinungen hindurch. Sie nahmen auch Wirkungen wahr, die sich durchaus nicht erschöpften in dem, was wir heute Naturvorgänge nennen. Dennoch, trotzdem diese Leute von der Offenbarung von elementarischen Geistern überhaupt in der Natur sprachen, waren sie doch tief davon durchdrungen, daß diese Anschauungen der äußeren Welt - und seien sie noch so hellseherisch-zum wahren Wesen dieser Welt nicht führen können, daß dieses wahre Wesen der Welt auf besonderem Wege gesucht werden müsse. Diese besonderen Wege sind dann schön zusammengefaßt in der griechischen Weltanschauung in dem Worte « Erkenne dich selbst».
Sucht man nach der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes «Er-kenne dich selbst», so wird man etwa das Folgende finden. Man wird finden, daß die Kraft dieses Wortes hervorgegangen ist aus der Ein¬sicht, daß, wie weit man auch die Außenwelt überblicken mag, wie weit man auch eindringen mag in die Außenwelt, man nicht nur nicht
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das Wesen dieser Außenwelt selbst findet, sondern man findet auch nicht das Wesen des Menschen. Einfach mit Worten der heutigen Weltanschauung ausgesprochen, könnte man sagen: Diese Leute waren davon überzeugt, Naturanschauung kann keine Aufklärung geben über das Wesen des Menschen. Dagegen waren sie auf der andern Seite davon überzeugt, daß dieses Wesen des Menschen zu-sammenhängt mit der ganzen in der Welt ausgebreiteten Natur, daß also, wenn es dem Menschen gelingt, in sein eigenes Wesen einzu-dringen, er imstande wäre, durch die Erkenntnis seines eigenen Wesens auch über diese Welt etwas Wesenhaftes zu wissen. Aus der Welt, davon waren sie überzeugt, können sie zunächst nicht über dieses Wesen der Welt sich aufklären. Aber aus dem Wesen des Men¬schen, der ja ein Glied dieser Welt ist, können sie, wenn sie es er-kennen können, auch über das Wesen der Welt Aufklärung gewinnen.
Daher: Erkenne dich selbst, um die Welt zu erkennen. - Das war ge-wissermaßen der Impuls. Und das war der Impuls, der zugrunde lag, nun, sagen wir der ägyptisch-chaldäischen Einweihung. - Alle Ein¬weihung geht über Stufen - man ist gewohnt geworden, sie Grade zu nennen -, geht über Stufen, über Grade hinauf. Nun bezeichnet man die erste Stufe, den ersten Grad der ägyptisch-chaldäischen Ein¬weihung, mit einem Worte: der Einzuweihende habe zunächst zu gehen durch das «Tor des Menschen». Das war gewissermaßen die erste Stufe: der Durchgang durch das Tor des Menschen. Das heißt, der Mensch selber sollte zum Tore der Erkennmis gemacht werden. Der Mensch sollte erkannt werden, weil, wenn man an diesem Ein¬gangstor in die Welt am Menschen selbst das Wesen des Menschen erkennt, man auch in das Wesen der Welt auf dem Umweg durch den Menschen eindringen kann. Daher ist «Erkenne dich selbst» gleich¬bedeutend mit Eintreten in das Weltenwesen durch das Tor des Menschen.
Nun habe ich heute nicht vor, in vielen Einzelheiten über diese verschiedenen Stufen der Einweihung zu sprechen, sondern möchte dasjenige hervorheben, was wesentlich ist zur Erfassung des Christen¬tums. Betrachten Sie also dasjenige, was ich nunmehr sagen werde, nicht als eine erschöpfende Darstellung des Wesens der Einweihungsgrade,
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sondern betrachten Sie es als ausgesprochen, um einzelne charakteristische Eigenschaften dieser Einweihungsgrade der ägyp-tisch-chaldäischen Einweihung hervorzuheben, die besonders vor-bereitend wirken konnten und wirklich vorbereitend wirkten auf die Entwickelung des Wesens des Christentums.
Dasjenige, was der Einzuweihende am Tore des Menschen er-kennen sollte, das war also das Wesen des Menschen selbst. Das war etwas, was er nicht finden konnte - wie weit und wie genau er sich auch umschaute - in dem, was ihm die äußere Welt zeigte. Man war in den Mysterien sich klar darüber, daß in der Menschennatur etwas zurückgeblieben war von den Geheimnissen des Daseins, die man in dieser Menschennatur mit Menschenmitteln finden konnte, die man aber nicht finden kann, wenn man den Blick auf die Außenwelt richtet. Davon waren diese Menschen überzeugt. Richtet man den Blick auf die Außenwelt, so findet man allerdings zunächst die um den Menschen herum sich ausbreitende irdische Naturwesenheit. Allein diese irdische Naturwesenheit ist gewissermaßen nur eine Art von Schleier, von Hülle, insofern sie der Mensch erkennt. Und auch dasjenige, was heute etwa schon die Naturwissenschaft zu sagen hat über diese äußere Natur, wie sie sich darbietet, ist durch seine eigene Wesenheit so, daß es durchaus nicht über sich selbst auf klärt. Dann konnte der Mensch den Blick richten - und in jenen alten Zeiten tat man das viel intensiver, als man das heute tut - aufwärts von der äußeren Natur, die er hier auf der Erde in seiner Umgebung erblickt, auf die Sternenwelt. Da sah er mancherlei, von dem er in jenen alten Zeiten gut wußte - ein Wissen, das für die äußere Welt heute ver¬lorengegangen ist -, daß der Mensch ebenso damit in Verbindung steht, wie er mit dem Pflanzen-, mit dem Tierreich und dem minera¬lischen Reiche hier auf der Erde in Verbindung steht. Man wußte, daß der Mensch, ebenso wie er aus den Reichen der Natur auf der Erde herausgeboren ist, mit irgend etwas in sich auch aus dem außer¬tellurischen, dem außerirdischen Kosmos herausgeboren ist. Aller¬dings, das, was den Menschen mit diesem außertellurischen, außer-irdischen Kosmos vereint, das stellte sich für die Erkenntnis ein, wenn der Mensch durch das Tor des Menschen ging. In sich trug der
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Mensch gewissermaßen die Überreste eines Zusammenhanges, aus denen er sich losgelöst hatte beim Übergang der Mondennatur zur Erdennatur. Er trug in sich die Überreste seines Zusammenhanges mit dem außerirdischen Kosmos. Der Mensch wurde also zum Tore des Menschen geführt; er sollte da den Menschen selbst kennen-lernen. Er lernte dasjenige, was er nur äußerlich anstarren konnte, namentlich in der Sternenwelt, in sich selbst kennen.
Er lernte in sich selbst kennen, wie er als eigentlicher Mensch nicht nur eingegliedert ist in einen irdischen Leib, der aus den Reichen der Erdennatur zusammengesetzt ist, sondern er lernte auch kennen, wie in sein ganzes menschliches Wesen eingeflossen ist dasjenige, was von der gesamten außerirdischen Sternenwelt ausgeht. Der Mensch ent¬deckte durch seine Selbsterkenntnis, könnte man sagen, die Natur des Sternenhimmels. Er lernte kennen, wie er von Stufe zu Stufe herab¬gestiegen ist, gewissermaßen von Himmel zu Himmel herabgestiegen ist, bevor er auf der Erde angelangt ist und in einem irdischen Leibe verkörpert wurde. Und er sollte beim Tore des Menschen diese Stu¬fen - ihrer acht wurden gewöhnlich aufgeführt - wieder hinaufsteigen. Er sollte gewissermaßen während seiner Einweihung den Rückweg antreten durch diejenigen Stufen hindurch, durch die er herab¬gestiegen ist, bis er hier in einem physischen Leibe geboren worden ist.
Solch eine Erkenntnis kann nicht erworben werden - ich spreche jetzt immer von vorchristlicher Mysterienerkenntnis -, ohne daß das ganze Wesen des Menschen ergriffen wird. Die Vorbereitung, die der Einzuweihende in jenen Zeiten durchzumachen hatte, von ihr macht sich der heutige Mensch nicht gern einen Begriff - ich wähle meine Worte so, daß sie möglichst genau die Tatsache ausdrücken -, weil er durch diese Begriffe irritiert wird. Der Mensch möchte heute womöglich auch die Einweihung durchmachen wie etwas, was man so gelegentlich mitnimmt auf seinen Lebensweg, was man so nebenher absolviert. Er möchte sich informieren - wie man das heute nennt -über das, was zu den Erkenntnissen führt; er möchte jedenfalls, der heutige Mensch, nicht gern das erleben, was jene alten Leute, die die Einweihung suchten, erleben mußten. In seiner ganzen mensch¬lichen Wesenheit von der Vorbereitung zur Erkenntnis ergriffen werden,
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ein anderer Mensch werden, das möchte er nicht gern. Diese Leute aber mußten sich dazu entschließen, ein anderer Mensch zu werden. Die Beschreibungen, die Sie sehr häufig über dieses alte Mysterienwesen finden, geben Ihnen nur einen unklaren Begriff, denn diese Beschreibungen sind meistens so gehalten, daß man die Vor¬stellung bekommt, es wären diese alten Einweihungen auch so neben-her an den Menschen vorübergegangen wie etwa die sogenannten Einweihungen der modernen Freimaurerei. Das ist aber nicht der Fall. Man hat es auch da, wo alte Einweihungen nachgeahmt werden in der Gegenwart, nur zu tun mit allerlei Nachbildungen desjenigen, was in jenen alten Zeiten wirklich durchlebt worden ist, mit Nach-bildungen, die wirklich so nebenher, wie es der moderne Mensch wünscht, im Leben absolviert werden können. Dasjenige aber, was für den alten Menschen wesentliche Vorbereitung war, das war, daß er durchzumachen hatte jenen inneren Seelenzustand, der sich nur mit einem Worte dadurch bezeichnen läßt, daß man sagt: er mußte durchgeführt werden in stärkstem Maße durch jene Furcht, welche der Mensch immer empfindet, wenn er wahrhaftig und wirklich vor ein ihm gänzlich Unbekanntes geführt wird mit vollem Bewußtsein. Das war gerade das Wesentliche bei den alten Einweihungen, daß die Menschen wirklich am intensivsten die Empfindung in sich aufzu¬nehmen hatten: sie stehen vor etwas, wovor sie nicht stehen können irgendwie im äußeren Leben.
Mit all den Seelenkräften, mit denen man im äußeren Leben auch heute noch wirtschaftet, läßt sich diese Seelenverfassung nicht er-reichen. Mit den Seelenkräften, die der Mensch heute gern handhabt, mit denen kann man essen und trinken, mit denen kann man sich in der Weise sozial bewegen, wie man das heute tut unter den heute üblichen Menschenklassen, mit denen kann man Handel treiben, Bürokratismus treiben, ja mit denen kann man Professor werden, Naturwissenschaft treiben, all das, aber man kann mit diesen Fähig¬keiten nichts Wirkliches erkennen. Die Seelenverfassung, mit der man - halten Sie das fest, daß ich immer in jenem alten Sinne spreche -in jenen alten Zeiten erkennen wollte, ist eine wesentlich andere. Sie durfte nichts gemein haben mit den Seelenkräften, die für das äußere
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Leben dienlich sind, die mußten sozusagen aus ganz andern Regionen des Menschen hergenommen werden. Diese Regionen sind immer im Menschen vorhanden, aber der Mensch hat eine heillose Furcht, sie irgendwie zu handhaben. Geradezu voll absichtlich wurde jene Region in Tätigkeit versetzt bei dem Einzuweihenden, die gerade der mo¬derne Mensch, der gewöhnliche profane Mensch auch in der damallgen Zeit, in sich selber mied, zu der er nicht seine Zuflucht nehmen wollte, über die er sich gern Illusionen macht, sich gern betäuben läßt. Daher wird das äußerlich - was aber mehr innerlich verstanden werden sollte - geschildert als das Erregen einer Reihe von Furcht-zuständen, die allerdings durchgemacht werden mußten, weil in der Seele des Menschen nur das zur beabsichtigten Erkenntnis hingeleitet werden kann, was in solcher Region liegt, vor der sich der Mensch im gewöhnlichen äußeren Leben fürchtet. Erst aus dieser Seelen-stimmung heraus, die wacker durchgemacht wurde, die nun wirklich erlebt wurde, wo der Mensch in seiner Seele nichts fühlte als Furcht vor irgend etwas, was eben das Unbekannte war - denn er sollte erst durch diese Furcht zur Erkenntnis hingeführt werden -, erst aus die¬sem Seelenzustand heraus wurde er dann hingeführt vor dasjenige, was ich eben charakterisiert habe als das Heruntersteigen des Men-schen durch die Regionen der Himmei oder der geistigen Welt, wo er die acht Stufen wiederum hinaufgeleitet wurde, die natürlich heute nur nachgemacht werden, nur nachgemacht werden können nach den Gepflogenheiten unserer Zeit. Aber der Mensch wurde damals in dieses Erlebnis tatsächlich eingeführt.
Für uns ist besonders wichtig das Ergebnis, das sich für den Men-schen dann herausstellte, wenn er an dieses Tor des Menschen hin-geführt worden ist. Der Mensch hörte auf, nachdem er begriffen hatte den ganzen Sinn seines Hingestelitseins vor das Tor des Menschen, sich als das Tier - verzeihen Sie den Ausdruck - auf zwei Beinen zu betrachten, das eine Zusammenfassung der übrigen Naturreiche hier auf dieser Erde ist. Er fing an, sich als ein Bürger der ganzen Welt zu betrachten, er fing an, sich zu den Himmeln zugehörig zu betrachten, die man sehen kann, und auch zu denen, die man nicht sehen kann. Er fing an, sich eins zu fühlen mit dem ganzen Kosmos, sich wirklich als
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Mikrokosmos zu fühlen, nicht bloß als eine kleine Erde, sondern als eine kleine Welt sich zu fühlen. Er fühlte seinen Zusammenhang mit Planeten und Fixsternen, fühlte sich also herausgeboren aus dem Weltenall. Gewissermaßen könnte man sagen, er fühlte, wie sein Wesen nicht endet bei den Fingerspitzen, den Ohrenspitzen, Zehen-spitzen, sondern wie sein Wesen sich fortsetzt über diese seine von der Erde her genommene Leiblichkeit durch die unendlichen Räume, und durch diese unendlichen Räume noch hindurch in die Geistigkeit hinein. Das war das Ergebnis.
Versuchen Sie nicht, dieses Ergebnis allzusehr in einen abstrakten Begriff zu verwandeln, denn von diesem abstrakten Begriff haben Sie wirklich nicht viel. Zu sagen, der Mensch ist ein Mikrokosmos, eine kleine Welt, und da nur den abstrakten Gedanken zu haben, das ist nicht sehr viel; das ist eigentlich bloß eine Illusion, bloß eine Täu¬schung. Denn dasjenige, um was es sich bei diesen alten Mysterien handelte, war das unmittelbare Erlebnis. Wirklich hatte der Ein¬zuweihende erlebt beim Tor des Menschen, wie er verwandt ist mit Merkur, Mars mit der Sonne, mit dem Jupiter, mit dem Monde. Wirklich hatte er erlebt, daß jene Hieroglyphen, die im Weltenraume stehen und die von der Sonne durchlaufen werden - scheinbar, wie wir heute selbstverständlich sagen -, die Bilder des Tierkreises mit seiner eigenen Existenz etwas zu tun haben. Erst dieses konkrete Wissen, das auf Erlebnis beruhte, machte dasjenige aus, was ich jetzt als Ergebnis bezeichne. Nicht hat man dasselbe, wenn man diese Dinge heute übersetzt in abstrakte Begriffe. Wenn man heute die alten Erlebnisse in den abstrakten Begriff übersetzt: dieser Stern hat diesen Einfluß, jener Stern hat jenen Eirifluß und so weiter, so sind das eben abstrakte Begriffe. Für jene alten Zeiten handelte es sich um das unmittelbare Erlebnis, um das wirkliche Hinaufsteigen durch die verschiedenen Stufen, durch die der Mensch vorgeburtlich herunter-gestiegen ist. Erst dann, wenn der Mensch dieses lebendige Bewußt¬sein hatte, wenn er aus dem Erlebnis wußte, daß er ein Mikrokosmos ist, erst dann fühlte man ihn reif, eine zweite Stufe, einen zweiten Grad aufzusteigen, der damals der eigentliche Grad der Selbst¬erkenntnis war. Da konnte der Mensch erleben, was er selbst ist.
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Dasjenige also, was ich vorhin charakterisiert habe als das Wesen, das auch das Wesen der Welt ist, war aber für den Menschen der damaligen Zeit nur im Menschen selbst zu finden; daher mußte man, wollte man im Weltenall Einlaß finden, durch das Tor des Menschen gehen. Innerhalb dieses zweiten Grades kam gewissermaßen alles in Bewegung, was im ersten Grade wie ein erlebtes Wissen erfahren worden war. Dieses In-Bewegung-Kommen - es ist heute sogar tioch schwierig, eine Vorstellung zu geben von diesem In-Bewegung-Kommen von Erlebnissen. Man lernte im zweiten Grade nicht nur kennen, wie man zugeteilt ist dem Makrokosmos, sondern man wurde eingesponnen in die ganze Bewegung des Makrokosmos. Man ging gewissermaßen mit der Sonne durch den Tierkreis, man lernte kennen dadurch, daß man mit der Sonne durch den Tierkreis ging, auch den ganzen Weg, welchen irgendein äußerer Eindruck auf den Menschen selber macht. Der Mensch kennt, wenn er der Außenwelt mit dem ge-wöhnlichen Erkenntnisvermögen gegenübersteht, nur den Anfang eines sehr ausführlichen Prozesses. Sie sehen eine Farbe, machen sich die Vorstellung der Farbe, behalten vielleicht diese Vorstellung im Gedächtnis, in der Erinnerung, aber weiter geht es nicht. Das sind drei Stufen. Wenn man das als etwas Vollendetes betrachten würde, so wäre das gerade so, wie wenn man den Tageslauf, der zwölf Stunden mit der Sonne hat, nur drei Stunden lang betrachten wollte. Denn alles dasjenige, was der Mensch als eine Impression von außen aufnimmt, was er eigentlich höchstens bis zu der Gedächtnisvorstel¬lung verfolgt, das macht in ihm von der Gedächmisvorstellung an einen weiteren Prozeß durch, durch weitere neun Stufen. Der Mensch wird sich selbst ein Bewegliches, wird innerlich gewissermaßen durch-zogen von einem lebendigen sich drehenden Rade, wie die Sonne ihr Himmelsrad beschreibt - scheinbar, im heutigen Begriffe gesprochen. So lernte der Mensch sich selbst kennen. Er lernte aber damit auch die Geheimnisse der großen Welt kennen. Lernte er im ersten Grade kennen, wie er drinnensteht in der Welt, so lernte er im zweiten Grade kennen, wie er sich bewegt innerhalb der Welt.
Ohne diese Erkenntnisse als Lebenserkenntnisse ist nicht dasjenige zu erreichen, was jeder in den dritten Grad, in die dritte Stufe Einzuweihende
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in den alten Zeiten wirklich durchaumachen hatte. Wir leben eben in einer Epoche, in der es dem Menschen natürlich ist, alles Dreigliedrige, wenn ich im Mysteriensinne sprechen soll, über¬haupt zu leugnen, überhaupt aus dem menschlichen Bewußtsein alles Dreigliedrige auszulöschen. Denn der Mensch, ob er es nun zugibt oder nicht, pocht heute eigentlich auf die ganze Welt als in Raum und Zeit beschlossen. Sie können selbst bei sehr nachdenklichen Menschen finden, wie sie die ganze Welt in Raum und Zeit beschlossen finden. Sie brauchen zum Beispiel nur zu denken, wie in der Epoche des 19. Jahrhunderts, in welcher der Materiallsmus, der theoretische Materialismus, seine Hochblüte getrieben hat, der Unsterblichkeits-gedanke des Menschen gefaßt worden ist. Sehr gescheite Leute in der Mitte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, haben immer wieder betont: Wenn die Seele des Menschen im Tode den Menschen ver¬lassen würde, so könnte ja zuletzt kein Platz sein; die Welt müßte so angefüllt sein mit Seelen, daß kein Platz sein könnte für diese See¬len. - Das haben sehr gescheite Leute gesagt, weil sie tatsächlich damit gerechnet haben, daß die Seele des Menschen nach dem Tode irgendwie untergebracht sein müßte in einer Weise, die sich mit Raumesvorstellungen charakterisieren läßt. Oder ein anderes Beispiel: Es gab, soll sogar noch geben eine Theosophlsche Gesellschaft, in der allerlei Dinge gelehrt worden sind über die höheren Glieder der Menschennatur. Ich will nicht sagen, daß die erleuchteten Führer in denselben Fehler verfallen sind, aber ein großer Teil der Anhänger hat sich recht räumlich den Astralleib vorgestellt: so wie eine aller¬dings recht dünne, aber doch wie eine räumliche Wolke; und diese Anhänger haben viel darüber nachspekuliert, wie sie sich nun das vorzustellen haben, wenn der Mensch schläft, und jene Wolke räum¬lich aus ihm herausgeht, wo sie sich räumlich nun irgendwo aufhält. Es war sehr schwierig, einer großen Anzahl von Anhängern bei¬zubringen, daß solche räumlichen Vorstellungen unangemessen sind dem Geistigen.
Das wird eben dem heutigen Menschen ungeheuer schwierig, sich vorzustellen, daß von einem gewissen Punkte des Erkenntnisweges aus der Mensch nicht nur in andere Raumesteile und in andere Zeiten
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kommt, sondern aus Zeit und Raum herauskommt, daß erst dann eigentlich das wirkliche Übersinnliche beginnt, wenn man nicht nur die Sinneseindrücke und ihre zeitlichen Prozesse verläßt, sondern Raum und Zeit selbst, wenn man in ganz andere Daseinsbedingungen eintritt als in die Daseinsbedingungen, die Raum und Zeit um-schließen. Und wenn Sie sich vielleicht, indem ich dieses ausspreche, auf sich selbst besinnen, so werden Sie unter Umständen in Ihrem eigenen Inneren Schwierigkeiten finden, wenn Sie sich fragen: Wie soll ich das nun machen, um aus Raum und Zeit mit meiner Vor¬stellung hinauszugehen? - Und dennoch, das war im wesentlichen die wirkliche Errungenschaft des wirklichen Durchmachens der zwei ersten Grade. Würde man in dem Zeitalter des Materialismus noch ein deutliches Bewußtsein gehabt haben von diesen drittgradigen Geheimnissen, so würde nicht etwas - jetzt spreche ich nicht über das äußere Experimentelle, aber über die zugrunde gelegte Theorie -, was als Theorie so grotesk ist wie der Spiritismus, Verbreitung ge¬funden haben. Wer Geister sucht, indem er sie so wie feine Körper in den Raum hereinbringen will, der hat gar keine Ahnung davon, daß, indem er so verfährt, er schon geistlos veffahrt, das heißt, eine Welt aufsucht, die keine Geister enthält, sondern eben etwas anderes als Geister. Würde der Spiritismus eine Ahnung haben, wie, um Geister zu finden, man aus Zeit und Raum herausgehen muß, so würde er nicht zu dieser grotesken Vorstellung kommen, daß man räumliche Arrangements treffen kann, durch die sich Geister in irgendeiner Weise so ankündigen, wie sich äußere Raumeswirkungen im Zeitprozeß abspielen.
Nun kurz, das war es, was eben gerade erworben werden sollte durch die zwei ersten Stufen bis zum dritten Grade hin: die Möglich-keit, aus Zeit und Raum herauszukommen. Dazu bereitete allerdings vor das wirkliche Hindurchschreiten durch das Tor des Menschen und dann durch den zweiten Grad.
Diese dritte Stufe, dieser dritte Grad wurde mit einem Worte be-zeichnet, das man etwa in deutscher Sprache so ausdrücken kann:
Der Einzuweihende ging durch das «Tor des Todes». Das heißt, er wußte sich jetzt wirklich außerhalb des Raumes, in dem sich das leibliche
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Menschenleben zwischen Geburt und Tod abspielt, und außer¬halb der Zeit, in welcher dieses Menschenleben verläuft. Er wußte sich, jenseits von Zeit und Raum, im Dauernden zu bewegen. Er lernte erkennen dasjenige, was schon in die Sinneswelt hereinragt, wie ich öfter jetzt betont habe, aber mit dem, womit es in die Sinnes-welt hereinragt, nicht innerhalb dieser Sinnenwelt begriffen werden kann, weil es schon Geistiges enthält. Er lernte sich befassen mit dem Tode, mit alldem, was mit dem Tode zusammenhängt. Das war im wesentlichen der Inhalt dieses dritten Grades. Wie man auch die je nach den verschiedenen Völkern verschieden gearteten Mysterien-riten anschauen mag, wie sie sich auch darstellen mögen, überall lag zugrunde die Beschäftigung mit dem Tode. Überall mußte der Aus¬gangspunkt genommen werden für den dritten Grad von aildem, was erlebt werden kann - wenn ich den paradoxen Ausdruck, weil ich keinen besseren jetzt habe, gebrauchen muß -, wenn man den Tod, der sonst den Menschen aus dem Leibe herausführt, erlebbar macht schon innerhalb des Leibeslebens. Das war dann zugleich verbunden mit der Möglichkeit, nun wirklich den Menschen, so wie er dasteht zwischen Geburt und Tod, als etwas zu betrachten, das außerhalb der Wesenheit ist, die man jetzt im dritten Grade erreicht hatte. Man wußte jetzt einen Begriff zu verbinden mit dem Worte: außerhalb seines Leibes zu sein, wobei dieses « außerhalb » eben dann nicht räumlich aufgefaßt worden ist, sondern überräumlich aufzufassen war. Also man wußte damit einen erlebbaren Begriff zu verbinden. Da war es auch, wo die Menschen ablegten den Glauben an die gewöhn¬liche profane Religion, die die Religion ihres Volkes war. Da legten die Menschen vor allen Dingen ab am Tore des Todes die Vor¬stellung: Du stehst hier auf der Erde, deine Götter oder dein Gott sind irgendwo außer dir. - Da wußte sich der Mensch einig mit seinem Gotte, da unterschied sich der Mensch nicht mehr von seinem Gotte, da wußte er sich mit ihm völlig verbunden. Es war im wesentlichen erlebte Unsterblichkeit, die dieser dritte Grad dem Menschen brachte. Es war erlebte Unsterblichkeit dadurch, daß der Mensch dasjenige, was sterblich an ihm ist, verlassen konnte, daß er sich trennen konnte von demjenigen, was an ihm sterblich ist.
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Aber vergessen wir nicht über diesem Ergebnis den ganzen Weg. Der ganze Weg bestand darin, daß der Mensch sich selbst erkennen gelernt hat. Jetzt war der Mensch nicht mehr in sich selbst, jetzt war er in der Außenwelt. Er hatte das mit in die Außenwelt hinein-getragen, was er durch das Eindringen in sich selbst kennengelernt hat. Das ist das Wesentliche dieser vorchristlichen Einweihung, daß der Mensch in sich selbst ging, um in sich selbst etwas zu finden, was er dann mitnahm in die Außenwelt und was ihm in der Außenwelt, indem er sich von sich selbst getrennt hat, erst in der richtigen Weise aufleuchtete, so daß er sich dann mit dem Wesen der Außenwelt ver¬bunden fühlte. Er ging in sich, um aus sich herauszugehen. Er ging in sich, weil er in sich etwas finden konnte von dem Wesen der Welt, was er nur in sich finden konnte, was er draußen nicht hätte finden können, was er aber nur draußen wirklich erleben konnte. Er ging durch das Tor des Menschen und durch das Tor der Selbsterkenntnis und des Todes, um in diejenige Welt einzutreten, die allerdings außer ihm ist. Die gewöhnliche Naturwelt ist auch außer uns. Aber der Mensch war sich klar darüber, daß er das, was er suchte, nur finden konnte, wenn er in sich selber hineinging.
Dann, nachdem der Mensch den außerordentlich schwierigen drit-ten Grad durchgemacht hatte, war er ohne weiteres reif für den vier¬ten Grad. Und man kann sagen: Einfach dadurch, daß er eine Zeitiang praktiziert hatte, zu leben im dritten Grade, war er reif für den vierten Grad in einer Weise, wie man es vom heutigen Menschen sehr schwer behaupten könnte. Denn der heutige Mensch wird - das liegt einfach in der Zeitepoche - nicht eigentlich reif innerhalb des dritten Grades. Er kommt anders nicht leicht aus der Raumes- und Zeitenvorstellung heraus als durch gewisse Kraftvorstellungen, die aber gesucht werden müssen auf andern Wegen - darüber werde ich in den nächsten Tagen sprechen -, als sie in alten Zeiten verfolgt wurden. Mit dem, was der Mensch aus sich heraus nun in die Außenwelt hineingetragen hatte, wurde er zum Bewußtsein dieses vierten Grades erhoben, und er wurde das, was man in späteren Sprachen übertragen und übersetzen konnte mit den Worten: ein « Christophor », ein Christus-Träger. Das war im Grunde genommen das Ziel dieser Mysterieneinweihung: den
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Menschen zum Christus-Träger zu machen Natürlich wurden nur einige Auserlesene solche Christus-Träger. Sie konnten auch nur Christus-Träger werden dadurch, daß sie erst im Menschen suchten, was sich in der ganzen Außenwelt nicht finden ließ, daß sie dann mit dem im Menschen Gesuchten in die Außenwelt gingen und sich dann vereinigten mit ihrem Gotte. Sie wurden so zum Christus-Träger. Sie wußten, sie haben in der Struktur des Weltenalis sich vereinigt mit demjenigen - das ist jetzt nicht historisch, sondern vorweggenommen gesprochen -, was im Johannes-Evangelium der Logos öder das Wort genannt wird; sie haben sich vereinigt mit dem, woraus alle Dinge gemacht sind und ohne welches nichts von dem gemacht ist, was ge¬macht worden ist. So war das Christus-Geheimnis in diesen alten Zeiten gewissermaßen durch einen Abgrund vom Menschen ge¬trennt, und es war gebunden daran, daß der Mensch diesen Abgrund überstieg, daß er wirklich durch die Selbsterkenntnis in die Lage sich versetzte, aus sich herauszukommen und sich mit seinem Gotte zu vereinigen, ein Träger seines Gottes zu werden.
Nehmen wir nun einmal, um uns in dieser Betrachtung weiter-zuhelfen, hypothetisch an, es wäre auf der Erde das Mysterium von Golgatha nicht geschehen, die Erdenentwickelung wäre bis zum heu¬tigen Tage verflossen, ohne daß das Mysterium von Golgatha ge¬schehen wäre. Nur indem man solche Kontrahypothesen macht, kann man die Bedeutung einer solchen Sache wie die des Mysteriums von Golgatha wirklich ins Auge fassen. Also nehmen wir an, das Myste¬rium von Golgatha hätte sich bis zum heutigen Tage nicht vollzogen. Was wäre für dasjenige, was da durch die Mysterien in alten Zeiten am Menschen beobachtet worden ist eingetreten?
Der heutige Mensch könnte dann das vernehmen, was der grie-chische apollinische Spruch, was die griechische apollinische Devise war: «Erkenne dich selbst.» Er könnte gewissermaßen nachleben wollen diesem Worte «Erkenne dich selbst», könnte versuchen, da schließlich die Traditionen sich erhalten haben, dieselben Ein-weihungswege durchzumachen, die meinetwillen die ägyptisch-chal-daische Königseinweihung gegeben hat, könnte also versuchen, durch die vier Stufen so aufzusteigen, wie in der damaligen vorchristlichen
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Zeit aufgestiegen worden ist, um ein Christophor zu werden. Da würde der Mensch aber eine ganz bestimmte Erfahrung machen. Er könnte dann, wenn er befolgt diese Devise «Erkenne dich selbst», wenn er versucht, in sich hineinzugehen auch durch jene Furcht-zustände hindurch, die damals durchgemacht worden sind, dann durch das nachträgliche Erleben der Veränderungen, durch das nach¬träglich In-Bewegung-Versetzen desjenigen, was erst im Ruhe-zustand durchgemacht worden ist, die Erfahrung machen, daß er nun nichts findet, daß er nun nicht das Wesen des Menschen in sich findet. Das ist schon das Bedeutungsvolle! Gewiß, die Devise «Erkenne dich selbst», gilt auch für den heutigen Menschen, aber diese Selbst¬erkenntnis führt ihn nicht mehr zur Welterkenntnis. Dasjenige, was der Mensch in der alten Seelenverfassung noch in sich gefunden hat als mit dem Wesen der Welt zusammenhängend, was er nicht finden konnte in der äußeren Welt, was er eben auf dem Wege der Selbst¬erkenntnis suchen mußte, um es dann als Welterkenntnis zu haben, jenes innere menschliche Wesenszentrum, das er dann mitnehmen konnte in die Außenwelt, um zum Christophor zu werden, das findet der Mensch heute nicht in sich, das ist nicht mehr da. Das ist wichtig, daß man das ins Auge faßt! Die Menschen mit den heutigen törichten Begriffen, die durch die sogenannte Wissenschaft kultiviert werden, haben die Meinung: Mensch ist Mensch. Der heutige Engländer oder Franzose oder Deutsche ist Mensch, so wie es der alte Ägypter war. Das ist aber ein Unsinn vor der wirklichen Erkenntnis, ein wirklicher Unsinn. Denn der alte Ägypter, indem er in sich selber einkehrte nach den Regeln der Initiation, fand etwas in sich, was der heutige Mensch in sich nicht finden kann, weil es verschwunden ist, weil es weg ist. Das ist entglitten dem Menschen, verlorengegangen dem Menschen, was selbst noch in der vorchristlichen und zum Teil noch in der nach-christlichen griechischen Seelenverfassung gefunden werden konnte. Das ist verlorengegangen, ist aus der Menschenwesenheit heraus ver¬schwunden. Die menschliche Organisation ist heute eine andere, als sie in alten Zeiten war.
Wenn wir die Sache anders aussprechen, so können wir so sagen: Der Mensch fand, wenn auch dunkel, wenn auch nicht in vollbewußten
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Begriffen, in jenen alten Zeiten, indem er in sich hineinging, doch sein Ich. Das widerspricht nicht dem, daß man sagt, daß das Ich in einer gewissen Weise durch das Christentum erst geboren wor¬den ist. Deshalb sage ich: Wenn auch dunkel, wenn auch nicht in vollbewußten Begriffen, der Mensch fand doch sein Ich. Es war als aktives Bewußtsein erst durch das Christentum geboren worden, aber der Mensch fand sein Ich. Denn von diesem Ich, von diesem wirk¬lichen, wahren Ich ist im Menschen der damaligen Zeit etwas zurück¬geblieben, nachdem er geboren worden ist. Sie werden sagen: Soll nun jetzt etwa der Mensch heute nicht sein Ich finden? - Nein, er findet es auch nicht: das wirkliche Ich macht einen Stillstand, indem wir geboren werden. Dasjenige, was wir erleben als unser Ich, ist nur ein Spiegelbild des Ich. Das ist nur etwas, was das vorgeburtliche Ich in uns abspiegelt. Wir erleben in der Tat nur ein Spiegelbild des Ich, etwas vom wirklichen Ich erleben wir nur ganz indirekt. Das, wovon die Psychologen, die sogenannten Seelenforscher als vom Ich reden, ist nur ein Spiegelbild; das verhält sich zum wirklichen Ich so, wie das Bild, das Sie von sich im Spiegel sehen, sich zu Ihnen verhält. Aber dieses wirkliche Ich, das während der Zeit des atavistischen Hell¬sehens und bis in die christlichen Zeiten herein gefunden werden konnte, ist heute nicht in dem Menschen, der auf seine eigene Wesen¬heit - insofern die eigene Wesenheit verbunden ist mit dem Leibe -hinschaut. Nur indirekt erlebt der Mensch etwas von seinem Ich, dann, wenn er mit andern Menschen in Beziehung tritt und sich das Karma abspielt.
Wenn wir einem andern Menschen gegenübertreten und sich etwas abspielt zwischen uns und dem andern Menschen, was zu unserem Karma gehört, da tritt etwas von dem Impulse des wahren Ich in uns herein. Aber das, was wir in uns Ich nennen, was wir mit dem Worte bezeichnen, das ist nur ein Spiegelbild. Und gerade dadurch wird der Mensch reif gemacht während unseres fünften nachatlantischen Kul¬turzeitraumes, das Ich im sechsten Zeitraum in einer neuen Gestalt zu erleben, daß er gewissermaßen durch den fünften Zeitraum dieses Ich nur als Spiegelbild erlebt. Das ist gerade das Charakteristische des Zeitalters der Bewußtseinsseele, daß der Mensch sein Ich nur als
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Spiegelbild erhält, damit er in das Zeitalter des Geistselbstes hinein-lebt und das Ich anders gestaltet, in neuer Gestalt wieder erleben kann. Nur wird er es anders erleben, als er es heute gerne möchte! Heute möchte der Mensch sein Ich, das er nur als Spiegelbild erlebt, alles eher nennen als das, was sich ihm im zukünftigen sechsten nach-atlantischen Zeitraum als solches präsentieren wird. Jene mystischen Anwandiungen, wie sie heute die Menschen noch haben: durch Hineinbrüten in ihr Inneres das wahre Ich zu finden - das sie sogar das göttliche Ich nennen! -, solche Anwandiungen werden die Men¬schen in der Zukunft seltener haben. Aber gewöhnen werden sie sich müssen, dieses Ich nur in der Außenwelt zu sehen. Das Sonderbare wird eintreten, daß jeder andere, der uns begegnet und der etwas mit uns zu tun hat, mehr mit unserem Ich zu tun haben wird als dasjenige, was da in der Haut eingeschlossen ist. So steuert der Mensch auf das soziale Zeitalter zu, daß er sich in Zukunft sagen wird: Mein Selbst ist bei all denen, die mir da draußen begegnen; am wenigsten ist es da drinnen. Ich bekomme, indem ich als physischer Mensch zwischen Geburt und Tod lebe, mein Selbst von allem Möglichen, nur nicht von dem, was da in meiner Haut eingeschlossen ist.
Dieses, was so paradox erscheint, es bereitet sich heute indirekt vor dadurch, daß die Menschen ein wenig empfinden lernen, wie sie in dem, was sie ihr Ich nennen, in diesem Spiegelbild drinnen eigent-lich furchtbar wenig sind. Ich habe neulich einmal davon gesprochen, wie man dadurch auf die Wahrheit kommen kann, daß man sich seine Biographie, aber sachlich, vor Augen führt und sich frägt, was man eigentlich dem und jenem Menschen verdankt von seiner Geburt ab. Man wird sich allmählich so langsam auflösen in die Einilüsse, die von andern kommen; man wird außerordentlich wenig finden in dem, was man als sein eigentliches Ich zu betrachten hat, das, wie gesagt, doch nur ein Spiegelbild ist. Etwas grotesk gesprochen, kann man sagen: In jenen Zeiten, in denen das Mysterium von Golgatha sich abgespielt hat, ist der Mensch ausgehöhlt worden, ist er hohl gewor¬den. Das ist das Bedeutsame, daß man erkennen lernt das Mysterium von Golgatha als Impuls, indem man es in seiner Wechselbeziehung zu diesem Hohiwerden des Menschen betrachtet. Der Mensch muß,
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wenn er von der Wirklichkeit spricht, sich klar sein, daß der Platz irgendwie ausgefüllt sein muß, den er früher hat noch finden können, sagen wir, in den ägyptisch-chaldäischen Königsmysterien. Der wurde damals noch etwas ausgefüllt von dem wirklichen Ich, das heute halt¬macht, wenn der Mensch geboren wird, oder wenigstens in den ersten Kindheitsjahren haltmacht, es scheint noch etwas herein in die ersten Kindheitsjahre. Und diesen Platz, ihn nahm der Christus-Impuls ein. Da sehen Sie den wahren Vorgang. Sie können sich sagen: Hier (siehe Zeichnung, links) die Menschen vor dem Mysterium von Gol¬gatha, her (Mitte) das Mysterium von Golgatha, (rechts) die Men¬schen nach dem Mysterium von Golgatha.
Die Menschen vor dem Mysterium von Golgatha hatten etwas in sich, das, wie gesagt, durch die Einweihung gefunden wurde (rot). Die Menschen nach dem Mysterium von Golgatha haben dieses nicht mehr in sich (blau), sie sind gewissermaßen da ausgehöhlt, und der Christus-Impuls senkt sich herein (lila) und nimmt den leeren Platz ein. Der Christus-Impuls soll also nicht aufgefaßt werden wie eine Lehre bloß, wie eine Theorie, sondern er muß hinsichtlich seiner Tatsächlichkeit aufgefaßt werden. Und jeder, der die Möglichkeit dieses Hinabsenkens im Sinne der alten Mysterieninitiation wirklich versteht, der versteht erst die Bedeutung des Mysteriums von Gol¬gatha seiner innerlichen Wahrheit nach. Denn heute könnte, so wie das in der alten ägyptischen Königseinweihung der Fall war, der Mensch nicht ohne weiteres ein Christophor werden; er wird aber ein
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Christophor unter allen Umständen, indem gewissermaßen in den Hohlraum, der in ihm ist, der Christus sich hineinsenkt.
Also in dem Bedeutungsloswetden der alten Mysterienprinzipien zeigt sich die große Bedeutung des Christus-Mysteriums, von dem ich gesagt habe - Sie können das in meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache» nachlesen -: Dasjenige, was früher in den Tiefen der Mysterien erlebt worden ist, was den Menschen zum Christophor gemacht hat, ist hinausgestellt worden in den großen Plan der Weltgeschichte und vollzieht sich als eine äußere Tatsache. Das ist Tatsache. Daraus werden Sie aber auch ersehen, daß das Ein¬weihungsprinzip selber seit jenen alten Zeiten eine Änderung er¬fahren mußte, eine Wandlung durchmachen mußte, denn dasjenige, was sich die alten Mysterien als das im Menschen zu Suchende vor¬gesetzt haben, das kann heute nicht gefunden werden.
Man tue sich nur ja nicht gar so viel darauf zugute, daß die heutige Naturwissenschaft den heutigen Engländer, Franzosen, Deutschen ebenso betrachtet, wie sie, wenn sie könnte, den alten Ägypter be-trachten würde. Sie betrachtet gar nicht das am Menschen, was sein Wesentliches ist. Schließlich hat sich sogar das Äußere etwas ver-ändert Seit jenen alten Zeiten, aber das, was das Wesentliche ist, was sich verändert hat, das muß man so schildern, wie wir es heute getan haben. In dieser Schilderung sehen Sie aber zugleich die Notwendig¬keit, daß das Initiationsprinzip sich ändert. Was soll denn heute der Mensch suchen, wenn er nur das alte «Erkenne dich selbst» im alten Sinne befolgen will? Was würde er erreichen, wenn er alle Beschrei¬bungen der Einweihungszeremonien und Einweihungsvorgänge des alten Ägypten kennen und auf sich anwenden würde? Er würde nicht mehr das finden, was man innerhalb der alten Mysterien gefunden hat. Und dasjenige, was man im vierten Grad geworden ist, das würde er unbewußt vollziehen, er kann es aber nicht verstehen. Der Mensch kann, auch wenn er alle Einweihungszeremonien durchanacht, wenn er die Wege geht, die damals bis zum Christophor geführt haben, dem Christus auf diese Weise nicht verständnisvoll entgegentreten. Der alte Mensch konnte das, wenn er eingeweiht wurde: er wurde wirk-lich zum Christophor. Das ist eben eingetreten im Laufe der Entwickelung
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der Erde, daß der Mensch die Möglichkeit verloren hat, in sich selber jene Wesenheit zu suchen, die dann zum Licht der Welt-wesenheit wurde. Heute findet der Mensch einen Hohlraum in sich, wenn er auf dieselbe Weise sucht.
Aber im Weltengang ist es auch nicht bedeutungslos, wenn man etwas verliert: Man wird dadurch ein anderer. Man trägt - wenn ich das weiter ausdehne, was ich eben besprochen habe - sich als Mensch durch die Welt mit jenem Hohlraum. Das gibt einem aber wiederum besondere Fähigkeiten. Und so wahr es ist, daß gewisse alte Fähig¬keiten verlorengegangen sind, so wahr ist es aber auch, daß gerade durch den Verlust jener Fähigkeiten neue erworben worden sind, die nun wiederum so ausgebildet werden können wie die alten Fähig¬keiten im alten Sinne. Das heißt mit andern Worten: Der Weg, der gemacht worden ist durch das Tor des Menschen bis zum Tor des Todes, der muß heute in anderer Weise gemacht werden. Das hängt zusammen mit dem, was ich gesagt habe: Die Geister der Persön¬lichkeit nehmen einen neuen Charakter an. Mit diesem neuen Charak¬ter der Geister der Persönlichkeit hängt im wesentlichen zusammen die neue Initiation.
Es wurde gewissermaßen zuerst eine Pause gemacht in der Mensch¬heitsentwickelung mit der Initiation. Im 19. Jahrhundert namentlich war der Mensch weit von ihr weggerückt. Erst mit dem Ende des 19. Jahrhunderts kam wiederum die Möglichkeit des Nahegerückt¬werdens der wirklichen lebendigen Initiation. Und diese wirkliche lebendige Initiation bereitet sich vor, aber sie wird in einer ganz andern Weise verlaufen, als jene frühere verlaufen ist, die ich heute -um Ihnen eine Vorbereitung zu geben zum tieferen Verständnis des Christentums - von einem gewissen Gesichtspunkte aus geschildert habe. Dasjenige, was damals ganz vergeblich war: in der sich aus¬breitenden äußeren Welt irgend etwas Wesenhaftes zu suchen, das wird gerade dadutch möglich, daß wir innerlich so hohl werden. Und das wird immer mehr eintreten und ist bis zu einem gewissen Grade heute schon möglich und kann heute schon erreicht werden durch solche Erkenntniswege, die geschildert werden in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Dasjenige, was heute zu erlangen
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möglich ist, das ist, in einer gewissen Weise mit denselben Seelenfähigkeiten, wenn man sie nur richtig anwendet, mit denen man in die äußere Welt hineinsieht, tiefer in diese äußere Welt hinein-zuschauen. Die Naturwissenschaft tut das nicht, sie will nur bis zu Gesetzen vordringen, sogenannten Naturgesetzen. Diese Natur¬gesetze sind ja Abstraktionen. Und wenn Sie sich ein bißchen bekannt¬machen mit der gebräuchlichen Literatur, die den naturwissenschaft¬lichen Begriffen so ein Philosophenmänteichen umhängt - ich könnte auch sagen, ein Philosophenhütchen aufsetzt -, dann werden Sie sehen, daß diese Leute, die da heute über diese Dinge reden, nicht wissen, wie sie über die Beziehungen der Naturgesetze zu der Realität, zu der Wirklichkeit denken sollen. Da kommt man bis zu den Natur¬gesetzen, aber die bleiben abstrakte Begriffe, abstrakte Ideen. Solch eine Persönlichkeit wie Goethe sucht über die Naturgesetze hinaus¬zudringen. Und das ist das Bemerkenswerte an Goethe und an dem Goetheanismus, das, was so wenig verstanden wird: Goethe suchte über die Naturgesetze hinauszudringen zu der Naturgestalturig, zu den Formen. Daher begründete er gerade eine Morphologie im höhe¬ren Sinne, eine spirituelle Morphologie. Er versuchte nicht das fest¬zuhalten, was die äußeren Sinne geben, sondern das Sich-Formende, dasjenige, was die äußeren Sinne nicht geben, was sich aber versteckt in den Formen. So daß wir heute wirklich von etwas Parallelem sprechen können zum Tor des Menschen: Wir können sprechen vom «Tor der Naturformen». Ich möchte sagen, die Morgenröte wär schon gegeben, aber in einer etwas noch dunklen Art, als aus der chaotisch mittelalterlichen Mystik heraus solch ein Mann wie Jakob Böhme, wenn auch in seiner Sprache, von den sieben Naturformen sprach. Aber es ist eben nicht sehr deutlich und nicht sehr umfassend bei Jakob Böhme. Dasjenige aber, wozu die moderne Initiation immer mehr kommen muß, das sind diese Formen, die sich in den äußeren Sinnesformen als über das Räumlich-Zeitliche hinausgehend zeigen.
Ich habe öfters aufmerksam gemacht auf jenes berühmte Gespräch zwischen Goethe und Schiller, als beide von einem Vortrag des Natur-forschers Batsch herauskamen. Da sagte Schiller zu Goethe, daß das eine sehr zerstückelte Art wäre, die Welt zu betrachten, die Batsch
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sich geleistet habe. Nun, so zerstückelt wie die heutigen Naturforscher das tun, war das damals noch lange nicht, aber Schiller empfand das doch als sehr trocken. Und Goethe sagte, man könne wohl auch eine andere Naturbetrachtung anwenden. Und er zeichnete seine Pflanzen¬metamorphose, die Urpflanze, mit ein paar charakteristischen Strichen. Da sagte Schiller, der das nicht erfassen konnte: Das ist keine Erfah¬rung - er meinte, nichts was in der äußeren Welt ist -, das ist eine Idee. - Schiller blieb bei der Abstraktion. Goethe sagte darauf: Wenn das eine Idee ist, kann es mir recht sein, dann sehe ich meine Ideen mit Augen. - Er meinte, für ihn ist das nicht eine Idee, die man sich nur innerlich bildet, sondern für ihn ist das, was er da aufzeichnete, ob¬wohl es nicht wie etwa Farben mit Augen gesehen werden kann, doch da. Das ist wirkliche Gestaltung, übersinnliche Gestaltung in den Sinnen. Goethe hat das gewiß nicht seht weit ausgebildet. Ich habe Ihnen in Betrachtungen, die wir angestellt haben, gesagt: In gerader Fortsetzung von dieser Goetheschen Pflanzen- und Tierwelt-metamorphose, die Goethe nur in elementarer Weise ausgebildet hat, liegt die wahre Durchdringung der wiederholten Erdenleben. Goethe betrachtet das farbige Blütenblatt als umgewandeltes Pflanzenblatt, er betrachtet den Schädelknochen als umgewandelten Rückenwirbel¬knochen. Es war ein Anfang. Wenn man nach derselben Betrach¬tungsweise ihn fortsetzt, kommt man nur bis zu den Formen, aber eben bis an das Tor der Naturformen, kommt zu imaginativer Ein¬sicht in diese Naturformen. Und da kommt man dazu, wirklich nicht bloß auf die Schädelknochen hinzusehen, die umgewandelte Wirbel¬knochen sind, sondern auf den ganzen menschlichen Schädel. Man kommt darauf, daß dieser ganze menschliche Kopf die umgewandelte Menschengestalt ist aus dem vorherigen Leben, nur kopflos gedacht. Das, was Sie heute an sich tragen außer dem Kopf, der übrige Körper, geht natürlich seiner Materie nach in die Erde über; aber das Über¬sinnliche der Formen, das geht durch das Leben zwischen Tod und neuer Geburt, und das ist Kopf der nächsten Inkarnation. Da haben wir die Metamorphose in ihrer höchsten Ausbildung beim Menschen. Sie dürfen nur auf den Schein nichts geben. Sie können natürlich sagen: Wir senken den Menschen in die Erde ein oder wir verbrennen
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ihn, wie soll sich denn da der Körper umwandein zum Kopf? - Nun, das ist eben das Rechnen mit dem Scheine im heutigen Sinn. Da müssen Sie schon, wenn Sie diesen Schein kultivieren wollen, bei denen bleiben, die aufmerksam machen auf die Shakespeare-Stelle, wo Hamiet aus Verzweiflung sagt, daß irgendwo in einem beliebigen Staube der irdische Menschenstaub vorhanden sei von Jullus Cäsar, vielleicht in irgendeinem Hunde seien die Überreste, die Atome, die einstmals den römischen Cäsar gebildet haben.
Nun, diese Leute gehen eben nicht dem Wege nach, den zum Bei-spiel auch der physische Organismus nimmt, gleichgültig ob er in die Erde gelegt oder verbrannt wird. Da findet schon diese Metamor¬phose statt. Es ist so, daß nur das Haupt, der Kopf abglimmt, von der Erde verschwindet, denn er geht ins Weltenall hinaus; dasjenige aber, was für die jetzige Inkarnation Ihr Leib ist, außer dem Kopfe, das verwandelt sich, und Sie finden es als Kopf - Sie können dem gar nicht entkommen - in Ihrer nächsten Inkarnation. An Materie brau¬chen Sie gar nicht zu denken. Sie haben auch jetzt nicht dieselbe Materie, die Sie vor sieben Jahren in sich getragen haben. Sie brauchen nur an die sich verwandelnde, an die verwandelte Form zu denken. Es ist ebenso eine erste Stufe, wie das Tor des Menschen im alten Sinne eine erste Stufe war: es ist das Tor der Formen. Und indem man erfaßt hat lebendig dieses Tor der Formen, kannman eintreten in das «Tor des Lebens», wo man es nicht mehr mit Formen zu tun hat, sondern mit Lebensstufen, mit Lebenselementen. Das würde dem¬jenigen entsprechen, was ich vorhin bei der alten ägyptischen Königs-einweihung charakterisiert habe als den zweiten Grad. Und das Dritte ist gleichbedeutend mit dem Eintreten in das Tor des Todes: es ist die Initiation in die verschiedenen Bewußtseine. Der Mensch kennt ja zwischen Geburt und Tod nur das eine Bewußtsein; doch dieses ist nur eines unter zunächst sieben. Aber mit diesen verschiedenen Bewußtseinen muß man rechnen, wenn man die Welt überhaupt ver¬stehen will.
Bedenken Sie doch nur, daß Sie die Skizze haben von diesen drei aufeinanderfolgenden Dingen in meiner « Geheimwissenschaft im Um¬riß». Ich habe sie für die Weltentwickelung gegeben. Sie haben da die
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verschiedenen Bewußtseinsformen Saturn, Sonne, Mond, Erde und so weiter, die sieben Bewußtseinsformen. Der Mensch geht in jeder dieser Stufen, von denen eine die Erde ist, durch ein Bewußtsein hin-durch. Er absolviert sieben verschiedene Bewußtseinsstufen, auf jeder dieser Bewußtseinsstufen, also Saturn, Sonne und so weiter, sieben Lebensstufen und in jeder Lebensstufe sieben Stufen der Form. Das, was wir beschreiben in unseren Kulturstufen als altindische; alt-persische, ägyptisch-chaldäische, griechlsch4ateinische Stufe, unsere jetzige, das sind auch Formen. Da leben wir im Tor der Formen. Das entspricht dem Tor des Menschen, wenn wir von diesen Kultur-formen sprechen, und wir können uns aus der Welt der Formen heraus Vorstellungen bilden über diese Kulturen, die aufeinanderfolgen. Es sind sieben in jeder Lebensstufe. Wenn wir aber von Lebensstufen sprechen, sprechen wir von den sieben aufeinanderfolgenden Stufen, wovon zum Beispiel unsere nachatlantische Zeit eine ist, mit der urpersischen, urindischen und so weiter zusammen bis zur siebenten. Wir stehen jetzt in der fünften Lebensstufe, das ist dann eine Lebens-stufe, die atlantische auch eine, die lemurische auch eine Lebensstufe. Und diese sieben Lebensstufen sind da, damit der Mensch das Be-wußtsein, das er heute hat, erlangen konnte. Dieses Bewußtsein aber ist herausentwickelt aus dem alten Mondenbewußtsein, dieses aus dem alten Sonnenbewußtsein. Aus jeder dieser Planetenverkörperungen nimmt der Mensch eine solche Bewußtseinsform an. Seine zunächst vollkommenste wird er während der Vulkanentwickelung erlangen.
Da sehen Sie, wie durch die drei aufeinanderfolgenden Geheim¬nisse der Grade der Mensch einen Überblick bekommt über den Kos¬mos. Und dann kann er aus dieser Welterkenntnis heraus wiederum Menschenerkenntnis gewinnen. Aus dieser Welterkenntnis heraus ge¬winnt man nun die Möglichkeit, dem Mysterium von Golgatha auch Verständnis entgegenzubringen.
Wir haben erst heute einige Skizzen, möchte ich sagen, in bezug auf dieses Verständnis in uns aufgenommen. Aber wir haben doch immer¬hin begreifen können, warum zum Beispiel das Mysterium von Gol¬gatha in die vierte nachatlantische Kulturform der fünften Lebens-periode, der nachatlantischen Lebensperiode, hineinfällt, warum es
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auf der Erde sich zugetragen hat. Wenn Sie in dem letzten Leipziger Zyklus nachlesen, werden Sie sehen, wie sich vorbereitet hat auf dieser Erde dieses Mysterium von Golgatha. Aber alles dasjenige, was zum Verständnis dieses Mysteriums von Golgatha notwendig ist, das er¬gibt sich aus den Prinzipien der neuen Initiation heraus. So daß die alte Initiation eben im wesentlichen von der Menschenerkeunmis zur Welterkenntnis ging, die neue von der Welterkenntnis zurückgeht zur Menschenerkenntnis.
Aber das ist vom Initiationsstandpunkt aus charakterisiert. Da stehen Sie gewissermaßen auf der einen Seite; auf der andern Seite zeigt sich Ihnen das Spiegelbild davon. Sie müssen, um diese Welt-erkenntnis zu erlangen, eben von einer neuen Menschenerkenntnis erst ausgehen. Und von dieser habe ich neulich gesprochen. Von die¬ser muß man völlig anders sprechen für die alte und wiederum für die neue Zeit. Die alte Zeit kam durch ihre Menschenerkennmis zu einem Ergebnis, das eben Welterkenntnis war. Theoretisch gesprochen, könnte man sagen: Der Mensch machte etwas als Lebensprozeß durch, und dann, wenn er fertig war, war das Welterkenntnis; er ging dadurch in seinem Bewußtsein von der Welterkenntnis aus und konnte dann wiederum auf den Menschen zurückschließen. Heute, wenn Sie von dieser Welterkenntnis durch Form, Leben und Bewußtsein aus¬gehen, erlangen Sie eigentlich dadurch - sehen Sie es in meiner «Geheimwissenschaft» an - im wesentlichen Menschenerkenntnis. Es verschwindet eigentlich alles übrige in der Naturerkenntnis: der Mensch wird einem verständlich. Und ebenso wird einem, wie ich Ihnen gezeigt habe, der Mensch erst verständlich als dreigliedriges Wesen - als Sinnes-Nervenwesen, als rhythmisches Wesen, als Stoff¬wechselwesen - dadurch, daß man diese Welterkenntnis erwirbt. Und von dem Menschen aus kann man dann wiederum zur Welterkenntnis übergehen.
Das sind keine Widersprüche. Solches werden Sie auf Schritt und Tritt finden, wenn Sie in die Wahrheitswelt eintreten wollen. Wollen Sie eine Dogmatik, dann können Sie nach solchen Widersprüchen nicht gehen, denn sie sind Ihnen unbequem. Wenn Sie eine Dogmatik wollen, können Sie diese da oder dort finden, aber diese Dogmatik
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wird niemals Verständnis der Wirklichkeit geben, sondern nur etwas, worauf Sie schwören können, wenn Sie wollen. Wollen Sie die Wirk¬lichkeit erkennen, so müssen Sie sich eben klar sein, daß diese Wirk¬lichkeit von verschiedenen Seiten aus dargestellt werden muß. Dem Leben nach mußte der alte Mensch von der Welt zum Menschen gehen, der neue Mensch vom Menschen zur Welt; der Erkenntnis nach ging der alte Mensch vom Menschen zur Welt, der neue Mensch von der Welt zum Menschen. Das ist dasjenige, was notwendig ist. Das ist wiederum für den modernen Menschen etwas Unbequemes, aber ein jegliches muß heute den Durchgang gewinnen durch das, was das Schwanken ist, durch jene Unsicherheit! Bedenken Sie nur, in dem zweiten Grade der ägyptischen Königseinweihung kam der Mensch in das Schwanken hinein, in die Drehung. Heute muß der Mensch, wenn er wirklich durch die Formen hineinstrebt in das Leben, sich in jene Möglichkeit versetzen lassen, wo er sich sagt: Und wenn ich mir noch so schöne Begriffe durch dieses oder jenes hergebrachte Bekenntnis geben lasse, diese Begriffe mögen alle recht schön sein, aber ich komme doch durch sie nicht an die Wirklichkeit heran, wenn ich nicht auch den entgegengesetzten Begriff mir hinstellen kann.
Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß das Mysterium von Golgatha selbst notwendig macht, die beiden entgegengesetzten Be-griffe zu haben, indem Sie sich sagen: Ganz gewiß war es eine schlechte Tat, wenn Menschen den Gott, der in einem Menschen ver¬körpert ist, morden. Aber ganz gewiß war diese Tat der Ausgangs¬punkt des Christentums. Denn, wäre der Mord auf Golgatha nicht geschehen, so gäbe es das Christentum seiner Realität nach nicht. Dieses Paradoxon einer übersinnlichen Tatsache gegenüber kann ein Musterbeispiel sein für manche Paradoxa, mit denen Sie sich abfinden müssen, wenn Sie wirklich hinüberkommen wollen in das Begreifen der übersinnlichen Welt, denn ohne das läßt sich nicht hinüberkom-men. Früher brauchte man die Furcht, heute braucht man das Über¬schreiten jenes Abgrundes, der dem Menschen vorkommt wie das Stehen ohne einen Schwerpunkt im Weltenall. Aber durch das muß durchgegangen werden, damit nicht mehr auf Begriffe geschworen wird, sondern damit Begriffe als etwas angesehen werden, was die
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Dinge von verschiedenen Seiten beleuchtet, wie die Bilder, die man von einem Baum aufnimmt, der von verschiedenen Seiten beleuchtet wird. Der Dogmatiker, der Naturforscher und der Theologe, sie glauben, mit irgendwelchen Dogmen die ganze Realität zu erfassen. Der in der Wirklichkeit Stehende weiß, daß jede Aussage solcher Art sich vergleichen läßt mit einer Photographie, die von einer Seite auf¬genommen ist und die nur einen Aspekt der Wirklichkeit gibt; daß man mindestens den entgegengesetzten Aspekt noch haben muß, um durch das Zusammenschauen der beiden Aspekte sich der Wirklich¬keit des Gegenstandes zu nähern. Davon dann morgen weiter.
FÜNFTER VORTRAG Dornach, 28. Dezember 1918
#G187-1967-SE092 - Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?
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FÜNFTER VORTRAG
Dornach, 28. Dezember 1918
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In den Betrachtungen dieser Tage wollte ich vor allen Dingen klar-machen, daß für den, der mit geisteswissenschaftllcher Gesinnung genauer auf die Entwickelung der Menschheit hinschaut, auch in historischer Zeit - denn im wesentlichen haben wir in diesen Tagen historische Zeiten betrachtet -, die Tatsache sich enthüllt, daß die ganze menschliche Seelenverfassung, die Auffassungsweise, die Welt-anschauung, die Handlungsimpulse, alles, was zur menschlichen Seelenverfassung gehört, sich wandelt, so umwandelt, daß eine Ahnung von dieser Umwandiung in der äußeren Wissenschaft gar nicht entstehen kann, die eben durchaus auf diesem Gebiete nur mit unzulänglichen Mitteln arbeitet. Wir haben gestern versucht zu zei¬gen, wie namentlich das, was man das Zentrum des menschlichen Seelenlebens nennen kann, das eigentliche Ich-Bewußtsein, vor einer intimeren Betrachtung sich ganz anders zeigt in älteren Zeiten als in neueren Zeiten, in unserer Gegenwart. Und ich habe versucht, diesen Unterschied dadurch zu charakterisieren, daß ich sagte: Für ältere Zeiten, namentlich also für vorchristliche Zeiten, haben wir es mit einem Selbstbewußtsein beim Menschen zu tun, welches noch reale Elemente in sich enthält, Wirklichkeitselemente, während in diesem unserem Zeitraum, der im wesentlichen die Entwickelung der Be¬wußtseinsseele darstellt, wir es bei dem, was der Mensch bewußt sein Ich nennt, nur zu tun haben mit einem Spiegelbilde des wahren Ich. In öffentlichen Vorträgen habe ich auf dieselben Tatsachen dadurch hingewiesen, daß ich sagte: Der Mensch kommt heute, insbesondere wenn er Philosoph sein will, nicht auf die Wahrheit, weil er beirrt ist durch einen philosophischen Satz, der eine groBe und heute schon verhängnisvoll werdende Rolle in der Weltbetrachtung spielt, durch den Satz: Ich denke, also bin ich. - Wahr ist nicht dieser Augustinisch¬Descartische Satz, sondern wahr ist für den heutigen Menschen der Satz: Jch denke, also bin ich nicht! - Dasjenige, was vor allen Dingen dem heutigen Menschen zum Bewußtsein kommen muß, das ist, daß
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er in dem, was er zusammenfaßt mit dem Worte «Ich» oder «Ich bin», in dem, was er im Bewußtsein hält, wenn er auf sich selbst innerlich seelisch blicken will, nur ein Spiegelbild hat, ein Spiegelbild, das auch in sich schließt alle unsere unmittelbar mit unserem Ich zu¬sammenhängenden, von unserem Ich zu bearbeitenden Begriffe. So daß wir in unserem Seelenieben als gegenwärtige Menschen nicht mehr irgendwie etwas Wirkliches tragen - das spielt nur herein; ich habe gestern angeführt, wodurch es hereinspielt -, sondern in uns das Spiegelbild unserer wahren Wesenheit tragen. Diese Tatsache kann sich nur zeigen, wenn man auf die Initiationswissenschaft ein¬geht, wenn man den Unterschied ins Auge faßt, wie man auf den Wegen übersinnlicher Schulung in die übersinnliche Welt eindringen konnte in alten Zeiten, wie man einzudringen hat in dieser unserer Zeit, und daß die Wege in die übersinnlichen Welten ganz andere werden, indem wir uns von der Gegenwart aus in die Zukunft be¬wegen, als sie in alten Zeiten waren. Das wollte ich gestern vor allen Dingen klarmachen.
Nun habe ich vor einiger Zeit auf die objektive Tatsache hin-gewiesen, die diesem ganzen Werden zugrunde liegt, hingewiesen dar¬auf, daß innerhalb der Menschheitsentwickelung, wenn man sich fragte: Welche Impulse, welche Kräfte sind im Werden der Erde tätig? - verfolgt werden konnten diejenigen göttlich-geistigen Wesen¬heiten - man könnte ebensogut von irgend etwas anderem her die Bezeichnung wählen -, welche die Bibel die Schöpfer, Elohim nennt. Wir nennen sie die Geister der Form. Aber ich habe von den ver¬schiedensten Gesichtspunkten aus darauf hingewiesen, daß diese Gei¬ster der Form - wenn man den Ausdruck brauchen darf, trotzdem er etwas trivial klingt - ihre Rolle bis zu einem gewissen Grade für die wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit eigentlich ausgespielt haben, und daß andere geistige Wesenheiten eintreten in die Rolle der Schöpfer.
Wer genügende Empfindung haben kann für diese der übersinn-lichen Forschung zugängliche Tatsache, daß gewissermaßen die alt-verehrten Götter oder der Gott abgelöst werden müssen für das menschliche Bewußtsein durch andere Impulse, der wird sich sagen:
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Mancherlei hat sich gewiß zugetragen innerhalb der Menschheits-entwickelung auch in historischen Zeiten. Eine solche innere Um-wandlung des ganzen menschlichen Bewußtseins, wie die ist, in der wir stehen und die sich immer mehr und mehr zeigen wird, die war in historischen Zeiten gewiß noch nicht da. Sie wissen, ich bin ab-geneigt, mitzumachen die immer wiederholte Phrase: Wir leben in einer Übergangszeit. - Denn ich habe Ihnen oft gesagt, jedermann kann in jeder Zeit sagen, wir leben in einer Übergangszeit, und kann, wenn er Geschmack dafür hat, den Übergang, den er meint, als den allerwichtigsten der Weltentwickelung betrachten. Das ist hier nicht gemeint, wenn ich so sprach, wie ich gesprochen habe. Jede Zeit ist wirklich eine Übergangszeit, es kommt nur darauf an, was übergeht, was in einer Umwandlung begriffen ist. Für andere Gesichtspunkte mögen andere Umwandlungen bedeutungsvoller sein, für das innere Seelenleben des Menschen ist die Umwandlung, auf die ich hier hin-deute, gegen die nächste Zukunft zu die bedeutungsschwerste in histo¬rischen Zeiten.
Nun wollen wir sie heute von einem etwas andern Gesichtspunkte aus noch betrachten, als wir das gestern und in den verflossenen Tagen getan haben. Wenn wir die Seelenverfassung des alten Grie-chentums, des alten Ägyptertums, der alten chaldäischen Zeit ge-nauer ins Auge fassen, dann zeigt sich, daß diese Seelenverfassung vor allen Dingen nicht eine solche Zweigliederung zeigte wie die Seelen-verfassung des heutigen Menschen. Man kann vielleicht besser sagen: eine Zweigliederung ist heute im Menschen in Vorbereitung, aber sie ist stark in Vorbereitung und drückt sich auch äußerlich in objektiven Tatsachen aus. Dasjenige, was früher sozusagen mehr zusammen-gerührte Seelenkräfte waren, was in der menschlichen Seele mehr als Einheit wirkte, das hat sich gespalten, namentlich seit dem 15. Jahr¬hundert. Für den genauen Betrachter der Menschheitsentwickelung ist das ganz klar. Das Vorstellungs- und das Willensleben waren in früheren Zeiten viel enger miteinander verbunden als heute, und sie werden sich immer mehr und mehr spalten. Und das Vorstellungs¬leben, das wir einzig und allein mit dem Bewußtsein heute erfassen können - mit dem gewöhnlichen, nicht mit dem heliseherischen Bewußtsein -,
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das ist eben nur ein Spiegelbild der Wirklichkeit, das bietet ein bloßes Spiegelbild einer Wirklichkeit, und darin ist auch dasjenige, was der Mensch von seinem Ich erfaßt, zunächst enthalten. Dagegen erlebt der Mensch sein Willensleben wie im Schlafe. Was eigentlich im Willen pulsiert, das ist für den Menschen so unbewußt, wie die Tatsachen des Schlafes für ihn unbewußt sind. Aber so, wie der Mensch weiß, daß er geschlafen hat, trotzdem er während des Schlafes nichts von sich weiß, so weiß er auch mit dem gewöhnlichen Bewußtsein vom Willen, trotzdem er eigentlich alles Gewollte ver¬schläft. Nicht wahr, wenn Sie irgendwo eine weiße Fläche haben, die Licht zurückstrahit, und darin schwarze Flecken, die kein Licht zurückstrahlen, so sehen Sie auch die schwarzen Flecken, trotzdem dort nichts ist von Licht. Und so, wenn Sie Ihr Leben verfolgen im Rückblick, nehmen Sie nicht nur wahr, wie Sie wach waren, sondern Sie wissen auch, daß sich wie schwarze Flecken in den Lebenslauf hineinstellen die Schlafzustände. Deshalb ist es doch richtig, daß Sie im Schlafe von sich nichts wissen, aber beim Überblick über die ganze Bewußtseinsfläche, möchte ich sagen, stellen sich die Schlafzustände als schwarze Flecken hinein. Der Mensch täuscht sich, wenn er glaubt, daß er von seinem Willen etwas anderes weiß, als was er vom Schlaf weiß. Man weiß im Bewußtsein vom Vorstellungsleben, und hinein in das Vorstellungsleben schieben sich schwarze Flecken: das sind die Willensimpulse. Aber der Mensch erlebt die Willensimpulse so wenig, wie er die Schlafzustände erlebt.
Nun war für das ältere, das vorchristliche Bewußtsein, die Dunkel-heit des Willens nicht so groß, wie sie heute ist. Der Mensch schlief mit Bezug auf seinen Willen nicht so stark; der instinktive Wille wirkte, er war durchleuchtet vom Vorstellungsleben. Die Vorstellun¬gen waren dadurch nicht solche bloße Spiegelbilder, wie sie heute sind. Heute sind sie Spiegelbilder. So daß der Mensch auf einer Seite das Vorstellungsleben hat, das eigentlich Spiegelbild der Wirklichkeit ist, und eine Art durch das bewußte Leben hindurchgehenden Schlaf-zustands: das Willensleben.
Ich sagte, es drückt sich auch im Objektiven das aus, was in der Seelenverfassung des Menschen so enthalten ist, wie ich es angedeutet
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habe. Nehmen wir zwei extreme Erscheinungen, die ja nur, ich möchte sagen, wie Pole sind. Ähnlich diesen polarischen Erschei-nungen stellt sich das übrige Menschenieben, insoweit es von menschlicher Seelenverfassung beeinflußt ist, dar. Die eine polarische Erscheinung sind heute jene Anschauungen, die sich ausbilden namentlich in den sogenannten Geheimgeselischaften der englisch sprechenden Bevölkerung. Was die andern Bevölkerungen der Erde an Geheimgesellschaften haben, freimaurerische oder ähnliche, das ist alles abhängig von der ursprünglichen Begründung dieser Gesellschaften innerhalb der englisch sprechenden Bevölkerung. Das ist die eine pola¬rische Erscheinung. Die andere polarische Erscheinung ist dasjenige, was sich in der sogenannten christlichen Kirche ausdrückt, insofern diese sogenannte christliche Kirche Rituales und Dogmatisches hat.
Das sind die beiden Extreme, die polarischen Erscheinungen. Aber ähnlich sind andere Erscheinungen, zum Beispiel ist ähnlich den Ge-heimgesellschafts-Anschauungen der englisch sprechenden Bevölke¬rung alles, was wir moderne Wissenschaft nennen. Dessen ist sich nur die Menschheit wenig bewußt, daß das, was moderne Wissen¬schaft ist, wesentlich ähnlich ist - ich sage nicht beeinflußt, aber ähn¬lich, denn die Dinge entwickeln sich aus verschiedenen Wurzeln her¬aus, und die Bäume werden dann ähnlich -, den Anschauungen, die in den Geheimgesellschaften der englisch sprechenden Bevölkerung leben. Ebenso ist es mit vielem in den populären Weltanschauungen. Heute streben ähnlich viele derjenigen Menschen, die nicht nach irgendwelchen wissenschaftlichen Weltanschauungen ihr Denken richten. Von den wissenschaftlichen Anschauungen ist nur die Philo¬sophie, innerlich gesehen, heute noch sehr abhängig von der An¬schauung der katholischen Kirche. Selbst die Gliederung des Men¬schen in Leib und Seele - ich habe das oft gesagt -, die heute die Philosophen für vorurteilslose Wissenschaft halten, ist nichts anderes als das Ergebnis des achten ökumenischen Konzils von Konstanti¬nopel, so daß «vorurteilslose» Philosophie eigentlich nichts anderes ist als die weitere Ausführung eines Konzilsbeschlusses. Für den¬jenigen, der die Dinge nicht so ansieht, wie sie von den Universitäten den Menschen heute vorgemalt werden, sondern der sich auf die Tatsachen
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wirklich einläßt, ist Philosophie, gerade insofern sie diesen Dualismus von Leib und Seele ausbildet, insofern sie nicht baut auf die wirklich der Tatsache entsprechende Gliederung des Menschen in Leib, Seele und Geist - der Geist ist ja abgeschafft worden von der katholischen Kirche auf dem genannten Konzil -, nichts anderes als ein abstrakter Aberglaube, der sich auf dieses Konzil stützt, unbewußt natürlich. Nun können Sie diese beiden polarischen Erscheinungen abgeschwächt finden. Wie in der gemäßigten Zone die Nordpolkälte abgeschwächt ist, ein Stück nordwärts oder südwärts vom Äquator das Aquatpriale und in Australien der Südpol abgeschwächt ist, so können Sie das in der Wissenschaft, in der populären Weltanschauung abgeschwächt finden. Aber man kann, wenn man die Extreme ins Auge faßt, sich die Dinge gerade besonders klarmachen. Die Geheim¬gesellschafts-Anschauung der englisch sprechenden Bevölkerung rechnet eben ganz besonders, indem sie zu dem aufschaut, was sie dem ganzen Weltgeschehen als zugrunde liegend betrachtet, mit dem so¬genannten Architekten der Welten, dem großen Baumeister der Wel¬ten. Sie versinnlichen sich durch allerlei Symbole, durch allerlei Riten die Art und Weise, wie die großen Architekten aller Welten innerhalb des Weltgeschehens wirken. Man erkennt nur nicht, wie in der moder¬nen Wissenschaft diese Anschauung weiter spukt. Sie spukt aber wei¬ter. Das ist eine Anschauung, welche ganz dahin tendiert, das bloße Spiegelbild der Welt ins Auge zu fassen, dasjenige, was nur Spiegelung einer Wirklichkeit ist.
Da haben Sie also das eine Extrem, das nur rechnet mit den Spiege-lungen der Wirklichkeit, das im Grunde genommen, wenn es dogma¬tische Weltanschauung wird, ganz außerhalb der Wirklichkeit lebt. Daher auch kann so viel Unfug getrieben werden mit diesen Dingen; daher können sehr ernst gemeinte oder ernst ausposaunte Riten und Symbole zur Maskerade oder zu einer bloßen Renommisterei werden. Man hat es eben zu tun mit dem, was zwar im Bewußtsein des Men¬schen diesem Menschen heute wohltut; es ist ihm Sensation, weil es gerade mit dem heutigen Bewußtsein rechnet, mit demjenigen Be¬wußtsein, das eben Spiegelbild ist der Wirklichkeit, das Spiegelbild der Wirklichkeit enthält.
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Das andere Extrem ist dasjenige, was die Kirche bietet. Es unter-scheidet sich wirklich radikal von dem, was der Weltanschauungsnerv dieser Geheimgesellschafts-Anschauung ist. Was die christliche Kirche bietet, das rechnet mit dem andern Pol, mit dem Willenspol, mit den¬jenigen Impulsen im Menschen, die nur wie der Schlaf in der Nacht hereinkommen in das Bewußtsein, das rechnet zwar mit einer Wirk¬lichkeit, aber mit einer Wirklichkeit, die verschlafen wird. Daher auch die eigentümliche Entwickelung dieser christlichen Kirchen. Die eigentümliche Entwickelung dieser christlichen Kirchen besteht dar¬innen, daß sie allmählich die ganz anders gearteten Begriffe alter Zeiten aufgelöst haben in den sogenannten Glaubensbegriff. Und wer weiß, wie sich die Bekenner fast aller christlichen Anschauungen immer wieder von dem Wissen abwenden und zu dem Glauben hinwenden, der wird in diesem Glaubensbegriff, in dieser Glaubensvorstellung etwas fühlen vom Schlaf. Daher die Sehnsucht, ja sich nicht mit dem klaren Bewußtsein durchleuchten zu lassen dasjenige, was da aus sol¬chen Regionen, in denen auch der Schlaf sich vollzieht, herein will in die menschlichen Seelen. In älteren Jahrhunderten ist daher dasjenige, was ich charakterisiert habe als Inhalt der alten Gnosis, abgestumpft worden in den ganz abstrakten Dogmen, die nun nicht begriffen, sondern nur angenommen werden sollen. Und im Protestantismus ist abgeschwächt worden das Wissen zum bloßen Glauben, zu einem bloßen subjektiven Fürwahrhalten, das seine besondere Eigentümlich¬keit darin sieht, eben gerade auf dasjenige zu bauen, was nicht be¬wiesen werden kann, wo die Wissenschaft nicht mitzureden hat und so weiter. Da haben Sie die beiden Extreme, die sich in der mensch¬lichen Seelenverfas sung herausgebildet haben, auf die objektiven Tat¬sachen verteilt.
Nun kann man die Frage aufwerfen: Was liegt eigentlich diesem Spalten des menschlichen Willens- und Vorstellungswesens, der bei¬den Pole, in das Vorstellungsleben, das nur Spiegelbild geworden ist, und in das in die unbewußten Regionen hinuntergedrängte Willens-leben, das verschlafen wird, was liegt denn dem eigentlich zugrunde? Dem liegt zugrunde, daß sich heraufringt im Menschenwerden in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit der Impuls der Freiheit.
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Auch die Freiheit ist ein Entwickelungsprodukt. Die älteren Zeiten waren nicht dazu angetan, innerhalb der Menschheit schon den wirk¬lichen Freiheitsimpuls zu entwickeln.
Die Zeit, in der wir leben, ist eben auf der einen Seite so zu charak-terisieren, wie ich vorher getan habe: Die Geister der Persönlichkeit treten an die Stelle der Geister der Form. Subjektiv geht einher mit dieser äußeren objektiven Entwickelungstatsache das Herausringen des Freiheitsimpulses aus der menschlichen Seele. Wie auch die Er-eignisse äußerlich sich abspielen mögen, was auch noch alles chaotisch geschehen mag, dasjenige, was da ringt schon in diesem Geschehen in der Gegenwart und der nächsten Zukunft entgegen, das ist, daß der Mensch gerade im Zeitalter der Bewußtseinsseele, in dem wir seit dem 15. Jahrhundert drinnen leben, sich zum Darleben des Freiheits¬impulses durchringt. Verständnis des Freiheitsimpulses, das ist das¬jenige, was gesucht wird von der modernen Menschheit und immer mehr gesucht werden wird.
Aber diese Freiheit, sie kann nur als ein Impuls sich aus der mensch¬lichen Seele herausringen, wenn diese menschliche Seele dazu die Möglichkeit hat. In älteren Zeiten war die Freiheit in ihrem vollen Umfange nicht möglich aus dem einfachen Grunde, weil vor dem Zeitalter der Bewußtseinsseele in jeder Beziehung das Instinktive im Menschen gewirkt hat. Wenn der Mensch in sein Bewußtsein nur das¬jenige aufnehmen kann, was im Grunde genommen zwar aus einer Wirklichkeit, aber einer instinktiv bewußten Wirklichkeit, in sein Be¬wußtsein heraufspielt, kann er nicht frei sein. Die Naturwissenschaft rechnet heute noch immer mit der Unfreiheit, mit der innerlichen Notwendigkeit, weil sie diese Tatsache nicht kennt, daß in unserem Bewußtsein, wie es sich heute entwickelt, in dem Bewußtsein, das wir gerade durch die Naturwissenschaft ausbilden können - die natur-wissenschaftlichen Begriffe zeigen dieses Spiegelbildbewußtsein sogar im stärksten Maße -, keine realen Impulse leben; da lebt nichts, was etwa nur heraufstößt aus unserer eigenen körperlichen oder seelischen oder geistigen Realität. In unserem Bewußtsein, besonders wenn wir rein ausbilden das, was ich in meiner «Philosophie der Freiheit» ge¬nannt habe das reine Denken, da lebt im Spiegelbild allerdings die
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Wirklichkeit, aber eben ün Spiegelbild. Sobald Sie in einer Wirklich-keit drinnenstehen, sind Sie durch die Wirklichkeit bedrängt, denn die Wirklichkeit ist etwas, und wenn sie noch so schwach auf Sie wirkt, sie ist ein Element der Notwendigkeit, sie bedrängt Sie, Sie müssen ihr folgen. Wenn aber ein Spiegelbild auf Ihre Seele wirkt: ein Spiegel¬bild enthält keine Aktivität, enthält nichts von Kraft. Ein Spiegelbild ist eben ein bloßes Bild, das drängt die Seele nicht, das zwingt die Seele nicht. In dem Zeitalter, in dem das Bewußtsein dahin tendiert, Spiegelbilder zu haben, in dem Zeitalter kann sich zugleich der Impuls der Freiheit ausbilden. Durch alles übrige würde der Mensch ge¬drängt, etwas zu tun. Wenn er in solchen bewußten Vorstellungen lebt, die Bilder sind und nur Bilder sind, die nur eine Wirklichkeit abspiegeln, nicht eine Wirklichkeit sind, kann ihn keine Wirklichkeit bedrängen. In diesem Zeitalter kann er seinen Impuls der Freiheit aus¬bilden. Das ist die geheimnisvolle Tatsache, die hinter dem Leben der Gegenwart steht. Daß die Menschen dazu gekommen sind, in diesem Zeitalter Materialisten zu werden, hängt damit zusammen, daß die Menschen fühlen: in dem Innenleben, das sie da anschauen, lebt nichts Wirkliches, da leben bloß Bilder. Und das andere wird natürlich nur innerhalb der Sinneswelt gesucht. Das ist wahr, man kann innerhalb des menschlichen Inneren keine Wirklichkeit finden, weder eine geistige noch eine physische; man kann nur Bilder finden. Das war nicht immer so, es ist eben in diesem Zeitalter so. Daher ist unser Zeit-alter geeignet, den Materialismus auszubilden, weil es ein Unsinn ge¬worden ist, zu sagen: Ich denke, also bin ich. - Man müßte sagen: Ich denke, also bin ich nicht! - Das heißt, meine Gedanken sind nur Bilder. Indem ich mich als denkend ergreife, bin ich nicht, sondern ich bin eben nur Bild. Aber dieses Bildsein ist dasjenige, was in mir die Möglichkeit der Freiheitsentwickelung gibt.
Das ist wiederum eine Tatsache, welche sich für denjenigen, der, ich möchte sagen, nach gewissen Leitmotiven das Leben überschaut, ja auch äußerlich durch die Erscheinungen schon offenbart. Gründ¬lich zeigt sich die Wahrheit dieser Tatsache erst dann, wenn man wie-der eingeht auf die Initiationswissenschaft, die wirkliche Geistes-wissenschaft. Da müssen Sie nur die Tatsache ins Auge fassen, daß
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die Menschen eigentlich, insofern sie heute denkerisch oder wissen-schaftlich tätig sind, im Grunde sehr stark von den ererbten Begriffen einer älteren Zeit leben.
Diese Tatsache zeigt sich ganz besonders auffallend wiederum bei der einen polarischen Erscheinung. Nehmen Sie die Geheimgesell-schafts-Anschauungen der englisch sprechenden Bevölkerung, wie sie sich ausgebreitet haben über die übrige Erdenbevölkerung, so werden Sie finden, wie innerhalb dieser Geheimgesellschaften mit einer ge¬wissen Vorliebe das Alte betont wird. Je mehr man betonen kann auf diesem Gebiete, daß irgendein Ritus, irgendein Dogma alt ist, desto mehr - verzeihen Sie den trivialen Ausdruck - leckt man sich die Finger ab vor Wollust. Und wenn jemand irgendwie die Menschen besonders gefangennehmen will mit irgendeiner solchen Geheim-wissenschaft, so kündet er sie mindestens als eine rosenkreuzerische oder gar ägyptische an. Aber alt, irgend etwas Altes muß sie sein. Und das entspricht so ziemlich auch der Tatsache, daß in diesen Gesell¬schaften eigentlich unmittelbar gegenwärtig erarbeitetes Wissen nicht gepflegt wird, möchte ich sagen. Gewiß wird manches auch unmittel¬bar erforscht, wenn auch nach den Regeln alter, antiquierter Geistes¬wissenschaft. Aber gegen so etwas, wie es hier getrieben wird, gegen unmittelbar aus den Impulsen der Gegenwart heraus erarbeitete Geisteswissenschaft, gegen so etwas wendet man sich mit aller Macht von dieser Seite aus. Da ist es also einfach die Tradition dieser extre¬men Erscheinungen. Aber wer diese heutige Naturwissenschaft nicht gedankenlos betrachtet, sondern sie innerlich erfassen kann hinsicht¬lich ihrer Vorstellungsweise, der weiß, daß alle die Begriffe, mit denen die Naturwissenschaft arbeitet, alle Ideen sogar - nicht die einzelnen Naturgesetze, aber die Formen der Naturgesetze -, wenn man den Goetheanismus ausnimmt, der eine ganz neue Erscheinung ist, aber die gebräuchliche, triviale Naturwissenschaft, im Grunde genommen vererbte Begriffe sind. Die Experimente enthalten Neues, die Beobach¬tungen enthalten Neues, die Begriffe sind nirgends neu, die sind vererbt. Aber wenn man nun die eine oder andere dieser Richtungen aufmerksam macht auf die Wirklichkeit, dann werden sie fürchterlich zornig, rich¬tig zornig werden sie. Denn diesen Ursprung werden sie verleugnen.
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Woher rührt denn eigentlich das sich aufgeklärtest dünkende mo-derne Denken her? Es ist nur ein Kind einer alten Religion. Gewiß, die religiösen Vorstellungen hat man abgeworfen, an den Zeus, an den Jahve glauben die Leute nicht mehr - mancher auch nicht an den Christus. Aber die Art, wie gedacht worden ist in den Zeiten, als man an Zeus, an Jahve, an Ormuzd, Osiris geglaubt hat, die Art des menschlichen Denkens ist geblieben. Man wendet sie heute auf Sauer¬stoff, Wasserstoff, auf Elektronen, Ionen oder auf Hertzsche Wellen an - das Objekt macht es nicht aus -: die Art des Denkens ist dieselbe. Erst durch die Geisteswissenschaft kann neues Denken verwendet werden für die übersinnliche Welt und auch für die sinnliche Welt. Und einen elementaren Anfang für die Naturwissenschaft, wie ich öfter erwähnt habe, hat Goethe mit seiner Morphologie gemacht, die deshalb auch bekämpft wird von den antiqulerten Anschauungen. Auch mit seiner Physik hat Goethe einen Anfang gemacht. Aber die Fruchtbarkeit dieses Anfanges wird heute noch wenig eingesehen.
Also man arbeitet mit dem, was geblieben ist. Und das ist auch schließlich begreiflich; denn in einem Zeitalter, wo das Bewußtsein nicht ausgefüllt wird von Wirklichkeitselementen, sondern nur von Spiegelbildern, kann das Bewußtsein selber auch zu keinem besonde¬ren Inhalt kommen, wenn es nur auf sich angewiesen ist als gewöhn¬liches alltägliches Bewußtsein.
Und wiederum die religiöse Vorstellungsart, wie wurde sie ge-wonnen? Nun, das ist ja eine kindische Vorstellung, wenn man glaubt, die alten Theologen hätten - wie es etwa die heutigen Philo-sophen mit ihren vererbten Vorstellungen machen - ausspekuliert die Dinge des Alten Testamentes oder die neueren Theologen hätten aus¬spekuliert die Dinge des Neuen Testamentes. Das ist eine kindische Vorstellungsart. Dasjenige, was in diesem Alten und Neuen Testa¬mente und auch in den Religionsbüchern der verschiedenen Völker figuriert, das geht zurück auf übersinnliche Anschauungen, aber eben nur auf zuletzt alte übersinnliche Anschauungen. Das wurde geoffen-bart aus übersinnlicher Erkenntnis heraus. Und indem man genommen hat aus der übersinnlichen Welt die Darstellungen, hat man mit¬genommen die Denkformen, so daß heute der brave Zoologe, der
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brave Kliniker, ohne daß er sich dessen bewußt ist, mit den Denk-formen, den Vorstellungsarten arbeitet, welche der Visionär des Alten und des Neuen Testarnentes sich auf seine Art erarbeitet hat. Und aus den Visionen heraus, die der Visionär sich erarbeitet hat, hat er auch die Vorstellungsart gebildet. Das ist etwas, was heute die Leute natürlich ärgert, wenn man ihnen sagt: Und wenn ihr auch Zoologen, Physiologen seid, ihr bearbeitet gewiß ein anderes Feld, aber ihr arbeitet mit den Denkformen, die aus den Visionen der alten Pro¬pheten oder den Visionen der Evangelisten stammen. - Denn das¬jenige, was im Laufe der letzten vier Jahrhunderte seit dem Herauf¬kommen des Kopernikanismus und Galileismus so erarbeitet worden ist an wirklichen Vorstellungen, an Vorstellungsformen gar, an ge¬wissen Denkarten, das ist noch sehr wenig. Und gerade das wird als Grundlage verwendet, um durch wirkliche anthroposophisch orien¬tierte Geisteswissenschaft die übersinnlichen Erkenntniswege wieder¬um zu finden. Daher habe ich schon in den achtziger Jahren in meinen Einleitungsschriften zu Goethes Morphologie scharf darauf hin¬gewiesen und es gesperrt drucken lassen, daß ich Goethe anzuschauen habe als den Kopernikus und Kepler der organischen Welt, um den Weg anzudeuten, der gerade hinführt in die übersinnlichen Gebiete hinein, aber ausgeht von dem guten Boden, der auf diese Weise elementar geschaffen worden ist. Also von dem alten Visionären, das heißt dem alten atavistischen, übersinnlichen Anschauen gehen die Vorstellungs¬arten aus, die heute noch immer in den Menschenköpfen spuken. In dieser ganzen Entwickelung des menschlichen Bewußtseins sind eben die alten Schöpfer, die Geister der Form tätig. Sie offenbarten sich dem übersinnlich entwickelten Bewußtsein. Für denjenigen, der in dem neuen Geistesleben drinnensteht, offenbaren sich jetzt nicht mehr diese Geister, sondern die Geister der Persönlichkeit.
Sie können mich nun fragen: Was ist da für ein Unterschied? -Dieser Unterschied zeigt sich eben innerhalb der Initiationswissen¬schaft. Deshalb steht der moderne Geisteswissenschafter noch sehr fremd gegenüber dem Allgemeinbewußtsein, selbst dem allgemeinen Wissenschaftsbewußtsein, weil dieses Wissenschaftsbewußtsein nur ein wenig in sich glimmend hat den Galileismus, Kopernikanismus,
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Goetheanismus, ganz elementar, aber allgemein noch beherrscht wird von der Denkungsweise der alten Visionäre. Das ist das Eigentüm¬liche dieser Geister der Form, welche die alten Visionen gegeben haben, daß sie belebt haben im Menschen die Vorstellungen, die in den alten Religionen tatig waren, die auch im Christentum bis heute tätig waren. Das ist das Eigentümliche, daß, indem sich offenbarten diese Geister der Form, die man Schöpfer nannte, sie sich zunächst offenbarten durch Imaginationen, Imaginationen, die unwillkürlich im Menschen entstehen. Das war die nächste Offenbarungsart dieser Geister der Form. Und aus solchen Imaginationen sind die Vor¬stellungen aller alten Religionen entstanden. Sie wissen, das Imagi¬nieren ist die erste Stufe der übersinnlichen Erkenntnis, dann kommt die Inspiration, und dann kommt die Intuition. Aber von der Imagi¬nation gingen aus alle diejenigen, die im alten Sinne zu übersinnlicher Erkenntnis kommen wollten, denn sie mußten den Weg zu diesen Geistern der Form finden.
Nun findet man heute den Weg zu den Geistern der Persönlichkeit. Da ist nun ein gewaltiger Unterschied. Denn diese Geister der Persön¬lichkeit geben dem, der zu ihnen dringen will, nicht Imaginationen, sondern er muß sich die Imaginationen selber erarbeiten, er muß den Geistern der Persönlichkeit entgegenkommen. Den Geistern der Form brauchte man nicht entgegenzukommen. Da konnte man, wie man es nennen mag, ein gottbegnadeter Mensch sein: dann gaben einem die Geister der Form in visionärer Art ihre Imaginationen. Diesen Weg suchen heute noch viele, denn er ist bequemer, aus dem Grunde, weil er heute nur noch pathologisch erreichbar ist. Der Mensch hat sich entwickelt, und das, was in alten Zeiten psycholo¬gisch war, ist heute pathologisch. Alles Visionäre und dasjenige, was auf unwillkürlichen Imaginationen beruht, ist heute pathologisch und drückt heute den Menschen unter sein Niveau herunter. Was heute vom Menschen gefordert wird, der zur Initiationswissenschaft oder eigentlich zur Initiationsanschauung vordringen will, das ist, daß er ganz bewußt seine Imaginationen ausbildet; denn die Geister der Persönlichkeit geben ihm keine Imaginationen, er muß sie ihnen ent¬gegentragen. Dagegen findet ein anderes heute noch statt. Wenn Sie
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gültige Imaginationen ausbilden, wenn Sie sich gültige Imaginationen erarbeiten, dann treffen Sie auf Ihrem übersinnlichen Erkenntnisweg mit den Geistern der Persönlichkeit zusammen und Sie spüren die Kraft, welche Ihnen diese Imaginationen bewahrheiten, sie Ihnen zur Objektivität machen will.
Im Elementarsten wird in der Regel der Gang beim Geistesforscher heute so sein, daß er versucht, sich die Imaginationen aus den tüch-tigsten, besten Erkenntnissen des modernen Wissens zu gewinnen. Deshalb habe ich immer darauf hingewiesen, daß die moderne Natur-wissenschaft die beste Vorbereitung ist auch für die Geiste sforschung. Denn sie gibt die Möglichkeit, zu fruchtbaren Bildvorstellungen auf¬zusteigen, besonders wenn man sie im Goetheschen Sinne betreibt. Aber selbstverständlich kann man sich Bilder machen, die bloß phan¬tastische sind; man kann alles mögliche Zeug zusammenflicken zu irgendwelchen willkürlichen Imaginationen. Diese Imaginationen, die man sich macht, die müssen erst verifiziert werden, indem einem die Geister der Persönlichkeit entgegenkommen mit Inspirationen und Intuitionen. Und Inspirationen und Intuitionen bekommt man schon von den Geistern der Persönlichkeit. Man weiß ganz genau: Du stehst in Verbindung mit denjenigen Geistern, die sich aus grauer Geistes-tiefe der heutigen Menschheit enthüllen, aber sie bleiben für dich un¬fruchtbar, wenn du ihnen nicht eine Sprache entgegenbringst. - Denn diese Geister behalten die Imaginationen für sich. Die Geister der Form setzten die Imaginationen vor den übersinnlich erkennenden Menschen hin, die Geister der Persönlichkeit behalten die Imagina¬tionen für sich, und man muß sich mit ihnen verständigen, so wie man sich auch mit den Menschen verständigen muß, indem man zwar Ge¬danken sich machen muß, die er auch hat, aber die Gedanken, die er hat, müssen durch gegenseitigen Verkehr von ihm auf einen andern und von einem andern auf ihn übergehen. So müßte man in einem freien Verkehr mit den Geistern der Persönlichkeit verkehren. Das ganze innere Gefüge des geistigen Lebens ändert sich. Jenes Unwill¬kürliche, welches den alten Offenbarungen zugrunde lag, das mündet selbst ein in einen gewissen Impuls, der in freier Aktivität erlebt wird. Derjenige, der nicht an der Oberfläche des Weltgeschehens schwimmen
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will, sondern sich einlassen will auf dasjenige, was wirklich sich vollziehen kann, der verfolgt heute dieses Weltgeschehen in der Weise, daß er sich bewußt wird - vielleicht zuerst durch ganz an der Ober¬fläche Liegendes -, daß sich ein neuer Weltenpian realisieren will, daß gewissermaßen hinter dem äußerlich verfolgbaren Geschehen geistig sich etwas vollziehen will. Das ist dasjenige, was man, ich möchte sagen, spüren kann aus dem Weltgeschehen heraus, aber es bleibt bei sehr vagen Vorstellungen.
Insbesondere auf dem Gebiete des sozialen Lebens kann mancher das Gefühl haben, es will sich etwas realisieren, es will etwas ge-schehen, aber man muß, wenn man verstehen soll, was geschehen will, diesem Geschehenwollen entgegentragen dasjenige, was man sich nur selber erarbeiten kann. Was ich Ihnen als eine Art - aber nur eine Art, weil es nicht Programm, sondern Wirklichkeit ist - not-wendiger sozialer Impulse vorgetragen habe, ist auf diese Weise ge-wonnen. Deshalb kann ich immer sagen: Es ist nicht etwas Aus-gedachtes, auch nicht etwas aus irgendeinem Ideal heraus - was man heute Ideal nennt - Gebildetes, sondern es ist dasjenige, was sich ver¬wirklichen will und sich auch verwirklichen wird, nur in Begriffe gefaßt. Aber man kann es nicht in Begriffe fassen, wenn man sich nicht die Möglichkeit zuerst erarbeitet, zu Bildern zu kommen, die dann verifiziert werden, bewahrheitet, erhärtet werden von den Geistern der Persönlichkeit, die den neuen Weltenplan spinnen.
Diese Entwickelung der neueren Zeit fordert schon von uns, daß wir uns einlassen können darauf, alles Antiquierte abzustreifen, auch alles in der landiäufigen Wissenschaft Antiquierte abzustreifen und wirklich in die neuen Denkformen uns hineinzufinden, damit wir innerhalb dieser neuen Denkformen nicht zu antiquierten Visionen kommen, sondern zu mit vollem Willen aufgebauten Imaginationen, die wir dann entgegenhalten dem objektiven geistigen Weltgeschehen und von ihm verifiziert bekommen. Das ist ein so radikaler Unter¬schied gegenüber allem früheren übersinnlichen Erkennen, daß sich die zahlreich vorhandenen, auf früheres übersinnliches Erkennen stützenden Menschen mit Händen und Füßen sträuben gegen diese absolute Umwandiung alles übersinnlichen Erkennens. Denn es ist
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etwas verlangt von Menschen, die Übersinnliches erkennen wollen, was radikal, ursprünglich und elementar ist, was zu den Quellen vor¬dringen will und was Abrechnung halten will und muß mit alldem, was nur - bewußt oder unbewußt - antiqulert ist. Daher wird so wenig Wert gelegt innerhalb derjenigen Geisteswissenschaft, die hier vorgetragen wird, auf all das Überlieferte. Dieses Überlieferte ist ge¬wiß ein Ehrwürdiges, aber wir stehen halt einmal an dem Wende¬punkt der Menschheitsentwickelung, wo wir in bezug auf solche Sachen gründlich erkennen müssen, daß das Überlieferte sich aus¬gelebt hat und daß Neues erworben werden muß. Daher kann inner¬halb einer wirklich mit den heutigen Verhältnissen rechnenden Gei-steswissenschaft nicht die Rede sein von dem alten Glauben, noch kann die Rede sein von der Hinlenkung zum sogenannten Baumeister aller Welten. Denn beides gehört eben nur dem äußeren Bewußtsein an. Kommt man zu demjenigen Bewußtsein, das außerhalb des Leibes und außerhalb des Lebenslaufes erworben wird, das wirklich im Geistigen drinnensteht, dann fließen Wille und Vorstellung wieder zusammen zu einer Realität. Und dasjenige, was nur Architektur ist, das heißt nur Form, was leblose Formen, leblose Symbole sind, das erhält innerliches Leben. Und dasjenige, was finsterer bloßer Glaube ist, das wird Wissen, konkretes sich wandelndes Wissen. Beides vereinigt sich, beides wird etwas Lebendiges. Das ist das¬jenige, was von der Menschheit erlebt werden muß. Die alten Symbole, die alten Riten, sie müssen als antiquiert empfunden werden, die ganze alte Denkweise muß als antiqulert empfunden werden. Denn dasjenige, was da starre Formen sind, muß Leben empfangen.
Denken Sie nur, wieviel heute noch gearbeitet wird mit antiqulerten Begriffen! Gewiß, es kann auf mancherlei Gebieten noch Nützliches damit geleistet werden. Aber die Menschheit würde in das Erstarren hineinkommen, in das Gelähintwerden, das Vertrocknetwerden, wenn nicht dasjenige, was antiqulert ist, einem andern weichen würde, das innerliches Leben enthält. Es kann nicht mehr fortgearbeitet werden unter dem Symbolum der bloßen Weltarchitektur in starrer Form, in überlieferten Symbolen, in überlieferten Dogmen, sondern dasjenige,
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was den Menschen mit der Welt zusammenbringen soll, muß ein un¬mittelbar Lebendiges werden.
Auch im Beginn der christlichen Entwickelung war das zum Bei¬spiel mit dem Christentum selbst noch nicht so, daß ein Lebendiges da zugrunde liegt. Ich habe öfter darauf aufmerksam gemacht, daß gerade die ersten Beschreiber des Christentums gearbeitet haben aus der alten ägyptisch-chaldäischen Wissenschaft heraus. Selbst die Daten sind natürlich nicht historisch festgestellt. Es sind zum Beispiel astro¬logisch berechnet die Daten, die die Feste feststellen, Geburts- und Todesjahr des Christus Jesus sind astrologisch berechnet, die ganze Apokalypse beruht auf Astrologie. In alten Zeiten war diese lebendig, aber sie ist heute tot, selbstverständlich eine bloße Rechnerei. Sie wird erst dann wiederum lebendig, wenn die Dinge lebendig wiederum erfaßt werden, wenn also zum Beispiel nicht aus den Sternen etwa berechnet wird das Geburtsjahr des Christus Jesus, sondern wenn es geschaut wird mit jenem Schauen, das auf die geschilderte Weise heute errungen werden kann. Da beleben sich die Dinge. Leben ist heute nicht, wenn berechnet wird, ob der eine Stern zum andern in Opposition, in Konjunktion und so weiter steht, sondern wenn lebendig erlebt wird, was diese Oppositionen sind, wenn das innerlich erfaßt wird, nicht in äußerer Mathematik. Damit soll gegen diese äußere Mathematik nichts Besonderes eingewendet werden. Sie kann natürlich auch über manches Licht, allerdings über manches auch Dunkelheit verbreiten, aber sie ist nicht dasjenige, was im Schoß des wirklich heute Notwendigen für die Menschheit liegt. In der alten Weise können die Dinge auch nicht fortgepflanzt werden; sie würden eben nur Vertrock¬netes, die Menschheitsentwickelung Lähmendes geben. Aber es spricht natürlich bei der Beurteilung solcher Sachen beim heutigen Menschen immer mit, daß durch die Aneignung jener Vorstellungsart man nicht selber übersinnlicher Erkenner zu sein braucht - der gesunde Men¬schenverstand macht durchaus das Erkennen der Geisteswissenschaft möglich -, daß aber diese Denkungsweise nur auf unbequeme Art erworben werden kann, während man sich sehr bequem die alten Überlieferungen, die alten Methoden aneignen kann und selbstver¬ständlich noch bequemer an die Kirchendogmen glauben kann.
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Nun liegt aber die Tatsache vor, die wir jetzt öfter von verschiede-nen Gesichtspunkten aus behandelt haben: Dieser Umschwung, der sich in der menschlichen Seelenverfassung vollzieht, bedeutet auf einer Seite das Herausstrahlen der Offenbarung der Geister der Per¬sönlichkeit; innerlich bedeutet er das Loslösen des Impulses der Frei¬heit aus den Tiefen der Seelen heraus, das sich in alldem spiegelt, was so dringend jetzt als die großen Menschheitsforderungen vor die Menschen hintritt. Man versteht auch die sozialen Forderungen nur, wenn man diese Entwickelung der menschlichen Seelenverfassung ins Auge nehmen kann. Erinnern Sie sich an eine Bemerkung, die ich gestern gemacht habe: daß die Menschen heute - höchstens, sagte ich - anfangen, ihr wirkliches Ich zu empfinden, indem sie mit andern Menschen in Berührung kommen. Der alte Mensch kannte das «Er¬kenne dich selbst» in der äußeren Welt. Für das übersinnliche Er¬kennen ist das anders, aber in der äußeren Welt, in der Welt, in der wir zwischen Geburt und Tod leben und mit dem gewöhnlichen Bewußt¬sein leben, hatte der Mensch der alten Zeiten, wenn er von seinem Ich reden wollte, etwas Wirkliches. Der neuere Mensch hat nur das Spiegelbild des wahren Ich, er hat etwas hereinstrahlend von dem wahren Ich, gerade wenn er mit andern Menschen in Berührung kommt; der andere Mensch, der mit ihm karmisch oder sonst irgend¬wie verbunden ist, der gibt ihm eigentlich etwas Reales. Wenn man es radikal ausdrücken möchte - es ist ein Charakteristikon für die Menschen der heutigen Zeit -: Wir sind innerlich hohl mit Bezug auf die Realität unseres Ich. Wir sind alle innerlich hohl, und wir müßten uns das eigentlich gestehen. Wenn wir wirklich aufrichtig und ehrlich Lebensrückblick halten, so finden wir, um wieviel wich¬tiger die Einflüsse sind, die die andern Menschen auf uns gehabt haben, als das, was wir uns so angeblich selbst erobert haben. Der heutige Mensch erwirbt sich außerordentlich wenig selbst, wenn er nicht Wissen aus übersinnlichen Quellen erwirbt. Auf äußeren Wegen -er braucht dazu nicht hellsichtig zu sein - wird der Mensch heute zur Sozialität hin gezwungen, weil er eigentlich nur real in dem andern ist, in dem Verhältnis zu dem andern. Und das wird gegen den sechs¬ten nachatlantischen Zeitraum, der seine heutigen embryonalen Impulse
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gerade in Rußland hat, so stark werden, daß es dann als ein Axiom gelten wird: Kein Glück eines einzelnen Menschen ist möglich ohne das Glück der Gesamtheit, so wie ein einzelnes Organ im Men¬schen nicht funktionieren kann, ohne daß eigentlich das Ganze funk-tioniert. - Das wird man später als ein Axiom ansehen einfach durch die Bewußtseinstatsache. Wir sind noch lange nicht da - also Sie können sich, bitte, noch beruhigen, können noch lange Ihr persön-liches Glück als etwas betrachten, was möglich ist, wenn auch dieses persönliche Glück aufgebaut ist auf so und so viel Unglück -, aber das ist die Richtungslinie, die Richtungsströmung, in der sich die Menschheit entwickeln wird. Das ist einfach so, wie man heute, wenn man sich erkältet hat, husten muß. So wie das unangenehm ist, so wird es unangenehme Seelenzustände erwecken in einigen Jahr¬tausenden, wenn man irgend etwas als einzelner Mensch von Glück in der Welt haben will, ohne daß die andern es auch haben. Dieses Durchorganisieren der Menschheit liegt in der menschlichen Ent¬wickelung, und das rumort heute in den sozialen Forderungen herum. Das ist eben der Weg, den die menschliche Seelenverfassung macht.
In früheren Zeiten konnte der Mensch in sich hineinschauen, konnte noch etwas Reales finden auch in dem Leben, das er zwischen Geburt und Tod lebt. Heute ist eigentlich der Materialismus für dieses Leben zwischen Geburt und Tod, wenn wir nur auf den Menschen im Äußeren hinschauen, nicht unberechtigt, denn innerhalb desjenigen, was zwischen Geburt und Tod im Menschen mit dem gewöhnlichen Bewußtsein verfolgt wird, hat man es nur mit materiellen Tatsachen zu tun. Die übersinnlichen Tatsachen liegen zugrunde; aber ich habe gestern gesagt: diese übersinnlichen Tatsachen machen bald nach der Geburt halt und lassen das Leben des Menschen materiell ablaufen bis zu seinem Tode, wo sich wiederum das Übersinnliche aus ihm heraus-ringt. Es ist nicht eine bloße Scharlatanerie, daß die heutige Natur¬forschung materialistisch ist, sondern es ist ein instinktives Rechnen mit dem, was heute im Menschen eigentlich das Gegebene ist. Nur sieht man nicht hinaus über das Leben zwischen Geburt und Tod. Sobald man hinaussieht, ist selbstverständlich die Naturforschung am Ende.
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Der Mensch muß einmal untertauchen in dies bloß materielle Leben, damit er sich unabhängig von diesem materiellen Leben das Geistige erwerben kann. Und so ist einfach zum Verständnis desjenigen, was in den drängendsten Forderungen unserer Zeit pulsiert, notwendig, daß man hineinblickt in diesen Umschwung der menschlichen Seelen-verhältnisse. Man kann ihn nicht beobachten, wenn man ihn nicht durch die Initiationswissenschaft beobachten will.
SECHSTER VORTRAG Dornach, 29. Dezember 1918
#G187-1967-SE112 - Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?
#TI
SECHSTER VORTRAG
Dornach, 29. Dezember 1918
#TX
Die Vorstellung könnte vielleicht entstehen, daß die Vorgänge, von denen berichtet wird, wenn man von Initiation spricht, gewissermaßen heraufbeschworen würden durch diese Initiation. Diese Vorstellung wäre ganz besonders für unsere Zeit nicht richtig. Dasjenige, was als Vorgang der Initiation beschrieben werden kann insbesondere in unserer Zeit, das spielt sich im Inneren - oder im Verhältnis des Inneren zur Welt - bei den weitaus meisten Menschen der Gegenwart ab; nur wissen sie nichts davon, nur spielt es sich unbewußt ab. Und dasjenige, um was es sich dann handelt, wenn man von Initiation spricht, das ist, daß man aufmerksam wird darauf, daß man ein Be¬wußtsein erhält von dem, was sich unbewußt im Menschen abspielt. Also der Unterschied des Erkennenden von dem Nichterkennenden liegt eben gerade in der Erkenntnis von Vorgängen, die die Menschen, wenigstens die weitaus größte Zahl der Menschen, in der Gegenwart wie von selbst, wenn auch unbewußt, erleben. Daher spricht man, indem man von diesen Dingen spricht, im Grunde von etwas, was jeden Menschen mehr oder weniger, namentlich in der Gegenwart, wiederum angeht.
Nun habe ich gesagt: Gerade an der Schilderung dieser Vorgänge, das heißt an der Schilderung desjenigen, was man wahrnimmt, wenn man diese Vorgänge erkennend verfolgt durch die Initiationswissen¬schaft, erkennt man, welche Wandlungen im Lauf seiner Entwicke¬lung der Mensch auch in historischen Zeiten durchgemacht hat. Und wir haben auf einiges in diesen Wandlungen insbesondere in bezug auf die Entwickelung des Christentums hingewiesen. Im äußeren täg¬lichen Leben merkt man von diesen Entwickelungen gewissermaßen nur den äußeren Abglanz, diesen äußeren Abglanz, der eigentlich im Grunde so wenig verständlich ist für den Menschen, der wirklich ver¬stehen will, der die Impulse eines Verstehens in sich entwickelt.
Nehmen Sie einmal, um sich das zu vergegenwärtigen, diesen äuße-ren Abglanz in der Entwickelung des Christus-Begriffes im Laufe der
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letzten nahezu zwei Jalrtausende seit dem Mysterium von Golgatha. Sie werden, wenn Sie tiefer gehen im Verstehenwollen, eben manches unverständlich finden, manches finden, wo Sie mit Fragen gründlich einsetzen müssen, wenn Sie nicht oberflächlich bleiben oder irgendein Dogma blind annehmen wollen. Verfolgen Sie - was man eigentlich auch schon aus der äußeren Geschichte wissen kann -, wie beim Ein¬tritt des Christus-Impulses in die Welt noch ein gewisser stark leuch¬tender Überrest der Gnosis da war, wie in den ersten Jahrhunderten versucht worden ist, den Christus4mpuls und seinen Durchgang durch das Mysterium von Golgatha mit Hilfe der durch die Gnosis erworbenen Begriffe zu verstehen. Da war viel gesagt in diesen Be¬griffen, die auf ganz andere Dinge gingen als die Begriffe, die man heute aus der äußeren Welt gewinnen kann, da war viel gesagt von dem, wie sich die Welt entwickelt hat, wie der Christus in dieser Welt-entwickelung war, wie es zu seinem Herabsteigen zu der Menschheit gekommen ist, wie es zu seiner Vereinigung mit der menschlichen Wesenheit gekommen ist. Da war wiederum manches gesagt über den Rückgang des Christus zu der geistigen Welt, die dann die geistige Erdenwelt ist. Kurz, es waren leuchtende, weit leuchtende, um¬fassende Vorstellungen, die Erbgut waren der Urweisheit der Mensch¬heit, in welche man gefaßt hat dasjenige, was man sagen wollte über das Mysterium von Golgatha. Die Kirche hat in den ersten Jahr¬hunderten gründlich dafür gesorgt, daß bis auf spärliche, nicht viel sagende Überreste die Vorstellungen der alten Gnosis verloren¬gegangen sind. Und ich habe Ihnen angedeutet, wie man sich heute geradezu bemüht, wo man kann, eine unbequem werdende Welt¬anschauung dadurch zu verketzern, daß man sagt, sie wolle eine alte Gnosis wieder aufwärmen, womit man glaubt, etwas furchtbar Schlimmes zu sagen.
Dann trat an die Stelle dieser Auffassung des Mysteriums von Gol-gatha eine andere, welche rechnete mit den primitiver und immer primitiver werdenden menschlichen Begriffen, welche damit rechnete, daß die Menschen nichts mehr in sich lebendig machen können von den umfassenden, weit leuchtenden gnostischen Vorstellungen. Und ich sagte Ihnen, es blieb der Rest, der den Anfang des Johannes-Evangeliums
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bildet; der ist eigentlich nichts mehr als ein Hinweis darauf, daß der Christus etwas zu tun habe mit dem übersinnlich wahr¬nehmbaren Logos, dem Weltenworte, daß als solcher der Christus der Schöpfer alles desjenigen ist, was den Menschen umgibt, was der Mensch erlebt. Aber im übrigen blieb nichts anderes als die Evange-lienerzählungen, die allerdings, wenn sie mit den Mitteln der Geistes¬wissenschaft durchdrungen werden, viel Gnostisches enthalten, aber sie wurden nicht gnostisch interpretiert. Sie wurden in den ersten Jahrhunderten überhaupt den Gläubigen vorenthalten, nur für die Priesterschaft reserviert. Aus ihnen aber wurde entnommen eine Art von Weltanschauung, welche das Mysterium von Golgatha in sich begriff, welche berechnet war auf die immer abstrakter und abstrakter werdenden, wenig nach dem Geistigen hinneigenden Vorstellungen der sogenannten gebildeten Welt. Man wollte, ich möchte sagen, immer mehr und mehr einfache Begriffe, zu deren Fassung man sich nicht sehr anzustrengen brauchte. Daher auch der eigentümliche Weg, den die Erklärung der Evangelien machte. Während man in den ersten Jahrhunderten noch durchaus das Bewußtsein hatte, daß die Evange¬lien aus geistigen Tiefen heraus zu erklären sind, versuchte man immer mehr, die Evangelien als bloße Erzählungen des Erdenlebens jenes Wesens aufzufassen, über das man mit Bezug auf seinen kosmischen Zusammenhang eben nicht mehr geltend machen wollte - wenigstens durch menschliches Wissen - als den Anfang des Johannes-Evange¬liums und einige Abstraktionen wie die Trinitätsabsttraktion und der¬gleichen. Diese hat man aus den abstrakten Formen herausgeschält, aus den alten gnostischen Vorstellungen, die man aber ihres gnosti¬schen Impulses entkleidete und in Form von Dogmen den Gläubigen hingab. Immer primitiver und primitiver wurden aber die Evangelien-interpretationen. Sie sollten immer mehr werden eine bloße Erzählung eben über das Wesen, um dessen Wesenheit man sich nicht viel von höheren übersinnlichen Gesichtspunkten aus bekümmerte, über das Wesen, das da auf der Erde gelebt hat und das der Christus Jesus genannt wird.
Dann kam immer mehr die Notwendigkeit, die Evangelien auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, und es kam damit der Protestantismus
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herauf. Er hielt zunächst noch fest an den Evangelien. Und solange ein Zusammenhang, ein Erkenntniszusammenhang be¬stand mit dem Johannes-Evangelium, so lange konnte man auch in einer gewissen Beziehung doch eine Art Band finden, das die einzelnen Seelen verbindet mit den kosmischen Höhen, in die man doch auf¬schauen muß, wenn man von dem wirklichen Christus reden will.
Aber es ging immer mehr verloren, man kann sagen, nicht bloß das Verständnis, sondern auch die Hinneigung zu dem Johannes-Evangelium. Die Folge davon war, daß ein richtiger Zusammenhang mit dem Christus-Impuls, mit jener Wesenheit, welche in dem Leibe des Jesus lebte, dem neueren Protestantismus, dem denkenden Christentum überhaupt verlorengegangen ist. Der Christus-Begriff schwand immer mehr dahin, indem man zuerst die Interpretation beschränkt hat auf die irdischen Schicksale, menschlich erzählt, des Christus Jesus. Es schwand, weil man die Sache immer mehr und mehr ins materialistische Fahrwasser brachte, völlig die Möglichkeit, den Christus-Begriff noch zu haben: der menschliche Jesus blieb zurück. Und so wurden die Evangelien immer mehr als eine bloße Beschreibung des menschlichen Lebens Jesu genommen. Und an diese Beschreibung knüpfte sich in einer sehr abstrakten Form der Glaube an Unsterblichkeit, an die göttliche Wesenheit und dergleichen - ich habe über den Glaubensbegriff gestern gesprochen. Kein Wunder ist es, daß überhaupt nach und nach die Menschen wenig mehr zu sagen wußten, wenn die Vorstellung des Christus Jesus angeschlagen wurde. Man nahm gewissermaßen Christus auf der einen Seite, Jesus auf der andern Seite wie Synonyma, wie etwas, was dasselbe bezeichnet. Und was war die Folge, eine Folge, die gar nicht anders als eintreten konnte? Die Folge war, daß endlich diese Schilderung des bloßen irdischen Lebens eines Jesus, aus der das Bewußtsein des Zusammen¬hanges mit dem Christus geschwunden war, daß diese Beschreibung auch das Wesen des Jesus selbst verlor, und überhaupt allen Zusam-menhang mit den Anfängen des Christentums verlor. Denn indem man nach und nach auf die bloßen materiellen Evangelien noch zurück¬ging, auf nichts anderes als auf diese materiellen Evangelien, kam man zu der sogenannten Evangelienkritik selber. Und die konnte zu
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keinem andern Ergebnis führen, als daß die Tatsache des Mysteriums von Golgatha und was damit zusammenhängt, sich nicht historisch beweisen läßt, weil die Evangelien keine historischen Urkunden sind. Man verlor zuletzt den Zusammenhang mit dem Jesus selbst. So wie man in der neueren Wissenschaft über Beweise denkt, konnte da nicht bewiesen werden. Da man aber bei der modernen Wissenschaft bleiben wollte, auch wenn man Theologe war oder ist, verlor man nach und nach auch den Jesus-Begriff, da es äußere, historisch nachweisbare Urkunden nicht gibt.
Harnack, der ein christlicher Theologe ist, sogar ein tonangebender der Gegenwart, hat gesagt: Alles dasjenige, was man außer den Evangelien, die keine historischen Urkunden sind, historisch über den Jesus aufschreiben kann, läßt sich auf ein Quartblatt aufschrei-ben. - Aber das, was man auf ein Quartblatt aufschreiben kann, die J osephus-Stelle und so weiter, hält vor der modernen Historik auch nicht stand, so daß eigentlich nichts übrigbleibt, um den Ausgangs-punkt des Christentums zu beweisen. Das ist eigentlich für diejenigen, die mit dem modernen Denken die Entwickelung des Christentums verfolgt haben, etwas, was nicht anders kommen konnte; es ist der Weg, der endlich die Menschheit weggeführt hat von dem Christus Jesus, selbst von dem Jesus, und der erst recht die Notwendigkeit zeigt, eben einen andern Weg zu suchen, einen Weg des übersinn¬lichen Erkennens in der Art, wie das durch das moderne Geistes¬leben allein angestrebt werden kann. Denn allen übrigen Wegen, heute zu dem Christus Jesus zu kommen, kann eben einfach die moderne Evangelienkritik und die moderne historische Forschung entgegengehalten werden, die im Einklang ist mit dem wissenschaft¬lichen Bewußtsein unserer Zeit, und die nicht aufrechterhalten kann, irgendeine historische Tatsache an den Ausgangspunkt der Entwicke¬lung des Christentums zu stellen. Haben wir doch in unserer Zeit die merkwürdige groteske Tatsache erlebt, daß christliche, allerdings prö¬testantische Pastoren ihre Aufgabe darin gesehen haben, das Myste¬rium von Golgatha als historische Tatsache überhaupt zu leugnen und die Entstehung des Christentums zurückzuführen auf gewisse Vorstellungen, die sich gebildet haben aus der sozialen Gesamtmenschheitslage
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der Zeit, mit der unsere Zeitrechnung beginnt. So der Pfarrer Kalthoff in Bremen, der, trotzdem er christlicher Pfarrer war, so gepredigt hat, daß seiner Weltanschauung, seiner Lebensauf-fassung kein historischer Christus zugrunde lag. Er meinte, es hätte sich nur eine Vorstellung von einer solchen Gestalt in den Köpfen herausgebildet aus den Voraussetzungen heraus, die damals in der Zeit, wo unsere Zeitrechnung beginnt, eben in den Köpfen waren. Christliche Pastoren ohne den Glauben an einen wirklichen Christus Jesus sind das notwendige Ergebnis der modernen Evangelienkritik. Das konnte gar nicht anders kommen, denn es hängt zusammen mit all den Entwickelungsimpulsen, von denen ich in diesen Tagen, ins-besondere auch gestern, gesprochen habe.
Das ist durchaus festzuhalten, daß der Weg zu dem Christus Jesus in unserer Zeit ein übersinnlicher werden muß, daß er nur gegangen werden kann von jener Wissenschaft, die selbst übersinnliche Metho¬den sucht, aber mit dem wissenschaftlichen Gewissen der modernen Naturanschauung rechnet.
Immer wird es gut sein für diese moderne Art, einen übersinn¬lichen Weg auch zu dem Christus zu finden, sich klarzumachen, wie bis in unsere Tage herein die Umwandlungen der Initiationswissen-schaft, des Initiationswissens sich abgespielt, abgewickelt haben. Und aus diesem Grunde möchte ich heute noch einmal auf etwas hinweisen, auf das ich hier an diesem Ort schon vor einiger Zeit, aber von einem andern Gesichtspunkte aus, hingewiesen habe.
Wir wissen, daß mit Bezug auf diese Dinge der große Umschwung verstanden werden muß, den die äußere Geschichte verschweigt, der sich in der neueren Entwickelung vollzogen hat gegen das 15. Jahr¬hundert hin und eben im 15. Jahrhundert hauptsächlich vollzogen hat. Aber er bereitete sich schon vorher vor. Wir wissen, dieser Um¬schwung ist für uns das Auftreten der fünften nachatlantischen Kul¬turperiode, welche die vierte, die griechisch-lateinische Kulturperiode ablöst.
Nun ist es selbst schon für die äußere Wissenschaft eine Frage ge-worden, allerdings nur für einige verständigere Gelehrte, wie sich das erklären läßt, was man gewöhnlich nur nennt das Heraufkommen der
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Renaissancezeit - aber damit ist die Sache nur höchst äußerlich ge-kennzeichnet -, also dasjenige, was sich vom 12., 13., 14. bis ins 15. Jahrhundert hinein mit elementarer Gewalt über die gebildete Welt hin abspielt. Ein merkwürdiger Drang, eine merkwürdige Sehn¬sucht - äußere Gelehrte haben das schon ausgesprochen - lebte auch in den Menschen und läßt sich nicht durch äußere Gründe erklären. Es zeigt sich, daß etwas Elementares in den Menschen wallt und wogt und sie zu einer bestimmten Seelenverfassung bringt.
Nun ist es interessant und bedeutsam, sich folgendes vor Augen zu führen: Im 12., 13., 14.Jahrhundert hat man es noch zu tun mit der ablaufenden griechisch-lateinischen Zeit. Dann kommt der Um-schwung. An dieser Stelle muß sich also etwas Besonderes zeigen. Und das, was die äußere Wissenschaft erkundet hat, das ist es eben, was sich da zeigt. Weniger hat die äußere Wissenschaft den Um-schwung in Betracht gezogen; aber sie hat sehr stark in Betracht ge-zogen, verschiedene Rätsel sich da vorgelegt, das allmähliche Abglim¬men derjenigen Seelenverfassung, die für den vierten nachatlantischen Zeitraum charakteristisch war, das Abgllmmen im 12., 13., 14. Jahr-hundert. Während da die Renaissance heraufkommt, deren gewöhn¬liche Schilderung in den Äußerlichkeiten eben steckenbleibt, spielt sich in den Seelenverfassungen der europäischen Menschheit, wenn man genauer hinsieht, doch etwas außerordentlich Wichtiges ab. Es ist so, daß man verspürt: Es muß etwas verglimmen. Man erlebt noch gewisse Dinge in der Seele, die man nach einiger Zeit wieder anders erleben muß. Man muß sich gewissermaßen beeilen - wenn man mit der Entwickelung Schritt halten will -, diese Dinge noch zu erleben, denn die Menschheit wird sie später nach dem Umschwung nicht mehr erleben können. Es ist dasjenige, worauf ich im Anfange der heutigen Betrachtung hingewiesen habe. Was da im Unterbewußtsein vor sich geht, was, wenn es erkannt wird, der Initiationsvorgang ist, das ist etwas, was sich fortwährend, wie gesagt, bei der weitaus größten Mehrzahl der Menschen abspielt. Einige kommen dann durch die Beobachtung des «Erkenne dich selbst» darauf, diese Dinge wirk¬lich in ihr Bewußtsein hereinzubringen. Es ist ein großer Unterschied zwischen diesem Vorgang und dem, was sich im vierten nachatlantischen
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Zeitraum als Mysterienerlebnis in den Menschenseelen ab¬gespielt hat, ein größerer Unterschied als gegenüber dem, was sich zum Beispiel in der dritten nachatlantischen Kulturperiode abgespielt hat. Ich habe Ihnen vor einigen Tagen ungefähr charakterisiert, was sich in der dritten nachatlantischen Zeit abgespielt hat, indem der Mensch durch das Tor des Menschen ging, dann durch den zweiten Grad, dann durch das Tor des Todes, und weiter, bis er ein Christo-phorus wurde. Und so, wie ich Ihnen diese Dinge geschildert habe, so spielten sie sich im Unterbewußten ab und konnten dann durch die Initiation bei den weitaus meisten Menschen der dritten nach-atlantischen Kulturperiode ins Bewußtsein heraufgetragen werden. Aber verändert schon war der ganze Vorgang bei den Menschen der vierten nachatlantischen Kulturperiode. Noch nicht so sehr verändert war er im ersten Drittel dieser vierten nachatlantischen Kulturperiode, das dem Mysterium von Golgatha voranging - 747 beginnt ja die vierte nachatlantische Kulturperiode, das Mysterium von Golgatha schließt ungefähr das erste Drittel ab. Und dann beginnt eine Zeit, wo das Mysterium von Golgatha schon da war, wo auch für dasjenige, was sich im Unterbewußtsein des Menschen abspielt und dann durch die Initiationswissenschaft bewußt werden kann, eine bedeutendere Veränderung eintrat. Annähernd bis zum Mysterium von Golgatha -nur geringe Ausnahmefälle abgerechnet - war, man kann schon sagen, der notwendige Weg, um zur Initiation zu kommen, der, daß man erwählt wurde von irgendeinem den Mysterien angehörigen Priester¬weisen, der aus gewissen Erkenntnissen heraus die Leute wählte, die er zur Initiation, zum Durchmachen der Grade bestimmen konnte. Es schwand diese Notwendigkeit nach und nach dahin, nachdem sich das Mysterium von Golgatha abgespielt hatte, obwohl die Initiation, an den alten Mysterien orientiert, auf die neuen Verhältnisse ein¬gerichtet wurde. Solche Mysterien hat es immer gegeben, Mysterien, die dann in die neueren Geheimgesellschaften übergegangen sind und, nur mehr in abstrakten Symbolen, zumeist alte Einweihungszeremo¬nien und Einweihungsvorgänge nachahmen, die nicht mehr an den Menschen herandringen, während die wirkliche Initiation immer weniger und weniger in solchen Geheimgeselischaften erlangt wird,
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weil die Menschen nicht vordringen zu dem Erleben desjenigen, was sich vor ihren Augen symbolisch abspielt. Es geschahen aber in immer weiterem und weiterem Maße - und charakteristisch gerade am Ausgang der vierten nachatiantischen Kulturperiode - Ein-weihungen, die, ich möchte sagen, von der geistigen Welt aus selbst geleitet wurden, wo also nicht der Initiationspriester den Betreffenden auswählte, sondern wo die Auswahl von der geistigen Welt selbst ge¬macht wurde. Äußerlich nimmt es sich natürlich dann so aus, als ob es eine Seibsteinweihung wäre, weil der Führende eben ein Geist und nicht ein Mensch ist; ein Mensch ist ja auch ein Geist, aber Sie wissen, was ich meine. Insbesondere war so gegen das Ende des vierten nach-atlantischen Kulturzeitraumes schon sehr stark das vorhimden, daß die Initiationen in solcher unmittelbaren geistigen Führung statt¬fanden. Und ich habe schon, wie gesagt, vor einiger Zeit darauf hin¬gewiesen, wie aufzufassen ist als eine wirkliche Initiation die Ein¬weihung, die auf solche Art erfahren hat der Lehrer und Meister des Dante, Brunetto Latini.
Äußerlich erzählt, nimmt sich dasjenige, was ais ein höchst Wich-tiges Brunetto Latini schildert, wie eine Art Novelle aus, eine No-velle, die allerdings legendarischen Charakter hat. Brunetto Latini will seine Einweihung schildern, seine Initiation. Er schildert sie etwa in der folgenden Weise, und Sie werden aus dieser Weise erkennen, wie die Erlebnisse der Initiation des Brunetto Latini dann gewirkt haben auf die ganze Komposition und Phantasiegestaltung des Danteschen großen Gedichtes, der «Commedia». Brunetto Latinä - er war Ge¬sandter beim König von Kastilien für seine Vaterstadt Florenz -erzählt, wie er die Reise zurückmachen mußte von seinem Gesandt¬schaftsposten und wie er, als er schon nahe seiner Vaterstadt Florenz war, erfuhr, daß seine Partei, die welfische Partei, unterlegen war; daß also alles, was ihn verbunden hat mit Florenz, gewissermaßen unter¬miniert sei, daß er mit Bezug auf die äußeren Verhältnisse plötzlich keinen Boden unter den Füßen mehr fühlt. Man muß, indem von einem Menschen aus dem Dante-Zeitalter eine solche Sache ge¬schildert wird, nicht an heutige Verhältnisse, nicht an heutige Auf¬fassungen denken. In dieser Beziehung hat sich die Seelenverfassung
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ganz ungeheuerlich verändert. Nicht wahr, wenn heute jemand in der Schweiz erfährt, daß zum Beispiel die Stadt Köln, mit der er lange Zeit zusammengehangen hat, in eine ganz andere Weltstruktur hinein-gekommen ist, von einer ganz andern Seite her beherrscht wird, so fühlt er sich als heutiger Mensch nicht so, ais ob ihm der Boden unter den Füßen entzogen wäre, wenigstens innerlich nicht. Aber von dieser Seelenverfassung muß man nicht die Vorstellungen nehmen für jene Zeit. Für einen solchen Menschen wie Brunetto Latini war das wie eine Art Weltuntergang. Er hing zusammen mit Bezug auf sein Ein¬geordnetsein in die Welt mit den Weltenverhältnissen seiner Vater¬stadt. Das war weg, und das erfuhr er, als er sich dieser seiner Vater¬stadt Florenz näherte: es war einfach die Welt nicht mehr da, in der er arbeitete. Jetzt erzählt er weiter, nachdem er aufmerksam gemacht hat auf diese Umstände, auf diese Tatsache, wie er geführt wurde in einen Wald, wie er durch geistige Führung aus dem Wald hingeleitet wird auf einen Berg, der umgeben ist von der ganzen Schöpfung, soweit sie ihm bekannt war.
Man erkennt sofort, was eigentlich Brunetto Latini andeuten will. Er ist durch das Leben so geführt worden, daß in einem gewissen Momente vor seine Seele ein so bestürzendes Ereignis trat, daß es das Geistig-Seelische freimachte von dem Leiblich-Physischen, daß er herauskam aus seinem physischen Leibe. Er erlebte Geistiges. Da haben Sie das Eingreifen eines geistigen Führers, der diesen Menschen seinem Karma nach in dem Augenblicke, wo er so frappiert, so geistig erschüttert ist, daß diese Erschütterung sein Geistig-Seelisches trennen kann von dem Leiblich-Physischen, in die geistige Welt einführt. Nun schildert Brunetto Latini, wie die Schöpfung sich um den Berg aus¬breitet, wie ihm auf dem Berg eine riesige Frauengestalt erscheint, auf deren Worte hin, auf deren Wortangaben hin sich diese Schöp¬fung, die um den Berg ist, wandelt und ändert, andere Formen an¬nimmt. Und so wie Brunetto Latini spricht, so erkennt man: er spricht so über diese Frauengestalt, wie in den alten Einweihungsmysterien gesprochen worden ist über Proserpina. Nun hat die Vorstellung über die Proserpina eben die Wandlung durchgemacht von der alten Grie-chenzeit bis zum Ausgang der griechisch-lateinischen Zeit. Nicht so
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wie die alten griechischen Dichter die Proserpina schildern, schildert Brunerto Latini sie; er schildert sie eben so, wie sie in den mensch¬llchen Seelen lebte im Ausgang des griechisch-lateinischen Zeitalters. Und dennoch: Das, was der aite Ägypter ahhörte, wenn ihm die Beschreibung der Isis, und was der Grieche arthörte, wenn ihm die Beschreibung der Proserpina nahetrat durch die Einweihung, man kann es vergleichen mit dem, was Brunetto Latini erzählt von dieser Frauengestalt, auf deren Geheiß und Worte hin sich die Gestalten der Schöpfung wandeln. Und man wird finden, daß starke Ähnlich¬keiten da sind. Derjenige, der nur oberflächlich betrachtet, wird über-haupt sagen: Es ist eigentlich dasselbe, was Brunetto Latini über seine Frauengestalt sagt und was die Alten sagten über ihre Proserpina. -Das selbe ist es nicht, denn wenn man genauer hinsieht, so merkt man:
Bei den alten Griechen, wenn sie von der Proserpina sprachen, oder bei den Ägyptern, wenn sie von der Isis sprachen, handelte es sich mehr um die Schilderung dessen, was in allem Ruhenden lebt, in allem, was bleibt, was durch alles Bleibende hindurchzieht. Bei Bru-netto Latini handelt es sich darum, zu schildern, wie ein gewisser Kraftimpuls - der Isis-Impuls, der Proserpina-Impuls, als Impuls der «Natura», so heißt die Gestalt bei Brunetto Latini -, durch alles hin¬durchgeht, aber alles in Bewegung setzt, fortwährend wandelt. Das ist der große Unterschied.
Damit ist ihm aber der Anstoß gegeben - indem er schaut, wie sich alles wandelt, indem er diese auf das Geheiß der Göttin Natura sich wandelnde Schöpfung schaut -, nun in der neuen Art Selbsterkenntnis zu üben. Die übt er natürlich nicht so, wie es heute die mystischen Bequemlinge beschreiben, sondern er übt sie in konkreten Einzel¬heiten. Brunetto Latini beschreibt, wie er nun, nachdem er diese sich wandelnde Schöpfung geschaut hat, die Welt der menschlichen Sinne schaut. Er lernt den Menschen nach und nach von außen kennen. Es ist ein Unterschied, ob man die äußere Welt, welche die Sinne einfach im gewöhnlichen Bewußtsein wahrnehmen, schaut und beschreibt, oder ob man das beschreibt, was in den Sinnen, also schon innerlich im Menschen vor sich geht. Denn mit dem gewöhnlichen Bewußtsein kommt man in das Innere der Sinne nicht hinein: man würde die
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Außenwelt nicht sehen. Denn wenn man die Sinne im Inneren sieht, kann man die Außenwelt nicht beschreiben; man sieht dann nicht die Außenwelt.
Abgestimmt auf die gegenwärtige Zeit - wir werden gleich nachher davon sprechen - habe ich versucht, dieses Schauen des Inneren des Menschen, wenn man in der Region der Sinneswelt ist, bei dem Aus¬malen der großen Kuppel hier im Bau wirken zu lassen. Das wird Ihnen ungefähr eine Vorstellung davon geben, was gemeint ist mit diesem «Erkenne dich selbst», insofern man in der Region der Sinne ist. Sie werden zum Beispiel deutlich wahrnehmen, wenn Sie die große Kuppel betrachten, wie das Innere des Auges, das Mikro-kosmische, das sich im Inneren des Auges offenbart, auf der einen Seite, auf der Wesiseite, festzuhalten versucht ist. Nicht das, was das Auge außen sieht, auch nicht das Physikalische des Auges, sondern was innerlich erlebt ist, wenn man mit dem seelischen Schauen im Auge drinnen ist, was man natürlich nur kann, wenn man im gewöhn¬lichen Sinne sich getrennt hat von dem Gebrauch der Augen als Werk¬zeuge für die äußere Sinneswahrnehmung, wenn man ebenso das Innere des Auges schaut, wie man sonst mit dem Auge das Äußere schaut.
Nicht so, wie das heute dargestellt werden muß, sondern etwas anders - er macht nur kurz darauf aufmerksam - erlebte es Brunetto Latini. Dann dringt er weiter von außen nach innen ins Menschliche vor: er gelangt dann zu den vier Temperamenten. Da lernt man schon erkennen, wie der Mensch nun nicht in dem Inneren der Sinnesregion ist, sondern wie er ist, indem der melancholische, der cholerische, der phlegmatische, der sanguinische Impuls ineinander wirken, wie die Menschen sich dann äußerlich differenzieren, indem irgendeiner dieser vier Impulse die Oberhand gewinnt. Man kommt dann durch die Region der Sinne weiter in das menschliche Innere zu der Region der Temperamente. Der Unterschied in der Beobachtung der Sinnes-region und in der Beobachtung der Temperamente ist der, daß, wenn man die Sinnesregion betrachtet, sich die einzelnen Regionen der Sinne sehr stark voneinander unterscheiden. Bei den Temperamenten steigt man schon tiefer in das Menschliche hinein; da enthüllt sich schon mehr von der universellen Natur des Menschen.
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Wenigstens, ich möchte sagen, ein Glled von diesem Schauen, aber nur ein Glied davon, mit Orientierung nach bestimmten Richtungen hin, aber wiederum abgestellt auf das heutige Schauen, ist dann ver-sucht worden, in der Ausmalung der kleinen Kuppel festzuhalten.
So muß der Mensch in dieser Weise vordringen. Sie sehen, Brunetto Latini schildert stückweise seine Initiation. Zugrunde liegt eine geistige Führung. Dann gelangt er schon in eine Region, in welcher der Mensch sich nicht mehr recht von der Außenwelt unterscheiden kann. Wenn der Mensch die Region seiner Sinne und die Region der Temperamente beobachtet, dann kann er sich noch sehr gut von der Außenwelt unterscheiden; aber dann kommt er in eine Region, in der er sich wenig noch unterscheiden kann, in der sozusagen sein Wesen mit der Außenwelt zusammenfließt: er kommt in die Region der vier Elemente. Da erlebt der Mensch sein Weben innerhalb von Erde, Wasser, Feuer und Luft, wie er mit diesen im Weltenall lebt. Er unter¬scheidet sich nicht mehr sehr stark mit Bezug auf seine Subjektivität von der äußeren Objektivität. Man erlebt höchstens noch stark den Unterschied in bezug auf das Irdische, aber mit Bezug auf das wässe¬rige, das flüssige Element, da fühlt man sich schon schwimmend in einer Art von All. Es ist noch ein Unterschied zwischen dem Subjek¬tiven und dem Objektiven, aber es ist eben, wenn man die Tempera¬mente betrachtet, viel weniger stark als bei den festen Sinnesorganen, bei denen man weiß: sie leben nur im Menschen innerhalb der physi¬schen Welt, sie leben nicht auch außerhalb.
Dann schlidert er, wie er weiter kommt in die Region der Planeten, wie er durch die Planetenregion durchgeht, und wie er dann, nachdem er durch die Planetenregion durchgegangen ist, den Ozean durchirrt, im Ozean den Ort erreicht, den die verschiedensten Mystiker bezeich¬nen als den Ort der Säulen des Herkules. Dann geht er hinaus über die Säulen des Herkules und ist nun vorbereitet, nachdem ihn dieses «Erkenne dich selbst» bis zu den Säulen des Herkules getrieben hat, aufzunehmen ein Wissen, eine Erkenntnis über die übersinnliche Welt. Die Säulen des Herkules sind für die Mystiker - insbesondere für die Mystiker der Zeit, von der ich jetzt spreche - dasjenige Erlebnis, durch das man noch stärker, als es bei den vier Elementen oder bei den
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Planeten der Fall ist, ganz aus dem Menschen herauskommt und die äußere Geistwelt betritt, die dann erst in der dritten Initiationsstufe in ihren konkreten Wesenheiten sich zeigt. Aber man betritt sie wie einen sich ausbreitenden Ozean, wie eine allgemeine Geistigkeit, im ersten Grade, den Brunetto Latini hier schildert. Er schildert dann weiter, wie - was ja sein mußte, nachdem er soweit gekommen war -eine starke Versuchung an ihn herantritt. Diese Versuchung, die schil¬dert er sehr sachgemäß. Er schildert, wie er in die Notwendigkeit ver¬setzt wird, neue Vorstellungen sich zu bilden über Gut und Böse, weil eben verlorengeht dasjenige, was ihn über Gut und Böse, solange er in der Sinneswelt war, aufgeklärt hat. Er schildert dann, wie er diese neuen Vorstellungen über Gut und Böse wirklich erlangt, wie er da¬durch, daß er alles das durchgemacht hat, gewissermaßen ein anderer Mensch geworden ist, ein Teilnehmer an der geistigen Welt. Man sieht an der Schilderung des Brunetto Latini ganz genau, wie jemand, der durch eine geistige Wesenheit selbst geführt wird, in dieser Zeit des ausgehenden griechisch-lateinischen Zeitalters von der sinnlichen in die übersinnliche Welt hineingeht.
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Halten wir fest diese Schilderung, die auch äußerlich in der Mensch-heitsentwickelung jene ungeheuer fruchtbare Wirkung gehabt hat, daß sie Dante, den Schüler des Brunetto Latini, angeregt hat zu der «Göttlichen Komödie», der «Divina Commedia». Wenn wir das fest-halten, daß es eine typische, eine repräsentative Einweihung war, die dieser Brunetto Latini schildert, daß er wirklich das schildert, was sich im Unterbewußtsein der Menschen gerade in dieser Zeit abspielt und was durch eine solche wirkliche Initiation erlangt, erkannt werden
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kann, so haben wir eben vor uns dasjenige, was im verglimmenden vierten nachatlantischen Zeitraum als Seelenverfassung da war.
Nun kann uns schon die Frage als bedeutsam interessieren: Wie änderte sich das in kurzen Zeiträumen? Nicht lange, ein paar Jahr-hunderte sind vergangen seit dem, was ich geschlidert habe. Wie ändert sich in kurzen Zeiträumen das, was da der Mensch im Unter-bewußtsein durchmacht und was in der Initiation ins Bewußtsein herauftritt? Natürlich, je höhere Initiationsstufen der Mensch erlangt, desto mehr, ich möchte sagen, verschwindet für seinen Geistesblick dasjenige, was bei den ersten Stufen gar sehr in Betracht kommt. Aber bei den ersten Stufrn muß man wirklich hinschauen auf dasjenige, was eigentlich das Bedeutsame ist. Denn diese ersten Stufen stellen gerade das dar, was sich in den weitaus meisten Menschenseelen eben tatsächlich abspielt, auch wenn sie es nicht wissen, auch wenn sie sich nicht dazu herbeilassen, durch Geisteswissenschaft oder gar durch Initiation ins Wissen heraufzuheben, was sich unbewußt in ihrem tieferen Menschen eigentlich immer abspielt. Da ist es sehr wichtig, daß man folgendes Beispiel ins Auge faßt. Ich habe gesagt: Brunetto Latini schildert, wie er hingeführt wird vor die Göttin Natura. Dann schreitet er durch gewisse Stufen: die Sinne, die Temperamente, die Elemente, die Planeten, den Ozean, wo er also schon draußen ist, wo er an der Grenze des Menschlichen, an den Säulen des Herkules hinübergetreten ist in das außen sich Ausbreitende, wo nicht einmal mehr das in Betracht kommt, was schon bei den Elementen der Fall ist, daß er nicht unterscheiden kann, wo er gewissermaßen sich selber verloren hat und in dem Meere des Daseins schwimmt.
Diese Säulen des Herkules spielen dann in der Symbolik eine große Rolle als Jakim und Boas-Säule, wobei nur zu bemerken ist, daß in den heutigen Geheimgesellschaften diese Säulen nicht mehr in der richtigen Weise aufgestellt werden können, auch nicht mehr auf-gestellt werden sollen, weil sich diese richtige Aufstellung eben bei der wirklichen innerlich erlebten Initiation erst zeigt. Außerdem kann man sie im Raume nicht so aufstellen, wie sie in Wirklichkeit eben sich aufgestellt zeigen, wenn der Mensch seinen Leib verläßt.
Nun, damit hat man gewissermaßen, wenn ich mich des trockenen
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Ausdruckes bedienen darf, das Schema hingestellt, weiches durchlebt wurde an der Wende des 12. zum 13. Jahrhundert, erlebt wurde auch von einem solchen Menschen, der die Initiation so durchmachte wie der Lehrer Dantes, Brunetto Latini. Nun kann man das vergleichen mit dem, was heute in den Untergründen der Menschenseelen vor¬geht. Gar so sehr ist es ja nicht verschieden. Aber wenn heute der Mensch unmittelbar bei der ersten Stufe der Initiation unter der Füh¬rung dieser ja auch heute vorhandenen riesigen Frauengestalt, der Göttin Natura, hintreten wollte vor die ihm von ihr gezeigte Schöp¬fung, dann fängt ja in der Schöpfung der übersinnliche Weg für ihn erst an.
Wenn der Mensch heute gleich vor die Sinne hintreten würde oder in die Sinne hinein wollte, so würde er sich der Gefahr aussetzen, innerhalb der Sinnesregion ziemlich im Finstern zu sein. Er würde gewissermaßen ohne eine ordentliche Beleuchtung in der Sinnesregion sich aufhalten müssen und dann nichts Ordentliches auch unterschei¬den können in dieser Sinnesregion Heute ist nämlich notwendig, daß vor dieser Sinnesregion noch ein anderes Erlebnis durchgemacht wird. Das Durchmachen dieses andern Erlebnisses bereitet einen erst in der rechten Weise vor, in diese Sinnesregion eindringen zu können. Und dieses Erlebnis habe ich Ihnen gestern schon angeführt. Es ist einfach die Möglichkeit, Geistig-Ideelles als äußerliche Wirklichkeit in der Metamorphose der Gestaltung der Welt zu schauen. Also bevor man in die Sinnesregion eintreten will, soll man sich bemühen, die Metamorphose der Gestalten in der Außenwelt zu verfolgen. Goethe hat nur die Elemente gegeben, aber die Methode ist schon bei ihm zu finden. Ich habe gesagt: Was Goethe für die Pflanzen, für das tierische Skelett gefunden hat, das zeigt sich in der Metamorphose so weiter ausgebildet, daß uns unser Haupt auf das frühere Erdenleben, unser Extremitätenorganismus auf das spätere Erdenleben hinweist. Also dieses In-die-Möglichkeit-versetzt-Sein, die Welt nicht als fertige, ruhige Gestaltung hinzunehmen, sondern in der unmittelbar vor¬liegenden Gestalt den Hinweis auf eine andere Gestait zu sehen, das Versetztsein in diese Möglichkeit, das ist schon eine notwendige Vorstufe der gegenwärtigen Initiation.
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Sie finden auch Anhaltspunkte zu dieser Anschauung in der Weise, wie sie am richtigsten vom gegenwärtigen Menschen absolviert wer¬den kann, gleich im Beginn meines Buches «Wie erlangt man Er-kenntnisse der höheren Welten?» geschildert. Das wird schon er-reicht, wenn in der richtigen Weise die Anweisungen dieses Buches befolgt werden, daß, wenn Sie einem Menschen gegenübertreten, Ihnen aus seinem Kopf etwas hetausspringt wie die Vorstellung seiner früheren Inkarnation. Sie können gar nicht anders, ais seinem Kopfe etwas von der Gestaltung in der früheren Inkarnation anempfinden. Wenn Sie ihm nachgehen, sehen, wie er die Füße aufstellt, mit den Armen schlenkert, oder wenn Sie vor ihm stehen und seine sonstigen Gesten mit Armen und Händen beobachten, dann bekommen Sie ein Gefühl, wie es in der nächsten Inkarnation mit seiner Gestaltung bestellt sein wird. Ich habe deshaib in öffentlichen Vorträgen öfter gesagt, indem ich dieses schon vor vielen Jahren auseinandergesetzt habe: Mit den wiederholten Erdenleben ist es eigentlich gar nicht einmal so schlimm, daß der Materialismus sich ganz und gar dagegen zu wehren brauchte. Wenn er nur ein Weniges verstünde von der menschlichen Gestalt, so sind ja die wiederholten Erdenleben gar nicht etwas, wogegen der Materialismus sich zu sträuben braucht, denn sie sind handgreiflich. Und wenn Sie zum Beispiel nicht nach dem Buche, sondern nach der erlebten Einsicht Phrenologe, Schädel-untersucher sind, dann untersuchen Sie mit dem Schädel eigentlich die Gestaltung der früheren Inkarnation, das ist handgreiflich die frühere Inkarnation! Also man muß natürlich diese Metamorphosengestalt, Metamorphosenanschauung des Lebens bis in diese Region aus¬dehnen. Man muß gewissermaßen sich aneignen - ich habe vom sozia¬len Gesichtspunkte von dieser Aneignung gesprochen - ein so starkes Interesse für den Menschen, daß einem aus seinem Schädel fortwäh¬rend ins Gesicht springt etwas von der Empfindung seiner früheren Inkarnation, weil der Schädel der umgestaitete Mensch in einer frühe¬ren Inkarnation in gewisser Beziehung, namentlich in bezug auf das Physiognomische und die Gestaitung der Kopfformation ist. Und so erlangt man eine Anschauung der Welt, welche nicht stehenbleibt bei der einen Gestalt, wie Goethe nicht beim Blütenblatt und grünen
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Laubblatt stehenbleibt, sondern eines auf das andere bezieht. So er-langt man eine solche Anschauung, welche nicht stehenbleibt bei der einzelnen Gestalt, sondern von Gestalt zu Gestait weitergeht, die Ver¬wandlung der Gestairungen ins Auge faßt.
Ich habe versucht, eine Empfindung hervorzurufen von solchem Gestaltenwandel, indem ich diesen Gestaltenwandel selber habe fest¬zuhalten gesucht in unserer Holzarchitektur, beim Übergang von einem Kapitäl in das nächste und in die weiteren Kapitäle, bei der Weitergestaltung der Architrave, wo alles aufgebaut ist nach diesem Prinzip der Metamorphose. So daß derjenige, der einmal unsere Säulenfolge und was dazugehört, in unserem hiesigen Goetheanum sehen wird, eine Vorstellung haben wird, wie man sich beweglich mit Bezug auf seine Seelenverfassung zur Außenwelt zu verhalten hat. Wenn man diese Vorstufe absolvieren will, die notwendig ist für den heutigen Menschen - und lange noch notwendig sein wird für den Menschen der Zukunft -, sich hineinfindet in das innere Verständnis, wie die zweite Säule aus der ersten mit Sockel und Kapitäl und Architrav hervorgeht, die dritte aus der zweiten Säule und so weiter, dann findet man in diesem wirklichen Verständnis einen Anhaits¬punkt, um eben nach den heutigen Möglichkeiten erst in das Innere der Sinnesregion vorzudringen. So ist festgehalten unten in der Säu¬lenregion etwas, was schon zusammenhängt mit dem gegenwärtigen Initiationsprinzip. Und weiter in der Kuppelregion finden Sie etwas anderes, was mit dem heutigen Initiationsprinzip zusammenhängt; da gehen die Dinge etwas verändert vor sich.
Also in dem Zeitalter des Brunetto Latini konnte den Menschen noch erspart werden dasjenige, was man hier nennen kann die Meta¬morphosen des Lebens (siehe Schema Seite 134>, aus denen man dann in die Region der Sinne hineinkommt. Wollten wir die Sache schema¬tisch uns vergegenwärtigen, so könnten wir sagen: In dem Zeitalter des Brunetto Latini konnte man noch - wenn wir das Auge als Re¬präsentanten nehmen - direkt ins Auge hineingehen und dieses als erste Region empfinden. Heute muß man zuerst dasjenige, was den Menschen umhüllt, betrachten. In diesem den Menschen Umhüllenden, was vor der Region der Sinne äußerlich liegt, da prägen sich die
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Metamorphosen des Lebens aus. Es liegt vor den Sinnen. Das muß man bewußt durchschreiten.
Nun geht man auch heute durch Sinnesregion, Temperamenten-region, Elementenregion, Planetenregion durch. Dann aber ist es not-wendig, bevor man sich heute durch die Säulen des Herkules in den freien Ozean der Geistigkeit begibt, daß wiederum eine Einschiebung geschieht. Also hier (siehe Schema Seite 134) lagert sich etwas vor, hier geschieht eine Einschiebung. Diese Einschiebung brauchte in der Zeit des Brunetto Latini noch nicht erlebt zu werden. Sie wird sich nicht leicht schildern lassen, weil diese Dinge selbstverständlich in¬timen und subtilen Regionen des menschlichen Eriebens angehören. Aber man kann vielleicht doch in der folgenden Art eine Schilderung bieten, gerade indem man auf Brunetto Latihi hinweist. Brunetto Latini erlebte, gewissermaßen als das erste Zeichen seiner Führung durch eine Geistwesenheit, das, was ihm die Mitteilung war, daß seine Vaterstadt für ihn unterhöhit sei. Es ist das ein Ereignis, das in den Menschen Brunetto Latihi hineinspielt, das aber doch seinem Tat¬sacheninhalte nach äußerlich war, von der Außenwelt hineinspielte. Dieses Ereignis, das ihn so stark erschütterte, daß er eben mit seinem Geistig-Seelischen aus dem Leiblichen herausging, schilderte er als etwas, was in sein Leben eintrat, was in seinem Leben vorging. Man kann sagen, dieses Ereignis wird von ihm nicht bewußt, sondern wie etwas geschildert, was an ihn herantritt wie ein Schicksalsereignis.
Ein solches Ereignis, oder eigentlich ein ähnliches - Sie werden darauf auch hingewiesen finden an einer Stelle meines Buches «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» -, muß der heute zu Initijerende ganz bewußt durchmachen. Aber es muß bei ihm ein inneres Erlebnis sein, das er nicht wie Brunetto Latini im Zusammen¬hang mit der Außenwelt, sondern das er innerlich durchmacht: irgend etwas, was innerlich stark verwandelnd auf den Menschen wirkt. Solche Ereignisse gibt es schon im Leben der weitaus meisten Men¬schen, nur beachten es die Menschen kaum stark. Wer sein Leben überblickt, wird schon sehen können, daß Ereignisse - wenn ich so sagen darf, trotzdem das trivial ist - allerersten Ranges, und ins¬besondere ein Ereignis allerersten Ranges in das Leben hereinspielen.
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Man versuche nur einmal, nicht so sehr nach der äußerlichen Bedeu¬tung, sondern nach dem inneren Wandel, den es im Menschen hervor-bringt, auf ein solches Ereignis im Leben zurückzublicken. Man wird dann auf eines aufmerksam sein, auf das man eigentlich recht auf¬merksam sein sollte: Man wird aufmerksam werden darauf, daß eben solche Ereignisse in dem Leben der Menschen nicht tief genug ge¬nommen werden. Sie können unendlich viel tiefer, das heißt erschüt¬ternder, bemerkbarer im Leben genommen werden, als es heute ge¬schieht. Man kann schon durch eine gewisse allgemein-menschliche Innerlichkeit manches im Leben vertieft spüren, aber es wird doch gegenüber dem, was man namentlich von Ereignissen allerersten Ranges erleben kann, über eine gewisse Oberflächlichkeit nicht hin¬auskommen, wenn man nur bei dem gewöhnlichen Menschlichen bleibt. Denn solche Ereignisse, wie ich sie meine, die lassen sich eigentlich nicht im gewöhnlichen Bewußtsein ihrer vollen Geltung nach erkennen. Man muß erst die andern Stufrn durchmachen. Dann zeigt sich, wenn man die Metamorphosen des Lebens, wenn man die Region der Sinne, der Temperamente, der Elemente, der Planeten durchgemacht hat und hierhergekommen ist (siehe Seite 134), daß man in einer neuen Gestalt gerade ein solches Erlebnis wiederum beobachten kann, und daß man jetzt, wenn man schon ein stark ver¬wandelter Mensch geworden ist, zu seiner eigentlichen Tiefe vor¬dringt, indem man sich als ein Angehöriger nicht nur der Erde, son¬dern der Himmelswelten, der Planetenregion erkannt hat. Dann e?¬kennt man erst so recht die Bedeutung von solchen Erlebnissen aller-ersten Ranges. Dann wird einem erst klar, was für einen selbst und für die Welt solch ein Erlebnis bedeuten kann. Und man muß, wenn man da durchgeht, auf das wichtigste Ereignis seines Lebens schon kommen.
Wenn man, bevor man in den weiten Ozean der Geistigkeit hinaus-tritt, hier ankommt, so kann es nicht fehlen, sofern man nicht ein ganz starker Egoistling ist und noch irgend etwas anderes kennt in der Welt als sich selbst, daß, während man durch die früheren Stufen durchgeht, man aufmerksam wird auf dieses Ereignis. Bevor man in den Ozean der Geistigkeit hinaustritt, tritt einem schon in der völligen
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Stärke dieses Ereignis vor die Seele. Aber es schiebt sich eben da ein. Und dieses Ereignis, das bedeutet an dieser Stelle des inneren Er¬lebens außerordentlich viel. Es bedeutet, daß man jetzt eigentlich erst hinausfahren kann in den unermeßlichen Ozean der Geistigkeit; es bedeutet, daß man durch dieses Erlebnis einen gewissen Schwerpunkt erlangen kann. Ich möchte sagen: Würde man unter den heutigen Geistesverhältnissen einfach, nachdem man sich erkannt hat als Bür¬ger der Planetenwelt, hinausschiffen wollen auf den Ozean der Geistig¬keit, man würde in ein Wellenmeer hineinkommen, würde sich nir¬gends sicher fühlen, würde unter allen möglichen geistigen Erleb¬nissen hin und her geworfen werden, würde nicht einen innerlichen Schwerpunkt haben. Diesen innerlichen Schwerpunkt muß man schon dadurch finden, daß man ein solches Ereignis allerersten Ranges, das sich in der Regel niemals in den bloßen Regionen des Egoismus ab¬spielen wird, sondern das eine allgemein-menschliche Bedeutung haben wird, wirklich tief innerlich durchlebt, und man sich selbst in ihm tief innerlich durchlebt. Man kann heute sagen, indem man ganz genau den Tatsachenbestand ausspricht: An den Säulen des Herkules muß, bevor der Mensch diese Säulen des Herkules durchschifft, sein bedeutsamstes Erlebnis vor ihn hintreten, Vertieftestes im Erlebt-werden. Da fühlt der Mensch an dieser Stelle des Erlebens eine ganz besondere Vertiefung seines Wesens. Da kommt etwas über ihn, von dem man sagen kann, es trägt die objektive Welt in sein Inneres her¬ein. Es kommt schon etwas an den Menschen heran, wenn er hier durchkommt - so geartet, wie ich das eben geschildert habe - durch die Säulen des Herkules, das man etwa in der folgenden Weise schil¬dern kann: Wenn der Mensch natürlich auch immer wiederum bei dieser oder jener Gelegenheit in dasjenige zurückfällt, was sich im Lichte seines gewöhnlichen Bewußtseins abspielt, auch wenn er diese Erlebnisse hat, wenn er auch nicht bei jedem Schritt und Tritt seines Lebens gewissermaßen aufrechterhalten kann diese Seelenstimmung, die sich hier erzeugt, so wird es doch, wenn diese Seelenstimmung einmal durchgemacht worden ist, immerhin Momente geben, und immer sich wiederholende Momente geben, die mit dieser Seelen-stimmung zusammenhängen. Denn es würde gar nicht gut sein, wenn
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der Mensch, nachdem er diese Seelenstimmung erlebt hat, ganz wieder aus ihr herauskommen würde. Was mit dieser Seelenstimmung ge¬meint ist, das läßt sich etwa in folgender Art charakterisieren.
Man möchte bei diesen Dingen immer sagen - Hand aufs Herz, meine lieben Freunde -: Für das gewöhnliche Bewußtsein bleibt es doch bestehen, daß, auch wenn der Mensch noch so selbstlos ist, es für ihn das Allerwichtigste, wenigstens verhältnismäßig das Aller-wichtigste ist, was innerhalb seiner Haut vorgeht. Wichtiger ist eben doch in der Regel für das gewöhnliche Bewußtsein dasjenige, was Innerhalb der Haut vorgeht, als was außerhalb der Haut vorgeht. Aber das ist eben eine Seelenstimmung, die gerade hier beim Betreten des Ozeans erzeugt werden soll, damit sie wenigstens für wichtige Lebensmomente beibehalten werden kann: daß es für den Menschen äußere Dinge geben kann, die ihn subjektiv gar nichts angehen, die er aber gerade so stark miterlebt wie diejenigen Dinge, die ihn subjektiv angehen. Heute hat der Mensch, wenn er will, reichlich Gelegenheit, sich gut vorzubereiten für diese Seelenstimmung, die an dem ge¬schilderten Punkte erlebt wird. Denn wenn er sich einläßt nicht auf subjektive Naturerkenntnis oder dergleichen, sondern auf wahr¬haftige Naturerkenntnis, namentlich wenn der Mensch versucht, von solcher Naturerkenntnis auszugehen, so wird schon viel von dieser Stimmung erzeugt, aber sie muß erzogen werden an jener Stufe auf die Art, wie ich sie geschildert habe. Dann, wenn der Mensch diese Stimmung haben kann, wenn er so, wie es hier geschieht, das wich¬tigste Ereignis seines Lebens erfahren kann, so vertieft erfahren kann, dann bekommt er, wenigstens für viele Momente des Lebens, diese Stimmung der Objektivität, die ich geschildert habe, wo ihm Äußeres so wichtig sein kann wie Inneres, wo das wahr ist, daß ihm Äußeres so wichtig sein kann wie Inneres. Viele Menschen behaupten zwar das oder jenes; das ist aber dann nicht wahr, sie täuschen sich selber über die Sache. Aber damit hat der Mensch zugleich einen Schwerpunkt erlangt, eine Richtung würde ich vielleicht besser sagen, einen Kom¬paß, durch den er die Möglichkeit hat, nun wirklich auf den Ozean des geistigen Lebens hinauszutreiben. Hier (+, siehe Schema Seite 134) muß also dasjenige eintreten, was man nennen kann das Ausgerüstetwerden
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mit dem Werkzeug der Richtung. Man betritt also die Säulen des Herkules und wird ausgestattet mit dem Werkzeug der Orientierung, dem Kompaß. Dann erst, also nachdem er mehr erlebt hat, kann der moderne Mensch in die Geistigkeit hinausfahren.
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Sie sehen an den Beispielen, die ich Ihnen jetzt geschildert habe, an der Initiation des Brunetto Latini und an der Umwandlung dieser Initiation bis in unsere Tage - und das wird noch lange gelten -, daß die Menschennatur sich auch für kürzere Zeiträume in einer Verwand¬lung schildern läßt, wenn man versucht, sie mit der Initiationswissen¬schaft zu beschreiben. Das alles, was man so schildert, trägt aber der Mensch wirklich in sich. Das charakterisiert den Wandel, den die menschliche Seelenstimmung im Lauf der Jahrhunderte durchmacht. Die Menschen werden gewöhnlich nur nicht aufmerksam auf diese Dinge, und sie drücken sich dann eben in dem äußeren Leben wie in ihrem Abglanz aus. In dem Zeitalter des Brunetto Latini, dessen Schüler eben Dante war, ist man so Christ, wie Dante Christ ist. Da geht noch durch die menschliche Seele hindurch die ganze Himmels-welt, indem man sich wirklich christlich fühlt. In unserem Zeitalter ist dieser Ruck zurück gemacht worden, wir rücken nur ein bißchen heraus, so daß wir eine Region vor den Sinnen durchmachen müssen, bevor wir wiederum heraustreten, damit wir jetzt die Region, die wir vorher von außen schon kennengelernt haben, nicht in derselben
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Weise betreten, sondern, bevor wir uns weiter aus dem Leibe lösen, sie verändert betreten, mit einem neuen Werkzeug orientiert werden. In dieser unserer Zeit hat sich das im Abglanz äußerlich so verwan¬delt, daß die am meisten denkenden Menschen, die sich gerade aus¬rüsten mit dem wissenschaftlichen Gewissen unserer Zeit, welches aber diesen Kompaß nicht hat - es hat ihn wahrhaftig nicht -, den Christus Jesus verloren haben. Er kann nicht mehr bewiesen werden mit den Mitteln, die man heute wissenschaftlich nennt, und die Reli¬gion selbst, die christliche Religion ist in den Materialismus verfallen. Sie strebt auch sehr stark nach dem Materialismus. Eines der stärk¬sten Beispiele für das Hinstreben nach dem Materialismus im Katho¬lizismus war die Aufstellung des Infallibilitätsdogmas, eine rein mate¬rialistische Maßnahme. Ich habe davon schon vor einiger Zeit ge¬sprochen.
Nun könnten Sie sagen: Und trotz alledem, wenn man hinein-schaut in das Innere des Menschen, zeigt sich dieser Ruck! - Der Mensch ist mit seinem Wesen etwas heraußen aus der Region der SInne; dafür aber hat er eine Art Höhlung, wo unbewußt das wich¬tigste Ereignis seines ganzen Lebens auf seinen ganzen Organismus Einfluß nimmt, so daß er dann so erleben kann, wie ich es geschildert habe. Denn das hat schon Einfluß auf den Menschen, wenn er auch nichts davon weiß, aber es kann in der verschiedensten Weise sich ausleben, wenn es im Unbewußten verläuft. Der eine wird vielleicht sieben Jahre, nachdem er dieses wichtigste Ereignis durchgemacht hat, ein unleidiger Kerl, oder begeht allerlei Schändlichkeiten, ein anderer verliebt sich - er braucht es nicht gleich zu tun, das Verlieben selbst kann dieses wichtigste Ereignis darstellen -, ein Dritter kriegt Gallensteine und so weiter. In der verschiedensten Weise kann sich, wenn das Ereignis im Unbewußten bleibt, die Sache im menschlichen Dasein ausleben. So sieht das im Inneren des Menschen aus, was so in das Bewußtsein hereintritt, wie ich es geschildert habe. Im Äußeren des Menschen stellt es sich so dar, daß neben vielem anderen - ich habe ja nur die eine Sache erwähnt - man den Christus Jesus verliert.
Da können Sie sagen: Was sich im Inneren des Menschen aus sei-nem Leibe heraus bis zu einem gewissen Grade als dieses Rückfluten
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darstellt, hat also äußerlich ein wenig erfreuliches Resultat! - Das ist aber auch nur scheinbar. Ein jegliches hat in der Welt zwei Seiten. Es gab in der Mitte ungefähr und auch im letzten Drittel des 19. Jahr¬hunderts den theoretischen Materialismus: der dicke Vogt in Genf, Moleschott oder Ludwig Büchner> sie alle waren theoretische Materia¬listen. Clifford hat den Ausspruch getan, daß das Gehirn Gedanken ausschwitze wie die Leber die Galle; also einen rein materiellen Vor¬gang sah Clifford in dem Bilden von Gedanken: wie die Galle aus der Leber kommt, so kommen Gedanken aus dem Gehirn. Dieses mate¬rialistische Zeitalter sah bloß auf die Materie hin; aber die Leute dach¬ten doch über die Materie, und man kann zweierlei anschauen: Man kann in diesem Zeitalter lesen die Bücher von Clifford, von Ludwig Büchner, meinetwillen auch Auguste Gomte, dem dicken Vogt in Genf und so weiter; dann kann man sich, wenn man noch Sympathie und Antipathie bei solcher Lektüre entwickelt, fürchterlich darüber ärgern, daß die Leute in dem Entwickeln der Gedanken nur ein Ausschwitzen aus dem Gehirn sehen. Man kann das bitter empfinden. Nun schön! Wenn man nicht ein Materialist ist, so kann man das. Aber man kann es auch anders anschauen. Man kann sagen: Was da der Clifford, Au¬guste Comte, der Vogt in Genf, was die da über die Welt gesagt haben, das sehe ich als Wischiwaschi an, dafür interessiere ich mich nicht. Aber ich will jetzt in das, was da im eigentlichen Denken von Vogt, von Clifford, von Auguste Comte vorgeht, einmal selbst hinein¬schauen. Diese Art zu denken, daß die Gedanken nur aus dem Gehirn ausgeschwitzt werden wie Galle aus der Leber, das ist zwar Wischi-waschi, danach will ich mich nicht richten, was Vogt sagt, sondern danach, wie er denkt.
Da stellt sich etwas Merkwürdiges heraus, wenn man das tun kann. Da stellt sich heraus, daß die Art zu denken, die die Leute entwickelt haben, der Keim einer sehr weitgehenden Spiritualität ist. Die Ge-danken sind in ihrer eigenen Substanz - weil sie ja nur Spiegelbilder sind, wie ich vorgestern auseinandergesetzt habe - so furchtbar dünn, sie sind noch dünner als dünn, weil sie ja nur Bilder sind, sie sind so dünn, daß sie erfordern, daß der Mensch eine ungeheure Geistigkeit anwendet, um überhaupt noch zu denken, um zu verhindern, daß das
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hinuntersinkt und ergriffen wird von dem bloß Materiellen des Da-seins. Es wird auch sehr häufig heute ergriffen von dem Materiellen des Daseins, sinkt hinunter, und ich bin sogar überzeugt, daß die meisten heute noch materialistisch denkenden Menschen, wenn sie nicht auf der Schule gedrillt worden wären, nicht an den Universi-täten geochst hätten, um zum Examen zu kommen, wenn sie nicht den Materialismus eingesogen hätten, weil der Professor ihn als die richtige Weltanschauung verlangt, sich das Denken erspart hätten, das zur materialistischen Weltanschauung aufgewendet werden muß! Sie möchten am liebsten nicht denken! Die meisten gingen auch lieber auf den Paukboden, zur Korpskneipe, als daß sie ihr Denken in Akti¬vität brächten, oder sie reden nach. Wenn Sie einmal den Versuch machen würden, die wirklichen erkannten Weistümer, die sich bloß auf die Materie beziehen, bei all den Individuen zu studieren, die als Mitglieder monistischer Gesellschaften, wie sich heute etwas nobler die Materialisten nennen, so in der Welt herumlaufen, lange Reden halten, wenn Sie studieren würden, was die eigentlich gedacht haben:
Sie würden furchtbar wenig finden! Die reden eigentlich meistens nach. Eigentlich haben den Materialismus nur ein paar Autoritäten begründet; die andern reden nur nach. Weil nämlich, um die moder¬nen naturwissenschaftlichen Gedanken zu hegen, eigentlich eine starke Anstrengung des Geistes notwendig ist! Diese Anstrengung, die ist eine geistige Anstrengung, die ist wahrhaftig nicht so aus-geschwitzt vom Gehirn wie die Galle von der Leber. Das ist eine geistige Anstrengung, eine gute Vorbereitung, um gerade zum Spiri¬tuellen aufzusteigen. Ehrlich materialistisch gedacht zu haben, aber ehrlich selbst gedacht zu haben, das ist eine gute Vorbereitung für ein Eindringen in die spirituelle Welt.
Ich habe das einmal in einem Berliner Vortrag dadurch aus-gedrückt, daß ich sagte: Wer Haeckels Bücher nur liest, der erkennt natürlich in Haeckel - wenn er nicht manches, was zwischen den Zeilen doch bemerkbar ist, ins Auge faßt - leicht einen Materialisten von reinstem Wasser. Aber gerade wenn man mit Haeckel redet, dann merkt man, daß eigentlich sein ganzes Denken, insofern es materia¬listisch ist, nur durch die Vorurteile der Zeit diese Gestaltung annimmt,
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daß es abet schon hintendiert - schon wie er jetzt ist, dieser Haeckel - zum Spirituellen. Daher sagte ich in diesem Berliner Vor¬trag: Man erkennt Haeckel dann richtig, wenn man sich klar ist, daß er theoretisch gleichsam diese materialistische Seele hat, daß er aber eine andere Seele hat, die nach dem Spirituellen hintendiert. - Für uns kann ich sagen: die ganz gewiß in der nächsten Inkarnation mit einer starken Spiritualität wiedergeboren wird. Der Stenograph, der dazu-mal offiziell von uns angestellt war, ein richtiger Berufsstenograph, hat geschrieben, daß ich gesagt hätte, Haeckel hätte trotz seines Mate¬rialismus eine spiritistische Seele.
Also darauf wollte ich hinweisen, daß man, was da als materia-listische Denkweise auftritt, gewiß bekämpfen kann, nicht scharf genug bekämpfen kann, denn im Bekämpfen liegt gerade das Weiter¬entwickeln zum Spirituellen, aber es ist innerlich darin die Kraft zur Spiritualität. Und in den Seelen, die heute bloß unter dem Einfluß der äußeren Theologie zu einem ganz äußerlichen oder gar schon ver¬logenen Christus-Begriff gekommen sind, entwickeln sich auf spiri¬tuelien Wegen Fähigkeiten, die sie dazu bringen, in der Zukunft die¬sen Christus-Begriff zu suchen. Das soll nicht etwa eine Aufforderung zur Bequemlichkeit sein, man soll nicht etwa sagen: Na, dann wird die Geistesanschauung schon kommen, denn der dicke Vogt, Clifford und so weiter haben sie ja gut vorbereitet! - Da muß schon mit¬wirken, daß derjenige, der weiß, welche Finsternis der Materialismus bedeutet, gegen den Materialismus kämpfe! Denn es ist die Kraft, die in diesen Kämpfrn wirkt, notwendig, damit die Veranlagung zur Spiritualität in den theoretischen Materialisten ausgebildet werde.
Aber Sie sehen, wie die Dinge kompliziert sind, wie sie ver¬schiedene Seiten haben. Dann, wenn man versucht, durch die Initia-tionswissenschaft in die Tiefen der Welt einzudringen, dann erlangt man erst vertiefte Menschenerkenntnis, dringt durch zu dem, was in den Tiefen der Menschennatur wirkt.
SIEBENTER VORTRAG Dornach, 31. Dezember 1918
#G187-1967-SE139 - Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?
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SIEBENTER VORTRAG
Dornach, 31. Dezember 1918
#TX
Es entspricht wohl einem elementarischen Bedürfnisse jeder einzelnen Menschenseele, an dem Tage, der das Jahr schließt, bevor das neue Jahr beginnt, die Gedanken hinzulenken auf die Vergänglichkeit des Zeitlichen. Und der Mensch schaut wohl aus diesem elementarischen Bedürfnisse heraus prüfend, forschend, seibsterkennend zurück auf das, was in dem verflossenen Jahre an sein äußeres Leben, an seine Seele herangetreten ist. Er schaut wohl auch zurück auf die Fort-schritte, die er im Leben gemacht hat, auf die Früchte der Erfahrun¬gen, die sich ihm durch das Leben ergeben haben. Wenn solche Rückschau gehalten wird, dann fällt gewissermaßen von dieser Rück¬schau aus eine Art Beleuchtung auf jenes Gefühl, welches uns das Menschenleben mehr oder weniger wertvoll, mehr oder weniger problematisch oder auch mehr oder weniger befriedigend erscheinen läßt. Wir sind niemals in der Lage, unser Leben nur so zu betrachten, wie wir es als einzelne Menschenindividualität führen. Wir fühlen uns gedrängt, unser Leben im Zusammenhange mit dem Weltganzen und mit dem Menschenganzen zu betrachten. Treiben wir im Ernst eine geisteswissenschaftliche Weltanschauung, so wird sich insbesondere die Notwendigkeit vor unsere Seele hlnstellen, unser Verhältnis zur Welt immer wieder und wiederum an diesem Jahreswendepunkte, dem Abschluß des einen und dem Beginn des andern Jahres, zu be¬trachten.
Aber wenn diese Betrachtung jetzt stattfindet, in einem Zeit-abschnitte, in dem so vieles an unserer Seele vorbeigezogen ist, in dem vor allen Dingen alles das vor unserer Seele steht, was die Menschheit in den letzten viereinhalb Jahren durchgemacht hat, und wenn man als Geisteswissenschafter sein Verhältnis in Betracht zieht zu Welt und Menschheit auf dem Hintergrunde der ja unvergleichlichen Welt-ereignisse der letzten Jahre, dann nimmt sich wohl gerade die Jahres-schau dieses Jahres in einer ganz besonderen Weise aus.
Episodisch, ich möchte sagen, abgestimmt auf all das, was ich jetzt
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eben angeschlagen habe, herausfallend aus unserem übrigen Zusam¬menhange, mögen daher diejenigen Gedanken von Ihnen aufgenom¬men werden, die ich heute vorbringen mochte. Vergänglichkeit, Wechsel der Zeit und der Ereignisse in dieser Zeit, wie das alles an die Menschenseele herantritt, das steht vor unserem Geistesauge in diesem Augenblicke. Aber als Geisteswissenschafter werden wir nicht vergessen, daß, wenn wir auf die verfließende Zeit, die Erfahrungen, die wir in dieser verfließenden Zeit gemacht haben, zurückblicken, mancherlei Schwierigkeiten der Betrachtung auch sich geltend machen. Schwierigkeiten der Weltbetrachtung sind es vor allem, welche an dasjenige Gemüt herantreten, das sich im Ernste und in aller Würde geisteswissenschaftlichen Gedanken hingibt.
Sie kennen alle jene eigentümliche Erscheinung, welche Leute be-fällt, die noch nicht oft im Eisenbahnzug gefahren sind. Sie sehen zum Fenster hlnaus, und es kommt ihnen vor, als wenn sich die ganze Landschaft bewegte, als wenn die ganze Landschaft ihnen entgegen-eilte. Sie spüren nicht, daß sie selbst im Zuge in Bewegung sind, sondern sie schreiben die Bewegung der Landschaft zu, durch die sie mit dem Zuge hindurchfahren. Erst allmählich, durch Lebensgewohn¬heiten, verliert man diese Illusion und setzt auch für das gewöhnliche Anschauen, das sich einem darbietet, wenn man zum Fenster hlnaus¬blickt, das Richtige. Im Grunde sind wir dem Weltengetriebe gegen¬über immer in der Lage, wie solch ein Mensch im Eisenbahnzuge ist, nur in einer etwas komplizierteren Weise. Er täuscht sich, dieser Mensch, über die Ruhe und Bewegung dessen, was draußen in der Landschaft ist. Der Mensch durcheilt die Weltenereignisse, indem er eingebettet ist in seine physisch-ätherische Körperlichkeit, die ihm wie ein Fuhrwerk gegeben wird, wenn er hereintritt aus geistigen Gebieten in das physische Dasein zwischen Geburt und Tod. Durch die Werkzeuge dieses physischen Fuhrwerkes, in dem er seinen physi¬schen Lebenslauf durcheilt, betrachtet er die Welt. Und in dieser Weltbetrachtung erscheint das weitaus meiste in einer illusionären Weise. So daß wir wirklich den Vergleich wagen können: Wir sehen die Welt so falsch wie derjenige, der, ungewohnt des Eisenbahn¬fahrens, die Landschaft draußen sieht, von der er vermeint, daß sie
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an ilun vorübersaust. Und die Korrektur dieser illusionären Welt-anschauung, der sich die Menschen hingeben, ist nicht so leicht wie die Korrektur beim Hinausschauen aus dem Fenster des Eisen-bahnzuges.
Solch ein Gedanke mag Ihrer Seele kommen zu Silvester gerade dieses Jahres, im Laufe dessen wir mancherlei von landläufigen Welt-vorstellungen zu berichtigen hatten. Sie wissen, wie ich Ihnen ge¬sprochen habe über die Erfahrungen, die wir machen würden, wenn wir bewußt das Leben so durchlaufen würden, wie wir es unbewußt machen von der Kindheit bis ins späte Alter. Ich habe Ihnen gesagt, wie der Mensch erst in bestimmten Jahren seines Alters reif wird, das oder jenes aus sich selbst heraus wirklich zu wissen. Mit Bezug auf diese verschledenen Reifezustände des menschlichen Lebens muß sich der Mensch aus den Gründen, die ich eben jetzt angedeutet habe, mancherlei Illusionen hingeben.
Zweierlei Illusionen sind es vor allen Dingen, denen wir im Leben unterworfen sind, die sich auch sogleich in unser Gemüt hlnein-senken, wenn wir etwa zu Silvester einen Rückblick auf das verflossene Jahr oder einen Vorblick auf das nächstliegende Jahr machen, zwei Illusionen, die davon kommen, daß wir keine Ahnung haben im ge¬wöhnlichen Bewußtsein, wie wir eigentlich mit Bezug auf gewisse Verhältnisse zur Außenwelt stehen. Diese Außenwelt ist nicht nut eine räumlich geordnete Summe von Dingen, sondern diese Außen-welt ist ein Verlauf von Ereignissen. Sie beobachten durch Ihre Sinne die äußeren Ereignisse, die um Sie herum vorgehen, insofern diese Ereignisse Naturereignisse sind. Auch die Naturereignisse im Men¬schenreiche betrachten Sie so. Die Welt ist im Werden, die Welt ist in Vorgängen begriffen. Man denkt gewöhnlich nicht daran, aber es ist doch so! Diese Vorgänge spielen sich ab mit einer gewissen Ge¬schwindigkeit. Was sich abspielt, hat immer eine gewisse Geschwin¬digkeit. Dann können Sie von diesen Vorgängen hlnblicken auf das¬jenige, was sich in Ihnen selbst abspielt. Sie wissen, bewußte und un¬bewußte Vorgänge spielen sich in Ihnen selbst ab. Nicht nur als ein fertiges, abgeschlossenes Raumeswesen stehen Sie derWelt gegenüber, sondern Sie stehen der Welt so gegenüber, daß Sie eigentlich in einem
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fortwährenden Geschehen, gegenüber einem fortwährenden Werden, in fortwährenden Vorgängen drinnen sind, und die spielen sich auch wiederum mit einer gewissen Geschwindigkeit ab.
Betrachten wir nun unsere eigene Geschwindigkeit, mit der wir die Welt durcheilen, im Verhältnisse zu der Geschwindigkeit, die die Naturereignisse haben. Die äußere Wissenschaft des Menschen be-achtet nicht, daß ein gewaltiger Unterschied ist zwischen unserer eigenen Geschwindigkeit, mit der wir durch die Welt gehen, und zwischen der Geschwindigkeit der Naturereignisse. Wenn wir den-jenigen Teil unseres Lebens, der an die sinnliche Beobachtung der Außenwelt geknüpft ist und aus der sinnlichen Beobachtung der Außenwelt seine Erfahrungen schöpft, wenn wir diesen Teil unseres Lebensgehaltes, den wir den Sinnen verdanken, in bezug auf sein Werden, in bezug auf sein Dahinfließen vergleichen mit den äußeren Naturereignissen, auf die diese Sinne gerichtet sind, so gehen wir viel langsamer durch den Zeitenstrom als die Naturereignisse. Das ist wichtig, daß wir das ins Auge fassen. Die Naturereignisse gehen ver¬hältnismäßig schnell, wir gehen langsam. Sie wissen, ich habe, als ich einmal hier in der Nachbarschaft, in Liestal, den Vortrag hielt «Das menschliche Leben vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft», auf diese Verschiedenheit hingewiesen. Wir Menschen brauchen von dem Punkte an, wo wir geboren werden, bis zum Zahnwechsel, zum Ausbilden unseres physischen Leibes sieben Jahre, dann wiederum zum Ausbilden unseres Ätherleibes weitere sieben Jahre. Wenn wir das Pflanzenreich, das wir in dieser Beziehung als repräsentativ be-trachten können, zum Beispiel mit Bezug auf unseren Atherleib, ver-gleichen mit uns selbst, so sagen wir uns: Das Pflanzenreich, so wie es nun einmal bei den einjährigen Pflanzen ist, durcheilt im Laufe eines einzigen Jahres alle Entwickelung, die es im Ätherleib durchmachen kann. Wir brauchen sieben Jahre zu dem, was die einjährige Pflanze in einem Jahre durchmacht. Das heißt: Die Natur draußen, insoferne sie sich in der Pflanzenwelt enthüllt, eilt siebenmal schneller dahin als wir. Und vieles steht in derselben Gesetzmäßigkeit wie das, was sich in der Pflanzenwelt enthüllt, nämlich alles, insoferne es der ätheri¬schen Welt untersteht.
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Sie kommen darauf, was das für eine Bedeutung hat, wenn Sie nur einmal sich überlegen, wie es sich ausnimmt zum Beispiel, wenn Sie in einem langsam fahrenden Zuge fahren neben einem in der gleichen Richtung, aber schneller fahrenden Zug. Es wird Ihnen die Schnellig¬keit dieses andern Zugs nicht so schnell erscheinen, wenn Sie selbst langsamer fahren, als wenn Sie stillstehen; oder aber, wenn Sie nun nicht in einem ganz langsamen Zuge fahren, sondern in einem etwas schnelleren Zuge, der aber immer noch langsamer geht als der andere Schnellzug, so erscheint Ihnen der Schnellzug ganz langsam gehend. Fahren Sie aber gerade so schnell wie der Schnellzug, so bleiben Sie immer neben dem Schnellzug. Sie sehen, die Art und Weise, wie Sie den andern Zug sehen, ändert sich, je nachdem Sie selbst sich mit einer gewissen Geschwindigkeit bewegen.
Nun, die Geschwindigkeit, von der wir hier reden, die Geschwin-digkeit, mit der wir unser eigenes ätherisches Leben ablaufen lassen, enthält viel mehr als bloß die Raumesbeziehungen; sie enthält unser ganzes Beurteilen, unser ganzes Empfinden, unsere ganze Verfassung gegenüber der Welt draußen. Der Geisteswissenschafter, der diese Sache untersuchen kann, sagt: Wie wäre denn das eigentlich, wenn wir als Menschen anders organisiert wären, wenn wir zum Beispiel so organisiert wären, daß wir vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife nur ein Jahr brauchten, also genau dieselbe Geschwindigkeit hätten wie das, was draußen in der Natur dem Ätherleben unterworfen ist, wenn wir also im Ablaufe des ersten Jahres unsere zweiten Zähne bekämen und nach Ablauf des zweiten Jahres so weit wären, wie wir bis zur Geschlechtsreife im vierzehnten bis fünfzehnten Jahre sind? Da würden wir mit unserem eigenen Lebenslauf ganz in dem Lauf der Naturereignisse, insoferne sie dem Ätherleben unterliegen, drin-nenstehen. Da würden wir uns gar nicht unterscheiden können von der Natur. Denn wir unterscheiden uns im wesentlichen dadurch, daß wir eine andere Geschwindigkeit haben im Vorwärtsbewegen durch den Zeitenstrom. Wir würden auf ganz natürliche Weise die Meinung haben, wir gehören zur Natur dazu. Und vor allen Dingen muß eins gesagt werden: Würden wir in dieser Weise in dieselbe Geschwindig¬keit eingeschaltet sein wie die äußeren Naturereignisse, wir könnten
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niemals von innen heraus krank werden. Denn alle Krankheit, die von innen heraus an den Menschen herantreten kann, die rührt durchaus auch davon her, daß wir verschiedene Geschwindigkeit haben von der Geschwindigkeit der Ereignisse der äußeren Natur, insofern diese dem Ätherleben unterliegen. Also ganz anders wäre unser Menschen¬leben, wenn wir uns nicht dadurch von der äußeren Welt unter¬scheiden würden, daß wir siebenmal langsamer leben, als die äußere Natur lebt.
So blicken wir zurück zu Silvester auf ein Jahr und denken nicht daran, daß wir eigentlich in diesem Jahre mit unserem eigenen Er-leben aus dem Weltenleben herausgefallen sind. Das werden wir erst gewahr, wenn wir wirklich in ernster Weise - nachdem wir schon einen gewissen starken Lebensverlauf erlangt haben - wiederholt solche Silvesterbetrachtungen angestellt haben. Leute, welche darüber entscheiden können, werden mir bei ordentlicher Selbstrückschau recht geben, schon aus der ganz gewöhnlichen äußeren Lebenserfah¬rung heraus, daß, wenn wir zum Beispiel in die Fünfzigerjahre ge¬kommen sind und solche Rückschau immer wieder gepflogen haben, wir uns sagen müssen: Eigentlich sind wir so, daß wir niemals aus einem Jahreslauf dasjenige herausgezogen haben, was sich heraus¬ziehen läßt. Wir lassen gewissermaßen die Erfahrung, die wir machen könnten, die uns bereichern könnte, ungenützt. Wir lernen siebenmal weniger, als wir lernen könnten von der Natur, wenn wir nicht siebenmal langsamer als die Natur selbst unseren Lebenslauf durch¬eilten. Und eigentlich - so sagen wir uns, wenn wir in die Fünfziger-jahre gekommen sind -, wenn du jedes Jahr so hättest ausnützen können, daß du alles aus diesem Jahr gesogen hättest, was das Jahr dir hat geben wollen, dann brauchtest du jetzt im Grunde genommen nur sieben oder acht Jahre oder höchstens zehn oder zwölf Jahre alt zu sein, und du würdest in diesen zehn oder zwölf Jahren alles heraus-gesogen haben, was du jetzt erst nach Jahrzehnten herausgesogen hast.
Aber noch ein anderes findet statt. Wir würden niemals zu der An-schauung kommen können, daß die Welt eine materielle ist, wenn wir uns mit ihr in gleicher Geschwindigkeit bewegten. Dadurch, daß wir
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uns nicht in gleicher Geschwindigkeit bewegen, erscheint uns die Welt draußen, die rascher geht, in stofflicher Art, materiell, und unser eigenes Leben erscheint uns geistig-seelisch. Der Unterschied tritt durch die verschiedene Geschwindigkeit des Lebens auf. Würden wir uns mit der gleichen Geschwindigkeit vorwärtsbewegen wie die äußere Natur, so wäre kein Unterschied zwischen unserem Seelisch-Geistigen und dem äußeren Naturlaufe; wir würden uns zu der äußeren Natur zählen, und alles als geistig-seelisch gleichbedeutend mit uns empfinden. Wir würden also dann in ganz anderer Weise in die Welt hineingeschaltet sein. Daß wir unsere eigene Geschwindig¬keit haben, die viel langsamer ist als die Geschwindigkeit der Welt, das täuscht uns, wenn wir zu Silvester zurückblicken auf das Jahr. Denn wir blicken wohl zurück, aber vieles fallt aus diesem Ruckblicke heraus, was nicht herausfallen würde, wenn wir mit der Welt eben die gleiche Geschwindigkeit hätten. Das sollte aus geisteswissenschaft¬lichen Untergründen heraus gewissermaßen wie ein Unterton jene ernste Stimmung durchziehen, die wohl demjenigen, der sich der Geisteswissenschaft widmet, in einem solchen Jahresrückblicke ge¬ziemt. Das sollte uns sagen, wie wir als Menschen wohl nötig haben, andere Zugänge zur Welt zu suchen als diejenigen, die wir nur aus diesem äußeren Lebenslauf, der uns also in Illusionen versetzt, ziehen können.
Dies ist die eine Täuschung. Insofern wir der Welt mit unseren Sinnen gegenüberstehen, gehen wir viel langsamer durch die Welt, als die äußere Natur läuft. Aber noch eine andere Täuschung liegt vor, und die tritt vor uns, wenn wir all das in Erwägung ziehen, was unser Denken durchglüht, was unser Denken beflügelt, insofern dieses Den¬ken aus unserem eigenen Inneren aufsteigt, wenn wir das Nachdenken in Betracht ziehen, das von unserem Willen abhängt. Die äußere Sinnenwelt gibt uns nicht nach unserem Willen das, was sie uns geben könnte, sondern wir müssen erst vor die Dinge hintreten. Die Ereig¬nisse treten an uns heran. Das ist etwas anderes, als wenn wir unsere Begriffe, unsere Ideen fassen, die aus unserem eigenen Willen er-glimmen. Das ist wieder eine andere Geschwindigkeit. Wenn wir jenes Seelenleben, das zwar ein Gedankenleben ist, aber mit unserem
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Willen, mit unserem Begehren, mit unseren Wünschen zusammen-hängt, ins Auge fassen, so ist da wieder eine andere Geschwindigkeit als die Geschwindigkeit der Welt, die wir als Menschen zwischen Geburt und Tod durchziehen. Und da zeigt sich, wenn man die Sache geisteswissenschaftlich untersucht, das Kuriose: Mit unseren Ge¬danken, insofern sie von unserem Willen abhängig sind, bewegen wir uns viel schneller als der äußere Weltenlauf.
Also denken Sie, mit alldem, was mit unseren Sinnen zusammen-hängt, bewegen wir uns langsamer, mit alledem, was mit unserem Denken zusammenhängt, bewegen wir uns viel schneller, als der äußere Lebenslauf ist. Eigentlich bewegen wir uns mit unseren Ge-danken, insofern diese von unserem Willen, von unseren Sehnsuchten, von unseren Wünschen beherrscht sind, so schnell, daß wir, wenn auch unbewußt, das Gefühl haben können - und das hat auch ein jeder -, daß eigentlich das Jahr viel zu lang ist. Für unsere Sinnes-auffassung ist es siebenmal zu kurz. Für unsere Gedankenauffassung, insofern die Gedanken abhängig sind von unseren Wünschen und von unseren Sehnsuchten, hat in den Tiefen der Mensch unbewußt das Gefühl: das Jahr ist viel zu lang. Er will eigentlich das Jahr viel kürzer haben, denn er ist überzeugt davon, daß er in einer viel kürze¬ren Zeit die Gedanken fassen könnte, die er so aus seinen eigenen Wünschen und aus seinem eigenen Willen heraus faßt. Es ist in der Tiefe der Seele eines jeden Menschen etwas, was er sich nicht zum Bewußtsein bringt, was aber in dem ganzen Empfinden, in der ganzen Seelenstimmung wirkt, was alles färbt, was wir in unserem subjektiven Innenleben haben. Es ist etwas, was uns sagt: Uns genügte das Jahr in bezug auf die Gedanken, die wir uns bilden, wenn wir nur die Sonn-tage hätten und gar keine Wochentage. Denn in bezug auf diese Art der Gedanken lebt der Mensch so, daß er eigentlich nichts anderes will, als nur die Sonntage erleben. Von den Wochentagen denkt er, wenn er sich das auch nicht mehr zum Bewußtsein bringt, sie halten ihn nur auf; sie stellen sich in das Leben nur wie etwas hinein, was er eigentlich nicht nötig hat, um mit seinen Gedanken vorwärts zu kommen. In bezug auf die Gedanken, die von unserem Willen, die von unseren Sehnsuchten und Wünschen abhängig sind, sind wir
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schnell fertig, da bewegen wir uns rasch. Das ist einer der Gründe für unseren Egoismus. Und das ist einer der Gründe dafür, daß wir mit Bezug auf unsere Gedanken so eigensinnig sind.
Wenn Sie nicht so organisiert wären, wie ich es jetzt charakterisiert habe, wenn Sie mit Ihren Gedanken wirklich dem äußeren Lauf der Welt folgen würden, wenn Sie da nicht viel schneller vorwärtsgingen, siebenmal schneller als der äußere Weltenlauf, wenn Sie da nicht bloß auf die Sonntage Rücksicht nehmen würden, dann würden Sie sich so in der Welt seelisch gestimmt finden, daß Ihnen niemals Ihre eigene Meinung wertvoller wäre als die Meinung eines andern. Sie würden sich immer leicht in die Meinung eines andern hineinfinden kön¬nen. Aber bedenken Sie, darauf beruht ein großer Teil unseres Men¬schenwesens, daß wir uns immer zuschreiben, daß unsere Meinung doch die wertvollere ist. Wir denken, wenigstens von einem gewis¬sen Gesichtspunkte: Der andere hat doch immer unrecht; minde¬stens hat er erst dann recht, wenn wir uns befugt fühlen, ihm recht zu geben.
Also wir sind ein merkwürdig zwiespältiges Wesen als Mensch. Wir bewegen uns auf der einen Seite viel langsamer, als der äußere Welten-lauf ist, insoferne wir Sinnesmensch sind; wir bewegen uns in Ge¬danken viel schneller, als der äußere Weltenlauf ist, insofern wir Willensmenschen sind. Das trübt unseren Blick, wenn wir in die äußere Welt hineinschauen. Wir wissen, weil wir uns dann immer Illusionen hingeben, nicht, daß wir aus der Natur herausfallen und dadurch die Möglichkeit haben, krank zu werden, dadurch materiali¬stische Vorstellungen über die Welt gewinnen. Diese Vorstellungen sind gerade so falsch, wie die Vorstellung falsch ist, daß die Land¬schaft draußen in entgegengesetzter Richtung des Zuges vorbeiläuft; und sie sind nur deshalb da, diese materialistischen Vorstellungen, weil wir uns siebenmal langsamer bewegen als die Welt. Und wir hegen den geheimen Wunsch: Wenn es nur immer Sonntag wäre! -weil uns, vergleichsweise gesprochen, die Wochentage eigentlich un¬nötig erscheinen für das, was wir von der Welt rein äußerlich aus unseren Wünschen, aus unserem Willen heraus vorstellen wollen. Dieser geheime Wunsch ist in jedem Menschen. Die Seelenverfassung
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der Menschen wird ja nicht immer so treffend bezeichnet wie im folgenden. Bismarck hat einmal über jenen Kaiser, der der letzte der Hohenzollern war, ein merkwürdiges Wort gesagt. Als er seine Be¬denken darüber aussprach, was über Deutschland durch diesen Kaiser kommen werde, sagte er: Dieser Mann will so leben, wie wenn er jeden Tag Geburtstag hätte; unsereiner ist froh, wenn er den Geburts¬tag wieder vorüber hat, weil er all den Wünschen und alldem, was der Geburtstag an Aufregungen bedeutet, ausgesetzt ist; der aber möchte jeden Tag Geburtstag haben! - Das ist ein Wort, das Bismarck sorgen¬voll einmal ganz im Anfange der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts zur Charakteristik des Kaisers gesprochen hat. Nun, den Geburtstag, den hebt der menschliche Egoismus so stark heraus, daß er sich den Unterschied klarmacht von den übrigen Tagen; immer Geburtstag zu haben, wünscht der Mensch gerade nicht, aber er wünscht von einem gewissen Gesichtspunkte aus, daß es immer Sonntag wäre, denn da würde er genug wissen. Und vieles in unserer Seelenstimmung, das sich in ganz anderer Weise maskiert, beruht darauf, daß wir eigent¬lich nur die Sonntage mögen.
Die Illusionen, die von diesen Dingen herrühren, sind in älteren Zeiten der Menschheitsentwickelung durch das atavistische Hellsehen in der mannigfaltigsten Weise korrigiert worden. Sie we?den in unse¬rem Zeitalter am wenigsten korrigiert. Dasjenige, was sie aber korri¬giert und was eintreten muß, und was ich Sie bitte, als eine Art sozialen Impuls heute in Ihre Seele aufzunehmen, das ist, daß, wenn wir uns in die Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, vertiefen, so daß wir sie nicht als Theorie, sondern in jener Lebendigkeit aufnehmen, von der ich oftmals gesprochen habe, wir dann in dieser Geisteswissen¬schaft eine Möglichkeit haben, innerlich seelenmäßig die Illusionen, die aus diesen zwei Irrtumsquellen herkommen, zu korrigieren. Gei¬steswissenschaft - machen wir uns das insbesondere an der Jahres¬wende klar - ist etwas, was uns auf der einen Seite dasjenige draußen in der Welt wirklichkeitsgemäß erleben läßt, was wir nicht wirklich¬keitsgemäß erleben, weil wir zu langsam durch die Welt gehen. Es hängt wirklich alles ab von der Art, wie wir selbst uns zu den Dingen stellen. Denken Sie doch nur einmal, was alles davon abhängt, wie wir
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selber uns zu der Welt stellen! Wir müssen, um uns solche Dinge klarzumachen, manchmal hypothetisch unmögliche Gedanken uns vor die Seele rücken. Denken Sie, der Physiker sagt Ihnen: Gewisse Töne, das C, D, E einer gewissen Oktave, haben so und so viele Schwingungen, das heißt, die Luft vollführt so und so viele Schwin-gungen. Sie vernehmen nichts von den Schwingungen, Sie hören den Ton. Aber denken Sie, wenn Sie so organisiert wären - es ist natürlich ein unmöglicher Gedanke, aber man kann sich daran etwas klar¬machen -, daß Sie jede einzelne Luftschwingung wahrnehmen wür¬den, so würden Sie vom Tone nichts hören können. Welche Ge¬schwindigkeit Ihr eigenes Leben hat, hängt lediglich davon ab, wie Sie irgend etwas wahrnehmen. Die Welt schaut so aus, wie sie aus¬schauen muß nach der Geschwindigkeit, die wir selbst gegenüber der Welt haben. Geisteswissenschaft aber macht uns aufmerksam auf jene Wirklichkeit, welche vorhanden ist, abgesehen von unserem Ver¬hältnis zur Welt.
Man spricht davon in der Geisteswissenschaft, daß sich unsere de allmählich gebildet habe, indem sie zuerst eine Saturn-, eine Sonnen-, eine Mondenzeit durchgemacht hat und dann zu dieser Erdenzeit vorgerückt ist. Aber natürlich ist alles immer da. In dem Dasein, in dem wir jetzt als dem Erdendasein drinnen leben, bereiten andere Welten ihr Saturndasein, andere Welten ihr Sonnendasein vor. Man kann das geisteswissenschaftlich beobachten. Das Saturndasein ist auch jetzt noch da. Wir wissen nur, unsere Erde hat dieses Stadium überwunden; andere Welten sind erst in diesem Saturnstadium. Da kann man dann beobachten, wie es hereinragt. Aber dieses Saturn¬stadium beobachten zu können, das hängt davon ab, daß man die Geschwindigkeit sich erst ändert, mit der man die Ereignisse verfolgt, sonst kann man sie nicht sehen. Also Geisteswissenschaft bringt uns in einer gewissen Beziehung das Zusammenleben mit der wahren Wirklichkeit, mit dem, was in der Welt wahrhaftig vor sich geht. Und nehmen wir sie lebendig auf, diese Geisteswissenschaft, von der ich gesprochen habe als der Offenbarung der Geister der Persönlichkeit, die als Schöpfer neu eingreifen, nehmen wir sie für unsere Zeit nicht bloß als Menschenwerk, sondern, wie ich sagte, als von Himmelshöhen
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geoffenbart, nehmen wir die Impulse dieser Geisteswissen¬schaft lebendig in uns auf, dann bringen sie uns - was für unsere Zeit so notwendig ist - über die Täuschungen unserer mit der Welt ver-schiedenen Geschwindigkeit hinaus, dann bringen sie uns mit der Welt so zusammen, daß wir wenigstens in unserem Empfinden gegen-ü her der Welt manches korrigieren können.
Und dann stellt sich für uns auch die Folge dieser geisteswissen-schaftlichen Bestrebungen ein. Ich habe auch im Laufe dieses Jahres auf manche Folge dieser Bestrebungen hingewiesen. Heute möchte ich in Silvesterrückschau Sie nur hinweisen darauf, was ich von einem andern Gesichtspunkte aus schon gesagt habe: Geisteswissenschaft, lebendig aufgenommen, erhält den Menschen in einer gewissen Weise jung, läßt uns nicht so altern, wie wir sonst altern. Das ist eine der Folgen der Geisteswissenschaft. Und für die heutige Zeit ist diese Folge ganz besonders wichtig. Sie besteht darin, daß wir wirklich im¬stande sein können, wenn wir auch noch so sehr schon in reiferen Jahren sind, etwas lernen zu können, wie man als Kind gelernt hat. Ist man in die Fünfzigerjahre gekommen, so fühlt man sich vom Standpunkte des gewöhnlichen Bewußtseins aus in der Regel ziemlich alt in der Welt. Fragen Sie einmal Ihre Zeitgenossen, ob sie gerade erne große Neigung haben, mit fünfzig Jahren noch viel zu lernen! Wenn sie es auch sagen, versuchen Sie, ob sie es tun, ob sie es in Wirklichkeit tun. Geisteswissenschaftliche Begriffe und Ideen, leben¬dig aufgenommen, können den Menschen wirklich nach und nach in die Möglichkeit versetzen, in reifen Jahren noch so zu lernen, wie man sonst als Kind gelernt hat, auch Dinge, die man als Kind eben nicht gelernt hat, gewissermaßen einen weiteren Menschen und immer weiteren Menschen in sich aufzunehmen. Sie bringt den Menschen dazu, seelisch sich immer mehr jung zu fühlen, aber nicht bloß abstrakt, wie man das oftmals tut, sondern so, daß man wirklich in einer ähnlichen Weise etwas lernen mag, wie man gelernt hat, als man acht oder neun Jahre alt war. Dadurch wird in einer gewissen Weise ausgeglichen, was durch die verschiedene Geschwindigkeit mit der Welt in dem Menschen bewirkt wird. Dadurch sind wir zwar in reiferen Jahren natürlich alt, aber unsere Seele läßt uns nicht alt sein,
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unsere Seele läßt uns in einer gewissen Weise Kind sein, uns der Welt gegenüber wie ein Kind benehmen. Dann sagen wir uns, wenn wir in die Fünfzigerjahre gekornrnen sind: Du hast eigentlich dadurch, daß du langsamer lebtest als der äußere Weltenlauf, nur das in dich aufgenommen, was, wenn du ebenso schnell lebtest wie der äußere Weltenlauf, du in sieben oder zehn Jahren aufnehmen würdest. Aber ist man frisch geblieben, dann bewahrt man sich auch die Möglichkeit, so sich zu verhalten, wie man sich verhalten würde, wenn man nur sieben, acht, neun, zehn Jahre durchlebt hätte. Das ist ein voller Aus¬gleich. Und das bedingt, weil sich in der Welt die Dinge immer die Waage halten, den andern Ausgleich: daß man auch die schnellere Geschwindigkeit, diese Willkürgedanken, diese Sonntagswünsche, wie ich sie Ihnen charakterisiert habe, auch in einer gewissen Weise hinunterdrückt, daß man sich die Möglichkeit verschafft, nicht immer nur Sonntage haben zu wollen, sondern auch die Wochentage für das Lernen auszunützen, das ganze Leben zur Schule zu machen.
Gewiß, ich stelle Ihnen da eine Art Ideal so geisteswissenschaftlich streng hin. Aber vielleicht hat schon mancher von Ihnen die Silvester der letzten vier Jahre als ernstere empfunden als die früheren. Der¬jenige aber, der etwas tiefer in die Weltenereignisse blickt, wird wohl den diesjährigen Silvester, auch im Vergleiche mit den Silvestern der verflossenen vier Jahre, als allerernstesten betrachten. Er fordert uns schon auf, tief hineinzuschauen in das, was in der Welt vor sich geht, und diesen Gedanken zu verbinden mit dem, was wir doch aus unse¬rem Verhältnis zur Geisteswissenschaft gewinnen können an Vor¬stellungen über das, was der Welt in der Gegenwart und in der näch¬sten Zukunft notwendig ist. Wir sollen ja gewissermaßen durch Geisteswissenschaft aufwachen für die Weltenereignisse, wir sollen wachende Menschen werden. Ein flüchtiger Blick kann die Menschen heute belehren, wie sehr das Schlafen verbreitet ist. Vergleichen Sie nur das heutige Leben mit dem Leben früherer Epochen, dann werden Sie schon darauf aufmerksam werden, wie schließlich das Jugend-und Altersieben sich geändert hat. Die Jugend von heute in ihrer überwiegenden Mehrheit, wie wirkt auf sie die materialistische Zeit? So frisch, so hell, so lebendig wie die Jugendideale in früheren Epochen
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waren, sind sie heute nicht. Die Jugend ist eine fordernde ge-worden. Man will das, was die Jugend bietet, in seiner Seelenstim-mung nicht so sehr darauf verwenden, um in das Zukunftsleben zu schauen, um weithin leuchtende Ideale sich vorzumalen und von diesen Idealen ein gehobenes Leben zu haben; man will schon in der Jugend das, was man als Leben hat, verbrauchen. Das aber bedingt ein Alter, welches nun nicht dasjenige aufnehmen kann, was ge¬eignet wäre, gerade durch das Alter erst recht aufgenommen zu wer¬den. Unsere Jugend verbraucht ihre Kräfte, und das Alter läßt die Schätze des Lebens auf dem Wege liegen. Unsere Jugend ist nicht mehr hoffnungsreich genug; unser Alter ist wesenlos resignierend. Unsere Jugend wendet sich nicht mehr an das Alter, um zu fragen:
Verwirklichen sich die Jugendträume, die selbstverständlich aus mei¬nem Herzen hervorquellen? - Unser Alter wäre aber kaum auch in der Lage, zu sagen: Ja, sie verwirklichen sich. - Unser Alter sagt mehr oder weniger ausgesprochen heute nur allzu oft: Auch ich habe das geträumt; diese Jugendträume gehen leider nicht in Erfüllung. - Man wird ernüchtert durch das Leben.
Mit all diesen Dingen hängt aber zusammen das Unglück unserer Zeit. Mit all diesen Dingen hängt doch zusammen, was die Mensch-heit heute tief erschüttert. Dann aber, wenn Sie auf das hinblicken, dann werden Sie auch die Notwendigkeit geisteswissenschaftlicher Impulse tief in die Seele sich einschreiben können. Denn an diesem Jahreswendetage muß man sich doch fragen, wenn man wach sein will: Wie stellt sich denn eigentlich diese Zeit dar? Was kann werden in der Zukunft? Was kann aus dem hervorgehen, was sich bis heute aus den Wirrsalen der letzten Jahre für die zivilisierte Menschheit ergeben hat? - Wenn man sich diese Fragen als wacher Mensch vor-legt, entsteht eine wesentlich andere Frage, eine Frage, die ganz tief zusammenhängt mit allen unseren möglichen Hoffnungen für die Menschheitszukunft. Solche Hoffnungen, oder solche Sorgen könnte ich auch sagen, sie stiegen einem in den letzten Jahren oftmals auf, ganz besonders dann, wenn man den Blick hinwendete auf diejenigen Menschenwesen, die heute vier, fünf, sechs, sieben, acht Jahre alt sind. Wir, die Älteren, haben manches hinter uns, was unsere Seelenstimmung
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gegenüber dem, was da kommt, beeinflussen kann. Wir haben manches hinter uns, was uns auch solche Freude bereitet hat, die diejenigen nicht haben werden, die heute fünf, sechs, acht, neun Jahre alt sind. Aber nichts ist absolut in der Welt, nicht einmal, wenn man zu Silvester den Rückblick macht auf das Jahr. Alles, was uns da erscheint, erscheint uns illusionär, weil wir auf der einen Seite zu langsam, auf der andern Seite zu schnell zum Weltenlaufe gehen. Nichts ist absolut, alles ist relativ. Und die Frage, die aber nicht eine bloße theoretische, sondern eine reale Frage ist, wie Sie gleich sehen werden, diese Frage tritt vor uns auf: Wie kann es denn heute eigent¬lich in der Seele eines Menschen ausschauen, der nicht an geistes-wissenschaftliche Vorstellungen herantreten kann, wenn sich dieser Mensch Fragen stellt über die Zukunft der Menschheit? Man kann schlafen, und das bedeutet gegenüber dem Fortschritte der Mensch¬heit unehrlich sein, wenn auch unbewußt unehrlich sein. Aber man kann auch wachen, und man sollte wachen. Dann kann diese Frage insbesondere gegenüber der allgemeinen Menschheitsverfassung in unserer Zeit auftreten: Wie malt sich denn wohl in den Menschen¬seelen die Menschenzukunft, wenn diese Menschenseelen nicht in der Lage sind, an Geisteswissenschaftliches heranzutreten? Solche Men¬schen sind nur allzu zahlreich in dieser Welt gegenwärtig. Ich meine nicht die trockenen, selbstgefälligen Materialisten allein, sondern ich meine jene zahlreichen andern, die es heute schon gibt, die eine ge¬wisse Furcht haben vor dem wirklich Geistigen, und die doch in ihrer Art Idealisten sein möchten. Sie sind abstrakte Idealisten, die von allem möglichen Schönen, von: Liebet eure Feinde -, von schönen sozialen Reformen reden, die aber nicht zum wirklichen konkreten Erfassen der Welt kommen können. Sie sind aus Schwäche zwar Idealisten, aber nicht Geistschauer. Sie wollen nicht den Geist schauen, sie halten sich ferne von dem Geist.
Diese Frage möchte ich heute als eine Jahreswendefrage aufwerfen:
Wenn nun einmal solch ein Mensch ehrlich ist, der zwar glaubt, er lebe für den Geist, der auch glaubt, durch seinen Glauben überzeugt zu sein von dem Weben und Wesen des Geistes in der Welt, der aber nicht den Mut hat, hinzugehen zu jenem konkreten Geistigen, zu der
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geistigen Wirklichkeit, welche durch Geisteswissenschaft sich heute den Menschen offenbaren will, wenn sich in einem solchen Menschen das Ganze der gegenwärtigen Welt oder nur ein Teil ehrlich malt, was entsteht dann für ein Bild? Ich möchte Ihnen nicht eine abstrakte Schilderung geben, ich möchte Ihnen eine Schilderung geben, die gegenwärtig durch die Weltblätter geht und die von einem Menschen herrührt, den ich in einem andern Zusammenhange auch schon er¬wähnte, von einem Menschen, der sich eben aus den Gründen, die ich jetzt erörtert habe, fernhält von wirklichem Eintritt in die Geistes¬wissenschaft, der glaubt, soziale Ideale gewinnen zu können ohne Geisteswissenschaft, der glaubt, reden zu können über Menschenfort¬schritt und Menschenwesenheit, ohne in Geisteswissenschaft ein¬treten zu wollen, aber ein Mensch, der ehrlich ist von diesem seinem Gesichtspunkte aus. Ich habe öfter erwähnt den Namen Walther Rathenau, erwähnt manches, was entschieden schwach ist an ihm; aber Sie erinnern sich, daß ich seine « Kritik der Zeit» auch einstmals an¬erkennend erwähnt habe. Das ist so recht ein Typ, und zwar einer der besten Typen von Menschen unserer Zeit, die Idealisten sind, die auch den Glauben haben, daß ein Geistiges die Welt durchwebt und durch-lebt, die aber das konkrete Geistige nicht finden können, jenes Geistige, welches allein Heilung bringen kann gegenüber den Schäden, die jetzt die Welt durchbeben. Deshalb ist es nützlich zu fragen, was denn ein solcher, der der Geisteswissenschaft ferne steht, aber ehrlich ist, der den heutigen Weltenlauf von seinem Orte aus betrachtet, was ein solcher sich sagt. Das ist immerhin lehrreich. Deshalb möchte ich, daß auch wir hier, weil Sie es vielleicht nicht alle gelesen haben, vor unsere Seele treten lassen jene Worte, welche Walther Rathenau in diesen Tagen an die ganze Welt richtet. Er sagt: «Ein Deutscher wendet sich an alle Nationen. Mit welchem Recht? Mit dem Rechte eines, der den kommenden Krieg verkündete, der das Ende voraussah, die Katastrophe erkannte, dem Spott, Hohn und Zweifel trotzte und vier lange Jahre den Machthabern zur Versöhnung riet. Mit dem Rechte eines, der das Vorgefühl des tiefsten Sturzes jahrzehntelang in sich trug, und weiß, daß der Sturz tiefer ist, als Menschen, Freunde und Feinde ahnen. Mit dem Rechte eines, der niemals ein einziges
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Unrecht seines Volkes verschwiegen hat, und nun für das Recht seines Volkes eintreten darf.
Das deutsche Volk ist schuldlos. Schuldlos hat es ein Unrecht be-gangen. Schuldlos hat es aus alter, kindlicher Abhängigkeit seinen Herrn und Machthabern gedient. Es wußte nicht, daß diese Herren und Machthaber, äußerlich unverändert, sich innerlich gewandelt hat¬ten. Es wußte nichts von der Selbstverantwortung der Völker. Es kannte keine Revolutionen. Es duldete den Militarismus und Feuda-lismus, es ließ sich leiten und organisieren. Es ließ sich töten und tötete, wenn es befohlen war. Es glaubte, was seine angebornen Führer ihm sagten. Schuldlos hat es das Unrecht begangen: zu glauben.
Unser Unrecht wird schwer auf uns lasten. Unsere Schuldlosigkeit werden die Mächte erkennen, die in die Herzen blicken.»
Also Sie sehen, es ist ein Mensch, der hinweist auf dasjenige, auf was Judentum und Christentum hinwiesen, auf die Vorsehung, die aber in abstrakte Formen gefaßt wird.
«Deutschland gleicht jenen künstlich fruchtbaren Ländern, die grü-nen, solange ein Netz von Kanälen sie bewässert. Zerbricht eine einzige Schleuse, so stirbt alles Leben, das Land vertrocknet zur Wüste.
Wir haben Nahrung für die Hälfte unserer Menschen. Die andere Hälfte muß Lohnarbeit für andere Völker leisten, Rohstoffe kaufen und Ware verkaufen. Nimmt man ihr die Arbeit oder den Ertrag der Arbeit, so stirbt sie oder wird heimatlos. Mit der äußersten Arbeit, deren ein Volk fähig ist, ersparten wir im Jahre fünf bis sechs Milliar¬den. Die dienten dazu, Werkzeuge und Werkstätten zu bauen, Bahnen und Häfen zu schaffen, Werke der Forschung zu betreiben. Das gab uns die Möglichkeit, erwerbsfähig zu bleiben und uns in natürlicher Fruchtbarkeit zu vermehren. Man nimmt uns die Kolonien, das Reichsland, die Erze und Schiffe, und wir werden ein machtloses, dürftiges Land. Mag das hingehen, auch unsere Vorfahren waren arm und machtlos und haben dem Geist der Erde besser gedient als wir. Man beschränkt unsern Güteraustausch, man nimmt, wie man uns androht, entgegen dem Geiste der Wilsonschen Stipulationen, das Dreifache oder Vierfache der belgischen und nordfranzösischen Schäden,
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die sich auf etwa zwanzig Milliarden belaufen: was geschieht? Unsere Wirtschaft wird ertraglos. Wir arbeiten, um kümmerlich er-sparnislos zu leben. Wir können nichts instand halten, nichts er-neuern, nichts erweitern. Das Land, seine Bauten, Straßen, Einrich-tungen verkommen. Die Technik wird rückständig, die Forschung hört auf. Wir haben die Wahl: Unfruchtbarkeit, Abwanderung oder tiefstes Elend.
Es ist die Vernichtung.
Wir werden nicht viel klagen, sondern unser Schicksal auf uns nehmen und schweigend zugrunde gehen. Die Besten von uns werden nicht auswandern und sich nicht töten, sondern das Geschick ihrer Brüder teilen. Die meisten kennen ihr Geschick noch nicht, sie wissen nicht, daß sie und ihre Kinder geopfert sind. Auch die Völker der Erde wissen noch nicht, daß es um das Leben eines Menschenvolkes geht. Vielleicht wissen es nicht einmal die, mit denen wir gekämpft haben. Einzelne sagen: Gerechtigkeit. Andere sagen: Vergeltung. Es gibt auch welche, die sagen: Rache. Wissen sie, daß das, was sie Ge¬rechtigkeit, Vergeltung, Rache nennen, daß es der Mord ist?
Wir, die wir in unser Schicksal gehen, stumm, nicht blind: noch einmal erheben wir unsere Stimme, so daß die Welt sie hört, und klagen an. Den Völkern der Erde, denen, die neutral, und denen, die befreundet waren, den freien überseeischen Staaten, den jungen Staatsgebilden, die neu entstanden sind, den Nationen unserer bis-herigen Feinde, den Völkern, die sind und denen, die nach uns kom-men, in tiefem, feierlichem Schmerz, in der Wehmut des Scheidens und in flammender Klage rufen wir das Wort in ihre Seelen:
Wir werden vernichtet. Deutschlands lebendiger Leib und Geist wird getötet. Millionen deutscher Menschen werden in Not und Tod, in Heimatlosigkeit, Sklaverei und Verzweiflung getrieben. Eines der geistigsten Völker im Kreise der Erde verlischt. Seine Mütter, seine Kinder, seine Ungebornen werden zu Tode getroffen.»
Das ist nicht aus Leidenschaft heraus gesagt, das ist berechnet, das ist mit kältestem Verstande berechnet. Das ist eben jemand, der Mate¬rialist zwar ist, aber der mit kaltem Verstande die wirklichen Ver¬hältnisse berechnen kann, der sich nicht Illusionen hingibt, sondern
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ehrlich die Wahrheit gesteht, eben von seinem materiallstischen Stand¬punkte aus. Das ist errechnet, das ist nicht etwas, was sich widerlegen läßt mit ein paar Worten oder Empfindungen aus Sympathie oder Antipathie heraus, sondern was mit kaltem Verstande berechnet ist von einem Menschen, der jahrzehntelang das sagen konnte: es wird so kommen -, der auch den Mut hatte, während des Krieges die Dinge zu sagen.
Hier war es zwecklos; in Berlin und andern Orten Deutschlands habe ich in meine Vorträge immer eingeschaltet, was gerade Rathenau nach dieser Richtung hin gesagt hat.
«Wir werden vernichtet, wissend und sehend, von Wissenden und Sehenden. Nicht wie dumpfe Völker des Altertums, die ahnungslos und stumpf in Verbannung und Sklaverei geführt wurden, nicht von fanatischen Götzendienern, die einen Moloch zu verherrlichen glau-ben. Wir werden vernichtet von Brudervölkern europäischen Blutes, die sich zu Gott und Christus bekennen, deren Leben und Verfassung auf Sittlichkeit beruht, die sich auf Menschlichkeit, Ritterlichkeit und Zivilisation berufen, die um vergossenes Menschenblut trauern, die den Frieden der Gerechtigkeit und den Völkerbund verkünden, die die Verantwortung für das Schicksal des Erdkreises tragen.
Wehe dem und seiner Seele, der es wagt, dieses Blutgericht Ge-rechtigkeit zu nennen. Habt den Mut, sprecht es aus, nennt es bei seinem Namen: es heißt Rache.
Euch aber frage ich, geistige Menschen aller Völker, Geistliche aller Konfessionen und Gelehrte, Staatsmänner und Künstler; euch frage ich, Arbeiter, Proletarier, Bürger aller Nationen; dich frage ich, ehrwürdiger Vater und höchster Herr der katholischen Kirche, dich frage ich im Namen Gottes:
Darf um der Rache willen ein Volk der Erde von seinen Bruder-völkern vernichtet werden, und wäre es das letzte und armseligste aller Völker? Darf ein lebendiges Volk geistiger, europäischer Men-schen mit seinen Kindern und Ungebornen seines geistigen und leib¬lichen Daseins beraubt, zur Fronarbeit verurteilt, ausgestrichen wer¬den aus dem Kreis der Lebenden?
Wenn dieses Ungeheuerste geschieht, gegen das der schrecklichste
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aller Kriege nur ein Vorspiel war, so soll die Welt wissen, was ge-schieht, sie soll wissen, was sie zu tun im Begriffe steht. Sie soll nie-mals sagen dürfen: wir haben es nicht gewußt, wir haben es nicht gewollt. Sie soll vor dem Angesicht Gottes und vor der Verantwor-tung der Ewigkeit ruhig und kalt das Wort aussprechen: Wir wissen es. Und wir wollen es.»
Auch er, Rathenau, will, daß die Menschheit aufwacht, zu sehen. «Milliarden! Fünfzig, hundert, zweihundert Milliarden - was ist das? Handelt es sich also um Geld?
Geld, Reichtum und Armut eines Menschen bedeutet wenig. Jeder einzelne von uns wird mit Freude und Stolz arm sein, wenn das Land gerettet wird. Doch in der traurigen Sprache unseres wirtschaftlichen Denkens haben wir keinen andern Ausdruck für die lebendige Kraft eines Volkes als den armseligen Begriff der Milliarde. Wir bemessen nicht die Lebenskraft eines Menschen nach den viertausend Gramm Blut, die er in sich hat; wir können die Lebenskraft eines Volkes nicht anders messen als nach den zwei- oder dreihundert Milliarden seines Besitzes. Vermögenslosigkeit ist hier nicht nur Armut und Not, son¬dern Sklaverei, und doppelt für ein Volk, das die Hälfte seines not¬dürftigen Lebensunterhaltes kaufen muß. Nicht die willkürliche, per-sönliche, grausame oder milde Sklaverei des Altertums, sondern die anonyme, systematische, wissenschaftliche Fronarbeit von Volk zu Volk. In dem abstrakten Begriff der hundert Milliarden steckt nicht allein Geld und Wohlstand, sondern Blut und Freiheit. Die Forderang ist nicht die des Kaufmanns: zahle mir Geld, sondern die Forderung Shylocks: gib mir das Blut deines Leibes. Es ist nicht die Börse, son¬dern nach der Verstümmelung des Staatskörpers durch Abtretung von Land und Macht ist es das Leben. Wer in zwanzig Jahren Deutschland betritt...»
Und das, was jetzt kommt, ist wiederum Berechnung, mit kaltem Verstande berechnet. Das ist nicht so gesprochen, wie andere Men-schen oftmals schlafend die Weltereignisse beobachten!
«Wer in zwanzig Jahren Deutschland betritt, das er als eines der blühendsten Länder der Erde gekannt hat, wird niedersinken vor Scham und Trauer. Die großen Städte des Altertums, Babylon, Niniveh,
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Theben, waren von weichem Lehm gebaut, die Natur ließ sie zerfallen und glättete Boden und Hügel. Die deutschen Städte werden nicht als Trümmer stehen, sondern als halberstorbene steinerne Blöcke, noch zum Teil bewohnt von kümmerlichen Menschen. Ein paar Stadtviertel sind belebt, aber aller Glanz und alle Heiterkeit ist gewichen. Müde Gefährte bewegen sich auf dem morschen Pflaster, Spelunken sind erleuchtet. Die Landstraßen sind zertreten, die Wälder sind abgeschlagen, auf den Feldern keimt dürftige Saat. Häfen, Bah¬nen, Kanäle verkommen, und überall stehen, traurige Mahnungen, die hohen, verwitternden Bauten aus der Zeit der Größe. Ringsumher blühen erstarkt alte und neue Länder im Glanz und Leben neuer Tech¬nik und Kraft, ernährt vom Blut des erstorbenen Landes, bedient von seinen vertriebenen Söhnen. Der deutsche Geist, der für die Welt gesun¬gen und gedacht hat, wird Vergangenheit. Ein Volk, das Gott zum Le¬ben geschaffen hat, das noch heute jung und stark ist, lebt und ist tot.
Es gibt Franzosen, die sagen: dies Volk sterbe. Wir wollen nie mehr einen starken Nachbar haben. Es gibt Engländer, die sagen:
dies Volk sterbe. Wir wollen nie mehr einen kontinentalen Neben-buhler haben. Es gibt Amerikaner, die sagen: dies Volk sterbe. Wir wollen nie mehr einen Konkurrenten der Wirtschaft haben. Sind diese Menschen die wahren Vertreter ihrer Nationen? Niemals. Alle starken Nationen werden die Stimmen der Furchtsamen und Neidischen ver¬leugnen. Sind die Rachedurstigen die wahren Vertreter ihrer Natio¬nen? Niemals. Diese schreckliche Leidenschaft ist bei gesitteten Men¬schen nicht von Dauer.
Dennoch: wenn die Furchtsamen, die Neidischen und die Rach-süchtigen in einer einzigen Stunde, in der Stunde der Entscheidung, siegen und die drei großen Staatsmänner ihrer Nationen mit sich reißen, ist das Schicksal erfüllt.
Dann ist aus dem Gewölbe Europas der einstmals stärkste Stein zer-malmt, dann ist die Grenze Asiens an den Rhein gerückt, dann reicht der Balkan bis zur Nordsee. Dann wird eine Horde von Verzweifelten, ein uneuropäischer Wirtschaftsgeist vor den Toren der westlichen Zivilisation lagern, der nicht mit Waffen, sondern mit Ansteckung die gesicherten Nationen bedroht.
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Nie kann aus Unrecht Recht und Glück entstehen.
Das Unrecht seiner Abhängigkeit und Unselbständigkeit, das Deutschland schuldlos auf sich lud, büßen wir, wie nie ein Unrecht gebüßt worden ist. Wenn aber die westlichen Nationen in ruhiger, kalter Überlegung aus Vorsicht, Interesse oder Rachegefühl Deutsch¬land langsam töten und diese Tat Gerechtigkeit nennen, indem sie ein neues Leben der Völker, einen ewigen Frieden der Versöhnung und einen Völkerbund verkünden, so wird Gerechtigkeit nie wieder sein, was sie ist, und niemals wieder wird die Menschheit froh werden, trotz allen Triumphen. Ein Bleigewicht wird auf dem Planeten liegen, und die kommenden Geschlechter werden mit einem Gewissen ge¬boren werden, das nicht mehr frei ist. Die Kette der Schuld, die jetzt noch zerschnitten werden kann, wird unzerreißbar und unendlich den Leib der Erde umschnüren. Der Zwist und Streit der künftigen Epoche wird bitterer und vielspältiger sein als je zuvor, weil er mit dem Gefühl gemeinsamen Unrechts getränkt ist. Nie hat gleiche Macht und gleiche Verantwortung auf den Stirnen eines Triumvirats gelastet. Wenn die Geschichte der Menschheit, die sinnvoll es gewollt hat, daß eine einzige Stunde durch den Entschluß dreier Männer über Jahrhunderte der Erde und eine Menschheit von Millionen ent-scheidet, so hat sie dies eine gewollt, eine einzige große Frage des Bekenntnisses sollte den siegreich zivilisierten und religiösen Nationen gestellt werden.
Diese Frage lautet: Menschlichkeit oder Gewalt, Versöhnung oder Rache, Freiheit oder Unterdrückung?
Menschen aller Völker bedenkt es! Diese Stunde entscheidet nicht nur über uns Deutsche, sie entscheidet über uns und euch, über uns alle.
Entscheidet sie gegen uns, so werden wir unser Schicksal tragen und in die irdische Vernichtung gehen. Unsere Klage werdet ihr nicht hören. Dennoch wird sie da gehört werden, wo noch nie eine Klage aus Menschenbrust ungehört verhallte.»
Ich habe Ihnen dieses aus nüchternstem Verstande Errechnete, wahrhaftig nicht aus Chauvinismus hervorgegangene Urteil, das aber das Urteil des materialistischen Denkens ist, ich habe Ihnen dieses
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Urteil vorgebracht; vorgebracht schon auch aus dem Grunde, weil wir ja mitten in einer Welt leben, in der die Menschen heute noch immer nicht geneigt sind, irgendwie darüber nachzudenken, daß Ernst da ist. Wie unzählige Menschen werden heute Silvester feiern, so, wie sie nicht nur während der letzten vier Jahre, sondern wie sie auch vor den katastrophalen Ereignissen Silvester feierten! Und unzählige Menschen werden es als eine Beeinträchtigung ihrer Ruhe, als eine Beeinträchtigung ihrer sorglosen Seele empfinden, wenn man sie nur aufmerksam darauf macht, daß so etwas auf dem Spiele steht. Ach, so arg wird es nicht werden - wenn die Menschen auch nicht diesen Satz sagen, in ihrem Innersten fühlen die Menschen so, sonst würden sie die ganze Beurteilung der Zeit anders einstellen.
Wie viele gibt es denn, welche anerkennen, was wir immer wieder und wiederum sagen mußten in diesen Jahren, in denen man so oft hörte: Nun, wenn wieder Friede ist, dann ist es eben wieder so wie früher, dann ist es gewiß so und so und so weiter -, wie viele gibt es denn, die sich bewußt wurden dessen, was immer wieder gesagt wer¬den mußte von der Unmöglichkeit eines solchen Zustandes, wie sich die Menschen ihn vorstellen?
Eine errechnete Sache ist es, um die es sich da handelt. Allerdings nehmen sich die Dinge anders aus, ob man sie errechnet mit materia¬listischem Geiste, oder ob man in Verbindung steht mit dem, was aus geisteswissenschaftlichen Impulsen folgen kann. Äußerlich betrachtet, bleiben die Dinge so richtig. Es besteht keine Aussicht, daß nicht wissend das getan wird, was Walther Rathenau noch im letzten Augenblicke abwenden will, indem er den Leuten zu Gewissen redet. Ja, dieses Zu-Gewissen-Reden! ... Man kann nur Punkte machen. Es wird schon nicht abgewendet werden! Äußerlich werden sich die Dinge so vollziehen. Es gibt nur eines, wenn wir hinblicken auf das, was durch die Vergangenheit angerichtet worden ist - angerichtet wahrlich nicht von dem oder jenem Volk, angerichtet von der ganzen zivilisierten Menschheit der Erde -, es gibt nur eines: wie in einer großen Weltsilvesterbetrachtung hinzublicken auf das, was die Menschheit bisher durchlebt hat, und dann gewahr zu werden, daß nun in einem gewissen Sinne die Menschheit reif war, an ein Ende zu
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kommen, und eingetreten ist in das, was die neuen Geister der Per-sönlichkeit aus Himmeishöhen auf die Erde hereintragen wollen. Aber hier begegnen sich Einsicht und Wille. Das, was die Geister der Per¬sönlichkeit als neue Schöpfer offenbaren wollen, es wird nur in die Welt kommen können, wenn es in Menschenherzen und in Menschen¬seelen, in Menschengemütern einen fruchtbaren Boden findet, wenn die Menschen sich hinfinden zu den geisteswissenschaftlichen Impul¬sen. Was ein nüchterner, materialistischer Geist sagt über die mate¬riellen Impulse, die da wirken können, es stimmt schon. Es sollten sich einmal diejenigen solche Dinge von ernem nüchternen Geiste anhören, die heute von einem frivoleren Standpunkte aus, als es Walther Rathenau getan hat, davon reden, was aus unserer Zeit wer¬den soll! Als die Menschen in vollem Rausch und Träümen waren, als die Menschen im Grunde genommen, wenn man nur ern wenig vor¬wänsblickte, lauter Unsinn redeten - den sie sich ja jetzt, wenigstens ein Teil der Menschheit, gründlich abgewöhnt haben -, da konnte man hören, aus diesem Kriege würde hervorgehen ein neuer Idealis¬mus, eine neue Religiosität. Oh, ich habe das oftmals gehört! Und besonders Professoren, auch sogar Professoren der Theologie, haben das immer wieder und wiederum geschrieben. Sie brauchen sogar nicht gerade weit zu gehen: wenn es nicht gerade Sonntag ist, können Sie in zehn Minuten diese Theologieprofessoren erreichen, die auch solche prophetische Weisheit verkündet haben. Jetzt reden die Leute schon anders. Die jetzt in die Höhe gekommen sind, sagen: Nun wird wohl eine Zeit gesunden Atheismus kommen; die Menschheit wird geheilt sein von der Religionsspielerei, die insbesondere Poeten und Literaten in der letzten Zeit getrieben haben. - Diese Urteile tauchen schon auf. Diese Urteile sind bei denjenigen zu finden, die so ein wenig anhören sollten, was ihnen ein Mensch sagt, der nüchtern rechnen kann, wie die Wirklichkeit sich gestaltet.
Demgegenüber kann man nur sagen: Wenn nur die äußeren mate-rialistischen Impulse wirken in der Welt und in den Menschenköpfen und in den Menschenherzen, dann wird es so werden! Dann wird mit einer furchtbaren Sklavenkette wahrhaftig nicht nur Deutschland und die Mittellander und Rußland, sondern die ganze zivilisierte Erde
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wird nach und nach mit furchtbaren Sllllavenketten umgürtet werden und niemals wieder froh werden. Denn durch dasjenige, was nur von altersher heraufkommt, ist die Welt an einem Ende! Neues kommt nicht daher. Neues muß kommen aus der geistigen Welt. Aber es kommt nicht, wenn der Mensch sich ihm nicht nahen will, wenn der Mensch nicht in freiem Willen es aufnehmen will. Rettung kann nur kommen, wenn Menschenseelen sich finden, die dem Geist entgegen¬gehen, der sich in der neuen Weise durch die Geister der Persönlich¬keit offenbaren will, die aus bloßen Zeitgeistern Schöpfer werden wollen. Es gibt keinen andern Ausweg. Ehrlich kann man nur auf zweierlei Art sein: entweder so sprechen wie Walther Rathenau oder aber hinweisen auf die Notwendigkeit des Sich-Hinneigens zur geisti¬gen Welt.
Das letztere wird Gegenstand unserer Neujahrsbetrachtung sein.
Die Silvesterbetrachtung sollte für jeden wachen Menschen nicht so sein, daß er sich wohlig ins neue Jahr hinüberbegibt; sie soll ihn ernst stimmen, sie soll ihm vor Augen führen dasjenige, was in der Zeiten Schoß liegt, wenn nicht in diesem Zeitenschoß das Geistkind geboren wird. Bei diesem Geisteslicht allein kann eine richtige Neujahrs-perspektive empfunden werden. Wollen wir einmal von heute zu morgen versuchen, uns in unserer Seele ernst zu stimmen! Ich durfte heute nicht anders schließen als mit ernstem Hinweis, den ich noch dazu nicht selber geben wollte. Aufmerksam wollte ich machen, wie diese Silvesterbetrachtung sich ausnimmt in der Seele eines Menschen, der ehrlich ist, der hinschaut auf die Welt, aber nur die materiellen Mächte geltend findet. So muß es aussehen in den Köpfen, in den Herzen, in den Gemütern, in den Seelen - wenn sie ehrlich sind - der¬jenigen, die nicht geistig werden wollen; die andern, die auch Mate¬rialisten sind, sind nicht ehrlich, und sie schlafen, damit sie sich ihre Unehrlichkeit nicht zu gestehen brauchen.
Das ist die Perspektive nach rückwärts, das ist die Silvesterstim-mung!
Morgen wollen wir sehen, wie sich aus der Betrachtung der geisti-gen Welt die Zukunftsperspektive, die Neujahrsstimmung empfin-den läßt.
ACHTER VORTRAG Dornach, 1.Januar 1919
#G187-1967-SE164 - Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?
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ACHTER VORTRAG
Dornach, 1.Januar 1919
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Ein Lichtstrahl, der wirklich erleuchtend wirken kann, fällt auf solche Zeitrückblicke, wie wir gestern einen angestellt haben, wenn man zunächst gewissermaßen die negative Seite der Sache ins Auge faßt, wenn man sich nämlich fragt, wie wir das im Grunde schon öfter getan haben: Welches sind im tieferen Sinne die Impulse, welche die Menschheit in der Gegenwart in solche katastrophalen Ereignisse, namentlich aber, was noch wichtiger ist, in eine gewisse katastrophale Verfassung hineingebracht haben, wie sie ganz deutlich in den Ver¬hältnissen zutage tritt? - Nun wird man selbstverständlich nicht gleich immer den Blick wenden können auf die tieferen Grundlagen von Zeitereignissen. Man wird den Blick zunächst wenden auf die, ich möchte sagen mehr oberflächliche Schichte des Geschehens. Man wird dann dies oder jenes schildern können, und man wird mit solchen Schilderungen keineswegs unrecht haben. Das ist etwas, was immer berücksichtigt werden muß, wenn im Ernste von geisteswissenschaft¬lichen Betrachtungen ausgegangen werden soll. Solche geisteswissen¬schaftlichen Betrachtungen wollen nicht sagen, daß anderes immer unrichtig sei. Aber sie wollen heute in der Gegenwart namentlich darauf hinweisen, daß es nicht genügt, bei einer gewissen oberfläch¬lichen Schichte der Weltbetrachtung stehenzubleiben, sondern daß es notwendig ist, tiefer in die Verhältnisse einzudringen. Nichts gerade Neues soll nach dieser Richtung hin heute gesagt werden, aber an manches soll erinnert werden, was, wenn man es sich als eine gewisse Neujahrsperspektive vor die Seele stellt, geeignet ist, in richtiger Art in diese Perspektive hineinzugehen, die vor uns in vieler Beziehung in erschütternder Weise liegt.
Sie erinnern sich, wie ich in diesen Tagen ausgeführt habe, daß zum Allerwichtigsten, zum Allerwesentlichsten in der Erkenntnis der gegenwärtigen Zeit gehört, daß die Menschheit gewissermaßen vor einer neuen Offenbarung steht. Es ist diejenige Offenbarung, die ge-schehen soll, und in gewisser Beziehung auch schon geschieht, durch
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die Geister der Persönlichkeit, welche, wenn man sich so ausdrücken will, zu der Würde von Schöpfern aufsteigen, während wir als Schöp¬fer im Weltengange der Menschheit bisher nur haben ansprechen können diejenigen Geister, welche in der Bibel die Elohim genannt werden, die wir die Geister der Form nennen. Etwas Schöpferisches also wird auftauchen innerhalb desjenigen, was der Mensch beim Ver¬folgen der Außenwelt bemerken kann.
Nun liegt es in gewissen Bedingungen der Menschennatur, daß der Mensch sich zunächst sträubt gegen die Anerkennung eines solchen hereinbrechenden Geisteselementes. Der Mensch will namentlich in der Gegenwart nicht eingehen auf ein solches Hereinbrechen eines geistigen Elementes. Nun müssen wir zweierlei unterscheiden, gerade wenn wir diese gegenwärtige neue Offenbarung ins Auge fassen. Um mich deutlicher zu machen, möchte ich noch das Folgende sagen.
Der berühmte Kardinal Newman sagte, als er eingekleidet wurde in Rom, ein merkwürdiges Wort. Er sagte bei seiner Einkleidung, daß er kein anderes Heil für die Kirche sähe als eine neue Offenbarung. Das ist nun schon Jahrzehnte her, und Verschiedenes ist in der Welt da oder dort über diese merkwürdige Anschauung des Kardinals Newman gesprochen worden. Wenn man aber hinblickt auf das, was von kirchlicher Seite und von solcher Seite, die dem kirchlichen Be¬kenntnis verwandt ist, darüber gesagt worden ist, so ist es überall ein Hinweis darauf gewesen, daß man nicht von einer neuen Offenbarung sprechen soll, daß vielmehr an der alten Offenbarung festzuhalten sei. Und vor allen Dingen, wenn irgend etwas notwendig sei, so sei es nur das, daß man die alte Offenbarung besser verstünde, als man sie bisher verstanden hat.
In diesen Einwänden, die von allen möglichen Seiten gegen den Ausspruch des Kardinals gemacht worden sind, der also eine Intuition hatte von dem Hereinbrechen einer neuen Offenbarung, sieht man, wie sich die Menschheit sträubt gegen eine solche Offenbarung. Nun ist zweierlei, wie gesagt, zu unterscheiden. Dadurch, daß sich die Menschen sträuben, eine solche Offenbarung entgegenzunehmen, wird selbstverständlich die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, daß diese Offenbarung kommt. Diese Offenbarung ergießt sich wie eine neue
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Geisteswelle durch das Geschehen, in das der Mensch eingespannt ist. Der Mensch kann diese Welle nicht etwa von der Erde zurückstoßen. Sie ergießt sich über die Erde. Das ist die eine Tatsache.
Also, ich möchte sagen, seit einiger Zeit, insbesondere seit dem Beginne des 20. Jahrhunderts - oder eigentlich deutlicher gesagt seit dem Jahre 1899 etwa - stehen wir, indem wir als Menschen in der Welt herumgehen, innerhalb einer neuen Welle des geistigen Lebens, die sich in das andere Leben der Menschheit hineinergießt. Und ein Geistesforscher ist heute nur ein Mensch, der dies zugibt, das heißt, der bemerkt, daß so etwas hereingebrochen ist in das Leben der Menschheit. Das ist die eine Tatsache.
Die andere Tatsache ist eben, daß die Menschen - gerade nach ihrer gegenwärtigen Verfassung - ein gewisses Aufraffen brauchen, eine gewisse Aktivität brauchen, um zu bemerken, daß eine solche Welle sich in das Leben hereinergießt. Dadurch konnte das Bedeutsame ein¬treten, daß auf der einen Seite diese Welle sich wirklich hereinergossen hat in das Leben und da ist, auf der andern Seite aber die Menschen sie nicht bemerken wollen. Sie sträuben sich dagegen. Diese Tatsache, die dürfen Sie nicht abstrakt betrachten. Denn die Zentren gewisser¬maßen, die Mittelpunkte, in welchen sich diese Welle so ähnlich ent¬lädt wie die elektrische Stromwelle im Kohärer bei der drahtlosen Telegraphie, die Kohärer auf diesem Gebiete also sind doch die Menschenseelen. Und geben Sie sich darüber keiner Täuschung hin:
die Sache ist so, daß, indem die Menschen auf der Erde leben, sie ein¬fach dadurch, daß sie Menschen des 20. Jahrhunderts sind, Aufnahme-apparate für das sind, was sich in der geschilderten Weise in das Leben hereinergießt. Der Mensch kann sich sträuben, mit seinem Bewußt¬sein das zuzugeben, aber er kann es nicht verhindern, daß seine Seele doch den Wellenschlag aufnimmt, daß der Wellenschlag in ihm ist
Nun muß man gerade diese Tatsache etwas genauer betrachten. Man muß nach den verschiedenen Voraussetzungen fragen, die wir jetzt machen können, nachdem wir diese Betrachtungen durch Wochen hindurch angestellt haben. Man muß fragen: Welches ist denn in unserem Zeitalter die bedeutungsvollste Fähigkeit der mensch¬lichen Seele? Das ist die Intellektualität. Und wenn immer wieder und
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mit vollem Recht betont wird, der Mensch soll auch die andern Seelenkräfte zur Ausbildung bringen, nicht bloß die Intellektualität, so geschieht solche Betonung gerade aus dem Grunde heute so in-tensiv, weil der Mensch fühlt, die Intellektualität ist die eigentliche Fähigkeit des Zeitalters, und er soll, weil die Intellektualität über ian hereinbrechen will, nur nicht die andern Fähigkeiten verkümmern lassen. Gerade weil die Intellektualität im Zeitalter der Bewußtseins-seele eine so wichtige Rolle spielt, gerade deshalb gibt es heute so oft¬mals die intensive Betonung, man soll das Gefühl, die Empfindung nicht verkümmern lassen, was eben gegenüber der hervorstechenden Tatsache, daß die Intellektualität eine so große Rolle spielt, von ganz besonderer Wichtigkeit ist.
Nun muß man sich über diese Intellektualität einmal eine klare Vorstellung machen. Ich habe von den verschiedensten Gesichts-punkten aus über diese Intellektualltät gesprochen. Sie erinnern sich vielleicht, daß ich sogar in öffentlichen Vorträgen nicht versäumt habe, das Notwendige über das Intellektuelle in der gegenwärtigen Zeit mitzuteilen. Ich habe zum Beispiel davon gesprochen, daß wir in unserer naturwissenschaftlichen Weltauffassung, die eigentlich doch alle Kreise ergriffen hat - jeder Mensch denkt heute naturwissenschaft¬lich, wenn er auch gar nichts von Naturwissenschaft weiß -, etwas haben, was sich insbesondere der Intellektualität bedient. Auch wenn man experimentiert, auch wenn man beobachtet, man verarbeitet die Experimente oder die Ergebnisse der Experimente, man verarbeitet die Beobachtungen mit der Intellektualität. Gerade in der naturwissen¬schaftlichen Weltanschauung, an die sich die Menschheit in der Gegenwart so gewöhnt hat, von deren Gesichtspunkten sie auch das soziale Leben zum Beispiel betrachten möchte, gerade in der natur-wissenschaftlichen Weltanschauung waltet und webt ganz und gar diese Intellektualität. Aber wie webt sie? Ich habe in öffentlichen Vorträgen oftmals die Frage erörtert: Was für ein Bild der Welt ge-winnt man eigentlich durch naturwissenschaftliche Weltanschauung?-Zuletzt sieht man doch ein, daß das, was man sich vorstellen kann von der Welt durch die gebräuchlichen naturwissenschaftlichen Denk¬gewohnheiten, nicht die Wirklichkeit ist, sondern ein Gespenst oder
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eine Summe von Gespenstern, selbst unsere Atome und alles das, was man sich vorstellt in der Welt der Atome. Aber auch solche Leute, die mehr Positivisten sind, die nicht viel auf die Atomhypothese geben, wie Poincar6 oder Avenarius oder Mach> stellen sich die Natur so vor, daß sie in ihren Vorstellungen eigentlich nicht etwas Wirkliches haben, wo die Natur hineinspielt, sondern ein Gespenst der Natur. Es ist dies zusammenhängend mit dem, was ich vor einigen Tagen hier gesagt habe: daß eigentlich die Begriffswelt, in der wir heute im Zeitalter der Bewußtseinsseele leben, nicht Wirklichkeiten enthält, sondern nur Bilder, Spiegelbilder. Und es ist schon außerordentlich viel gewonnen, wenn man nicht an dem Aberglauben hängt, daß, wenn man ein naturwissenschaftliches Buch liest oder eine naturwissenschaftliche Auseinandersetzung hört, man dann von einer Wirklichkeit erzählen hört. Wird man sich dessen bewußt, was einem da mitgeteilt ist, so ist das eigentlich nur ein Bild, eine Art Gespenst der Wirklichkeit. Was aber da lebt in solchen Vorstellungen, die eigentlich nur gespenstische Bilder sind, die sich nicht so wie die Goetheschen Metamorphosen-gedanken mit der Wirklichkeit verbinden, das, was da lebt, hat man doch heute in einem gewissen Sinn außerordentlich gern, außer¬ordentlich lieb. Und man möchte die Wirklichkeit einfangen in dieses Gespenstgespinst der Vorstellungen. Alle diejenigen Leute, die heute von monistischer Weltanschauung und dergleichen reden, oder die sonstwie die positivistische Weltanschauung begründen, die glauben eigentlich mit einem merkwürdigen Aberglauben an die Tragweite dieser Gespenstgespinste. Sie glauben, sie könnten aus dem, was ihnen die heutige naturwissenschaftliche Anschauung gibt, ein Bild der Wirklichkeit herausholen, was sie eben nicht können. Also man liebt diese gespenstartige Natur des Weltbildes, das man sich schon einmal nach der heutigen Entwickelungsstufe des Menschen machen kann. Und das, daß man auf der einen Seite seine Vorstellungswelt liebt, daß aber diese Vorstellungswelt auf der andern Seite doch nur Bilder gibt, das beherrscht heute die Seelen. Und die Seelen, die in dieser Weise beherrscht sind von ihrem Vorstellungsstreben, die sind es, die sich sträuben gegen das Hereinbrechen einer Geisteswelle, die ja Wirklich¬keit ist, und die zunächst nicht aufgefangen werden kann durch das
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bloße Gespenstgespinst der Vorstellungen, die man an der Hand der Naturwissenschaft entwickelt. Man kommt mit diesen Dingen nur zurecht, wenn man sich ganz klar ist, daß diese naturwissenschaftliche Vorstellungsart die Menschen dazu präpariert, das positive Geistige abzuweisen, das hereinspielt in die Welt. Und deshalb sträuben sie sich, furchtsam sträuben sie sich gegen die Welle, von der ich gesagt habe, daß sie hereinkommt und sich ausbreitet und daß sie doch in den Seelen der Menschen lebt.
So ist im heutigen Menschen, gerade in den Menschen, die ton-angebend sind, etwas da, was diese Welle nicht ergreifen mag; da ist etwas von dem Einschlagen dieser Welle, aber es ist zu gleicher Zeit in ihrem Bewußtsein etwas, was diese Welle nicht ergreifen mag. Man kann das Schema des heutigen Menschen oftmals so hinstellen, daß man sagt: Wenn dieses der Mensch ist, so ist hier eine Schicht der Seele, und hier eine zweite Schicht der Seele. Hier oben in dieser Schicht (siehe Zeichnung, II) ist das Bewußtsein, das heutige Bewußt¬sein, das insbesondere naturwissenschaftlich geschult ist. Aber die Welle, von der ich spreche, die geht durch die andere Schicht durch (rot). Nun würde es sich darum handeln, daß das Bewußtsein sich nicht bloß mit dem beschäftigt, was Gespenstgespinst wird, sondern daß das Bewußtsein in sich hereinffießen läßt, was da unten ist, daß es in sich aufnimmt, was da unten ist.
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Wenn Sie dies bedenken, so werden Sie etwas finden, was gerade heute für das Verstehen der Seelenkonstitution von außerordentlicher Wichtigkeit ist. Denn wir hätten diese furchtbare Kriegskatastrophe oder vieimehr den kriegerischen Ausdruck dieser Katastrophe - die Katastrophe, die in der Menschheit waltet, ist ja verschieden gestaltet, sie hat verschiedene Seiten, der Krieg, von dem man gesprochen hat, ist nur eine Seite -, diese Kriegsseite der Katastrophe, das, was da hauptsächlich in den letzten viereinhalb Jahren gewütet hat, das hätten wir gar nicht bekommen können, wenn nicht diese seelische Tatsache vorläge. Man muß diese seelische Tatsache ganz genau ins Auge fassen, wenn man sie verstehen will. Man muß sich nämlich fragen:
Wie ist es denn eigentlich mit dieser Welle, die da so geht?
Das ist eine Welle, die zunächst gleichsam unter der Oberfläche dessen ist, worauf man gewöhnlich aufmerksam ist. Man kann fragen:
Was lebt denn eigentlich in dieser Welle, in der sich gerade die Geister der Persönlichkeit bewegen? - Gewiß, es leben darin die Geister der Persönlichkeit, die sich neu als Schöpfer offenbaren wollen, aber es lebt eben manches andere noch in dieser Welle. Denn sehen Sie, Sie können sich einfach ein Meer vorstellen, da fahren Schiffe, in diesen Schiffen können die verschiedensten Persönlichkeiten sein, die sich auf den Wellen da bewegen; sie seien uns Bilder der Geister der Per¬sönlichkeiten. Aber die Wellen selber sind ja da, die stellen auch etwas dar. Im Meer haben wir gewissermaßen bloß das blinde Wasser-element, das aber schon auch seine Mucken haben kann. Aber in dieser geistigen Welle, von der ich da spreche, stellt sich etwas anderes dar. Das, was da hereinflutet in die Seelen, was wirklich in den Seelen ein¬schlägt, das ist Kampf, das ist ein Weltenkampf, der sich gewisser¬maßen hinter der Szene der gegenwärtigen Welt abspielt. In diesen Weltenkampf ist der Mensch eingesponnen. Die Wahrnehmung der Geister der Persönlichkeit, von denen ich spreche, ist für den Geistes-forscher keineswegs eine, ich möchte sagen, ganz bequeme, wohlige Sache. Sie ist durchaus nicht so zu schildern, daß man etwa dem Men¬schen sagen könnte: Ich mache dich zum Geistesanschauer, weil dir das eine ungeheure Seligkeit bietet, weil du da recht wohlig schwim¬men kannst in der geistigen Anschauung. - Das möchten die meisten
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Menschen. Die möchten, daß man ihnen so etwas wie einen Labetrank gibt, wenn sie heute in die geistige Welt hineinkommen sollen. Sie scheuen davor zurück, nicht einen Labetrank zu empfangen, nicht etwas, wovon sie sagen können: Es ist mir dabei so behaglich, so be¬quem zumute. - Das ist es gerade nicht, um was es sich heute handeln kann, sondern es handelt sich heute darum, daß man tatsächlich durch sich hindurchgehen fühlt einen Kampf, der sich hinter den Kulissen der Welt abspielt, einen Kampf, der sich abspielen muß, weil er not¬wendig hineingestellt ist in die Weltentwickelung, wie sie eben zu sein hat.
Man kann verschiedenes angeben, was diese Weltentwickelung, wie sie zu sein hat, charakterisiert. Ich will nur eines erwähnen. In den älteren, vorchristlichen Zeiten - gegen die Zeit, wo das Mysterium von Golgatha stattfand, hat das dann abgenommen -, da war es für die Seelen, die aufmerksam waren, über die ganze heidnische Welt hin wenigstens ziemlich selbstverständlich, daß sie Eindrücke hatten da¬von, daß es wiederholte Erdenleben gibt. Dieses alte Leben war über¬haupt anders, als man geneigt ist, es sich heute vorzustellen. Nicht wahr, heute unterscheidet man Menschen, die eine Schulbildung haben und Menschen, die keine haben. In älteren Zeiten hat man unter¬schieden Menschen, die aufmerksam sein konnten auf die wieder¬holten Erdenleben, und solche, die nicht aufmerksam waren darauf. Das aber ging zurück, und ich habe öfter davon gesprochen, daß es gerade die Aufgabe des Christentums war, für eine Weile zurücktreten zu lassen diese Entwickelungswelle, die in dem Menschen das Be¬wußtsein von den wiederholten Erdenleben erweckt. Wenn man so etwas sagt, so setzt man sich gewöhnlich allerlei Mißverständnissen aus. Widersprüche werden einem vorgeworfen, die man ja, wenn man ausführlich redet, selber beheben möchte und kann. Ich habe neulich das wieder irgendwo gesagt; da hat mir gleich jemand geschrieben, ob ich denn nicht wisse, daß in der Bibel selber über die Reinkarna¬tion gesprochen ist. Natürlich findet man in meinen Schriften die An¬deutungen, wo in der Bibel darüber gesprochen ist, das ist selbst-verständlich. Aber es ist nicht die Frage die, ob durch eine sehr weit¬gehende Interpretation in der Bibel von der Reinkarnation die Rede
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sein kann. Die ganze Verfassung in der Bibel ist doch so, daß die Reinkarnation in der Bibel nicht etwas darin Ausgesprochenes ist, nicht etwas, man kann sagen, an der Hand Hergetragenes. Das ist schon so, daß es in der Entwickelungsnotwendigkeit der Menschheit lag, daß eine Weile das Bewußtsein von den wiederholten Erdenleben zurückging, damit der Mensch sich daran gewöhne, ernst und intensiv das eine Erdenleben zu nehmen. Aber jetzt sind wir gewissermaßen bei einer Rückkehr dieser Sache; jetzt sind wir daran, daß wir nicht vorwärtskommen, wenn wir nicht den Blick wenden auf die wieder¬holten Erdenleben. Jetzt müssen wiederum diejenigen geistigen Ele¬mente, die dem Menschen das Bewußtsein von den wiederholten Erdenleben zutragen wollen, hinter den Kulissen des Daseins einen harten Kampf kämpfen gegen diejenigen, die die alten Elemente und Impulse nur allein in das Bewußtsein des Menschen hineinlassen wol¬len. Dies ist ein bedeutsamer Kampf, an dem man teilnehmen muß, wenn man hineinschauen will in das, was hinter den Kulissen der Menschheitsentwickelung, der Weltentwickelung überhaupt vorgeht!
Man soll sich nur nicht vorstellen, daß hinter den Kulissen des sinnlichen Daseins etwas ist, worinnen man sich so gemütlich schlafen legen kann. So sind in der Regel die Paradiesesvorstellungen der mate¬rialistischen Menschen. Die stellen sich am liebsten vor: Wenn sich das Tor des Todes schließt, so kommen sie dann in die Möglichkeit, recht viel zu schlafen. Weil dieses Schlafen auch sehr behaglich ist, stellen es sich die Menschen am liebsten so vor. Nun, Sie wissen, daß die Sache nicht so ist. Aber es ist auch hinter den Kulissen des Daseins nicht so, daß man unbedingt nur das Begehren danach haben könnte, um alle diejenigen Triebe zu befriedigen, die man gerade aus seinem persönlichen Egoismus heraus gern hätte. Also man wird Teilnehmer eines Kampfes, eines richtigen Kampfes.
Nun liegt folgendes vor: Würden sich die Menschen nicht sträuben, diesen Kampf anzuschauen, würden sie sich bereit erklären, hinter die Kulissen des Daseins zu schauen nach den Mitteilungen, die von Geistesforschern gegeben werden, dann würden die Menschen das Dasein heute überhaupt anders anschauen. Was ich immer betont habe, das ist: Wir sollen Interesse gewinnen, der eine Mensch an dem
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andern; aber dieses Interesse, wie wir es gewinnen sollen, es ist in Wirklichkeit gar nicht denkbar, ohne daß wir die Geisteswissenschaft in unser Leben hereinieuchten lassen. Nicht wahr, wenn man zu Menschen in Beziehungen tritt - und jeder Mensch tritt zu Menschen in Beziehungen -, dann ist die Sache doch so: Wir lernen Menschen kennen, die wir gut nennen, wir lernen Menschen kennen, die wir mehr gleichgültig finden, wir lernen Menschen kennen, die wir böse nennen, die uns allerlei antun, durch die wir allerlei Schlimmes er¬fahren. Gewiß, im äußeren Leben auf dem physischen Plan bleibt nichts anderes übrig, als sich an die Menschen zu halten. Wenn einem schließlich einer eine Ohrfeige gibt, so kann man nicht, wenn man den Drang hat, sie ihm wieder zurückzugeben, sich an etwas anderes halten als an diesen Menschen. Aber den Zeitverhältnissen genügt diese Auffassung nicht mehr. Das muß man sich schon einmal ge¬stehen: den Zeitverhältnissen genügt wirklich diese Auffassung nicht mehr, sondern es entspricht den Zeitverhältnissen viel mehr, wenn man sich heute sagt: Irgendein Mensch lügt einen an, oder ein anderer Mensch tut dies oder jenes. Gewiß, im physischen Leben muß man sich an den Menschen halten. Aber das Wichtige ist, daß man sich dessen bewußt wird: In den Menschen wirken herein allerlei geistige Impulse, und mit denen hat man es eigentlich zu tun. Man kann natür¬lich nicht, wenn einem einer eine Ohrfeige gibt, irgendeinem Dämon, der ihn dazu angetrieben hat, die Ohrfeige zurückgeben, man muß sich an den Menschen halten, der einem im physischen Leben physisch gegenübersteht. Aber das, was so notwendig ist, ich möchte sagen, vor den Kulissen des Daseins, das reicht wirklich nicht aus, um die Welt zu verstehen, namentlich reicht es nicht aus, um wirklich das soziale Leben ordentlich ins Auge zu fassen. Mit andern Worten: Der Mensch kommt heute nicht aus, wenn er nicht hinter dem, was physisch vorgeht, eine geistige Welt in Realität, in Konkretheit wirk¬lich anerkennt. Das ist sehr wichtig. Davor haben die Menschen zum großen Teile Furcht.
Diese Furcht ist gewiß nicht unbegründet. Wenn Sie nicht ganz nüchterne, trockene Menschen sind - selbstverständlich sitzt kein solcher hier -, dann werden Sie so etwas wie eine kleine Gänsehaut
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bekommen, wenn Sie sich denken sollen, daß Sie eigentlich der Schauplatz sind für das Wirken allerlei geistiger Wesenheiten, wie es in Wahrheit der Fall ist. Hat man dann so das Bewußtsein, man ist der Schauplatz für das Wirken aller möglichen geistigen Wesenheiten, dann hat man das Gefühl, daß man sich verliert an diese geistigen Wesenheiten, die einen ausstopfen. Man kommt sich so wie ein Sack vor, der ausgestopft ist mit allen möglichen Wesenheiten. Dieses Ge¬fühl ist gewiß nicht unberechtigt, diese Gänsehaut; aber sie kann wahrhaftig nicht dadurch aus der Welt geschafft werden, daß man die Tatsache, ein solcher Sack zu sein, ableugnet, daß man gewisser¬maßen das Bewußtsein davor verschließt und sich blind und taub macht gegen das, was eine Wirklichkeit ist. Es muß in anderer Weise Hilfe geschaffen werden.
Nun, da liegt eine sehr wichtige Tatsache vor. Nehmen Sie an, so ein Menschenkohärer, so ein Mensch, in den hereinschlägt die Welle des Kampfes, der aber nicht geneigt ist, auf das geistige Leben etwas zu geben, gibt sich der Denkweise der heutigen Zeit im eminentesten Sinne hin, der Denkweise, die nach dem Muster naturwissenschaft¬licher Weltanschauung aufgebaut ist. Man muß wirklich sich ernst¬haft den Dingen gegenüberstellen, denn in unserer heutigen Zeit kann man keinen Lichtstrahl empfangen, sondern nur sich Rathenauschem Pessimismus hingeben, wenn man nicht auf diese Dinge hinschaut. Nehmen Sie zum Beispiel folgendes. Nehmen Sie an, so ein Mann wie Ludendorff wäre Professor der Botanik geworden. Er wäre wahrschein¬lich ein ausgezeichneter Professor der Botanik geworden, würde Außerordentliches geleistet haben als Professor der Botanik, würde, wie man sagt, ein berühmter Knopf geworden sein, so berühmt, daß es sogar seinen Ehrgeiz hätte befriedigen können, aber er würde nicht eine so große Zahl von Menschen unglücklich gemacht haben, wie er es getan hat. Nun stand er nicht an einem Platze, wo er ein unschul¬diger Professor der Botanik war - unschuldig jetzt im Weltenzusam¬menhange; wahrscheinlich würde er diejenigen doch einigermaßen gemartert haben, die bei ihm hätten Examen machen sollen - aber nehmen wir an, er wäre also im Weltenzusammenhange ein unschul¬diger Professor der Botanik geworden, so wäre die Sache gut vor
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sich gegangen. So ist er es aber nicht geworden, sondern er ist ein sogenannter Stratege geworden. Und durch das, was in ihm lag: nur denken zu können im Sinne der Gespenstgespinste der naturwissen¬schaftlichen Richtung, konnte er nicht das, was sich in seiner Seele entlud, ins Bewußtsein heraufbekommen; denn diese Denkweise ist nicht geeignet, das, was da unten sich in der Seele entlädt, ins Be¬wußtsein heraufzubekommen. Und so ist er das Unglück eines großen Teiles der Menschheit. So ist er einer von den dreißig bis vierzig Menschen der Gegenwart, von denen äußerlich die Katastrophe ab¬hängt, ein Mensch, der an dem Platze, an dem er steht, einfach sich sträubt gegen die Anerkennung von irgend etwas Geistigem. Es ist aber heute schon die Zeit da, wo diejenigen Menschen zum Menschen-unglück werden können, die in führenden Stellungen sich gegen die Anerkennung eines Geistigen sträuben, die nicht anerkennen wollen, daß das Geistige hereinspielt namentlich in das Menschenleben. Das ist sehr wichtig, daß man diese Tatsache ins Auge faßt. Nun, wenn sie auch nicht zunächst in führenden Stellungen waren bei dieser kriege¬rischen Katastrophe, so sind doch diejenigen Menschen heute sehr zahl-reich, die einfach aus Furchtsamkeit oder andern Gründen zurückstoßen die Welle des geistigen Lebens, die herefriflutet durch die Geister der Persönlichkeit, weil sie nur naturwissenschaftlich denken wollen.
Da liegt der Grund, warum viele Persönlichkeiten so unverständ¬lich sind in der Gegenwart, und warum viele Persönlichkeiten so falsch beurteilt werden. Es ist unendlich tragisch, daß solche Menschen wie Ludendorff als große Menschen angesehen worden sind. Aber es ist schon einmal so, daß diese Tatsache, die ich eben angeführt habe, das ganze Urteil über die Menschen trübt. Es spielt da in die Men¬schen allerlei Dämonisches herein, das man ihnen zuschreibt, das sie aber eigentlich selber zurückstoßen, weil sie ein bloßes Gespenst-gespinst nach dem Muster der Naturwissenschaft in ihrer Seele tragen und mit diesem die Sache nicht auffassen können. Solch ein Mensch wie derjenige, den ich eben jetzt als Beispiel angeführt habe, der lebt sich dann aus, um in allerlei solchen Dingen, wie es diese Persönlich¬keit gemacht hat, sich zu betäuben über die Spaltung der Persönlich¬keit, über das, was da rumort und tobt. Das ist überhaupt bei sehr
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vielen Menschen der Gegenwart der Fall. Sie betäuben sich über das, was eigentlich in ihrem Inneren tobt, wenn sie in eine bestimmte Lage kommen im äußeren Leben, durch das oder jenes, was sie tun; der eine prügelt seinen Nachbarn durch, der andere schreibt ein blöd¬sinniges botanisches Buch und dergleichen. Sie betäuben sich über das, was eigentlich in ihrem Inneren tobt, und was immer darin besteht, daß ihre Persönlichkeit zu zerfallen droht; einfach unter dem Ein¬fluß der notwendigen Zeitereignisse droht ihre Persönlichkeit zur zer¬fallen, weil sie sich davor fürchten, sich in den Kampf hineinzustürzen, der hinter den Kulissen in der Welt jetzt spielt und auf dessen Wellen die Geister der Persönlichkeit einziehen wollen in unsere Zeit.
Anerkennung des Geistigen erfordert ein Fertigwerden mit der Frage, die wir eben jetzt ins Auge fassen. Und da ist es von ungeheurer Not¬wendigkeit, wirklich das ernst zu nehmen, was hier so oft betont wird:
Geisteswissenschaft nicht bloß als eine Theorie zu betrachten. Wenn Sie sie als eine Theorie betrachten, dann lesen Sie lieber Kochbücher und dergleichen; denn das, was bloßer Inhalt ist in der Geisteswissen¬schaft, ist nicht eigentlich das Wesentliche und Wichtige. Das, worauf es ankommt, ist die Art, wie man denken muß, um Geisteswissenschaft anzuerkennen. Es ist eine andere Art des Denkens als diejenige, die man gerade aus dem heute gebräuchlichen Naturanschauen gewonnen hat. Es gibt eben zwei Arten, sich Gedanken zu bilden. Die eine Art ist die zergliedernde, die unterscheidende, die gerade in der Naturwissen¬schaft heute eine so große Rolle spielt, wo man unterscheidet, sorgfäl¬tig unterscheidet. Sie finden das gerade in der Naturwissenschaft ton-angebend. Alles, was in der Naturwissenschaft gesagt, geschrieben getan wird, steht unter dem Einfluß der zergliedernden Denkweise, der unterscheidenden Denkweise. Man sucht stramme Definitionen. Und wenn einer heute etwas sagt, so nagelt man ihn an stramme Definitionen. Stramme Definitionen sind aber nichts weiter als Unter¬scheidungen der Sachen, die man definiert, von andern Sachen. Diese Denkweise ist eine Art von Maske, der sich insbesondere gern bedie¬nen die Geister, die heute uns zerreißen möchten, die in diesem Kampfe drinnenstehen. Trivial könnte man sagen: Eine große Anzahl der¬jenigen Menschen, die die gegenwärtige Kriegskatastrophe herbeigeführt
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haben, und derjenigen, die noch drinnenstehen in dem, was die Folgen sind, sind eigentlich verrückt. Aber das ist, wie gesagt, nur etwas Triviales. Um was es sich da handelt, ist, daß man versteht, wodurch ihre Persönlichkeiten zerrissen werden. Von dieser Denk-weise, zu der einen Zugang haben die verschiedenen, den Menschen auseinanderreißenden Mächte, muß man klar unterscheiden die andere, die in der Geisteswissenschaft allein angewendet wird. Sie ist eine ganz andere Vorstellungsart, eine ganz andere Denkweise. Sie ist, im Gegensatz zu der zergliedernden, eine gestaltende Denkweise. Sehen Sie genauer zu, verfolgen Sie, was ich versuche in den verschie¬denen Büchern über Geisteswissenschaft auszuführen, so werden Sie sich sagen: Nicht so sehr liegt der Unterschied in dem, was mitgeteilt wird - das kann man so oder so beurteilen -, aber aufmerksam sollte man werden, daß die ganze Art der Eingliederung der ganzen Welt, die ganze Art der Vorstellungen eine andere ist. Diese ist gestaltend, sie gibt abgeschlossene Bildheiten, sie versucht Konturen und durch Konturen Farben zu geben. Das werden Sie durch die ganze Darstel¬lung hindurch verfolgen können: sie hat nicht das Zergliedernde, welches die ganze heutige Wissenschaft hat. Dieser Unterschied des Wie muß hervorgehoben werden ebenso wie der Unterschied des Was. Also es gibt eine gestaltende Denkweise, die insbesondere ausgebildet wird und die den Zweck hat, in die übersinnlichen Welten hinein-zuführen. Wenn Sie zum Beispiel das Buch nehmen «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», wo ein solcher Weg in die über¬sinnlichen Welten vorgezeichnet wird, so werden Sie finden, daß darin alles, was die Gedanken und Vorstellungen in Anspruch nimmt, auf gestaltendes Denken veranlagt ist.
Das ist etwas, was für die Gegenwart notwendig ist. Denn das ge-staltende Denken hat eine ganz bestimmte Eigenschaft. Wenn Sie zergliedernd denken, wenn Sie so denken, wie der heutige Natur-forscher denkt, dann denken Sie ebenso wie gewisse Geister der ahri¬manischen Welt, und daher können diese ahrimanischen Geister in Ihre Seele hereindringen. Wenn Sie aber das gestaltende Denken nehmen, das metamorphosierte Denken, ich könnte auch sagen das Goethesche Denken, wie es sich zum Beispiel darstellt in der Gestaltung
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unserer Säulen und Kapitäle und so weiter, wenn Sie dieses gestaltende Denken nehmen, das auch in all den Büchern beachtet ist, die ich versuchte in die Geisteswissenschaft hineinzustellen, so ist dieses Denken eng an den Menschen gebunden. So gestaltend, wie der Mensch mit dem Denken in sich selber wirkt, vermögen es keine andern Wesen als diejenigen, die mit der normalen Menschheitsent¬wickelung zusammenhängen. Das ist das Eigentümliche. Dadurch können Sie nie auf falsche Wege kommen, wenn Sie sich durch die Geisteswissenschaft auf gestaltendes Denken einlassen. Da können Sie niemals sich verlieren an die verschiedenen geistigen Wesenheiten, die Einfluß gewinnen wollen auf Sie. Die gehen natürlich durchaus durch Ihre Wesenheit hindurch. Aber sobald Sie gestaltend denken, sobald Sie sich bemühen, nicht bloß zu spintisieren und zu unterschei¬den, sondern so zu denken, wie es wirklich diese moderne Geistes¬wissenschaft will, so bleiben Sie in sich, so können Sie nicht das Gefühl der bloßen Ausgehöhitheit haben. Deshalb betont man, wenn man auf dem Standpunkt unserer Geisteswissenschaft steht, so häufig den Christus-Impuls, weil der Christus-Impuls in der geraden Linie des gestaltenden Denkens liegt. Die Evangelien kann man auch nicht verstehen, wenn man sie bloß zergliedert. Was dabei herauskommt, hat gerade die moderne protestantische Theologie gezeigt. Die zer-gliedert, aber es ist ihr auch alles enifalien, und es ist gar nichts mehr geblieben. Diejenigen Zyklen, die von den Evangelien handeln, die verfolgen den entgegengesetzten Weg. Sie bauen etwas auf, was ge¬staltet wird, um durch diese neuen Gestaltungen zum Verstehen der alten Evangelien vorzurücken. Es braucht heute tatsächlich - das ist gar nicht übertrieben - jemand nichts anderes, als sich an die Vor¬stellungsart, an die Denkweise dieser Geisteswissenschaft zu halten, dann können ihm diejenigen dämonischen Wesenheiten, die als Be¬gleiterscheinungen der Geister der Persönlichkeit hereinrollen mit der neuen Welle, nichts anhaben. Daher sehen Sie, was es eigentlich für ein großer Schaden für die Menschheit ist, wenn sie sich sträubt, geisteswissenschaftlich zu denken.
Ich sagte vorhin: Es läßt sich diese Welle nicht aufhalten, wenn die Menschen sie auch abweisen, sie flutet herein, auch wenn die Menschen
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sich gegen sie sträuben, wenn sie sie nicht auffassen wollen. Dann kommt dasjenige heraus, was im Grunde zur Katastrophe der Gegen¬wart im tieferen Sinne geführt hat: das Nichtanerkennen der geistigen Welt. Das ist doch die tiefere Ursache für die heutigen katastrophalen Ereignisse, namentlich auch für die heutigen katastrophalen Seelen-verfassungen. Und da es ein Kampf ist, der unten ja waltet, so gibt es kein anderes Mittel, als durch das gestaltende Denken die menschliche Persönlichkeit in sich selber plastisch auszubilden und dadurch den Kampf in der Seele zu erleben. Sonst wird der Kampf in der Außen¬welt sich bleibend abspielen. Deshalb muß man schon sagen: Es ist wahrhaftig nicht richtig, wenn die Menschen sich nicht hinneigen wol¬len zu diesem geistigen Untergrunde der gegenwärtigen katastrophalen Weltlage. Denn Sie bemerken: Es liegt etwas außerordentlich Neues in dem, was hier gesagt worden ist; es ist ein Rechnen mit einer neuen Welle, die hereinspielt, und die durch eine ganz besondere Vorstel-lungsweise an den Menschen herangebracht werden soll, der in der Gegenwart lebt. Wenn man sich Gedanken, die nach dem Muster der Naturwissenschaft sind, hingibt, kann man einfach nicht der heutigen Zeit gewachsen sein. Wenn man bloß dasjenige ordnen will, was hier in der physischen Welt ist, wenn man bloß über das nachdenkt, was hier in der physischen Welt ist und nichts anderes gelten lassen will, dann zerstört man nur. Und man soll sich dann nicht wundern, wenn der Kampf, dessen man nicht Meister werden will im Geistigen, in das physische Leben hereinspielt, denn er schlägt ja herein in die Menschen. Und wenn sie ihn nicht in der Seele ausfechten wollen, so führt er den einen gegen den andern, Völker gegen Völker, Menschen gegen Men¬schen. Was hier in der physischen Welt geschieht, kann nur ein Ab¬bild sein der geistigen Welt: Entweder der Mensch nimmt den Kampf so, daß er ihn in seiner Seele ausficht, das heißt, die Menschen ver¬tiefen sich geistig, oder aber dieser Kampf, der durch das Bewußtsein wie durch ein Sieb hindurchgeht, wenn man bloß so denken will, wie die Gegenwart denkt, entlädt sich, indem er den Menschen, die menschliche Seele ausschaltet in der äußeren Welt, und verursacht alles das, was Sie eben jetzt sehen. Sie werden, wenn Sie so etwas be¬denken, einsehen, daß es wirklich der heutigen Menschheit obliegt,
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sich zum Geiste hinzuwenden, daß dies notwendig vorgezeichnet wird von den Weltereignissen.
Betrachten wir eine solche Zeit, wie sie uns dargeboten wird an der Jahreswende, wo wir doch ein wenig auf das Kommende hinblicken sollen, das wahrhaftig in einer erschütternden Perspektive vor uns steht. Sehen Sie, meine lieben Freunde, das ist es, was man erreichen muß: daß man sich nicht betäubt, indem man die Perspektive der Zu¬kunft doch zu verschlafen versucht. Ich habe Ihnen gestern aus diesem Grunde die Perspektive vorgeführt, die ein Mensch entworfen hat, der rechnet, der nun wirklich die Dinge nicht aus Sympathien und Anti¬pathien heraus streut, sondern der sie berechnet. Ich habe das aus dem Grunde getan, damit Sie sehen, wozu ein rechnendet Materialist in der heutigen Zeit kommt. Die Menschheit schickt sich zu etwas ganz anderem an als dazu, wirklich einmal Ernst zu machen mit der An¬erkennung der Tatsache, daß zum Heil der Menschheit die geistige Welt anerkannt werden muß. Wer die geistige Welt und ihr Ver¬hältnis zur physischen Welt durchschaut, der weiß, daß gewisse Ge¬setze herrschen, wenn das auch keine logische Folge ist, aber die logische Folge liegt eben im zergliedernden, nicht im gestaltenden Denken, nicht im anschauenden Denken, das ich charakterisiert habe. Sie sehen, solche Gesetze walten auch äußerlich nicht so, daß sie ganz stramm ziffernmäßig vorhanden sind, aber sie sind da. Nehmen Sie nur einmal solch ein Gesetz, das natürlich auch Ausnahmen hat: daß -zum Heile der Menschen - ungefähr ebensoviel Männer wie Frauen über die Erde hin geboren werden. Es könnte ja, rein theoretisch gedacht, zum Unheil der Menschheit doch auch einmal eintreten, daß in irgendeinem Jahrhundert nur ein Zwanzigstel der Menschheit Männer wären, und die andern alle als Frauen geboren würden! Solche Gesetze also, die sich nicht mit der gewöhnlichen Logik be¬gründen lassen, sondern die nur geisteswissenschaftlich zu durch¬schauen sind, solche Gesetze gibt es. Ein solches Gesetz aber ist auch dieses: In dem Maße, in dem die Menschen ihre Seele durchdringen mit Anerkennung des Geistigen, wie ich es heute geschildert habe, so daß also auch dasjenige, was in einem Zeitalter geistig ist, herabffießt in das Bewußtsein, in dem Maße kann sich auch das gewöhnliche
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Zusammenleben in der Menschheit entfalten, in dem Maße können die Menschen über die antisozialen Triebe, über das, was der Soziali¬sierung entgegenarbeitet, hinauskommen.
Es haben die Menschen heute nur nicht den Mut, das Geistige wirklich in ihr Bewußtsein hereinspielen zu lassen. Aber wenigstens einige Menschen sollten wissen, daß es sich darum handelt, heute ins unmittelbare Bewußtsein das Geistige hereinspielen zu lassen. Be¬trachten Sie von diesem Gesichtspunkte aus bestimmte Zeiterschei¬nungen, ich möchte sagen, Zeitliebhabereien, dann werden Sie sehen, wie die Menschen heute einen Drang haben, aus ihrem Bewußtsein den Zusammenhang mit dem geistigen Gesetze des Daseins aus¬zuschließen. Und wie sogar im praktischen Handeln mit solchen Din¬gen zu rechnen ist, durch die der bewußte Zusammenhang aus¬geschlossen werden kann, habe ich Jhnen neulich einmal vorgeführt, als ich von den Begabtenprüfungen sprach. Da will man möglichst nicht mehr einen unmittelbar elementaren Zusammenhang mit der Begabung des Schülers haben, sondern durch allerlei äußere Ma߬regeln Gedächtnis, Verständniskräfte prüfen, damit man nicht zu denken braucht. Deshalb haben die Leute die Mathematik so gern. Da stellt man erst einige Regeln auf, und dann wird mechanisch ge¬rechnet. Da braucht man nicht die Einzelheiten mit der Intelligenz zu verfolgen. Man könnte ja auch nicht. Nicht wahr, Sie können sich nebeneinander drei, vier, fünf Bohnen vielleicht vorstellen, auch zehn Bohnen noch, zwanzig sich auf einen Blick vorzustellen, wird schon schwer gehen. Aber denken Sie sich, Sie sollten sich jetzt tausend oder gar eine Million auf einen Blick vorstellen! Aber rechnen können Sie es ganz gut, weil Sie da mechanisch den Ansatz machen; Sie brauchen die Einzelheit dessen, was Sie da tun, nicht mit der Intelligenz zu ver-folgen. Das lieben aber die Menschen heute ganz besonders, wenn man ihnen etwas beweisen kann, wobei sie nicht eigentlich mit der Intelli¬genz dabeizusein brauchen. Wenn man an sie den Anspruch macht, sie sollen alle einzelnen Etappen des Beweises verfolgen, so ist das den Menschen furchtbar unangenehm. Daher soll lieber die Sache be¬weisen, ohne daß der Mensch dabei ist. Man möchte am liebsten die Sache, die geistige Welt, so beweisen, daß sie sich da draußen selber
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zeigt: Spiritismus und dergleichen. Den Menschen ist es furchtbar, daß die Geisteswissenschaft den Anspruch erhebt, daß man wirklich dabei ist, daß man aktiv ist in den einzelnen Etappen. Ohne das ist aber Geisteswissenschaft gar nicht denkbar. Daher liebt man auch die Symbole der alten Geheimwissenschaft und dergleichen. Man liebt Ritualien, von denen die Leute sagen: Sie spielen sich vor uns ab, aber wir brauchen nicht sie mit unserer Intelligenz zu verfolgen, wir brauchen uns keine Vorstellung davon zu machen, was da eigentlich geschieht -, und dergleichen. Doch das ist schon etwas, was moderne Geisteswissenschaft haben muß: dieses Verfolgen des einzelnen.
Es ist sehr merkwürdig: Im Osten von Europa haben wir aufkei-mend, was eigentlich auf die nächste Epoche wartet. Da werden, ge-rade im Osten, allerlei Dinge getrieben, welche zeigen, wie man das, was eigentlich nur mit dem Netz der Intelligenz umspannt werden soll, mit der Intelligenz durchdringen will. Im Zeitalter des Bewußt-seins, wo die Intelligenz wirken soll, wo das alles in das Netz der Intelligenz eingespannt werden soll, da sucht man das Intelligente hineinzubringen. Nehmen Sie zum Beispiel nur einmal die Art, wie namentlich in Rußland Propaganda getrieben worden ist, um in den letzten zwei Jahrzehnten den Sturz des Zarentums allmählich herbei¬zuführen! In diesem geknechteten, geknuteten Rußland konnte man natürlich nicht eine ganz offene Propaganda treiben. Das wäre alles polizeilich konfisziert worden, was man irgendwie als Propaganda-schriften verbreitet hätte. Reden durfte man auch nicht. Dennoch, in einer verhältnismäßig kurzen Zeit, von 1900 bis 1904, sind in Rußland sechzig Millionen antizaristische Schriften erschienen. Von diesen sechzig Millionen Schriften sind nur zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent polizeilich aufgespürt worden, die andern sind hinaus¬gegangen, und Ungeheueres ist erschienen in der Zeit, die dem Sturz des Zarentums vorangegangen ist; ein großer Teil des Volkes war dadurch vorbereitet auf diesen Sturz des Zarentums. Worauf beruht es denn, daß - trotzdem alles, was nur irgendwie aufgespürt werden konnte, sorgfältig polizeilich konfisziert wurde - dennoch von sechzig Millionen Schriften, die alle hingearbeitet haben auf die Revolution, auf den Sturz des Zarentums, kaum ein Viertel der Beschlagnahme
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verfallen ist? Das beruht darauf, daß die leitenden Führer der Agita¬tion auf etwas ganz Bestimmtes gekommen sind, was heute ungeheuer wichtig ist, was aber die Menschen durchaus nicht einsehen wollen. Wenn man es aber in ahrimanischem Sinne, wie diese Führer, ein¬sieht, dann kann man ungeheuer stark wirken. Die sind darauf ge¬kommen, daß irgend etwas, was man mit denselben Worten aus¬spricht, in ganz verschiedener Weise wirkt, ob man es einem Polizei¬mann, der stramm zaristisch denkt, oder ob man es einem Menschen aus dem Volke vorlegt. Dieselben Sätze, die, wenn sie nur in der ent¬sprechenden Weise gesagt sind, auf den Polizeimann lammfromm wirken, die können unter Umständen unter dem Volke in furcht¬barstem Sinne sozialistisch wirken. Allerdings, man hat nicht solche Schriften geschrieben, wie sie jetzt in der Schweiz geschrieben wer¬den, die dann konfisziert werden, sondern man hatte Bücher oder Broschüren verbreitet über Botanik, über Pflanzen, die einfach durch die Art der Abfassung im eminentesten Sinne die Seelen so präparier¬ten, daß Rußland wirklich im Jahre 1917 auf die Revolution vor¬bereitet war. Hinter das Geheimnis zu kommen, daß eine Sache, die man sagt, auf den einen ganz anders wirkt als auf den andern, das ist ungeheuer wichtig. Allerdings wird das gerade sorgfältig studiert, und die Studien, die auf diesem Gebiete gemacht werden, sind so recht charakteristisch für unsere Zeit. Sie sind eigentlich etwas von dem, was sich am allerärgsten gegen das sträubt, was geisteswissen-schaftlich in die Welt hereinkommt. Ich kann mir zum Beispiel nicht denken, daß es etwas gibt, was sich stärker gegen das eigentliche Urelement des Geistigen sträubt, als solche Bücher wie die von Niko/ai Rubakin, der es versucht, in ganz neuartiger Weise, aber eben in einer Weise, die dem Lebendigen der Geisteswissenschaft ganz ent¬gegenstrebt, die Menschenseele zu studieren, so daß man gewisser¬maßen die Intelligenz festhält, wie sie wirkt, aber die Aktivität der Intelligenz in dem Wirken ausschließen kann. Das Streben solch eines Menschen rechnet damit: In unserer Zeit will alles intelligent ge¬schehen, aber man soll nicht durch Anstrengung der subjektiven Intelligenz überall mitwirken. Deshalb hat er in einer ungeheuer weit-getriebenen Art das Folgende versucht.
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Er organisierte das Studium der Leser, der Menschen, die etwas lesen. Er läßt sich mitteilen, welches ihre Lieblingsbücher sind, was in diesen Büchern besonders auf sie wirkt, wie sie durch diese Bücher an Einfluß gewonnen haben. Und die Fragen, die dabei gestellt werden an die Leute, sind so gestellt, daß man nicht etwa mit den Sympathien und Antipathien für die Bücher rechnet, sondern daß gerade diese ausgeschaltet sind, daß eigentlich nur das objektive Wirken der In¬telligenz in Betracht kommt. Das ist die eine Art: daß er die Leser sich selber so zergliedern läßt, daß sie ihm einfach durch die Fragestellung, die er gibt, Sachen sagen, durch die er tiefer in ihre Seelen hinein¬schaut, als sie selber es tun.
Die andere Seite ist diese, daß er nun in Tausenden und Tausenden von Fällen wiederum durch solch raffinierte Fragestellungen die Bücher von den Menschen analysieren läßt, die erscheinen. Es wird ganz abgesehen davon, ob das Buch ein mathematisches oder ein botanisches oder ein politisches oder sozialistisches oder anarchi-stisches ist, das kommt weniger in Betracht, denn das ist der Inhalt, und die Menschen achten nicht darauf, daß der Inhalt nur der eine Teil ist. Aber er läßt feststellen, wie das Buch wirkt durch die Schön-heit seiner Sätze oder dadurch, daß der Verfasser Temperament ver¬rät, oder langweilig schreibt, also lauter Eigenschaften, durch die man die objektiv waltende Intelligenz, die in den Büchern nun statistisch festgestellt wird, kennenlernt. Die ganze Art geht darauf hin, die innerhalb des Zeitalters wirkende Intelligenz in der Ausströmung und in dem Aufnehmen kennenzulernen. Würde man eine solche Wissen¬schaft bis zu einem gewissen Grade ausgebildet haben, dann könnte man auch einmal über den Jupiter ein Buch schreiben, das ein furcht¬bar revolutionäres Buch sein würde, und auf der andern Seite ein Buch über das erste rechte Bein der Maikäfer, und dieses würde ebenso dem Zweck dienen können, wie das andere Buch über den Jupiter. Denn da handelt es sich wirklich nicht darum, was man sagt, sondern wie man es sagt, weil man dadurch kennenlernt, was als Intelligenz objektiv in der Menschheit wirkt, dessen sich die Menschen aber nicht bewußt sind. Man wirkt jetzt nicht nur subjektiv, indem man seine eigene Intelligenz, wie beim Rechnen, nicht mittun läßt, sondern man
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wirkt in dem, was als Intelligenz waltet, aber nicht in dem, was diese Intelligenz von Mensch zu Mensch anwendet, sondern indem man die subjektive Intelligenz ganz ausschaltet.
Man könnte heute eine Hochschule begründen, welche auf Grund einer solchen Wissenschaft sich die Aufgabe stellte, revolutionäre Propaganda zu betreiben einfach dadurch, daß man in der Richtlinie vorgeht, wie ich es Ihnen angedeutet habe. Solche Bestrebungen gibt es in der Gegenwart. Sie alle gehen eigentlich darauf hinaus, den Menschen im Zeitalter der Intelligenz nicht in diese Intelligenz herein¬zuholen, sondern ihn gerade hinauszuwerfen aus der Intelligenz. Es ist dasselbe, was nicht will, daß der Mensch bewußt, mit dem Bewußt¬sein, das schon einmal das Bewußtsein der Gegenwart ist, die geistige, die spirituelle Welt aufnimmt. Das aber ist notwendig. Und nur das kann der Menschheit Heil bringen in der Gegenwart und in der näch¬sten Zukunft: sich kühn und mutig dem Hereinspielen der geistigen Welt zu überlassen. Weder durch Begabtenprüfungen noch dadurch, daß man Bücher und Leser statistisch untersucht, wird man zu dem kommen, was heraus will aus dem, was gerade im Menschen jetzt lebt, sondern man wird anders vorgehen. Denn worauf läuft das alles hinaus? Man kann, wenn man trivial sprechen wollte, sagen: All diese Bestrebungen, gerade diese von Rubakin und so weiter, laufen darauf hinaus, daß der Mensch eigentlich heute aus seiner Haut fahren will, weil er in der Haut in die Notwendigkeit versetzt ist, sich seiner Intelligenz zu bedienen, sie aber auf das spirituelle Leben anzuwenden. Der Mensch möchte aus seiner Haut heraus, möchte nicht in seiner Haut leben, weil er weiß: da strömt ein Lebendiges herein. Aber es ist ihm unangenehm, mit diesem Lebendigen bekanntzuwerden; also möchte er heraus. Er möchte selbst das intelligente Wesen verobjekti¬vieren, möchte heraus und sich neben sich setzen, damit diese Welle durch ihn hindurchgehen kann. Das ist aber dasjenige, was Geistes¬wissenschaft will: eine Wissenschaft, die eben nicht innerhalb der Haut beschlossen worden ist, weil man nicht auf unrechtmäßige Weise durch solche Experimente, wie ich es gesagt habe, aus der Haut her¬ausfahren soll. Den Drang dazu haben schon die Menschen. Die Men¬schen sollen aber in der Wirklichkeit das Wissen aufnehmen, das
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durch den gesunden Menschenverstand aufgenommen werden kann. Man braucht nicht immer selber leibfrei zu werden, um ein Wissen zu erwerben, welches in der Welt so handelt, daß das Handeln un¬abhängig von dem ist, was man mit dem Wirkungskreis des Leibes vollbringt. Das ist die Aufgabe der Wahrheit, und das andere sind die Karikaturen der Wahrheit. Diese Karikaturen aber der eigentlichen spirituellen Aufgabe in der Gegenwart, die sind es, welche das Unheil unserer Zeit, das Landen in Sackgassen bewirken.
Sieht man in dieser Weise hinein in dasjenige, was in unserer Zeit waltet, dann weiß man, woher es kommt, daß Menschen, die nicht den eigentlichen Geist anerkennen wollen, die aber, wenn sie ehrlich sind, nicht dazu kommen, sich zu betäuben, sich klarmachen, was der Menschheit bevorsteht, wenn sie beim Materialismus bleiben will. Und man muß einsehen, daß in der Hinlenkung zum Geiste dasjenige liegt, was einen durchaus nicht in die Notwendigkeit versetzt, Pessi¬mist zu werden. Wenn man sich klarmacht, wie wenig heute noch die Menschen geneigt sind, so in die spirituelle Welt hineinzugehen, wie es die Geisteswissenschaft verlangt, dann sieht man schon, wo die tieferen Ursachen des Verfalls in unserer Zeit liegen.
Es sind auch in diesen Jahren wiederum allerlei Weihnachtsartikel erschienen. Man sollte gar nicht glauben, daß gegenüber dem Ernste dieser Zeit solches Zeug erscheint, wie es jetzt vielfach wiederum er¬schienen ist. Die Leute schreiben ja alle furchtbar gut, sie schreiben furchtbar nett, schreiben, wie sich die Menschen lieben sollen. Sie hassen sich zwar so, wie sie sich noch nie gehaßt haben, aber ge¬schrieben wird, wie man sich lieben soll, wie man die Feinde lieben soll und so weiter. Kurz, man schreibt so, wie auch die Dame schreibt, welche die «Briefe einer Frau an Walther Rathenau» geschrieben hat. Man schreibt so, daß eigentlich, geistig angesehen, das Vorstellen, das diesem Schreiben zugrunde liegt, in einer ganz eigentümlichen Weise verläuft. Die Leute schreiben von Menschenliebe, von Christentum, von allem möglichen. Es ist sehr schön, was sie schreiben, und die Leute, die es lesen, finden auch, daß es wunderschön ist. Und dennoch sind es nichts anderes als abgebrauchte Begriffsmünzen, die so fort-kollern im Kopf oder im Herzen. Und indem sie so kollern, so rollen,
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steht der Schreibende oder der Lesende dahinter, und dann wirkt das so wie Zuckerbrot, wenn man sich in der Liebe zu solchen Worten wollüstig ergeht. Man kann so schön träumen, wenn man sagt: Der Christus hat gesprochen von Nächstenliebe, das Christentum muß wiederum aufblühen - und so weiter. Man braucht sich da nicht aus der innersten Seele heraus, mit dem ganzen Menschen auf die konkrete geistige Welt einzulassen, wie die Geisteswissenschaft es verlangt. Aber gerade darauf kommt es an, daß man Ernst mit diesen Sachen macht. Wenn diese Sachen theoretisch anerkannt werden, und dann doch die Menschen wiederum nichts anderes tun als den Wilsonianis¬mus verehren oder in nationalen Chauvinismus verfallen und so reden, wie man heute eben redet, dann bleibt diese katastrophale Zeit. Und sie wird so lange bleiben, bis sich die Menschen darauf einlassen, die geistige Welt wirklich so aufzunehmen, wie heute die geistige Welt aufgenommen werden muß: mit dem Bewußtsein, konkret, ohne Furcht und ohne Zaghaftigkeit.
So daß wir, wenn wir hineinschauen in das neue Weltenjahr, auf der einen Seite die Menschen sehen, wie sie, nur um sich betäuben zu können, prophetisch politisieren, Völkerbünde begründen, welche die Kriege aus der Welt schaffen sollen. Frellich fangen die Leute heute schon an, trotzdem sie damit renommieren, daß ein neuer «Wiener Kongreß» nicht kommen soll, sich zu sagen, sie würden froh sein, wenn der Versailler Kongreß so viele Monate den Frieden be¬wirke, wie der Wiener Kongreß Jahre des Friedens bewirkt hat. Nun, die Menschen mögen eben Gedanken, die sie betäuben! Der haupt¬sächlichste heutige Betäubungsgedanke für die Menschheit ist dieser, daß nun, nachdem man einige andere abgesägt hat, Wilson der richtige Mann für die Zukunft ist. Er ist der große Mann, nicht wahr? Ein Mann, der vierzehn abstrakte Gedanken für fähig hält, die Welt des Erdendaseins in ein Paradies zu verwandeln! Aber es ist bequem, es ist dasjenige, was einen betäuben kann. Und es ist unbequemer, sich zu sagen: Wenn nicht eine solche Perspektive dastehen soll vor uns, wie die von Rathenau geschaute, ist es notwendig, daß möglichst viele Leute zu einer bewußten Anerkennung der geistigen Welt kommen. -Das möchte man in einigen Seelen wenigstens bewirken, nachdem man
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sich zu einer solchen Silvesterempfindung herbeigelassen hat, wie wir sie gestern durch unsere Seelen ziehen ließen: daß die Wahrheit dieser Silvesterempfindungen so in den Seelen erlebt werde, daß sie sich sagen: Bleibt man stehen bei dem, woran sich die Menschheit in ihrem Denken gewöhnt hat und was wahrhaftig nicht bei einem Volke, son¬dern bei allen Völkern über das Erdenrund hin waltet, dann ist diese Perspektive von Rathenau richtig. - Sie braucht nicht richtig zu sein! Es ist in der Möglichkeit der Menschen gelegen, daß diese Perspektive nicht richtig zu sein braucht. Das kann die Neujahrsbetrachtung sein, daß man den Willen walten lasse, daß diese Perspektive nicht richtig sei. Dazu ist aber notwendig, daß man sich von allen Vorurteilen ab¬sondert, die man heute noch in sich hegt, indem man Urältestes wiederum hervorholt, um sich darinnen wollüstig zu ergehen, daß man sich viel mehr einläßt auf das wirklich Neue.
De4enige, der das einsieht, der wird wissen, wo man den Geist sucht, und da wird Aussicht sein für ein Heil in der Zukunft. Wo man den Geist nicht suchen wird, man mag da Sieger oder Besiegter sein, da wird nicht Heil sein in der Zukunft! Mögen die Menschen des einen Teiles der Welt von den andern Milliarden verlangen, diese Milliarden, sie werden zu einem glühenden Golde werden und vernichtend wir¬ken, während auf der andern Seite die Armut, wenn sie vom Geist beflügelt ist, doch die Menschen emportragen wird in die Höhen, in welche die Zukunft der Menschenentwickelung hinführen soll.
Aber das muß man empfinden aus innerer Einsicht in den Gang des Geistes. Und kein Hinblicken auf irgend etwas Äußerliches, kein Schwören auf neue Götzen, wie es sich jetzt vorbereitet, kann die Menschheit retten, sondern nur das Sich-Halten an den Geist, das Halten zum Geiste, das Wirken im Geiste.
HINWEISE
#G187-1967-SE189 - Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?
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HINWEISE
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11 Nikolaus von der Flüe, 1417-1487. Verbrachte die letzten 20 Jahre seines Lebens in einer Einsiedelei hei Sachseln. Mystiker, auch «Bruder Klaus» genannt.
12 «Und so ihr nicht werdet wie die Kindlein...»: Matth. 18, 3.
26 Angelus Silesius, 1624-1677. «Cherubinischer Wandersmann».
36 wie ich neulich hier angeführt habe: Im Vortrag vom 20. Dezember1918, in «Die soziale
Grundforderung unserer Zeit - In geänderter Zeitlage», Bibl.-Nr. 186, Gesamt-
ausgabe Dornach 1963.
42 an letzten Sonntag: Siehe den ersten Vortrag.
43 in neinen Aufsatz: Abgedruckt im Bande «Philosophie und Anthroposophie», Bibl.-Nr. 35, Gesamtausgabe Dornach 1965.
ver einiger Zeit: Am 27. Oktober 1918; abgedruckt in «Geschichtliche Sympto¬rnatologie», Bibl.-Nr. 185, Gesamtausgabe Dornach 1962.
47 Betrachtungen, die wir fruher hier angestellt haben: Siehe den Vortrag vom 11. Januar
1918 im Bande «Mysterienwahrheiten und Weihnachtaimpulse - Alte Mythen und ihre Bedeutung», Bibl.-Nr. 180, Gesamtausgabe Dornach 1966.
49 David Lloyd George> 1863-1945, Minister seit 1905, 1916-1922 Premierminister
54 Alfredjerenias, 1864-1935, Theologe.
59 Manes, 215-276.
60 Aurelius Augustinus, 354-430, Kirchenvater.
62 Johannes Scotus Erigena, 810-877, Hauptwerk «De divisione naturae».
85 Jakob Böhme, 1575-1624.
Gesprach zwischen Goethe und Schiller: Goethes Naturwissensch. Schriften, herausgeg. d. Rud. Steiner in Ktrschners Deutsche Nationalliteratur, 1. Bd., S.111, «Ver¬
folg, Glückliches Ereignis».
87 Shakespeare-Stelle: Hamlet, 5. Akt, 1. Szene.
89 in dem letzten Leipziger Zyklus: «Christus und die geistige Welt - Von der Suche nach dem heiligen Gral», Bibl.-Nr. 149, Gesamtausgabe Dornach 1960.
103 Finleitungeschofsen zu Goethes Morphologie: Einleitungen zu Goethes Naturwiss.
Schriften in Kürscliners Deutsche Nationalliteratur 1. Bd.
106 Ihnen ale eine Art sozialer Impuhe vorgetragen: Siehe Hinweis zu 36.
116 Adolf von Har,'iack, 1851-1930, evangelischer Kirchenhistoriker.
117 Albert Kalthoff, 1850-1906, evangelischer Theologe.
120 Brunetto Letini, gest. 1294.
Dante Alighieri, 1265-1321.
123 bei dem Ausmalen der großen Kuppel: Siehe «Zwölf Entwürfe für die Malerei der großen Kuppel des ersten Goetheanum», Dornach 1930.
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124 in der Ausmalung der kleinen Kuppel: Siehe «Der Baugedanke des Goetheanum», Stuttgart 1958.
126 Jakim und Boas: Vgl. R. Steiner «Weltuesen und Ichheit» 3. Vortr. (20. Juni1916), Bibl-Nr. 169, Gesamtausgabe Dornach 1963.
136 Karl Vogt, 1817-1895, Naturforscher; verfocht den Materialismus und Darwirüs¬mus.
Jakob Moleschon> 1822-1893, Physiologe und materialistischer Philosoph.
Ludwig Büchner> 1824-1899, materialistischer Philosoph.
William Kingdon Clifford, 1845-1879, Mathematiker und Philosoph.
Auguste Comte, 1798-1857, französischer Philosoph, Begrunder des Positivismus.
137 Ernst Haeckel, 1834-1919.
142 Vortrag in Liestal: 16. Okt .1916 «Das menschliche Lehen vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» 5. Aufl. Stuttgart 1948.
154 jene Worte, welche Walther Rathenas' in diesen Tagen an die gauze Welt richtet: Wieder¬gabe nach «Neue Zürcher Zeitung», Nr. 1734, 28. Dezember 1918, Erstes Mor¬genblatt.
Walther Rathenau (1867-1922), deutscher Staatsmann.
165 Kardinal John H. Newman (1801-1890). Bei C. G. Harrison «Das Tn,nscendentale Weltenall», sechs Vorträge über Geheimwissen, Theosophie und den katholischen Glauben», engl. Original erschienen in London 1893, deutsche Übersetzung o. J. (1897) v. Graf zu Leinlugen-Billigbeim, heißt es auf S.14: «Dr. Newman soll in Rom bei Gelegenheit seiner Einkleidung als Kardinal gesagt hahen, er sehe keine Hoffnung für die Religion, außer in einer neuen Offenbarung.»
168 Henri Poincaré, 1854-1912, französischer Mathematiker.
Richard Avenarius, 1843-1896, Philosoph, Begründer des Empiriokritizismus.
Ernst Mach, 1838-1916, Philosoph und Physiker, Vertreter einer mechanistischen Weltanschauung.
174 Erich Ludendorff 1865-1937, Heerführer, maßgebend in der deutschen Obersten Heeresleitung während des Ersten Weltkrieges.
183 Nikolai Rubakin. Hierüber konnte Näheres nicht ermittelt werden.
186 Briefe an Walther Rathenan: «Briefe einer Frsu an Walther Rathenau. Zur Trans¬zendenz der kommenden Dinge», Frankfurt/M. 1918.
187 Wiener Kongreß: 1814-1815.
Woodrow Wilson, 1856-1924, Präsident der USA 1912-1920, stellte 1918 als Fric¬densprogramm die Vierzehn Punkte auf.