GA 295

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE ÜBER ERZIEHUNG

Erziehungskunst
Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge

gehalten in Stuttgart vom 21. August bis 6. September 1919
anläßlich der Gründung der Freien Waldorfschule

GA 295

1969


Inhaltsverzeichnis


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ERSTE SEMINARBESPRECHUNG Stuttgart, 21. August 1919

Meine lieben Freunde, nachmittags will ich in freier Weise besprechen, was bei Ihnen Unterrichtsaufgabe werden soll, Einteilung des Schul­wesens, Ordnung des Unterrichts und dergleichen. In den ersten Tagen werden wir uns wohl hauptsächlich zu beschäftigen haben mit dem Ka­pitel, wie wir den Kindern gegenübertreten.

Wenn wir Kindern gegenübertreten, sehen wir bald, daß die Kinder verschieden geartet sind, und auf die verschiedene Artung der Kinder muß trotz des Massenunterrichtes, auch bei großen Klassen, Rücksicht genommen werden. Wir wollen zuerst, unabhängig von allem anderen, uns dasjenige zum Bewußtsein bringen, was gewissermaßen ideale Not­wendigkeit ist. Wir brauchen uns nicht allzusehr daran zu halten, daß Klassen überfüllt sein könnten, denn ein richtiger Lehrer wird, wenn es notwendig sein sollte, vor überfüllten Klassen zu lehren, auch mit überfüllten Klassen zurechtkommen können. Berücksichtigt muß wer­den die Vielartigkeit der Menschenwesen, der Kinder.

Nun läßt sich diese Vielartigkeit zurückführen auf vier Grund­typen, und es ist die wichtigste Aufgabe des Erziehers und Lehrers, diese vier Grundtypen, die man die Temperamente nennt, wirklich zu kennen. Seit alters unterscheidet man die vier Grundtypen des sanguinischen, des melancholischen, des phlegmatischen und des cholerischen Tempe­ramentes. Wir werden immer finden, daß die charakterologische Be­schaffenheit eines jeden Kindes in einer dieser Temperamentsklassen unterzubringen ist. Wir müssen uns zuerst die Fähigkeit aneignen, die verschiedenen Typen zu unterscheiden, von einem tieferen anthropo­sophischen Standpunkt aus zum Beispiel sanguinische von phlegmati­schen wirklich zu unterscheiden.

Wir gliedern im geisteswissenschaftlichen Sinne die Menschenwe­senheit in Ich, Astralleib, Ätherleib und physischen Leib. Nun würde natürlich beim Idealmenschen die von der kosmischen Ordnung vorgezeichnete Harmonie walten zwischen diesen vier Gliedern der Men­schenwesenheit. Dies ist aber in Wirklichkeit bei keinem Menschenwesen

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der Fall. Und schon daraus kann man ersehen, daß die Menschenwesenheit nicht eigentlich fertig abgeschlossen ist so, wie sie dem physischen Plan übergeben wird, sondern daß Erziehung und Unter­richt dazu dienen sollen, einen vollständigen Menschen aus dem Men­schen zu machen. Eines der vier Elemente waltet vor bei einem jeden, und es muß Ergebnis von Erziehung und Unterricht sein, die Harmoni­sierung zwischen den vier Gliedern herzustellen.

Waltet das Ich besonders vor, das heißt, ist das Ich schon beim Kinde sehr stark entwickelt, dann tritt uns das Kind entgegen mit einem melancholischen Temperament. Man verkennt diese Tatsache sehr leicht, weil man melancholische Kinder manchmal als bevorzugte Wesen ansieht. Eigentlich beruht die melancholische Anlage beim Kinde auf einem Vorherrschen des Ich in den allerersten Jahren.

Waltet der Astralleib vor, dann tritt uns das cholerische Temperament entgegen.

Waltet der Ätherleib vor, dann tritt uns das sanguinische Temperament entgegen.

Waltet der physische Leib vor, dann tritt uns das phlegmatische Temperament entgegen.

Diese Dinge gliedern sich beim späteren Menschen etwas anders. Daher werden Sie bei einem Vortrag, den ich gehalten habe in bezug auf die Temperamente, eine kleine Veränderung finden. In diesem Vortrage sind die Temperamente in Beziehung zu den vier Gliedern des erwachsenen Menschen besprochen worden. Aber beim Kinde wer-den wir durchaus zu einem richtigen Urteil kommen, wenn wir die Gliederung in dieser Weise betrachten.

Nun müssen wir gewissermaßen solch ein Wissen dem Kinde gegen­über im Hintergrunde halten und versuchen, durch das ganze äußere Auftreten des Kindes, durch den Habitus des Kindes auf die Temperamentsgrundlage zu kommen.

Wenn ein Kind sich für alles mögliche nur kurz interessiert, sein Interesse rasch wieder zurückzieht, dann werden wir es als sanguinisch bezeichnen müssen. Diese Orientierung sollten wir uns durchaus angelegen sein lassen, selbst wenn wir viele Kinder zu erziehen haben, zu konstatieren, welche Kinder sich rasch für äußere Eindrücke interessieren

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und das Interesse rasch vorübergehen lassen. Die haben ein sanguinisches Temperament.

Dann sollten wir genau wissen, welche Kinder zum inneren Grübeln, zum Brüten neigen; das sind die melancholischen Kinder. Sie sind nicht leicht zu haben für Eindrücke der Außenwelt. Sie brüten still in sich hinein, aber wir haben niemals den Eindruck, daß sie eigentlich inner­lich unbeschäftigt sind. Wir haben den Eindruck, daß sie innerlich beschäftigt sind.

Haben wir den anderen Eindruck, daß Kinder innerlich unbeschäf­tigt sind, daß sie in sich versunken sind und doch auch keine Teilnahme nach außen zeigen, dann haben wir es mit den phlegmatischen Kindern zu tun.

Kinder, die stark ihren Willen durch eine Art von Toben zum Aus­druck bringen, das sind die cholerischen Kinder.

Es wird natürlich noch viele Eigenschaften geben, durch welche sich diese vier Temperamentstypen bei den Kindern ankündigen. Notwen­dig haben wir aber, daß wir uns in den ersten Monaten unseres Unter­richtes damit beschäftigen, daß wir die Kinder in dieser Zeit auf diese vier Merkmale hin prüfen, daß wir diese Typen bei den Kindern wis­sen. Wir werden eine Klasse dadurch in vier Abteilungen, in vier Grup­pen gliedern können. Es ist wünschenswert, daß wir allmählich ein Umsetzen der Kinder vornehmen. Wenn wir Klassen haben mit beiden Geschlechtern, werden wir acht Gruppen haben. Wir werden die Kna­ben für sich und die Mädchen für sich in vier Gruppen teilen, in eine cholerische, eine sanguinische, eine phlegmatische und eine melancho­lische Gruppe.

Das hat einen ganz bestimmten Zweck. Wir unterrichten; und wäh­rend wir unterrichten, werden wir verschiedene Dinge behandeln, wer­den Verschiedenes zu sagen, Verschiedenes zu zeigen haben, und wir werden uns als Lehrer zum Bewußtsein zu bringen haben, daß es, wenn wir etwas zeigen, was angeschaut werden soll, etwas anderes ist, als wenn wir ein Urteil darüber abgeben. Wir wenden uns, wenn wir ein Urteil abgeben, zu einer anderen Gruppe, als wenn wir etwas zeigen. Wir wenden uns, wenn wir etwas aufzuzeigen haben, was besonders auf die Sinne wirken soll, mit besonderer Aufmerksamkeit an die sanguinische

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Gruppe. Wenn wir irgendeine Reflexion über das, was an­geschaut wurde, anstellen, dann wenden wir uns an die melancho­lischen Kinder. Nähere Details werden noch gegeben werden. Aber es ist notwendig, daß wir uns die Geschicklichkeit aneignen, unsere Auf­zeichnungen und Ansprachen immer an andere Gruppen zu richten. Dadurch kommt das zustande, daß das, was der einen Gruppe fehlt, durch die andere Gruppe ersetzt wird. Den melancholischen Kindern etwas zeigen, worüber sie urteilen können; den sanguinischen etwas, was sie anschauen können. Sie ergänzen sich dadurch, sie lernen voneinander, richten ihr Interesse aufeinander, diese beiden Gruppen.

Sie müssen mit sich selbst Geduld haben, denn diese Behandlung der Kinderwelt muß einen gewohnheitsmäßigen Charakter annehmen. Man muß das im Gefühl haben, an welche Gruppe man sich zu wenden hat, muß es gewissermaßen von selbst tun. Würde man sich das vor­nehmen, dann würde man die Unbefangenheit verlieren. Also als eine Art Unterrichtsgewohnheit müßten wir diese Behandlung der ver­schiedenen Temperamentsanlagen berücksichtigen.

Nun sollen Sie sich nicht in der Vorbereitung überhasten, sondern kräftigen für die Arbeit. Daher meine ich nicht, daß Sie die wenige Tageszeit, die Ihnen noch bleibt, zu großen äußeren Ausarbeitungen verwenden sollen. Dennoch kann man aber die Dinge nur zu seinem inneren Eigentum machen, wenn man sie seelisch verarbeitet. Daher ist es unsere Aufgabe, daß wir mit diesem Verhältnis des Lehrers zu den Temperamentsanlagen der Kinder wirklich sachgemäß verfahren. Wir wollen die Lehrer so einteilen, daß ich bitten werde, daß sich eine Gruppe mit dem sanguinischen Temperament beschäftigt, eine zweite Gruppe mit dem phlegmatischen, eine dritte mit dem melancholischen und eine vierte mit dem cholerischen Temperament.

Ich bitte, daß Sie nachdenken über die zwei Fragen: Wie äußert sich im Kinde das Temperament, das ich eben ausgesprochen habe, je für eine der Gruppen? Da würden Sie morgen in der freien Aussprache auseinandersetzen: Erstens, wie Sie glauben, daß sich das betreffende Temperament in dem Kinde äußert. Zweitens, wie hat man das Tem­perament zu behandeln.

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Über dieses «zu behandeln» will ich noch einiges sagen. Sie können schon aus dem Vortrag, den ich vor Jahren gehalten habe, ersehen, daß es die schlechteste Methode ist, wenn man einem Temperament dadurch beikommen will, daß man gewissermaßen die entgegengesetz­ten Eigenschaften beim Kinde pflegt. Nehmen wir an, wir haben ein sanguinisches Kind. Wenn wir das dadurch dressieren wollen, daß wir ihm diese seine Eigenschaften austreiben wollen, werden wir es schlecht behandeln. Worum es sich handelt, ist, daß wir gerade auf das Tem­perament eingehen, ihm entgegenkommen, daß wir möglichst viel beim sanguinischen Kind in die Sphäre seiner Aufmerksamkeit bringen, daß wir es sensitiv beschäftigt sein lassen und dadurch gewissermaßen dem Hang, den es hat, entgegenkommen. So wird sich ergeben, daß dann diese Anlage, in die es eingespannt ist, sich allmählich ablähmt und sich mit den anderen Temperamenten harmonisiert.

Ferner, beim cholerisch tobenden Kinde sollen wir nicht versuchen, es nicht zum Toben kommen zu lassen, sondern versuchen, seine to­benden Eigenschaften in einer solchen Weise zu behandeln, daß wir von außen dem Kinde in der richtigen Weise entgegenkommen. Nun ist es schwer, ein Kind sich immer austoben zu lassen.

Es ist ein deutlicher Unterschied vorhanden zwischen einem phleg­matischen und einem cholerischen Kinde. Ein phlegmatisches Kind ist teilnahmslos, und es ist innerlich nicht viel beschäftigt. Nun versuchen Sie als Lehrer, recht viel Teilnahme für ein solches Kind in Ihrem Inneren aufzubringen, zu erwecken, sich zu interessieren für jede Le­bensregung des Kindes. Es gibt immer Gelegenheit dazu. Das phleg­matische Kind kann, wenn man den Zugang findet zu seiner Teilnahmslosigkeit, sehr interessant werden. Aber äußern Sie dieses innere Inter­esse nicht, suchen Sie teilnahmslos zu scheinen. Versuchen Sie selbst, Ihr Wesen zu spalten. Haben Sie innerlich viel Teilnahme, äußerlich ge­ben Sie sich so, daß es aus Ihnen das Spiegelbild seines eigenen Wesens zu sehen bekommt. Dann werden Sie erzieherisch einwirken können.

Beim cholerischen Kinde dagegen versuchen Sie innerlich teilnahms­los zu werden, mit kaltem Blut zuzuschauen, wenn es tobt. Versuchen Sie, wenn es zum Beispiel das Tintenfaß zur Erde schmeißt, diesem Toben gegenüber äußerlich so phlegmatisch, so gelassen wie möglich

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zu sein, durch gar nichts ergriffen zu sein! Und versuchen Sie, im Ge­genteil dazu, äußerlich möglichst viel von diesen Dingen mit dem Kinde in Teilnahme zu besprechen, aber nicht unmittelbar nachher! Zeigen Sie sich möglichst ruhig äußerlich und sagen Sie mit der mög­lichsten Ruhe: Du hast nun das Tintenfaß zerschmissen. Am anderen Tag, wenn das Kind selbst ruhig ist, besprechen Sie teilnahmsvoll die Sache mit ihm. Sprechen Sie darüber, was es getan hat, zeigen Sie die größte Teilnahme. Zwingen Sie so das Kind, hinterher die ganze Szene in seinem Gedächtnis zu wiederholen, durchzunehmen. Verurteilen Sie auch ruhig die Vorgänge, wie es das Tintenfaß auf den Boden geworfen, zerschlagen hat. Man kann auf diese Weise mit tobenden Kindern außerordentlich viel erreichen. Auf andere Weise bringt man sie nicht dazu, das Toben zu bekämpfen.

Das kann Sie auf den Weg leiten, nun selbst zu versuchen, die bei­den Fragen, die wir uns stellen werden, bis morgen zu behandeln. Wir werden das so behandeln, daß jeder von Ihnen das vorbringen kann, was er eben vorzubringen hat. Machen Sie sich kurze Notizen über das, was Sie sich ausgedacht haben, und diese Notizen werden dann besprochen.

Es muß immer zu Besprechungen solcher und ähnlicher Art in der Lehrerschaft Zeit bleiben. In solchen Besprechungen, die einen mehr republikanischen Charakter tragen, muß Ersatz gefunden werden für eine diktatorische Leitung, wie sie in einem Rektorat gegeben ist, so daß eigentlich jeder einzelne Lehrer an den Angelegenheiten und Interessen der anderen immerwährend teilnimmt. Damit wollen wir morgen gleich beginnen in einer Art Disputation. Als Unterlage möchte ich Ihnen eine Art Schema geben, nach dem Sie arbeiten können.

Sie können unterscheiden, wenn der Mensch sich äußert, nach seinem ganzen Seelenhabitus, ob er etwas stark oder schwach ins Auge faßt; ob er etwas stark empfindet, das etwas Äußerliches ist, oder stark emp­findet seine inneren Zustände.

Dann haben wir zu unterscheiden das Wechseln. Entweder man bleibt stark dabei und wechselt wenig, oder man bleibt weniger stark dabei und wechselt sehr viel. Dadurch unterscheiden sich die Tem­peramente.

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Wenn Sie dieses ins Auge fassen, dann werden Sie gleichzeitig in dem Schema eine gewisse Andeutung haben. Nebeneinander sind häu­fig sanguinisches und phlegmatisches Temperament, und Sie haben es so im Schema. Niemals geht phlegmatisches Temperament leicht ins Cholerische über. Sie sind verschieden wie Nord- und Südpol. Ebenso stehen sich gegenüber melancholisches und sanguinisches Temperament. Sie verhalten sich polarisch entgegengesetzt. Die nebeneinander liegen­den Temperamente gehen ineinander über, die verschwimmen. Dage­gen wird es gut sein, die Einteilung nach Gruppen so zu befolgen: Wenn Sie eine phlegmatische Gruppe zusammensetzen, ist es gut, wenn diese zum Gegenpol die cholerische hat und dazwischen die beiden anderen sitzen, die melancholische und die sanguinische.

All diese Dinge gehen zurück auf das heute morgen Gesagte. Es hat das Innere, das Seelische eben die allergrößte Bedeutung beim Zusammensein mit dem Kinde. Das Kind wird unterrichtet und er­zogen von Seele zu Seele. Ungeheuer viel spielt in den unterirdischen Drähten, die von Seele zu Seele gehen. Und so spielt außerordentlich

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viel dem cholerischen Kinde gegenüber, wenn Sie teilnahmslos blei­ben, dem phlegmatischen gegenüber, wenn Sie inneren Anteil haben. Da werden Sie durch die eigene innere Seelenstimmung übersinnlich erziehend auf das Kind wirken. Das Erziehen geschieht durch das, was Sie sind, das heißt in diesem Fall, wozu Sie sich machen innerhalb der Kinderschar. Das dürfen Sie eigentlich nie aus dem Auge verlieren.

Ebenso wirken aber auch die Kinder aufeinander. Und das ist das Eigentümliche: wenn man Kinder in vier Gruppen von gleichen Tem­peramentsanlagen einteilt und die gleichartigen nebeneinandersetzt, so wirken diese Anlagen nicht verstärkend aufeinander, sondern aufhebend. Eine Gruppe von sanguinischen Kindern zum Beispiel ver­stärken nicht ihre Anlagen, sondern sie schleifen sich gegeneinander ab. Wenn man sich dann im Unterricht an die cholerischen Kinder richtet, so nehmen die Sanguiniker davon auf und umgekehrt. Sie müssen als Lehrer die Stimmung Ihrer Seele auf das Kind wirken lassen, während gleichgeartete Temperaments-Seelenstimmungen bei den Kin­dern sich abschleifen. Das Schwätzen miteinander bedeutet den inne­ren Hang, sich innerlich abzuschleifen, auch das Schwätzen in den Zwischenpausen. Die Choleriker werden weniger miteinander schwat­zen, als wenn sie neben anderen sitzen. Wir dürfen die Dinge nicht äußerlich betrachten und beurteilen.

Nun möchte ich gleich von Anfang an Sie darauf aufmerksam ma­chen, daß wir einen großen Wert darauf legen werden, den Unterricht möglichst konzentriert zu gestalten. Wenn man das nicht tut, kann man auf alle diese Dinge nicht Rücksicht nehmen, von denen ich eben gespro­chen habe, namentlich auf die Temperamente nicht. Daher werden wir das, was man im äußeren den Stundenplan nennt, nicht haben. In die­ser Beziehung werden wir also geradezu entgegengesetzt der Einrich­tung arbeiten, die das Ideal der modernen materialistischen Erziehung ist. In Basel zum Beispiel spricht man vom Vierzigminutenbetrieb. Man läßt gleich wieder etwas anderes folgen. Das heißt nichts anderes, als alles, was in den vierzig Minuten voranging, sofort wieder auszulö­schen und furchtbare Verwirrung in den Seelen anzurichten.

Wir werden uns genau überlegen, welcher Lehrstoff einer gewissen

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Altersstufe des Kindes entspricht, und dann werden wir diesen Lehr­stoff, das Lesen zum Beispiel, durch eine gewisse Zeit hindurch verfol­gen. Das heißt, das Kind wird seinen Vormittagsunterricht im Lesen wäh­rend sechs bis acht Wochen haben, dann wird Schreiben an seine Stelle treten, dann Rechnen, so daß das Kind sich die gesamte Zeit hindurch jeweilig konzentriert auf einen Unterrichtsstoff. So daß etwa, wenn ich es schematisch andeuten wollte, unser Unterricht darin bestehen würde, daß wir möglichst am Morgen beginnen - das heißt aber nur möglichst, denn es werden alle möglichen Modifikationen eintreten - mit Lesen, so daß wir einige Wochen lesen, dann schreiben, dann rechnen.

An diesen eigentlichen Unterricht reihen wir dasjenige an, was etwa in der Form des Erzählens zu machen ist. Wir werden im ersten Schul­jahr hauptsächlich Märchen erzählen. Im zweiten Schuljahr werden wir uns bemühen, das Leben der Tiere in erzählender Form vorzubrin­gen. Wir werden von der Fabel übergehen zu der Wahrheit, wie die Tiere sich zueinander verhalten. Aber es wird der Unterricht so ge­staltet, daß die Aufmerksamkeit des Kindes durch Wochen hindurch auf dasselbe konzentriert ist. Dann werden wir am Ende des Schul­jahrs Repetitionen folgen lassen, wodurch aufgefrischt wird, was im Anfang durchgenommen wurde. Absondern und fortdauernd pflegen werden wir nur alles Künstlerische. Entweder nachmittags oder, wenn die nötige Zeit vorhanden, vormittags, sollen wir das Künstlerische als besondere Willensbildung pflegen.

Nun würde es dem Ideal des Unterrichts entsprechen, daß das Kind eigentlich für den konzentrierten Unterricht, wozu Anstrengung des Kopfes notwendig ist, überhaupt nicht mehr als täglich eineinhalb Stunden braucht. Dann können wir noch eine halbe Stunde Märchen erzählen. Außerdem bleibt dann immer noch die Möglichkeit, in etwa eineinhalb Stunden das Künstlerische anzugliedern. Und wir würden dann für die Kinder bis etwa zum zwölften Jahre keine längere Zeit bekommen, als nur dreieinhalb Stunden am Tage. Von diesen drei­einhalb Stunden nehmen wir dann am einzelnen Tage das wenige, was an Religionsunterricht notwendig ist, so daß wir schon auch die Mög­lichkeit haben würden, die Kinder so zu unterrichten, daß wir ab­wechseln könnten.

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Wenn wir also viele Kinder für eine Klasse haben, so können wir das so einrichten, daß wir von sieben bis zehn die eine Gruppe haben und von zehn ein Viertel bis ein ein Viertel die andere Gruppe der Kin­der, so daß wir auf diese Weise mit dem Klassenraum auskommen könnten.

Das würde das Ideal darstellen, daß wir kein Kind länger als drei­einhalb Stunden beschäftigen. Wir werden dabei immer frische Kinder haben und werden uns nur der Aufgabe unterziehen müssen, auszu­denken, was wir mit den Kindern anfangen in den großen Gärten während der Zeit, wo kein Unterricht ist. Sie dürfen auf den freien Plätzen spielen im Sommer; aber im Winter, im Turnsaal, wird es schwer sein, sie beschäftigen zu können. Eine Stunde in der Woche für Turnen und eine Stunde für Eurythmie soll eingerichtet werden. Es wird gut sein, daß die Kinder auch da sein können, wenn kein Unter­richt ist, daß sie spielen können und dergleichen. Ich glaube, daß es keinen großen Unterschied macht, ob mit dem Unterricht begonnen wird gleich morgens oder später, so daß wir gut in zwei Gruppen ein­teilen können.

Nun werden Sie die Aufgabe haben, sich mit allerlei zu beschäfti­gen. Wir werden nach und nach zu der Eingliederung der Arbeit kom­men, indem wir uns in unserer Disputation damit beschäftigen. Aber ich glaube, es wird gut sein, wenn Sie sich überlegen, worin dasjenige bestehen muß, was Sie gewissermaßen in der Erzählungsstunde mit den Kindern zu pflegen haben. Die eigentlichen Unterrichtsstunden werden sich dann aus unseren allgemeinen pädagogischen Gesichtspunkten er­geben. Aber Sie werden für die Erzählungsstunden einen Stoff auf­nehmen müssen, der durch die ganze Schulzeit vom siebenten bis vier­zehnten Jahr an die Kinder im freien, erzählenden Tone wird heran-gebracht werden müssen.

Da wird es notwendig sein, daß in den ersten Schuljahren eben ein gewisser Märchenschatz zur Verfügung steht. Dann würden Sie sich für die folgende Zeit damit beschäftigen müssen, Geschichten aus der Tierwelt in Verbindung mit der Fabel vorzubringen. Dann biblische Geschichte, in die allgemeine Geschichte aufgenommen, außerhalb des

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anderen Religionsunterrichtes. Dann Szenen aus der alten Geschichte, Szenen aus der mittleren Geschichte und aus der neueren Geschichte. Dann müssen Sie sich in die Lage versetzen, Erzählungen über die Volksstämme zu bringen, wie die Volksstämme geartet sind, was mehr mit der Naturgrundlage zusammenhängt. Dann die gegenseitigen Be­ziehungen der Volksstämme, Inder, Chinesen, Amerikaner, was ihre Eigentümlichkeiten und so weiter sind, das heißt Kenntnis der Völker. Das ist eine ganz besondere Notwendigkeit aus der gegenwärtigen Zeit-epoche heraus.

Ich wollte, daß wir uns heute diese besonderen Aufgaben gestellt haben. Sie werden dann sehen, wie wir diese Seminarstunden verwen­den werden. Heute soll alles eben fadengeschlagen sein.

Während des Sprechens hatte Rudolf Steiner folgende Gbersicht an die Wandtafel geschrieben:

1. ein gewisser Märchenschatz

2. Geschichten aus der Tierwelt in Verbindung mit der Fabel

3. Biblische Geschichte als Teil der allgemeinen Geschichte (Altes Testament)

4. Szenen aus der alten Geschichte

5. Szenen aus der mittleren Geschichte

6. Szenen aus der neueren Geschichte

7. Erzählungen über die Volksstämme

8. Erkenntnis der Völker.

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Fragenbeantwortung

Es wird gefragt nach den Bildern für die Laute und Buchstaben wie dem Fisch für das F, wovon am Vormittag im ersten Vortrag des methodiich-didaktischen Kurses gesprochen worden war.

Rudolf Steiner: Solche Dinge, solche Bilder muß man selber finden. Man braucht nicht das historisch Gegebene zu suchen. Man sollte die freie, gezügelte Phantasie wirken lassen und Vertrauen haben zu dem, was man selber findet; auch für Tätigkeitsformen, zum Beispiel für das S. Was Sie selbst erarbeiten!

L. fragt nach der lateinischen Schrift

Rudolf Steiner: Ja, die lateinische Schrift ist der Ausgangspunkt, weil diese die charakteristischen Formen enthält. Und dann erst, wenn es nötig wird, geht man über auf die deutsche, die gotische Schrift, die eigentlich ganz verschwinden sollte.

O. fragt nach der Behandlung der melancholischen Kinder.

Rudolf Steiner: Der Lehrer steht so gegenüber dem melancholischen Kinde: Die melancholische Anlage beruht auf einem nicht ganz voll­ständigen Unterkriegen des Stoffwechsels durch den geistig-seelischen Menschen. Der Nerven-Sinnesmensch ist der ungeistigste Teil des Men­schen, ist der physischste Mensch. Am wenigsten physisch ist der Stoff­wechselmensch. Der geistige Mensch steckt am meisten im Stoffwech­selorganismus, ist dort aber am wenigsten zur Realisierung gekommen. Der Stoffwechselorganismus muß am meisten bearbeitet werden. Wenn der Stoffwechsel zuviel Beschwerde macht, dann offenbart sich in dem Brüten das innerliche Streben nach dem Geiste.

In der Nähe eines melancholischen Kindes sollten wir als Lehrer möglichst viel sichtbares Interesse an den äußeren Dingen seiner Um­gebung entwickeln, sollten möglichst so sein, wie wenn wir Sanguiniker wären, und sollten so die Außenwelt charakterisieren. Dem sanguini­scheu Kinde gegenüber verhalten wir uns ernst, geben ihm mit inne­rem Ernst eindringliche, langanhaltende Charakteristiken der Außen­welt.

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Im Nerven-Sinnesmenschen ist der Geist am meisten in den Men­schen hineingestiegen, im Stoffwechselmenschen am wenigsten; da hat er am stärksten die Tendenz, sich durchzusetzen.

Es wird die Frage nach Lehrbüchern gestellt.

Rudolf Steiner: Man muß sich die gebräuchlichen ansehen. Wenn wir ohne Bücher auskommen, um so besser. Wenn die Kinder keine öffentlichen Prüfungen machen müssen, dann braucht man keine Bü­cher. In Österreich müßte man die Kinder zur öffentlichen Prüfung führen. Wir müßten feststellen, wie man wünscht, daß wir das Er­reichen der Lehrziele nachweisen. Das Ideal wäre, gar keine Prüfung zu haben. Die Schlußprüfung ist ein Kompromiß mit der Behörde. Man muß ohne Prüfung wissen, so und so steht es mit den Kindern. Prü­fungsangst vor der Geschlechtsreife ist sehr gefährlich für die ganze physiologische Struktur des Menschen. Sie wirkt so, daß sie die physio-logisch-psychologische Konstitution des Menschen treibt. Das beste wäre die Abschaffung alles Prüfungswesens. Die Kinder werden viel schlagfertiger werden.

Das Temperament schleift sich ab; gegen das zehnte Jahr wird der Temperamentsunterschied überwunden sein.

Knaben und Mädchen müßten nicht getrennt werden. Wir trennen sie nur wegen der öffentlichen Meinung. Es bilden sich Liaisons; man braucht sich darüber nicht aufzuregen, aber man wird es uns übelneh­men. Der Unterricht leidet darunter nicht, wenn der Lehrer Autori­tät hat.

Fachlehrer brauchen wir für die Künste, die auf den Willen wirken, auch für die Sprachen, die besonders gegeben werden. Die künstleri­schen Dinge gehören dem Fachlehrer. Der Klassenlehrer hat in der Hauptsache als Einheitslehrer zu wirken. Durch seinen gesamten Un­terricht wirkt er besonders auf den Intellekt und auf das Gemüt. Auf den Willen wirken die Künste: Turnen, Eurythmie, Zeichnen, Malen.

Der Lehrer steigt mit den Schülern auf bis zum Schluß. Der Lehrer der letzten Klasse wird wieder der der ersten.

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ZWEITE SEMINARBESPRECHUNG Stuttgart, 22. August 1919

L. berichtet über die Fragen: Erstens, wie äußert sich das sanguinische Temperament im Kinde, und zweitens, wie hat man es zu behandeln?

Rudolf Steiner: Hier beginnen ja die Individualisierungen. Wir haben gesagt, daß wir nach den Temperamenten einteilen können. Man muß ja das Kind im Massenunterricht mit an dem allgemeinen Zeichenunterricht beschäftigen, und nun können wir bei den einzelnen Gruppen etwas individualisieren. Dann würde es sich darum handeln, in welcher Hinsicht Sie den Zeichenunterricht individualisieren woll­ten. Nachahmung wird man überhaupt weniger pflegen. Man wird im Zeichnen versuchen, das innere Formgefühl zu erwecken. Man wird nur darin individualisieren können. Man wird einen Unterschied ma­chen können, ob man mehr geradlinige Formen oder mehr bewegte, ob man mehr einfache, übersichtliche Formen nimmt oder solche mit mehr Details. Kompliziertere, mehr Detailformen, würden für das Kind mit sanguinischem Temperament zu verwenden sein. Man wird nach dem Temperament mehr die Art bestimmen, wie man den einen oder den anderen unterrichtet.

E. berichtet über dasselbe Thema.

Rudolf Steiner: Nicht wahr, bei solchen Dingen muß man sich im­mer ganz klar sein, daß namentlich die Behandlung doch nicht ein­deutig sein muß. Es kann natürlich von dem einen etwas gemacht wer­den, was ganz gut ist in einem solchen Fall, und von dem anderen etwas anderes, was auch gut ist. Also die pedantische Eindeutigkeit braucht nicht angestrebt zu werden, doch gewisse große Richtlinien muß man schon einhalten, die müssen durchdrungen werden.

Die Frage, ob ein sanguinisches Kind schwer oder leicht zu behan­deln ist, ist schon sehr bedeutsam. Darüber müßte man sich schon eine Ansicht verschaffen und sich zum Beispiel folgendes klarmachen: Es kann passieren bei einem sanguinischen Kinde, daß man irgend etwas vorzubringen, zu erklären hat. Das Kind hat wohl die Sache aufge­nommen, aber nach einiger Zeit merkt man, es ist gar nicht mehr dabei,

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sondern hat sich einer anderen Sache zugewendet. Dadurch wird der Fortschritt des Kindes beeinträchtigt. Was würden Sie tun, wenn Sie bemerken würden, Sie reden in der Schule vom Pferde, und nach eini­ger Zeit hat sich das sanguinische Kind sehr weit entfernt vom Gegen­stande und hat seine Aufmerksamkeit einem ganz anderen Gegenstande zugewendet, so daß alles, was Sie besprechen, an seinen Ohren vorbei­gehen könnte? Was würden Sie mit einem solchen Kinde tun?

Viel wird ja davon abhängen, wie weit man in solchem Falle indi­vidualisieren kann oder nicht. Hat man viele Kinder, so werden viele Maßregeln nicht leicht durchzuführen sein. Man hat ja, wenn man viele Kinder hat, die sanguinischen Kinder in einer Gruppe beisam­men. Dann muß man vorbildlich wirken auf die sanguinischen durch die melancholischen Kinder. Wenn in der sanguinischen Gruppe irgend etwas nicht stimmt, sich zur melancholischen Gruppe wenden und dieses Temperament dann spielen lassen, um ausgleichend zu wirken! Gerade beim Massenunterricht ist das sehr ins Auge zu fassen. Da ist es wichtig, daß man nicht bloß selber den Ernst und die Ruhe bewahrt, sondern daß man den Ernst und die Ruhe der melancholischen Kinder in Wechselwirkung treten läßt mit der sanguinischen Gruppe.

Nehmen wir an, Sie sprechen über das Pferd. Sie sehen, ein sangui­nisches Kind aus der Gruppe, das ist längst nicht mehr dabei. Jetzt versuchen Sie das zu konstatieren. Indem Sie das Kind etwas fragen, machen Sie, daß es wirklich hervortritt, daß das Kind nicht mehr da­bei ist. Dann versuchen Sie, in der melancholischen Gruppe die Tat­sache zu konstatieren, daß ein Kind, während Sie früher vom Kleider-schrank gesprochen haben und jetzt schon lange vom Pferd sprechen, noch immer an den Kleiderschrank denkt. Konstatieren Sie das: «Sieh, du hast schon längst das Pferd vergessen, dein Freund ist noch nicht vom Kleiderschrank weggekommen!»

Solche Tatsachen wirken stark. Auf diese Weise schleifen sich die Kinder aneinander ab. Dieses Selbstsehen der Kinder hat eine starke Wirkung. Die unterbewußte Seele hat ein starkes Gefühl davon, daß bei solchem Nicht-miteinander-Mitkommen das soziale Leben nicht weitergeht. Dieses Unbewußte in der Seele muß man stark benützen, dann kann sogar der Massenunterricht ein außerordentlich gutes Mittel

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sein, um vorwärtszukommen, wenn man die Eigenschaften der Kinder aneinander abschleift. Um den Kontrast zu zeigen, muß man eine wirk­lich leichte Hand haben und den Humor, so daß die Kinder sehen:

man ärgert sich nie, man hat auch keinen Groll, sondern man behandelt die Dinge so, daß sie sich selber zeigen.

T. spricht über das phlegmatische Kind.

Rudolf Steiner: Was würden Sie tun, wenn ein phlegmatisches Kind nun gar nicht herauskommt und Sie zur Verzweiflung bringt?

U. berichtet über die Behandlung der Temperamente vom musikalischen Stand-punkt aus und in bezug auf die biblische Geschichte.

Phlegmatiker Sanguiniker Choleriker Melancholiker

Harmonium und Blasinstrumente Schlagzeuge Streichinstrumente

Klavier Melodie und Trommel Kontrapunkt (was

Harmonie Rhythmus mehr intellektuell

durchgearbeitet

werden muß)


Chorgesang ganzes Orchester Soloinstrumente Sologesang

In bezug auf die biblische Geschichte:

Matthäus- Lukas- Markus- Johannes.

Evangelium Evangelium Evangelium Evangelium

(Mannigfaltigkeit) (Innigkeit) (Kraft) (Geistige Vertiefung)

Rudolf Steiner: Es ist vieles sehr richtig, namentlich auch in bezug auf die Instrumente und die Wahl des musikalischen Unterrichts. Eben­sogut ist der Gegensatz von Sologesang beim Melancholiker, dem ganzen Orchester beim Sanguiniker, und Chorgesang beim Phlegma­tiker. Die Dinge sind sehr gut, und auch die Evangelisten sind sehr gut. Aber die vier Künste sind deshalb weniger den Temperamenten zuzu­teilen, weil es möglich ist, gerade durch die Vielheit des Künstlerischen auf jedes Temperament ausgleichend zu wirken. Innerhalb der ein­zelnen Kunst ist das Prinzip sehr richtig, aber ich würde nicht die Künste selbst verteilen. In bezug auf die Musik ist das richtig. Wenn Sie zum Beispiel den Phlegmatiker haben, können Sie unter Umständen sehr gut durch etwas, was ihn im Tanz ergreift oder in der Malerei er­greift, auf ihn wirken. Da möchte ich nicht verzichten auf das, was in den verschiedenen Künsten auf ihn wirken kann. In der einzelnen

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Kunst wird es wieder möglich sein, die Richtungen und Betätigungs­gebiete der Kunst auf die Temperamente zu verteilen. Es würde nicht gut sein, wenn man da den Temperamenten zuviel nachgibt, während es doch notwendig ist, alles so zuzubereiten, wie es für die einzelnen richtig ist.

O. berichtet über das phlegmatische Temperament und sagt, daß das Kind mit offenem Munde dasitzt.

Rudolf Steiner: Sie sind im Irrtum; das phlegmatische Kind wird nicht mit offenem Munde dasitzen, sondern mit zugemachtem Munde, aber mit hängenden Lippen. Man kann schon manchmal durch einen solchen Hinweis den Nagel auf den Kopf treffen. Dies zu berühren war sehr gut. Es wird in der Regel aber nicht der Fall sein; das phleg­matische Kind wird nicht mit offenem Munde dasitzen, sondern im Gegenteil. Das führt zurück auf die Frage: Wie kann man sich dem phlegmatischen Kinde gegenüber verhalten, wenn es uns zur Verzweif­lung bringt?

Das Idealste, das man tun könnte, das wäre, die Mutter des Kindes zu bitten, es immer wenigstens eine Stunde früher aufzuwecken, als es gewohnt ist zu erwachen, und in dieser Zeit, die man ihm eigentlich wegnimmt - man wird es nicht beeinträchtigen, weil es in der Regel immer viel länger schläft als nötig -, es mit allem möglichen zu be­schäftigen. Von der Zeit an, wo man es aufgeweckt hat, bis zu der Zeit, wo es sonst aufzuwachen gewohnt war, wird man es beschäftigen; das würde ein ideales Kurieren sein. Auf diese Weise würde man viel von seinem Phlegma wegnehmen. Das wird man in der Regel nicht können, weil die Eltern sich nicht darauf einlassen werden, aber man würde sehr viel damit tun können.

Man wird folgendes tun können, was ein Surrogat ist, was aber viel helfen kann: Wenn die Gruppe so dasitzt - mit offenem Munde wird sie nicht dasitzen - und Sie vorbeigehen, und Sie gehen öfter vorbei, könnten Sie so etwas machen (Dr. Steiner schlägt mit einem Schlüssel­bund auf den Tisch), wodurch Sie einen Schock hervorrufen, um die Kinder aufzuwecken, wodurch die Kinder dann übergehen von dem zugemachten zu dem offenen Mund. In diesem Moment, wo Sie sie schockiert haben, versuchen Sie, sie während fünf Minuten zu beschäftigen.

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Man muß sie durch eine äußere Veranlassung aus ihrer Lethar­gie herausbringen, aufstampern. Man muß dadurch, daß man auf das Unbewußte wirkt, dieses unregelmäßige Verbundensein des Atherleibes mit dem physischen Körper bekämpfen. Man wird immer wieder ein anderes Mittel finden müssen, das sie schockiert und sie dadurch von ihren hängenden Lippen zum offenen Munde bringt; das also gerade das hervorruft, was sie nicht gerne tun. So wäre diese Frage zu behan­deln, wenn diese Kinder einen zur Verzweiflung bringen. Wenn man das mit Geduld fortsetzt und wirklich die phlegmatische Gruppe im­merzu in dieser Weise aufrüttelt, dann wird man gerade da viel er­reichen.

T. Wäre es nicht möglich, die phlegmatischen Kinder eine Stunde früher zur Schule kommen zu lassen?

Rudolf Steiner: Ja, wenn man das machen würde und es dazu brin­gen könnte, daß die Kinder mit einem gewissen Geräusch aufgeweckt werden, das wäre natürlich sehr gut. Da wäre es auch gut, die phleg­matische Gruppe zu den am frühesten in die Schule Kommenden einzu­reihen. Wichtig ist beim Phlegmatiker, daß man aus einem veränderten Seelenzustand heraus seine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt.

Es wird die Frage der Ernährung für Kinder der verschiedenen Temperamente angeschnitten.

Rudolf Steiner: Man wird überhaupt darauf zu sehen haben, daß nicht gerade die Hauptverdauungszeit zugleich die Schulzeit ist, aber kleinere Mahlzeiten werden keine zu große Bedeutung haben. Im Ge­genteil, wenn die Kinder gefrühstückt haben, werden sie besser auf­passen können, als wenn sie mit hungrigem Magen kommen. Wenn man sie natürlich überfüttert, was bei den phlegmatischen Kindern sehr in Betracht kommen wird, dann wird man ihnen gar nichts beibringen können. Den sanguinischen Kindern wäre nicht allzuviel Fleisch, den phlegmatischen nicht zuviel Eier zu geben. Dagegen können die me­lancholischen Kinder immerhin eine gut gemischte Nahrung bekom­men, aber nicht allzuviel Wurzelzeug und Kohl. Bei melancholischen Kindern ist die Nahrung sehr individuell, da muß man beobachten. Bei sanguinischen und phlegmatischen Kindern kann man schon gene-ralisieren.

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Es folgen Ausführungen von D. über das melancholische Temperament der Kinder.

Rudolf Steiner: Ja, das war sehr schön. Für den Unterricht wird aber noch das in Betracht kommen, daß melancholische Kinder leicht zurückbleiben, daß sie nicht leicht mitkommen. Das bitte ich noch zu berücksichtigen.

A. spricht über dasselbe Thema.

Rudolf Steiner: Da ist die Bemerkung sehr gut, daß es sich bei me­lancholischen Kindern sehr darum handelt, wie man sich selbst zu ihnen stellt. Sie bleiben zurück auch mit dem Geborenwerden des Ather­leibes, der sonst mit dem Zahnwechsel frei wird. Daher sind diese Kin­der viel zugänglicher für die Nachahmung. Was man ihnen vormacht, daran halten sie fest, wenn sie einen liebgewonnen haben. Das muß man bei ihnen benützen, daß sie das Imitationsprinzip länger haben.

N. berichtet ebenfalls über das melancholische Temperament.

Rudolf Steiner: Besonders bitte ich zu berücksichtigen, daß man das melancholische Temperament sehr schwer wird behandeln können, wenn man nicht eins betrachtet, was fast immer da ist: der Melancho­liker ist in einer merkwürdigen Selbsttäuschung; er ist der Meinung, daß die Erlebnisse, die er hat, nur ihn selbst betreffen. In dem Augen­blick, wo man ihm beibringt, daß andere Leute diese und ähnliche Er­lebnisse auch haben, ist das immer eine Art Kur für ihn, weil er be­merkt, daß er nicht allein so eine interessante Individualität ist, wie er glaubt. In dieser Illusion ist er befangen, daß er ganz auserlesen ist, so wie er gerade ist. Läßt man ihn das stark merken: «Du bist kein solch außerordentlicher Kerl, solche Exemplare gibt es viele, die das oder jenes erleben», dann ist das eine sehr starke Beeinträchtigung der Im­pulse, die gerade zur Melancholie führen. Deshalb ist es gut, ihn be­sonders mit Biographien großer Persönlichkeiten zu behandeln. Er wird sich weniger interessieren für die äußere Natur, aber mehr für die ein­zelnen Persönlichkeiten. Diese Biographien sollte man besonders ge­brauchen, um ihn über seine Melancholie hinwegzubringen.

Zwei Lehrer berichten über das cholerische Temperament.

Rudolf Steiner zeichnet folgende Figuren an die Tafel:

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#Bild s. 28

Was ist das? Das ist auch eine Charakterisierung der vier Tempera­mente. Die melancholischen Kinder sind in der Regel schlank und dünn; die sanguinischen sind die normalsten; die, welche die Schultern mehr heraus haben, sind die phlegmatischen Kinder; die den unter­setzten Bau haben, so daß der Kopf beinah untersinkt im Körper, sind die cholerischen Kinder.

Bei Michelangelo und Beethoven haben Sie eine Mischung von me­lancholischem und cholerischem Temperament.

Nun bitte ich, durchaus zu berücksichtigen, daß wir, wenn es sich um das Temperament beim Kinde handelt, als Lehrer durchaus nicht berufen sind, die betreffenden Temperamente von vornherein als «Feh­ler» anzusehen und bekämpfen zu wollen. Wir müssen das Tempera­ment erkennen und uns die Frage stellen: Wie haben wir es zu behan­deln, um ein wünschbares Lebensziel mit ihm zu erreichen, so daß aus dem Temperament das Allerbeste wird und die Kinder mit Hilfe des Temperaments das Lebensziel erreichen? Gerade beim cholerischen Temperament würde es ja sehr wenig helfen, wenn wir es austreiben wollten und etwas anderes an seine Stelle setzten. In der Tat geht aus dem Leben und der Leidenschaft des Cholerikers sehr viel hervor, und insbesondere in der Weltgeschichte wäre vieles anders geworden, wenn es nicht die Choleriker gegeben hätte. Aber gerade beim Kind muß man

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sehen, daß man es trotz seines Temperaments zu entsprechenden Le­benszielen bringt.

Beim Choleriker sind möglichst zu berücksichtigen erdichtete Situa­tionen, künstlich gebildete Situationen, die man in die Aufmerksam­keitssphäre des Kindes bringt. Man sollte zum Beispiel bei einem to­benden Kind die Aufmerksamkeit auf erdichtete Situationen lenken und diese erdichteten Situationen selbst cholerisch behandeln, so daß ich dem jungen Choleriker zum Beispiel erzähle von einem wilden Kerl, dem ich begegnet bin, den ich ihm vormale wie eine Wirklich­keit. Dann würde ich in Ekstase kommen, würde schildern, wie ich ihn behandle, wie ich ihn beurteile, so daß er die Cholerik an anderem sieht, an Ausgeklügeltem, so daß er die Tat sieht. Dadurch wird man in ihm die Kraft sammeln, daß er auch anderes gut begreifen kann.

Rudolf Steiner wird gebeten, die Szene zwischen Napoleon und seinem Sekretär zu erzählen.

Rudolf Steiner: Da müßte man erst die Baukommission um Erlaub­nis fragen! - Diese in der Rede vorgemalte Szene müßte die redende Person so behandeln, daß Cholerisches dabei herauskommt. Das wird immer Kraft sammeln beim cholerischen Kinde, so daß man es dann weiter behandeln kann. Ein Ideal wäre: der cholerischen Gruppe eine Situation vormalen, um auf diese Weise wiederum Kraft gesammelt zu haben. Dann hält es immer ein paar Tage an. Die Kinder werden dann ein paar Tage hindurch gar nicht gehindert sein, die Dinge auf­zunehmen. Sonst toben sie innerlich an gegen Dinge, die sie begreifen sollten.

Nun möchte ich, daß Sie folgendes versuchen: Von diesem Behan­deln der Temperamente sollte etwas bleiben, und da würde ich Fräu­lein B. bitten, auf höchstens sechs Seiten eine zusammenfassende Dar­stellung zu geben von der Eigentümlichkeit der Temperamente und ihrer Behandlung, auf Grund alles dessen, was ich hier besprochen habe. Es braucht nicht schon morgen zu sein.

Dagegen möchte ich Frau E. bitten, sich vorzustellen, sie hätte zwei Gruppen vor sich: sanguinische Kinder und melancholische Kinder, und sie sollte so abwechseln mit einer Art Zeichenunterricht, mit einfachen

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Zeichenmotiven, daß das eine Mal gedient wäre den sanguini­schen, das andere Mal den melancholischen Kindern.

Jetzt möchte ich außerdem noch bitten: Herr T. kann dieselbe Sache machen mit dem Zeichnen für phlegmatische und cholerische Kinder, so daß Sie uns dann dies morgen vorführen können, so wie Sie es sich zurechtgelegt haben.

Dann würde ich vielleicht Fräulein A., Fräulein D. und Herrn R. bitten, folgende Aufgaben zu behandeln: Sie denken sich, Sie sollen ein und dasselbe Märchen erzählen, zweimal hintereinander, so, daß Sie es nicht ganz gleich erzählen, sondern in verschiedene Sätze ein­kleiden und so weiter. Das erste Mal nehmen Sie mehr Rücksicht auf sanguinische, das zweite Mal auf melancholische Kinder, so daß beide etwas davon haben.

Dann würde ich bitten, daß Herr M. und Herr L. sich mit der schwierigen Aufgabe befassen, die individuelle Beschreibung eines Tie­res oder einer Tiergattung zu geben und sie das eine Mal für cholerische, das andere Mal für phlegmatische Kinder zuzurichten.

Herr 0., Herr N., und vielleicht hilft auch Herr U. mit, die würde ich bitten, einmal die Aufgabe zu lösen, wie man im Rechnen Rück­sicht nehmen könnte auf die vier Temperamente, gerade nur im Rechnen.

Nicht wahr, wenn Sie nun auf solche Dinge wie auf die Tempera­mente so Ihre Aufmerksamkeit lenken, um darnach die Klasse für den Unterricht einzuteilen, müssen Sie vor allen Dingen darauf Rücksicht nehmen, daß der Mensch als solcher ein fortwährend Werdender ist. Und das ist etwas, was wir uns in unserem Erzieherbewußtsein immer-während aneignen müssen, daß der Mensch ein fortwährend Werdender ist, daß er Metamorphosen unterliegt im Verlaufe seines Lebens. Und ebensogut wie wir stark reflektieren auf die einzelnen Temperaments-anlagen der einzelnen Kinder, können wir reflektieren auf das Wer­dende, und können sagen: In der Hauptsache sind alle Kinder Sangui­niker, ob sie auch im einzelnen phlegmatisch oder cholerisch sind. Alle Jünglinge und Jungfrauen sind eigentlich Choleriker, und wenn es nicht so ist, wenn es in dieser Zeit nicht da ist, ist es eine ungesunde Entwickelung.

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Im Mannes- und Frauenalter ist der Mensch Melancholiker. Und im Greisenalter ist er phlegmatisch.

Das beleuchtet wiederum doch ein wenig die Situation in bezug auf die Temperamente, denn Sie sehen da etwas, was ganz besonders not­wendig ist, in unserer jetzigen Zeit zu berücksichtigen. Wir lieben in unserer jetzigen Zeit, uns starre, fest definierte Begriffe zu machen. In Wirklichkeit geht alles ineinander, so daß man in dem Augenblick, wo man gesagt hat, der Mensch bestehe aus Kopf-, Brust- und Gliedmaßen-mensch, sich auch klarmachen muß, daß eben alles ineinandergeht. So ist ein cholerisches Kind nur der Hauptsache nach cholerisch, ein san­guinisches nur der Hauptsache nach sanguinisch und so weiter. Gele­genheit, vollcholerisch zu sein, hat man eigentlich erst im Jünglings­und Jungfrauenalter. Manche bleiben ihr ganzes Leben hindurch Jüng­linge, weil sie sich das Jünglingsalter ihr ganzes Leben hindurch be­wahren. Nero und Napoleon kamen überhaupt nicht über das Jüng­lingsalter hinaus. Wir ersehen daraus, wie sich Dinge, die eigentlich im Werden miteinander wechseln, doch wieder im Wechsel ineinan­derschieben.

Worauf beruht des Dichters, wie überhaupt geistige Produktivität? Worauf beruht es, daß man Dichter werden kann? Darauf, daß man gewisse Eigenschaften des Jünglings- und Kindesalters das ganze Leben hindurch bewahrt. Man hat um so mehr Anlage zur Dichtkunst, je mehr man jung geblieben ist. Es ist in gewissem Sinne ein Unglück für den Menschen, wenn man sich nicht die Möglichkeit bewahrt, gewisse Jugendeigenschaften, ein gewisses Sanguinisches, so für das ganze Le­ben zu bewahren. Es ist sehr wichtig für den Erzieher, sanguinisch durch Entschluß werden zu können. Das ist außerordentlich wichtig, daß man das als Erzieher berücksichtigt, so daß man diese glückliche Veranlagung des Kindes als etwas ganz Besonderes pflegt.

Alle produktiven Eigenschaften, alles, worauf das Gedeihen des geistig-kulturellen Gliedes des sozialen Organismus beruhen wird, das werden die jugendlichen Eigenschaften des Menschen sein, das wird gemacht werden von Menschen, die Jugendtemperament bewahrt haben.

Alles Wirtschaftliche beruht darauf, daß im Menschen Alterseigenschaften

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hereinragen, auch wenn wir jung sind. Denn alles wirtschaft­liche Urteil beruht auf der Erfahrung. Erfahrung wird nicht besser bewirkt als dadurch, daß in den Menschen gewisse Alterseigenschaften hereinragen, und der Greis ist ja Phlegmatiker Der Geschäftsmann gedeiht am besten, wenn er in die übrigen Merkmale und Eigenschaften des Menschen ein gewisses Phlegma beigemischt hat, das eigentlich schon ein Greisenhaftes ist. Das ist das Geheimnis sehr vieler Geschäfts­leute, daß sie sonst sehr gute Geschäftsleute sind, aber etwas Greisen­haftes beigemischt haben, namentlich in Dispositionen und so weiter. Derjenige, der in der Wirtschaft nur das sanguinische Temperament entwickeln würde, der würde nur zu Jugendprojekten kommen, die nie fertig werden. Der Choleriker, der jünglinghaft geblieben ist, würde sich durch gewisse spätere Maßregeln frühere verderben. Der Melan­choliker kann ja sowieso nicht Geschäftsmann werden. Dagegen ist eine harmonische Geschäftsentwickelung mit einer greisenhaften Fä­higkeit verbunden, die einen in die Lage versetzt, Erfahrungen aus dem Wirtschaftsleben zu sammeln. Wer Neigung zur Erfahrung hat, der ist stets ein phlegmatischer Greis. Harmonische Temperamente mit Phleg­ma, das gibt die beste Wirtschaftskonstellation.

Sie sehen, daß man, wenn man die Zukunft der Menschheit bedenkt, solche Dinge beachten, Rücksicht darauf nehmen muß. Man ist als dreißigjähriger Dichter oder Maler nicht nur dreißigjähriger Mensch, sondern es haben sich zugleich kindliche, jugendliche Eigenschaften in den Menschen hereingeschoben. Wenn einer produktiv ist, kann man sehen, wie ein Zweiter in ihm lebt, in dem er mehr oder weniger kind­lich geblieben ist, in dem das Kindliche in ihn hereingeschoben ist.

Alle diese angeführten Dinge müssen Gegenstand einer neuartigen Psychologie werden.

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DRITTE SEMINARBESPRECHUNG Stuttgart, 23. August 1919

A. erzählt das Märchen vom «Marienkind» zunächst für melancholische und dann für sanguinische Kinder.

Rudolf Steiner: Ich meine, Sie werden in Zukunft berücksichtigen müssen, die Sachen artikuliert zu geben. Sie haben die beiden Fassun­gen in zu gleicher Art vorgebracht. Der Unterschied muß auch in der Artikulation liegen. Wenn Sie diese Details in etwas eindringlicherer Art vorbringen, werden Sie bei melancholischen Kindern den Eindruck nicht verfehlen. Bei Sanguinikern würde ich den Vortrag, besonders am Anfang, etwas mehr mit Zwischenpausen gestalten, so daß das Kind gezwungen ist, die Aufmerksamkeit, die es hat fallen lassen, im­mer von neuem wieder aufzunehmen.

Nun möchte ich aber noch fragen: Wie würden Sie diese Erzählung weiter verwenden, wenn Sie wirklich konkret zu unterrichten hätten? Stellen Sie sich vor, Sie stünden vor Ihrer Klasse, was würden Sie dann tun? - Ich würde Ihnen raten, nachdem Sie die melancholische Fassung vorgebracht haben, sie sich nacherzählen zu lassen von einem sangui­nischen Kinde und umgekehrt.

D. Ich will vorausschicken, daß ich für ratsam halte, das sanguinische Kind straff vor sich zu setzen und dauernd in der Blickrichtung zu halten, während für die me-lancholischen Kinder möglichst eine behagliche, gemütliche Stimmung zu erzeugen ist.

Rudolf Steiner: Sehr gut bemerkt.

D. erzählt das Märchen vom «Meerkätzchen» zunächst in der Fassung für das sanguinische und dann für das melancholische Kind und bemerkt dazu, daß die me­lancholischen Kinder nicht viel Trauriges erzählt haben wollen.

Rudolf Steiner: So etwas kann man berücksichtigen. Aber die Kon­trastierung war gut.

Nun würde ich meinen, daß noch übergegangen werden muß auf die Art, wie man das nun nach einiger Zeit weiter behandelt. Ich würde am nächsten Tage oder am darauffolgenden Tage nicht das Kind be­stimmen, das erzählen soll, sondern ich würde sagen (lebhaft): «Jetzt merkt ihr euch das! Ihr könnt euch wählen, welches ihr euch merken

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wollt, um es selbst zu erzählen!» Am nächsten oder zweitnächsten Tag würde ich das Kind sich melden lassen.

G. erzählt das Märchen vom «Similiberg» in beiden Fassungen.

Rudolf Steiner: Nicht wahr, Sie haben doch alle das Gefühl, daß solch eine Sache auf verschiedene Weise gemacht werden kann. Nun ist es wirklich von einer großen Bedeutung, daß man sich gerade, wenn man als Lehrer wirken will, die unnötige Kritisiererei abgewöhnt; daß man als Lehrer ein starkes Gefühl dafür entwickelt, daß man sich be­wußt wird, es kommt schließlich nicht darauf an, daß man immer auf etwas, was getan wird, etwas Besseres daraufsetzen muß. Eine Sache kann in mannigfaltiger Weise gut sein. Deshalb würde ich es auch für gut halten, wenn dieses hier Vorgebrachte als etwas betrachtet würde, was durchaus so ausgeführt werden kann, wie wir es gehört haben.

Ich möchte aber etwas anderes daran knüpfen. Bei allen drei Erzäh­lungen glaube ich eines bemerkt zu haben: das ist, daß immer die erste Fassung auch in ihrer Zielsetzung die bessere war. Was haben Sie, Fräulein A., in Ihrer Seele zuerst ausgebildet, was haben Sie gefühlt, daß Sie besser machen würden?

Es wird festgestellt, daß die zuerst von Fräulein A. in der Seele ausgebildete Fassung die für das melancholische Temperament war, und daß diese die bessere war.

Rudolf Steiner: Nun möchte ich empfehlen: arbeiten Sie alle drei auch noch die Fassung für das phlegmatische Kind aus. Das ist von großer Bedeutung für das Stilgemäße der Form. Aber ich bitte Sie, ver­suchen Sie, womöglich diese Fassung sich heute noch auszuarbeiten, provisorisch, dann darüber zu schlafen und die endgültige Fassung morgen zu beschließen. Es ist eine Erfahrung, daß man, wenn man so etwas machen will, das Umgestaltete nur aus einem anderen Geiste heraus bekommt, wenn man es nach Vorbereitung durch den Schlaf hindurchgehen läßt. Bringen Sie uns am Montag eine Umgestaltung ins Phlegmatische, die Sie aber, bevor Sie die endgültige Ausgestaltung vornehmen, vorbereiten. Das ist ja möglich, weil der Sonntag dazwi­schen liegt.

E. zeigt eine Zeichnung vor, ein Motiv in Blau-Gelb für ein melancholisches Kind (Farbtafel, Figur 1). Rudolf Steiner zeichnet dazu dasselbe Motiv in Grün-Rot für ein sanguinisches Kind (Farbtafel, Figur 2).

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Da kann man zu den Kindern sprechen: «Das Blau-Gelbe schaut man am besten am Abend an, wenn es dunkel wird, vor dem Einschla­fen. Das nehmt ihr auch herein in euren Schlaf, denn das ist die Farbe, womit ihr vor Gott erscheinen könnt. - Das Grün-Rote nehmt ihr vor morgens beim Erwachen, damit könnt ihr nach dem Erwachen leben. An dem erfreut euch den ganzen Tag! »

Nun zeigt E. eine Zeichnung vor für ein sanguinisches Kind, Rot auf weißem Grund (Farbtafel, Figur 5).

Rudolf Steiner zeichnet dasselbe Motiv für ein melancholisches Kind, lang und schlank, Blau auf schwarzem Grund (Farbtafel, Figur 6). Die frech vorragende Form heißt er «Kickerling». Beim melancholischen Motiv zieht sie sich einwärts.

Nun, sehen Sie, das würde ein solcher Gegensatz sein, daß Sie mehr die Farben benützen würden, um auf das eine Kind und auf das andere zu wirken. Sie müßten doch motivieren, daß Sie zweimal dieselbe Sache vorbringen. Was würden Sie zu den Kindern sagen?

E. Ich würde fragen, welches ihnen besser gefällt.

Rudolf Steiner: Da würden Sie Ihre eigenen Erfahrungen machen! Das sanguinische Kind würden Sie erkennen an seiner Freude an die­sem Farbenkontrast.

Natürlich, solche einfache Formen, die sollte man nicht versäumen für Kinder wirklich zu pflegen.

T. empfiehlt für den Choleriker Formen, die nach außen spitz sind,

#Bild s. 35

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Für den Phlegmatiker empfiehlt er den umgekehrten Weg: Vom Kreis auszugehen und Figuren einzeichnen zu lassen, oder den Kreis in irgendeiner Weise zu zer­schneiden.

#Bild s. 36a

Rudolf Steiner: Ich würde nun beim phlegmatischen Kinde für diese Methode noch das Folgende anwenden. Ich würde sagen:

#Bild s. 36b

<Nicht wahr, den magst du ganz gerne haben! Aber ich werde dir noch etwas anderes machen:

Sieh einmal, ich nehme einfach diese Sachen weg, den Rand, jetzt ist es erst richtig: Du mußt dir angewöhnen, nicht alles mögliche durcheinan­der zu machen. Versuche das Gleiche von An­fang an zu machen.»

Durch Zeichnen und Auslöschen ist das phleg­matische Kind aus seinem Phlegma herauszu­reißen.

Nun würde ich Sie bitten, dieselbe Methode des Beschlafens anzu­wenden, und Frau E. bitten, dasselbe Motiv auch für andere Tempe­ramente auszuarbeiten.

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M. beschreibt einen Gorilla in zweierlei Fassung.

Rudolf Steiner: Es ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, daß man auch erfindet, ohne daß man sich anlehnt an bestimmte Natur-forscher, von denen man sich zwar anregen lassen kann.

Ich möchte Sie jedoch bitten, einen größeren Kontakt mit den Schü­lern bei einer solchen Erzählung hervorzurufen. Es würde möglich sein, auch eine lange Erzählung zu verwenden und Eindruck damit zu machen. Aber Sie müßten nicht in sich versunken sein, sondern mehr in Kontakt mit den Schülern stehen. Wenn Sie es so versunken machen, könnten Sie den Kontakt vielleicht verlieren.

L. schildert das Pferd für phlegmatische und cholerische Kinder.

Rudolf Steiner: Bei Tierbeschreibungen wird es nun aber ganz be­sonders wichtig sein, daß wir in jeder Einzelheit besonders ins Auge fassen, daß der Mensch eigentlich das ganze Tierreich ist. Das ausge­breitete Tierreich ist der Mensch. Nicht wahr, solche Ideen kann man den Kindern nicht theoretisch beibringen. Das soll man auch nicht. Aber nehmen wir an, jemand sollte die Sache ausführen, die Herr L. angeschlagen hat, aber den Unterschied machen zwischen Phlegma­tiker- und Cholerikergruppe. Die Phlegmatischen werden wenig leicht erfaßbar sein. Und es wird das nicht leicht haften, was Sie mit ihnen durchnehmen über ein bekanntes Tier. Sie haben das Pferd oft gesehen, haben daher nur wenig Interesse dafür. Solche Dinge sollen aber haf­ten. Da würde ich zu den phlegmatischen Kindern sagen: «Seht ein­mal, wie unterscheidet ihr euch denn eigentlich von einem Pferde? Wir wollen nur kleine Unterschiede nehmen. Nicht wahr, ihr habt alle einen solchen Fuß: Da sind die Zehen, da ist die Ferse, da ist der Mittelfuß. Das ist euer Fuß.

Jetzt seht euch einmal den Pferdefuß an: Das ist der Hinterfuß vom Pferde. Wo sind die Zehen? Wo ist die Ferse und wo ist der Mittelfuß? Bei euch ist dann weiter herauf das Knie. Wo ist das Knie beim Pferde? Da seht einmal: Da sind die Zehen, die Ferse ist da ganz oben, das Knie ist da noch weiter oben. Da ist das ganz anders. Nun stellt euch einmal vor, wie anders so ein Pferdefuß aussieht als euer Fuß!» Das wird das phlegmatische Kind in Spannung versetzen, und es wird das schon behalten.

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#Bild s. 38

Bei dem cholerischen Kinde würde ich eine Geschichte erzählen, wie das Kind ganz draußen ein Pferd findet im Walde. Das Pferd läuft, weit hinten läuft der Mann, dem es durchgegangen ist, nach, und das Kind muß das Pferd abfangen beim Zügel. Wenn ich weiß, daß ich ein cholerisches Kind habe, kann ich versuchen, ihm das beizubringen, wie es das machen soll, wie es die Zügel erfaßt. Es in die Phantasie zu ver­setzen, wie es das Pferd abfängt, das ist sehr gut. Auch das cholerische Kind hat im geheimen etwas Angst vor dieser Prozedur, aber man kommt einem cholerischen Temperament entgegen, wenn man ihm zu-mutet, das zu tun. Es wird dann etwas beschämt sein, etwas beschei­dener. Es ist ihm etwas zugemutet, was man nur einem cholerischen Kinde zumuten kann.

Dann möchte ich bemerken, daß Sie namentlich im Anfang diese Dinge sehr kurz gestalten sollten. Daher würde ich in diesem Falle Herrn M. bitten, seine Erzählung auch für sanguinische und melan­cholische Kinder auszuführen, aber beide Male furchtbar kurz. Ebenso Herrn L., aber Einzelheiten herauszuheben, die dann bleiben, die dazu dienen, das Kind in Spannung zu versetzen.

Wir müssen uns klar sein, daß wir den Unterrichtsstoff hauptsächlich

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dazu verwenden, um die Willens-, Gemüts- und Denkfähigkeiten des Kindes zu ergreifen, daß es uns viel weniger darauf ankommt, was das Kind gedächtnismäßig behält, als daß das Kind seine seelischen Fähigkeiten ausgestaltet.

O. führt aus, wie man im Rechnen Rücksicht nehmen könnte auf die vier Tem­peramente, erwähnt aber, daß er mit seiner Aufgabe nicht richtig fertig geworden ware.

Rudolf Steiner: Das ist etwas, was ich vorausgesehen habe, denn die Aufgabe ist etwas sehr Schwieriges. Sie werden das ganz gründlich beschlafen müssen.

Aber nehmen Sie folgendes als neue Aufgabe: Denken Sie sich eine Klasse, in der acht- bis neunjährige Kinder sitzen. Es kommt ja natür­lich in dem Unterricht der Zukunft darauf an, daß möglichst viel soziale Instinkte, sozialer Wille, soziales Interesse erzogen werde. Nun denken Sie sich drei Kinder, wovon das eine ausgesprochen phlegma-tisch, das andere ausgesprochen cholerisch und das dritte ausgesprochen melancholisch ist. Ich will ihre übrigen Eigenschaften nicht erwähnen. Die kämen in der dritten bis vierten Woche, nachdem der Unterricht begonnen hat, und sagen zu Ihnen: «Mich können alle anderen Kinder nicht leiden! » Diese werden sich nun gleichsam erweisen als die Aschen­brödel, denen gegenüber sich die andere Klasse etwas ablehnend ver­hält, die gepufft werden, die man stößt, die man überall zurücksetzt. -Ich möchte Sie bitten, bis Montag darüber nachzudenken, wie der Er­zieher versuchen wird, diesem Übel am besten abzuhelfen. Wie man diese Kinder zu beliebten Kindern machen könne, das ist eine wichtige Aufgabe für die ganze Erziehung. Ich bitte Sie, das recht geistvoll durchzudenken, und das als eine sehr wichtige pädagogische Aufgabe zu betrachten.

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VIERTE SEMINARBESPRECHUNG Stuttgart, 25. August 1919

Rudolf Steiner: Wir werden nun fortfahren in der Aufgabe, die wir uns gestellt haben, und werden übergehen zu dem, was Herr N. uns zu sagen hat über die Behandlung des Rechnens unter dem Gesichts­punkt der Temperamente der Kinder. Es wird sich mehr handeln um die Art des Verhaltens beim Rechnenlehren.

N. entwickelt das Klarmachen eines Bruches, indem er ein Stück Kreide zer­brechen läßt.

Rudolf Steiner: Ich hätte nur zunächst das eine zu bemerken, daß ich zum Beispiel nicht Kreide verwenden würde, weil es zu schade ist, die Kreide zu zerbrechen. Ich würde einen wertloseren Gegenstand aus­suchen. Es würde genügen ein Stück Holz oder so etwas, nicht wahr? Es ist nicht gut, die Kinder frühzeitig daran zu gewöhnen, nützliche Gegenstände zu zerbrechen.

N. fragt, wenn das Kind keine ganz vertikale Richtung hält, sich nicht gerade hält, ob dann dadurch die Erfassung räumlicher und geometrischer Formen erschwert wäre?

Rudolf Steiner: In einem bemerkbaren Maße ist das nicht vorhan­den. Es kommt bei solchen Dingen viel mehr auf die Tendenzen an, nach denen der menschliche Organismus aufgebaut ist, als auf den Bau der einzelnen menschlichen Persönlichkeiten. Es hat sich das mir einmal besonders stark entgegengestellt nach einem Vortrag in München, wo ich ausführte, daß es eine gewisse Bedeutung hat für den Bau des Men­schen, daß sein Rückgrat in der Linie eines Erddurchmessers liegt, wäh­rend das Tier seine Rückenlinie waagerecht darauf hat. Nachher kam ein gelehrter Arzt aus Karlsruhe und machte geltend, daß der Mensch, wenn er schläft, sein Rückgrat ja in horizontaler Linie habe! - Da sagte ich: Nicht darauf kommt es an, ob der Mensch sein Rückgrat in ver­schiedene Stellungen bringen kann, sondern darauf, daß der ganze menschliche Bau architektonisch so angeordnet ist, daß sein Rückgrat in der Normalhaltung vertikal ist, wenn er es auch in schiefe oder an­dere Lagen bringen kann. - Sie würden, wenn Sie das nicht in Betracht

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zögen, niemals verstehen können, wie gewisse Hinordnungen für die menschlichen Sinne, die sich noch im Intellekt finden, doch auftreten zum Beispiel bei Blindgeborenen. Der Mensch ist als Wesen so aufge­baut, daß sein Intellekt auf sein Auge hin tendiert, so daß man selbst bei Blindgeborenen noch Vorstellungen hervorrufen kann, die auf das Auge hin gerichtet sind, wenn ein Mensch so geartet ist, wie zum Bei­spiel die blinde Helen Keller. Es kommt an auf die Tendenz, auf die An­lagen im allgemeinen des menschlichen Organismus, nicht auf das, was zufällige Lagen hervorbringen können.

Dann möchte ich das Folgende an Herrn Ns. Ausführungen an­schließen. Es kommt weniger darauf an, daß wir diese Dinge kriti­sieren, denn das kann man immer. Es kommt darauf an, daß solche Dinge vorgebracht werden, und daß wir versuchen, uns in solche Dinge hineinzufinden.

Gehen wir einmal von der Addition aus, und zwar so, wie wir die Addition auffassen. Nehmen wir an, ich habe Bohnen oder ein Häuf­chen Holunderkügelchen. Nun will ich für den heutigen Fall anneh­men, daß die Kinder schon zählen können, was sie ja auch erst lernen müssen. Das Kind zählt, es hat 27. - «27», sage ich, «das ist die Sum­me.» Wir gehen aus von der Summe, nicht von den Addenden! Die psychologische Bedeutung davon können Sie in meiner Erkenntnis­theorie verfolgen. Diese Summe teilen wir jetzt ab in Addenden, in Teile oder in Häufchen. Ein Häufchen Holunderkügelchen, sagen wir 12; weiter ein Häufchen, sagen wir 7; weiter eines, sagen wir 3; weiter eines, sagen wir 5. Dann werden wir die Holunderkügelchen erschöpft haben: 27 = 12 + 7 + 3 + 5. Wir machen ja den Rechnungsvorgang von der Summe 27. Solch einen Vorgang lasse ich nun eine AnzaM von Kindern machen, welche ausgesprochen phlegmatisches Temperament haben. Man wird sich allmählich bewußt werden, daß diese Art des Addierens besonders geeignet ist für Phlegmatiker. - Dann werde ich mir, weil ja der Vorgang zurückverfolgt werden kann, cholerische Kin­der aufrufen und werde die Holunderkügelchen wieder zusammen­werfen lassen, aber so, daß es geordnet ist gleich 5 und 3 und 7 und 12 sind 27. Also das cholerische Kind macht den umgekehrten Vorgang.

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Das Addieren ist ganz besonders die Rechnungsart der phlegmatischen Kinder.

Nun nehme ich jemand heraus aus den melancholischen Kindern. Ich sage: «Hier ist ein Häufchen Holunderbeerchen; zähle sie mal ab!» Es kriegt heraus, sagen wir einmal 8. «Siehst du, ich will nicht haben 8, ich will nur haben 3. Wieviel muß weggelegt werden von den Ho­lunderkügeichen, damit ich nur 3 bekomme?» Dann wird es darauf ankommen, daß 5 weggenommen werden müssen. Das Subtrahieren in dieser Form ist vor allem die Rechnungsart der melancholischen Kinder. - Nun rufe ich ein sanguinisches Kind auf und lasse die Rech­nung zurück machen. Nun sage ich: «Was ist weggenommen worden?» Und ich lasse mir sagen: Wenn ich 5 von 8 wegnehme, so bleiben mir 3 übrig. - Das sanguinische Kind lasse ich wieder die umgekehrte Rech­nungsart ausführen. Ich will nur sagen, daß «vorzugsweise» die Sub­traktion - aber so ausgeführt, wie wir es tun - für die melancholischen Kinder ist.

Nun nehme ich mir ein Kind vor aus der Gruppe der Sanguiniker. Ich werfe wieder eine Anzahl Holunderkügelchen hin, ich sorge aber dafür, daß es in irgendeiner Weise paßt. Nicht wahr, ich muß das ja schon anordnen, sonst würde die Sache zu rasch ins Bruchrechnen hin­einführen. Also, nun lasse ich zählen: 56 Holunderkügelchen. - «Nun sieh einmal an, da habe ich 8 Holunderkügelchen. Nun mußt du mir sagen, wie oft die 8 Holunderkügelchen in den 56 drinnen sind.» Sie sehen, die Multiplikation führt zu einer Division. Es bekommt her­aus 7. Nun lasse ich die Rechnung zurückmachen von dem melancho­lischen Kinde und sage: «Nun will ich aber nicht untersuchen, wie oft die 8 enthalten sind in den 56, sondern wie oft ist die 7 enthalten in 56? Wie oft kommt die 7 heraus?» Ich lasse die umgekehrte Rechnung immer von dem entgegengesetzten Temperament ausführen.

Dem Choleriker lege ich vor zunächst die Division, vom Kleinen zum Größten, indem ich sage: «Siehe, da hast du das Häufchen von 8. Ich will von dir nun wissen, in welcher Zahl die 8 siebenmal drinnen-steckt.» Und er muß herauskriegen: in 56; in einem Häufchen von 56. -Dann lasse ich das Umgekehrte, die gewöhnliche Division, von dem phlegmatischen Kinde machen. Für das cholerische Kind wende ich in

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dieser Form die Division an. Denn in dieser Form ist sie insbesondere die Rechnungsart der cholerischen Kinder.

Auf diese Weise, indem ich es fortwährend so durchführe, bekomme ich gerade für die vier Rechnungsarten die Möglichkeit, sie zu gebrau­chen für die Heranziehung der vier Temperamente: das Additive ist verwandt dem Phlegmatischen, das Subtrahieren dem Melancholischen, das Multiplizieren dem Sanguinischen, das Dividieren, mit dem Zu­rückgehen zu dem Dividenden, dem Cholerischen. - Das ist es, was ich Sie bitte, im Anschluß zu dem von Herrn N. Gesagten zu beachten.

Es ist von besonderer Wichtigkeit, daß man nicht langweilig fort-arbeitet: ein halbes Jahr bloß addiert, dann subtrahiert und so weiter, sondern wir werden diese vier Rechnungsarten womöglich nicht allzu langsam nacheinander durchnehmen, und dann alle vier üben! Zuerst nur bis 40 etwa. So werden wir Rechnen lehren nicht nach dem gewöhn­lichen Stundenplan, sondern so, daß durch das Üben diese vier Arten fast gleichzeitig angeeignet werden. Sie werden finden, daß es auf diese Weise sehr ökonomisch geht, und daß man die Kinder die Dinge inein­anderarbeiten lassen kann. - Es ist ja die Division verwandt mit der Subtraktion, und die Multiplikation ist eigentlich nur eine wiederholte Addition. So daß man also auch umwechseln und zum Beispiel das cholerische Kind an die Subtraktion heranbringen kann.

K. macht den Vorschlag, mit dern Stereometrischen zu beginnen.

Rudolf Steiner: Für Erwachsene kann man von Körpern ausgehen, aber warum haben Sie die Sehnsucht, bei dem Kinde vom Körper aus­zugehen und von da zur Fläche zu gehen? Sehen Sie, es ist das Räum­liche im allgemeinen unübersichtlich, sehr unübersichtlich vor allem Für das Kind. Man wird nicht leicht dem Kinde eine andere als eine sehr verschwommene Vorstellung vom Raume beibringen können. Es leidet sogar die Phantasie darunter, wenn man dem Kinde zumutet, daß es gleich Körper vorstellen soll.

Sie gehen davon aus, daß der Körper das Konkrete ist, die Linie das Abstrakte; das ist nicht der Fall. Ein Dreieck ist als solches schon ganz konkret, ist für sich etwas im Raum. Das Kind sieht stark flächenhaft. Es ist vergewaltigt, wenn es in die dritte Dimension, in die Tiefendi­mension gehen soll. Wenn das Kind seine Phantasie anwenden soll, um

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sich den Körper vorzustellen, dann muß es die Elemente zu diesem Phantasievorstellen vorher schon haben. Es muß sich eigentlich schon die Linie und das Dreieck vorstellen können, ehe es sich zum Beispiel den Tetraeder vorstellen kann. Es ist besser, wenn das Kind vorher schon eine wirkliche Vorstellung vom Dreieck hat. Das Dreieck ist eine Sache für sich, es ist nicht bloß eine Abstraktion vom Körper. Ich würde glauben, daß man Geometrie nicht zuerst als Stereometrie, son­dern als Planimetrie lehren soll, als Lehre von Figuren und dazwischen-liegenden Flächen, was sehr wünschenswert ist, weil das dem, worauf das Kind sein Auffassungsvermögen gern richten will, Unterstützung bringen kann, auch durch Verbindung der Geometrie mit dem Zei­chenunterricht. Ein Dreieck wird ein Kind verhältnismäßig bald zeich­nen, und man sollte nicht zu lange warten mit dem Nachzeichnen des­sen, was das Kind geometrisch anschaut.

E. gibt das gestrige Zeichenmotiv heute für ein cholerisches Kind (Farbtafel, Figur 3) und für ein phlegmatisches Kind.

Rudolf Steiner: Für das cholerische Kind ist das ein sehr gutes Mo­tiv. Für das phlegmatische Kind würde ich die Sache vorziehen, ge­sprenkelt zu machen, das heißt also, so kariert würde ich es für das phlegmatische Kind vorziehen (Farbtafel, Figur 4). Ihres hier ist eine Möglichkeit, aber es wird das phlegmatische Kind doch zu wenig auf­merksam gemacht.

Dann gibt T. Zeichnungen für das melancholische und für das sanguinische Kind.

Rudolf Steiner: Bei dieser Methode wird in Betracht kommen, daß man dem sanguinischen und melancholischen Kinde sicher dadurch entgegenkommen könnte, daß man beim sanguinischen Kinde sehr viel auf die Wiederholung hält, auf variierte Wiederholung. Man lasse viel­leicht das sanguinische Kind ein Motiv so zeichnen:

#Bild s. 44

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Beim melancholischen Kinde würde es gut sein, dasjenige zu beach­ten, wohinein doch etwas das Nachdenken spielt. Nehmen wir an, das melancholische Kind sollte zunächst eine solche Form (Zeichnung a) ausbilden und dann die Gegenform (Zeichnung b), so daß es sich er­gänzt.

#Bild s. 45

Dadurch kommt die Phantasie in Regsamkeit. Ich will dasjenige schraffieren, was die ursprüngliche Form (a) iSt, und die Gegenform (b) so. Dasjenige, was hier (a) schraffiert ist, würde hier (b) leer sein. Wenn Sie sich das Leere ausgefüllt denken, würden Sie diese Form (a) wieder herausbekommen. Dadurch sind die äußeren (b) entgegengesetzte For­men von den inneren (a). - Sie haben also hier das Entgegengesetzte von solchen Zeichnungen, wo Wiederholung auftritt. Hier etwas, was gedanklich ist, mit der Anschauung vereinigt für das melancholische Kind. Und wo Wiederholung auftritt, Ranken und so weiter, das ist für das sanguinische Kind.

A. erzählt das Märchen vom «Marienkind» in der Fassung für phlegmatische Kinder.

Rudolf Steiner: Es wäre wichtig, sich an eine gut artikulierte Spra­che zu gewöhnen und so die Kinder aus der Mundart herauszuführen. Frau Dr. Steiner wird vorsprechen.

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D. erzählt das Märchen vom «Meerkätzchen» in der Fassung für phlegmatische Kinder.

Rudolf Steiner: Ich würde nur raten, versuchen Sie in einem solchen Falle auch Nebenhilfen des Erzählens zu benützen. Ich würde gerade dem phlegmatischen Kinde gegenüber öfter mal mit dem Satze ein­halten, dann die Kinder angucken, dann das ausnützen, daß die Phan­tasie weiterarbeitet. Diese Neugierde an wichtigen Stellen erregen, da­mit sie ein wenig schon weiterdenken und selber sich ausmalen: «Die Königstochter, - die war - sehr schön, - aber - weniger - gut!» Dieses Ausnützen ist gerade für phlegmatische Kinder am wirksamsten.

R. erzählt das «Sesammärchen» für Phlegmatiker.

Rudolf Steiner: Das Überraschungsmoment benützen, das Neugier-moment.

L. erzählt für sanguinische Kinder eine Tiergeschichte von Pferd, Esel, Kamel. Welches ist euch lieber, das Pferd oder der Esel?

Rudolf Steiner: Einige Melancholiker werden den Esel lieber ha­ben. - Ja, was ich bei diesen Tierbeschreibungen bitten würde, das wäre nur, möglichst darauf Rücksicht zu nehmen, daß das Kind angeleitet wird zur Beobachtung der Tiere, daß in solchen Beschreibungen wirk­liche Naturgeschichte liegen könnte.

M. gibt für Sanguiniker und Melancholiker die Schilderung eines Affen, der in das Dachgebälk floh.

Rudolf Steiner: Ja, das würde auf den Melancholiker unter Um-ständen einen ganz guten Eindruck machen, aber auch da meine ich, daß es noch etwas auszubilden wäre dahin, daß die Tierbeobachtung als solche gefördert würde.

Ich möchte nur bemerken, daß die Berücksichtigung des Tempera­mentes des Kindes nicht außer acht gelassen werden sollte, daß man aber ruhig die ersten drei bis fünf Wochen dazu verwenden sollte, die Temperamente der Schüler zu beobachten und sie dann so in Gruppen zu teilen, wie wir es hier besprochen haben.

Sie werden gut tun, wenn Sie auch die Extreme der Temperamente ins Auge fassen würden. Goethe hat ja aus seiner Weltanschauung heraus den schönen Gedanken geprägt, daß am Abnormen studiert werden könne das Normale. Goethe sieht eine abnorme Pflanze an,

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eine mißbildete Pflanze, und an der Art der Mißbildung lernt er das Normale kennen. So kann man auch Verbindungslinien ziehen von dem durchaus Normalen zu den Mißbildungen des leiblich-seelischen Wesens, und Sie werden selbst die Linie finden von den Temperamen­ten zu dem abnormen Seelenwesen.

Wenn das melancholische Temperament abnorm ausartet und nicht innerhalb der seelischen Grenzen bleibt, sondern ins Körperliche über­greift, so entsteht der Wahnsinn. Der Wahnsinn ist die Ausartung des im wesentlichen melancholischen Temperamentes. Die Ausartung des phlegmatischen Temperamentes ist der Schwachsinn oder Blödsinn. Die Ausartung des Sanguinischen ist die Narrheit. Die Ausartung des Cholerischen ist die Tobsucht. Sie werden aus ganz normalen Seelen-zuständen manchmal, wenn der Mensch im Affekt ist, solche Anwand­lungen aufsteigen sehen von Wahnsinn, von Schwachsinn, von Narr­heit, von Tobsucht. Es ist schon notwendig, daß man sich einstellt auf die Beobachtung des ganzen Seelenlebens.

Jetzt wollen wir an die Erledigung der anderen Aufgabe gehen. Ich sagte, was würden sich unsere Freunde zur Aufgabe stellen, wenn sie bei acht- bis neunjährigen Kindern, die sie vor sich haben, die Erfah­rung machen, daß drei bis vier Wochen nachdem die Schule begonnen hat, ein phlegmatisches Kind, ein cholerisches und ein melancholisches Kind gewissermaßen die drei Aschenbrödel der Klasse werden, daß sie von allen gepufft werden, daß niemand mit ihnen umgeht und so weiter. Also, wenn das passiert wäre, wie würden sich die Lehrenden und Unterrichtenden hierzu verhalten?

Verschiedene Teilnehmer äußern sich darüber.

Rudolf Steiner: Nie die Kinder sich gegenseitig denunzieren lassen, sondern man sollte auf andere Weise herausbekommen, was die Ur­sache ihres Aschenbrödeltums ist. Die Kinder brauchen nicht selber Schuld zu sein.

Sehen Sie, man kommt oftmals in den Fall, helfen zu sollen bei der Kindererziehung. Wenn die Kinder in allerlei Unarten hineinkommen, so kommen Mütter und Väter, die sagen zum Beispiel: Mein Kind lügt. - Nun würde man wohl kaum fehlgehen, folgenden Rat zu geben.

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Man sagt: Denken Sie sich einen Fall aus, eine Erzählung, in der ein lügenhaftes Kind ad absurdum geführt wird, indem das Kind durch seine Lüge selber in eine Situation geführt wird, die es als unvernünftig ansehen muß. Wenn man dem Kinde eine solche Erzählung erzählt, dann noch eine, dann noch eine in der Art, dann heilt man das Kind gewöhnlich von seinem Lügenhang.

In ähnlicher Art würde ich eine Abhilfe darin finden, wenn Sie die verschiedenen Dinge, die heute über die drei Aschenbrödel gesagt wurden, und alles, was Sie über diese Kinder herausbekommen und erfahren können, in eine Erzählung bringen, die Sie dann vor der gan­zen Klasse vorbringen, wodurch Sie bewirken, daß die drei Aschen­brödel sich etwas trösten, die anderen sich etwas schämen. Wenn Sie das bewirken, werden Sie wohl schon auf den ersten Anhub, und wenn Sie es zum zweitenmal wiederholen, werden Sie sicher wieder soziale Zustände, ein gegenseitiges Sich-in-Sympathie-Begegnen bei den Kin­dern erzielen. Eine solche Erzählung ist sehr schwierig. Aber eine Skizze sollte gemacht werden bis zum Ende des Seminars.

Für morgen einen anderen Fall, der auch vorkommt, und der ganz sicher nicht durch eine Erzählung wird zu behandeln sein, indem Sie die einen Kinder trösten, die anderen beschämen.

Denken Sie, Sie hätten wiederum verhältnismäßig junge, acht- bis neunjährige Kinder in Ihrer Klasse, und einer dieser Knirpse wäre hinter eine besondere Ungezogenheit gekommen. So etwas kommt vor. Er hat sie draußen kennengelernt, und es ist ihm gelungen, die ganze Klasse damit anzustecken, so daß die ganze Klasse während der Pause die Ungezogenheit ausübt.

Ein schematischer Schullehrer wird dahin kommen, die ganze Klasse zu bestrafen. Aber ich hoffe, Sie werden bis morgen eine etwas ratio­nellere, das heißt wirksamere Methode herausbringen. Denn diese alte Art zu strafen, führt dazu, daß der Lehrer in eine schiefe Stellung kommt. Bei Schlagen und Nachsitzen bleibt immer etwas zurück. Es ist nicht gut, wenn etwas zurückbleibt.

Ich habe einen besonderen Fall im Auge, der wirklich vorgekommen ist, und wo sich der betreffende Lehrer nicht sehr günstig verhalten

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hat: Da war nun der Knirps dazu gekommen - und es ist ihm gelun­gen - auf den Plafond, auf die Decke des Zimmers zu spucken. Der Lehrer ist sehr lange nicht daraufgekommen. Man konnte keinen her­auskriegen, denn alle hatten es nachgemacht, und das ganze Klassen­zimmer war verschandelt.

Diesen moralischen Fall bitte ich bis morgen auszudenken. Sie wis­sen im allgemeinen nur, daß die ganze Klasse angesteckt worden ist. Sie werden nicht von der Voraussetzung ausgehen dürfen, daß Sie von vornherein wissen, wer der Anstifter ist. Sie werden zu bedenken ha­ben, ob es nicht besser ist, auf das Herausbringen durch Denunziation zu verzichten.

Wie würden Sie sich dazu verhalten?

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FÜNFTE SEMINARBESPRECHUNG Stuttgart, 26. August 1919

Rudolf Steiner: Es ist wirklich von einer großen Bedeutung, daß wir auch nebenhergehend etwas pflegen von deutlichem Sprechen. Es hat einen gewissen Einfluß, eine gewisse Wirkung. Nun sind bei einer anderen Gelegenheit einmal Sätze von mir formuliert worden, die weniger daraufhin ausgebildet sind, einen besonders tiefen Sinn zu ge­ben, als darauf, daß man die Sprachorgane dabei in einer eben orga­nischen Weise in Bewegung bringt, auch in allseitige Bewegung bringt. Ich möchte nun, daß Sie, ganz ohne Genieren, diese Sätze herumgehen lassen und jeder sie nachspricht, auf daß wir an solchen Sätzen, indem wir sie öfter üben, unsere Sprachorgane elastisch machen, sie gleichsam in Turnen versetzen. Frau Dr. Steiner wird diese Sätze kunstgerecht vorsprechen, und ich bitte die einzelnen Teilnehmer, die Sätze dann nachzusprechen. Diese Sätze sind nicht auf das Verstehen, nicht auf den Sinn, sondern auf das Turnen der Sprachorgane hin gebildet.

Daß er dir log uns darf es nicht loben

Im wirklichen Konversationston wird es nicht so ausgesprochen, aber jetzt sollten Sie sich in die Silben hineinlegen und jeden Buchstaben ab­wechselnd sprechen.

Nimm nicht Nonnen in nimmermüde Mühlen

Das n kehrt immer wieder, aber in anderen Verbindungen, und da turnt das Sprachorgan in richtiger Weise. Auch das ist darin, daß zwei n zusammenkommen; bei den n «in nimmer» länger verweilen. Lange i, kurze i.

Rate mir mehrere Rätsel nur richtig

Die Organe kommen so in richtige turnerische Tätigkeit.

Ich würde Ihnen empfehlen, besonders darauf zu achten, sich in die Laute, in die Silben förmlich hineinzulegen, förmlich hineinzuwachsen,

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auf ein solch deutliches Hineinwachsen wirklich aufmerksam zu sein, so daß Sie sich bewußt sind: Sie sprechen jeden Laut. Sie heben jeden einzelnen Laut ins Bewußtsein herauf. Das ist ja die Schwäche, die man sehr häufig im Sprechen hat, daß man hüpft über Laute, während das Sprechen dazu bestimmt ist, verstanden zu werden, und eher so lauten soll, daß man zunächst in einer gewissen karikierten Weise Sil­ben betont, die gar nicht betont werden. Schauspieler üben sich, nicht «Freunderl» zu sagen, sondern «Freunderl». Also mit Bewußtsein je­den Buchstaben aussprechen! Es wird sogar gut sein, daß Sie solche Prozeduren machen, wenn auch nicht regelmäßig, wie der Demosthe­nes. Sie wissen ja, als es gar nicht mehr ging, hat er Steinchen auf die Zunge gelegt und seine Stimme durch Übung so gestärkt, daß sie das Rauschen des Stromes übertönte, um eine Sprache sich anzueignen, in der er von den Athenern gehört werden konnte.

Jetzt würde ich Fräulein B. bitten, uns die Sache der Temperamente vorzubringen. Da wir auf das Individuum hin orientiert den Unter­richt geben wollen, ist es richtig, daß wir gerade auf die Grundlage der Temperamente eine große Sorgfalt verwenden. Natürlich kann man, wenn man eine Klasse hat, nicht auf jedes Kind hin individualisieren. Aber dadurch wird viel individualisiert, daß Sie auf der einen Seite, sagen wir, phlegmatische und melancholische, auf der anderen Seite sanguinische und cholerische Kinder haben, und nun lebendig durch­einander bald diese, bald jene teilnehmen lassen, bald zu der Gruppe dieses Temperaments sich wenden, und wiederum in den Antworten die anderen vornehmen, zu den einen dieses, zu den anderen jenes sprechen. Dadurch wird von selbst in der Klasse individualisiert.

B. gibt ihre zusammenfassende Darstellung dcr Temperamente und ihrer Behand­lung.

Rudolf Steiner: Das ist Ihre Ausführung. Nun, das ist sehr schön durchgeführt, was hier konversierend gesprochen worden ist. Es geht aber doch vielleicht zu weit, wenn Sie vom melancholischen Tempera­ment geradezu behaupten, daß es zu ausgesprochener Frömmigkeit neigt. Es fehlt hier nur das kleine Wörtchen «oft». Es kann aber durchaus

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auch der Fall vorkommen, daß die melancholische Anlage bei Kin­dern auf einem ausgesprochenen Egoismus beruht, und daß es durch­aus nicht religiöser Hang ist. Beim Erwachsenen wird man das Wört­chen «oft» weglassen können; beim kleinen Kinde ist das Melancho­lische sehr oft die Maske für einen ausgesprochenen Egoismus. - Melan­cholische Kinder sind oftmals abhängig von der Witterung, sie kündet sich auch an in melancholischen Kindern. Das sanguinische Kind ist auch abhängig von der Witterung, aber stimmungsgemäß, mehr see­lisch, während das melancholische Kind mehr leiblich unbewußt davon abhängt.

Wenn ich diese Frage eingehend geisteswissenschaftlich besprechen wollte, müßte ich Ihnen zeigen, wie sich namentlich das kindliche Tem­perament in das Karma einreiht, wie wirklich in dem kindlichen Tem­perament etwas herauskommt, was man als Folge bezeichnen kann von Erlebnissen in früherem Erdendasein. Nehmen wir im Konkreten ein­mal einen Menschen, der sich in einem Leben sehr stark für sich selbst interessieren muß. Dadurch, daß er einfach einsam ist, muß er sich für sich selber interessieren. Dadurch, daß er sehr häufig sich mit sich be­schäftigen muß, dadurch kommt er insbesondere in die Lage, das See­lische in dem Gefüge seines Körperlichen auszugestalten, gezwungen durch die Verhältnisse, und er bringt in die nächste Inkarnation mit ein sehr stark ausgebildetes Leibliches mit Bezug auf sein Verhältnis zur Außenwelt. Er wird ein Sanguiniker. Dadurch kann es vorkom­men, wenn einer durch seine Inkarnation zur Einsamkeit gezwungen ist und dadurch zurückgeblieben wäre, so gleicht er das in der nächsten Inkarnation dadurch aus, daß er ein Sanguiniker ist, der auf alles auf­merksam sein kann. Wir dürfen ja das Karma nicht moralisch be­trachten; wir müssen es kausalisch betrachten. Daß er ein Sanguiniker werden kann, angewiesen auf die Beobachtung der Außenwelt, das kann ja ein sehr Gutes für das Leben abgeben, wenn es in der richtigen Weise erzogen wird. Das Temperament hängt ja in hervorragendem Maße mit den allgemeinen Antezedenzien des Menschenwesens, des menschlichen Gemütslebens zusammen.

T. fragt, was der Verschiebung der Temperamente im Laufe des Lebens von der Jugend zum Erwachsenen zugrunde liegt.

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Rudolf Steiner: Wenn Sie sich erinnern an einen Vortragszyklus, den ich einmal in Kassel gehalten habe, «Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien», so werden Sie darin Bemerkungen finden über die Beziehungen eines Kindes zu seinen Eltern. Sie werden darin ausgeführt finden, wie in dem physischen Leib und in dem Ich das väterliche Prinzip sehr stark nachwirkt, wie in dem Atherleib und Astralleib das mütterliche Prinzip vorherrscht. Goethe hat das geahnt, indem er den schönen Ausspruch getan hat:

Vom Vater hab' ich die Statur, - was sich auf den physischen Leib

bezieht

Des Lebens ernstes Führen, - was sich auf das Ich bezieht

Vom Mütterchen die Frohnatur - was an den Atherleib gebunden

ist

Und Lust zu fabulieren - was an den Astralleib gebunden

ist.

In diesen Worten liegt eigentlich eine ganz außerordentliche Weisheit. Sie sehen, daß in einer merkwürdigen Weise zusammengemischt ist, was eigentlich im Menschen ist. Der Mensch ist eben eine durchaus komplizierte Wesenheit. Es besteht eine bestimmte Verwandtschaft zwischen Ich und physischem Leib, und eine Verwandtschaft zwischen Atherleib und Astralleib. Im Laufe des Lebens kann daher eines in das andere übergehen. Es geht also zum Beispiel über beim melancholischen Temperament das Vorherrschen des Ich in das Vorherrschen des phy­sischen Leibes. Und beim Choleriker überspringt es sogar die Vererbung und geht über vom Mütterlichen ins Väterliche, denn es geht über vom Überwiegen des Astralischen zum Überwiegen des Ich.

Beim melancholischen Temperament des Kindes herrscht vor das Ich, beim Erwachsenen der physische Leib. Beim sanguinischen Tempe­rament des Kindes herrscht vor der Ätherleib, beim Erwachsenen der Astralleib. Beim phlegmatischen Temperament des Kindes herrscht vor der physische Leib, beim Erwachsenen der Ätherleib. Beim cholerischen Temperament des Kindes herrscht vor der Astralleib, beim Erwachse­nen das Ich.

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Sie werden eben solche Dinge nur richtig ansehen, wenn Sie streng festhalten, daß man nicht die Dinge nebeneinanderstellen kann, um so weniger, je höher Sie in geistige Gebiete kommen.

J.: Es findet sich ein ähnlicher Übergang in der Personenanordnung im Personen-verzeichnis im «Hüter der Schwelle» und «Der Seelen Erwachen».

Rudolf Steiner: Dort drinnen ist eine Verwandlung, die durchaus den Tatsachen entsprechen kann. Diese Mysterien mussen Sie so neh­men, daß Sie sie möglichst wenig theoretisch aufnehmen. Ich kann gar keine Auskunft geben, wenn die Frage theoretisch gestellt wird, weil ich sie eben nur so, wie sie dastehen, rein gegenständlich vor mir gehabt habe. Die Personen sind alle nur der Wirklichkeit entnommen. Ich habe neulich bei einem gewissen Anlaß hier vorgetragen, daß es den Felix Balde gegeben hat, in Trumau, und jener alte Schuhmacher, der den Urtyp des Felix Balde noch gekannt hat, heißt Scharinger, aus Münchendorf. Es ist auch der Felix dort noch in der Tradition vorhan­den. So sind alle diese Gestalten, die Sie in meinen Mysterien finden, einzelne wirkliche Persönlichkeiten.

N.: Wenn man von Volkstemperament spricht, kann man dann auch von der Zugehörigkeit eines einzelnen zu dem Temperament seines Volkes reden? - Und weiter: drückt sich das Volkstemperament in der Sprache aus?

Rudolf Steiner: Das erste ist richtig, das zweite nicht ganz. In rea­lem Sinne kann man von einem Volkstemperament sprechen. Völker haben wirklich ihre Temperamente, doch der einzelne kann sich gut herausheben aus dem Volkstemperament, es wirkt nicht prädisponie­rend auf das Individuum. Man muß darauf Rücksicht nehmen, daß man ja nicht die Individualität des einzelnen identifiziert mit dem Temperament des ganzen Volkes. Es würde zum Beispiel ganz falsch sein, wenn man den Russen als einzelnen von heute identifizierte mit dem Temperament des russischen Volkes. Dieses wäre melancholisch, während der einzelne Russe als solcher heute vielleicht mehr sangui­nisch ist. Jeder hat die Möglichkeit, zu seinem eigenen Temperament zu kommen.

Die Art des Volkstemperamentes drückt sich selbst in den einzelnen Sprachen aus. Man kann daher durchaus sagen: die Sprache des einen Volkes ist so, die des anderen so. Man kann sagen: Die englische Sprache

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ist durchaus phlegmatisch und die griechische im eminentesten Sinne sanguinisch. Solche Dinge lassen sich durchaus als Bezeichnung von realen Wirklichkeiten sagen. Die deutsche Sprache hat, wie ja im Deut­schen vielfach ein Mittelding gegeben ist, sehr starke melancholische und sehr starke sanguinische Züge. Das können Sie sehen, wenn die deutsche Sprache in ihrer Grundform zum Ausdruck kommt, wie na­mentlich in der mehr philosophischen Rede. Ich erinnere an die wun­derbare Prägung der philosophischen Rede bei Fichte und an einzelne Stellen von Hegels «Ästhetik». Da werden Sie finden, daß da der Grundcharakter der deutschen Sprache ganz besonders deutlich zum Ausdruck kommt.

Der italienische Volksgeist hat eine besondere Verwandtschaft mit der Luft; der französische einen besonderen Zusammenhang mit allem Flüssigen; der englisch-amerikanische, namentlich der englische, einen Zusammenhang mit dem Festen, der amerikanische sogar mit dem Un­terirdischen, nämlich mit dem Erdmagnetismus und der Erdelektrizität. Dann der russische mit dem Licht, aber mit dem von der Erde, von den Pflanzen zurückgestrahlten Licht. Der deutsche mit der Wärme, von der Sie gleich finden werden, daß sie einen Doppelcharakter hat:

nämlich innere und äußere, Blutwärme und atmosphärische Wärme. Da finden Sie gleich einen polarischen Charakter, auch bei der Zutei­lung zu diesen Elementarzuständen. Auch da finden wir dieses Po­larische, dieses Zwiespältige des deutschen Wesens, das also in allem drinnen ist.

Es wird gefragt: Dürfen die Kinder etwas wissen von dieser Einteilung in Tem­peramente?

Rudolf Steiner: Das ist dasjenige, was man hinter den Kulissen halten muß. Es kommt sehr viel darauf an, daß der Lehrer taktvoll weiß, was er hinter den Kulissen zu halten hat. Alles dasjenige, was wir hier besprechen, das ist dazu da, um dem Lehrer die Autorität zu verleihen. Wenn er sich verraten würde, würde er nicht durchkommen.

Die Schüler sollen nicht nach ihren Leistungen gesetzt werden. Wün­sche der Schüler, einmal nebeneinander zu sitzen, nicht zu berücksich­tigen, ist gerade nützlich.

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Frage: Können auch ältere Schüler nach Temperamenten gesetzt werden?

Rudolf Steiner: Ja, selbst bis in die Hochschule hinein; aber nach dem fünfundzwanzigsten Jahr ist das nicht mehr nötig. Sie würden Ihnen auch dann nicht mehr folgen.

L. fragt: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Temperamenten und der Auswahl der Sprachen für die verschiedenen Temperamente der Kinder?

Rudolf Steiner: Das würde theoretisch schon richtig sein, aber es empfiehlt sich nicht, unter den heutigen Verhältnissen darauf Rück­sicht zu nehmen. Man wird gar nicht in die Möglichkeit versetzt sein, allein dasjenige zu berücksichtigen, was nur nach der Anlage des Kin­des richtig ist, sondern auch, daß das Kind in der Welt fortkommen muß, und daß man ihm das gibt, was es zu seinem Fortkommen brau­chen wird. Wenn sich in der nächsten Zeit herausstellen sollte, daß sehr viele deutsche Kinder nicht geeignet sein sollten für die Aufnahme der englischen Sprache, so wäre es gut, dieser Schwäche nicht nachzu­geben. Gerade diejenigen, die eine solche Schwäche zeigen, die werden erst recht die englische Sprache brauchen.

Es folgt die Besprechung der gestern gestellten Aufgaben: daß die ganze Klasse, von einem einzelnen angestiftet, eine große Ungezogenheit begeht, daß sie zum Beispiel an die Decke spucken. Es werden einige Ansichten darüber vorgebracht.

Rudolf Steiner macht dazu verschiedentlich Zwischenbemerkungen:

Das Hinarbeiten auf das Langweiligwerden einer solchen Sache, so daß die Kinder dann von selber aufhören, sie fortzusetzen, das ist schon ganz zweckmäßig. - Man muß stets unterscheiden, ob etwas aus Bos­heit oder aus Übermut geschieht.

Etwas möchte ich bemerken: Auch der beste Lehrer wird die Un­gezogenheiten nicht vermeiden können. Wenn aber die ganze Klasse mittut, dann ist wohl meist der Lehrer schuld. Liegt die Schuld nicht am Lehrer, so ist immer ein Teil der Schüler auf Seite des Lehrers und wird für ihn Partei ergreifen. Nur wenn er schuldig ist, macht die ganze Klasse mit.

Ist aber eine Sachbeschädigung vorgekommen, dann ist es schon richtig, daß sie wieder gutgemacht werden muß, und die Kinder selbst müssen sie wieder gutmachen, aber durch ihre eigene Tätigkeit, nicht

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nur indem sie dafür zahlen. Man kann ja den Sonntag oder zwei bis drei Sonntage dafür benützen, daß sie zusammen die Sache wieder gut­machen.

Dann ist ja wahr, ein gutes Mittel zum Ad-absurdum-Führen ist auch der Humor, besonders bei kleinen Ungezogenheiten. Aber hier beruhte das Ganze auf Anstiften.

Ich habe diese Aufgabe gestellt, damit man sieht, wie man eingreift in etwas, was auf Anstiften geschieht. Da muß man die Voraussetzung dieses Falles in Betracht ziehen.

Um auf das Wesentliche hinzuweisen, will ich Ihnen folgende tat­sächliche Begebenheit erzählen: In einer Klasse, wo solche Dinge oft vorgekommen waren, und die Lehrer sich gar nicht zu helfen wußten, ging in einer Zwischenpause einer der Jungen, der etwa zehn bis zwölf Jahre alt war, auf das Katheder hinauf und sagte: Meine Herren Laus-buben, schämt ihr euch nicht, immer wieder solche Sachen zu machen? Bedenkt doch, daß ihr alle ganz dumm bleiben würdet, wenn die Leh­rer euch nichts lehren würden. - Dieses hatte die größte Wirkung.

Wir können aus diesem Fall das Folgende lernen: Wenn so etwas vorkommt, daß auf Anstiftung eines einzelnen oder einiger weniger ein großer Teil der Klasse so etwas tut, dann ist ja wohl zu erwarten, daß wiederum durch den Einfluß einiger weniger die Sache wieder gutgemacht werden kann. Wenn einige da sind, die die Anstifter sind, so werden andere da sein, zwei bis drei, die der Klasse ihre Meinung sagen. Meistens gibt es Führer. Es müßte daher der Lehrer zwei oder drei solche Führer heraussuchen, müßte eine Besprechung veranstalten mit zweien oder dreien, die er für eine solche Besprechung für geeignet hält. Denen hätte der Lehrer klarzumachen, wie ja eine solche Sache den Unterricht unmöglich macht, und wie sie dieses erkennen und ihren Einfluß auf die Klasse geltend machen sollten. Die haben dann ebenso­viel Einfluß wie die Anstifter und können es ihren Mitschülern klar­machen. Man muß eben bei einer solchen Sache in Rücksicht ziehen, wie die Kinder aufeinander wirken.

Es handelt sich hier vor allem um Hervorrufen von Gefühlen, die bewirken, daß man zurückkommt von der Sache. Ein rohes Bestrafen seitens des Lehrers würde ja nur Furcht und ähnliches bewirken. Es

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werden da nicht die Gefühle hervorgerufen, die zur Besserung führen. Es wird schon der Lehrer möglichst gelassen bleiben und sich dann objektiv verhalten müssen. Damit ist nicht gemeint, daß er sich selber nicht sollte als Autorität behandeln. Das kann er schon sagen: «Ihr würdet nichts lernen und dumm bleiben ohne den Lehrer». Der Lehrer soll nicht zu bescheiden sein, mit den drei von den Schülern das zu be­sprechen, die für ihn eintreten. Aber die Strafe sollte er schon von den Mitschülern ausführen lassen, indem diese bei ihren Kameraden das Gefühl der Beschämung erzeugen. Dadurch wird an das Gefühl appel-liert, nicht an das Urteil. Wenn man aber die ganze Klasse wiederholt gegen sich hat, dann muß man die Schuld bei sich selber suchen. Ein guter Teil der Ungezogenheit liegt in dem Umstand, daß die Kinder sich langweilen und keine Beziehung zum Lehrer haben.

Sehr gut ist es auch, wenn es sich nicht um eine allzuschlimme Sache handelt, dasjenige, was die Schüler tun, nun seinerseits auch zu tun; etwa indem der Lehrer sagt, wenn die Schüler brummen: «Nun ja, brummen kann ich ja auch», und die Sache sozusagen homöopathisch behandelt. Homöopathisch zu sein, ist für die moralische Erziehung etwas außerordentlich Gutes. Auch das Interesse einfach auf etwas anderes abzulenken, ist eine gute Methode. Niemals aber würde ich an den Ehrgeiz der Schüler appellieren.

Wir werden im allgemeinen nicht viel über solche Ungezogenheiten zu klagen haben.

Wenn man die Korrektur der Ungezogenheit einer Klasse durch Mitschüler selbst vornehmen läßt, dann wird auf das Gefühl gewirkt, um dadurch die geschädigte Autorität wieder zu heben. Wenn ein an­derer Schüler die Dankbarkeit hervorhebt, die man dem Lehrer gegen­über haben muß, dann wird die Autorität wieder aufgerichtet.

Es wird sich darum handeln, daß man die Richtigen herausnimmt. Man muß die Klasse kennen und diejenigen herausfinden, die zu einer solchen Mission geeignet sein könnten. Würde ich eine Klasse unter­richten, ich könnte das wagen. Ich würde versuchen, gerade den Rä­delsführer herauszufischen und ihn zwingen, zu schimpfen, so sehr er nur kann über die Sache zu schimpfen, und würde mir gar nichts mer­ken lassen, daß er es selbst getan hat. Ich würde die Sache dann schnell

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beendigen, daß ein Rest von Unklarheit zurückbleibt, und Sie werden sehen, daß gerade unter diesem Rest von Unklarheit, der da bleibt, manches erreicht würde. Einen an der Sache beteiligten Schlingel zu veranlassen, die Sache richtig und objektiv zu charakterisieren, das wird nicht zu Scheinheiligkeit führen. Alles wirkliche Strafen würde ich für überflüssig halten, ja sogar für schädlich. Das, worauf es an­kommt, ist, ein Gefühl zu erzeugen vom objektiven Schaden, der an­gerichtet worden ist, und von der Notwendigkeit, diesen Schaden wieder gutzumachen. Und wenn eine Zeitversäumnis eingetreten ist durch eine Störung im Unterricht, so ist es, nicht um zu strafen, son­dern um Versäumtes nachzuholen, notwendig, dieses zu einer anderen als zur Schulzeit nachzuholen. Die Gebärde des Strafens darf gar nicht gebraucht werden. Man muß den Status quo ganz ruhig wieder herstellen lassen, in der Form einer Notwendigkeit.

Nun würde ich eine schon mehr ins Psychologische gehende Frage vorlegen: Wenn in der Klasse sogenannte schädliche Frömmlinge sind, die in der verschiedensten Weise sich Liebkind machen wollen, die diesen Charakter haben, daß sie einem mit allerlei kommen und immer wieder kommen, wie Sie diese behandeln möchten.

Sie können natürlich die Sache furchtbar einfach machen. Sie kön­nen sagen: Ich kümmere mich einfach nicht um sie. - Dann aber wird diese Eigenschaft auf andere Weise abgelenkt bei Kindern, die so ver­anlagt sind. Sie entwickeln sich, diese Brävlinge, zu irgend etwas, was der Klasse nachteilig ist, wenn man sich bloß ablehnend verhält. Man muß nachdenken, was mit ihnen am besten gemacht wird im ganzen Verlauf des Unterrichts und der Erziehung.

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SECHSTE SEMINARBESPRECHUNG Stuttgart, 27. August 1919

Wiederholung der gestrigen Sprechübungen; dann neue:

Redlich ratsam

Rüstet rühmlich

Riesig rächend

Ruhig rollend

Reuige Rosse

Protzig preist

Bäder brünstig

Polternd putzig

Bieder bastelnd

Puder patzend

Bergig brüstend

Lesen einer Fabel von Lessing.

Rudolf Steiner: Sie müssen bedenken, daß Prosa je nach der Per­sönlichkeit in verschiedener Stimmungslage gelesen werden kann.

Den Titel läßt man möglichst fallen bei so etwas und betont ihn nicht besonders.

Die Nachtigall und der Pfau

Eine gesellige Nachtigall fand unter den Sängern des Waldes Neider die Menge, aber keinen Freund. « Vielleicht finde ich ihn unter einer anderen Gattung», dachte sie und floh vertraulich zu dem Pfau herab. «Schöner Pfau, ich bewundere dich!» - «Ich dich auch, liebliche Nach­tigall.» - «So laß uns Freunde sein», sprach die Nachtigall weiter. « Wir werden uns nicht beneiden dürfen, du bist dem Auge so ange­nehm, als ich dem Oh re. » Die Nachtigall und der Pfau wurden Freunde.

Kneller und Pope waren bessere Freunde als Pope und Addison.

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Rudolf Steiner sagte statt dessen scherzweise: Frankreich und Italien sind bessere Freunde als Italien und England. So kann man auch sagen; die Anwendung kann nämlich in der verschiedensten Weise gemacht werden.

Rudolf Steiner: Jetzt möchte ich mit Ihnen ein Stück Unterricht besprechen. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß Sie niemals den Inhalt eines Lesestückes - ich will es prosaisch so nennen - dadurch für das Gefühl und die Empfindung verderben sollten, daß Sie das Lesestück lesen, oder mit den Zöglingen durchlesen, und es dann pedan­tisch erklären. Der einsichtige Psychologe wird es nicht so machen, son­dern er wird das Gefühl dafür haben, daß ein Prosastück oder ein Gedicht auf die Seele so wirken muß, daß diese Seele, wenn sie es erlebt hat, mit dem Eindruck zufrieden sein kann; von dem Eindruck befriedigt sein kann, könnte man auch sagen. Man wird aber das nicht ausschließen dürfen, daß man gerade diese Befriedigung, welche aus dem Inhalte eines Lesestückes hervorgehen soll, für den Zögling da­durch erhöht, daß der Zögling vollständig alle Nuancen versteht, daß er dem Gefühl nach wenigstens, instinktiv, versteht, was in dem Ge­dichte darin ist. Man braucht keine Spintisiererei, keinen gelehrten Kommentar an einem Gedicht oder Lesestück zu entwickeln, aber man soll das Kind vollständig heraufheben zum gefühlsmäßigen Verständ­nis eines Lesestückes. Daher versuche man immer, das eigentliche Lesen eines Lesestückes zu allerletzt vorzunehmen, und alles das, was man tun will um des Verständnisses willen, das schicke man voran. Wenn man einigermaßen entsprechend das Richtige voranschickt, dann wirkt man nicht schulmeisterlich pedantisch, sondern man trägt dazu bei, daß nichts unerklärlich bleibt an dem Lesestück. Dann erhöht sich d& Genuß und die Befriedigung des Kindes.

Ich würde daher - Sie würden das etwas ausführlicher machen -etwa folgendes in der Klasse mit den Schülern vornehmen. Ich würde sagen:

«Seht einmal, liebe Kinder, ihr habt ganz gewiß schon einmal Hunde gesehen! Nun, wer hätte unter euch nicht schon Hunde gesehen! Der müßte ja hinter dem Ofen sich verkrochen haben. Und ihr habt bemerkt,

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daß nicht alle Hunde gleich sind. Sie sind sehr, sehr vonein­ander verschieden. Es gibt winzige Hunde, ganz kleine Hunde, grö­ßere Hunde und ganz große Hunde. Ihr habt euch schon manchmal vor den ganz großen Hunden gefürchtet. Vor den ganz kleinen, winzigen, fürchtet ihr euch nicht; vielleicht aber doch, weil sie einen manchmal in die Waden beißen.

Nun wollen wir uns heute einmal ein paar Hunde ansehen. Da habt ihr wohl schon oft auf der Straße einen Wagen mit Fleisch gesehen und davor einen Fleischerhund. Wenn ihr genau aufgemerkt habt, werdet ihr gesehen haben, daß er sonst vor der Fleischerbude sitzt und achtgibt, daß niemand das Fleisch stiehlt. Wenn jemand kommt und das Fleisch nimmt, der kein Recht hat dazu, so muß er ihn beißen, oder wenigstens muß er bellen. Nun werdet ihr einsehen, daß der Fleischerhund nicht ein kleines Tierchen sein darf. Nein, das ist ein großer Hund! Ihr werdet auch immer gesehen haben, kleine Knirpse sind nicht eingespannt vor den Fleischerwagen, sie sind auch nicht vor die Fleischerbude gesetzt.

Nun, solch einen Fleischerhund kann man vergleichen mit einem Menschen, der auf etwas achtzugeben hat. Man kann oft Tiere ver­gleichen mit den Menschen. Was die Tiere aus Instinkt zu tun haben, das müssen die Menschen oft aus Pflicht tun. Ähnliche Sachen müssen so die Menschen und die Tiere tun, und deshalb kann man sie auch vergleichen.

Wenn zum Beispiel ein Mensch auf etwas aufzupassen hat wie der Fleischerhund vor der Fleischerbude, dann wird der Mensch sich etwas angewöhnen. Wenn einer kommt und etwas nehmen will, so wird er ihn beim Kamm nehmen - ja, so sagt man, wenn man jemand aufmerksam macht, daß er etwas nicht tun darf; so sagt man. Man sagt: , wenn man den Betreffenden hält. Beim Menschen sind es die Haare, es ist nicht ein richtiger Kamm. Man nimmt ihn bei den Haaren. Das tut ihm weh, daher reißt er nicht aus; daher tut man das. Und solche Sachen sagt man nicht so geradewegs, denn wenn man geradewegs so sagt: , so klingt es zu wenig spaßig. Es muß immer im Leben ein wenig Spaßiges beigemischt sein, daher sagt man: . Der Mensch hat Haare;

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der Mensch ist manchmal etwas frech. Der Hahn ist fast immer frech; er hat einen Kamm. Deshalb sagt man: So könnte man sich schon ganz gut vorstellen, wenn zum Beispiel ein anderes freches Vieh kommt und will sich aus der Fleischerbude ein Stück Fleisch holen, da könnte der Fleischerhund sagen: - Da hätte man einen ganz guten Vergleich gemacht zwischen dem Menschen und dem Hund.

Nun, ihr wißt, Kinder, es gibt auch noch andere Hunde, kleine, sie sind meist Faulenzer, elende Faulenzer! Sie liegen auf Kissen, sie liegen manchmal auch auf dem Schoß der Herrin. Kurz, es sind faule Kerle. Das sind die Polsterhündchen, die Schoßhündchen. So nützlich sind sie nicht wie der Fleischerhund. Der Fleischerhund, der dient zu etwas; die Polsterhündchen, die spielen nur, sind unnütz im Grunde. Aber der Fleischerhund wird, wenn irgend jemand etwas macht, was er nicht soll, ihn beim Kamm nehmen, das heißt ihn anfassen, packen und ordentlich durchschütteln. Das wird nützlich sein, denn das andere Tier wird dann das Fleisch nicht stehlen können. Das Polster- oder Schoßhündchen tut so etwas Nützliches nicht, das kläfft nur. Es kläfft jeden an, und namentlich, wenn andere große Hunde kommen, flugs ist das Schoßhündchen hinterher und kläfft und kläfft und kläfft. Aber Hunde, die bellen, die beißen nicht, so sagt das Sprichwort; so denken auch große Hunde, wenn sie vorbeigehen. Daher kann man auch sehen, wie große Hunde ganz gelassen vorbeigehen, die kleinen Kläffer kläffen lassen und sich denken: kläffende Hunde, die beißen nicht. - Mutig sind sie nicht, feig sind sie. Ein Fleischerhund muß im­mer schon Mut haben. Die Schoßhündchen, ja, die laufen nach und kläffen, aber wenn der andere sie anschaut, dann reißen sie gleich aus. Nun ja, seht ihr, diese Hündchen sind jedenfalls Faulenzer, machen nur Unnötiges auf der Welt und taugen zu nichts. Sie gleichen denjenigen Menschen, auf welche man nicht hören soll, wenn auch solche Men­schen einen sehr oft ankläffen.

Diese Polsterhündchen sind ganz klein, der Fleischerhund ist groß. Nun gibt es aber auch so mittelgroße. So einer ist nicht so groß wie der Fleischerhund, aber er ist größer als der Schoßhund. Von solch mitt­lerer Größe ist der Schäferhund. Dieser Schäferhund muß das Vieh

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hüten. In manchen Gegenden ist das schwerer als bei uns. In manchen Gegenden, wie zum Beispiel in Rußland, da kommen die Wölfe. Und der Hund muß achtgeben, daß kein Wolf kommt oder ein anderes Tier; da muß er immer um die Herde herumlaufen. Daher hat sich die Ge­wohnheit gebildet, daß der Hund immer um die Herde herumläuft. Es ist ja auch bei uns gut, daß der Hund um die Herde herumläuft, denn der Hirt schläft oft, und da könnte etwas Böses kommen und etwas von der Herde wegholen. Deshalb läuft der Schäferhund herum und hütet die Herde. Auch wenn kein Wolf da ist, ist es gut, wenn der Schäfer­hund herumläuft und die Herde hütet, und manchmal auch den Hir­ten hütet und ihn aufweckt. Es könnte manchmal auch vorkommen, daß ein Hirte gestohlen würde, wenn er schläft.

Also ein Hirtenhund, ein Schäferhund ist ein taugliches Wesen, ein nützliches Tier. Man kann sie auch vergleichen mit Menschen, die recht zum Leben stehen, die nicht unnütz sind wie die Faulenzer, die Polsterhündchen, die Schoßhündchen. Ja, es gibt solches auch im menschlichen Leben, diesen Unterschied zwischen solchen Menschen, die sind wie der Schäferhund, und solchen, die sind wie der Fleischer­hund. Nützlich sind sie beide, wenn auch die, wie der Fleischerhund, manchmal grob sind. Manchmal sind sie so, daß sie ganz das Richtige sn kurzer, treffender Rede sagen; daß sie so das Gefühl haben, man muß etwas bewachen, etwas hüten, man muß den Feind abwehren. Man kann den Schäferhund auch vergleichen mit Menschen, die mehr still ihre Arbeit verrichten, aber abwarten müssen, bis gerade die schweren Dinge ihrer Arbeit eintreten. Der Schäferhund läuft herum. Lange hat er nicht zu tun, aber er muß sich bereithalten, dann stark zu sein, mutig zu sein, gerüstet zu sein, wenn der Wolf oder ein anderer Feind kommt, um im rechten Augenblick zuzufassen. So sind auch manche Menschen verpflichtet, zu warten und wachsam zu sein, bis sse aufgerufen werden. Da dürfen sie sich nicht durch allerlei Kleinlich­keiten des Lebens kleinlaut machen lassen, müssen gerüstet bleiben bis zu dem Augenblick, wo sie das Richtige zu tun haben.»

Sehen Sie, so würde ich mit Kindern sprechen, damit sie auf die Tierwelt in einem besonderen Fall hingewiesen werden und ihre Ge­danken auf die Analogien zwischen Tieren und Menschen lenken.

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Wenn man so etwas besprochen hat, dann wird man das Folgende vor­lesen können, ohne daß man nötig hat, hinterher Erklärungen dazu abzugeben. Wenn man folgende kleine Erzählung erst ohne Erklärung den Kindern geben würde, dann würden sie nicht die volle Vorberei­tung haben, weil ihre Empfindungen und Gefühle nicht auf alles hin­gelenkt sind. Wenn man erst hinterher Erklärungen geben würde, würde man es pedantisch zerzausen, und sie würden es auch nicht richtig lesen können.

Der Schäferhund

Ein alter Hirtenhund, der seines Herrn Vieh treulich bewachte, ging abends heim. Da kläfften ihn die Polsterhündchen auf der Gasse an. Er trabt vor sich hin und sieht sich nicht um. Als er vor die Fleischbank kommt, fragt ihn ein Fleischerhund, wie er das Gebell leiden könne, und warum er nicht einen beim Kamm nehme. «Nein», sagte der Hir­tenhund, «es zwackt und beißt mich ja keiner, ich muß meine Zähne für die Wölfe haben.»

Dann braucht man gar nichts mehr zu den Kindern zu sagen; man muß vorher vorbereiten, daß es die Kinder verstehen.

Ein anderes Mal sprechen Sie zu den Kindern das Folgende: «Meine lieben Kinder! Ihr seid schon öfter spazierengegangen, seid spazieren­gegangen auf der Wiese, zwischen den Feldern, aber auch im Wald, auch manchmal so am Rand, wo der Wald an die Wiese grenzt. Wenn ihr im Wald drinnen geht, dann geht ihr ganz im Schatten; aber wenn ihr so am Rande des Waldes geht, dann kann von der einen Seite auch noch recht scharf die Sonne scheinen. Dann könnt ihr, wenn an den Wald eine Wiese angrenzt, ganz ruhig betrachten, wie die Blumen wach­sen. Es wird immer ganz gut für euch sein, wenn ihr besonders die Plätze aussucht für eure Spaziergänge, wo Wald und Wiese aneinander grenzen. Dann könnt ihr immer bald im Wald, bald auf der Wiese etwas aussuchen. Da könnt ihr immer von neuem betrachten, wie das Gras wächst, und wie die Pflanzen und die Blumen im Gras drinnen wachsen.

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Aber seht, ganz besonders lieblich und angenehm ist es, wenn man nicht bloß durch den Wald und auf die Wiesen gehen kann, sondern wenn die Wiesen noch besonders zwischen Bergen gelegen sind, in Tälern. Auf solchen Wiesen findet man noch viel Interessanteres als auf Wiesen, die zuviel von der Sonne beschienen werden. Talwiesen, die von den Bergen beschützt werden, die haben sehr schöne Blumen, und diese Blumen, die wachsen sehr häufig so, daß man sie auch zwi­schen dem Moos sieht, das da ganz besonders wächst in solchen Wiesen-tälern. Besonders die Veilchen, die sind gerade dort, wo das Moos benachbart ist.»

Jetzt kann man dann weiter mit den Kindern von Moos und Veil­chen sprechen, kann vielleicht ein Kind aufrufen, das Veilchen zu be­schreiben, ein anderes, das das Moos besprechen soll. Man kann sogar versuchen, wenn es gerade welche gibt, an dem Tage Veilchen und Moos mitzubringen. Sie sind ja beide zu gleicher Zeit zu haben.

Dann fährt man etwa fort: «Aber seht mal, liebe Kinder, wenn ihr solch ein Wiesental in der Nähe habt, dann könnt ihr erleben, daß ihr hinausgeht, und ihr seht nur Moos. Ja, dann geht ihr in acht Tagen wieder hinaus. Was seht ihr dann? Im Moos die Veilchen! Ja, die sind erst herausgewachsen, die waren früher im Moos drin versteckt. Ihr merkt euch das. Und wenn ihr das nächste Jahr hinausgeht, dann könnt ihr noch eine größere Freude haben. Da denkt ihr: - Nun ver­sucht ihr, das Moos auseinander zu machen. Aha, da ist das Veilchen darin!

Es ist in der Natur, meine lieben Kinder, oftmals gerade so, wie es unter den Menschen ist. Da ist oftmals auch manches Gute und man­ches Schöne verborgen. Mancher Mensch wird nicht bemerkt, weil das Gute in ihm versteckt ist, weil es noch nicht gefunden ist. Man muß sich ein Gefühl dafür aneignen, die guten Menschen unter der Menge herauszufinden.

Ja, seht, liebe Kinder, man kann noch weiter das menschliche Le­ben mit der Natur vergleichen. Denkt euch einmal selbst so ein ganz gutes Menschenkind, dann werdet ihr auch finden, daß ein solches Menschenkind auch immer ganz gute, brave Worte redet. Nun gibt es

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bescheidene Menschenkinder und unbescheidene Menschenkinder. Be­scheidene Menschenkinder, die wird man weniger bemerken. Unbe­scheidene Menschenkinder, die werden aber bemerkt sein wollen.

Seht, das Veilchen ist ja recht schön, aber wenn ihr so dieses Veil­chen anschaut, wie es seine ganz lieblichen Veilchenblätter so hinauf­strafft, so werdet ihr doch merken: das Veilchen will bemerkt werden, es will angeschaut werden. Ich kann das Veilchen nicht vergleichen mit einem bescheidenen Kindchen, das sich zurückzieht und in der Ecke bleibt. Ihr könntet es nur vergleichen mit einem Kinde, das eigentlich sehr gerne gesehen wird. Ja, aber es zeigt sich doch nicht, wenn es im Moos versteckt ist? Ja, seht ihr, wenn ihr das Veilchen so anseht zwi­schen den Blättern, wie das herauskommt, und das Ganze wieder da aus dem Moose herauskriecht, das ist doch gerade so, als wenn das Veilchen ja gar nicht bloß gesehen sein möchte, als wenn es nicht bloß sich rie­chen lassen möchte; das ist doch so, als wenn es sich suchen lassen möchte:

- Dieses Veilchen, das ist so etwas wie ein nicht ganz bescheidenes Menschen­kind, aber auch so etwas wie ein schalkhaftes Menschenkind.»

Es ist ganz gut, wenn man mit den Kindern solche Parallelen, solche Analogien zwischen Natur und Menschenwesen durchspricht, damit sich alles, was in der Nähe des Kindes ist, belebt.

Es wird gut sein, alle solche Besprechungen mit den Kindern als Vorbereitung zu halten, um von den Kindern irgend etwas genießen zu lassen. Nach dem Lesestück sollen überhaupt Erklärungen nicht mehr gegeben werden. Nicht wahr, es wäre doch Unsinn, wenn ich anfangen wollte, Ihnen jetzt auf chinesisch etwas vorzutragen. Sie würden sagen: Na, das hat doch keinen Sinn; Chinesisch haben wir doch nicht gelernt. - Wenn Sie aber alle Chinesisch kennen würden, und ich zu Ihnen sprechen würde, würden Sie es höchst langweilig finden, wenn ich Ihnen hinterher alles erklären wollte. So soll man es aber auch mit einem Lesestück halten: alles tun, was es zum Genuß bringen kann.

Etwas ausführlicher, indem Sie die Kinder recht viel mittun lassen, reden Sie so über Bescheidenheit der Menschen und Unbescheidenheit und Koketterie, und dann lesen Sie ihnen vor:

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Ei, was blüht so heimlich am Sonnenstrahl?

Das sind die lieben Veilchen, die blühn im stillen Tal,

Blühen so heimlich im Moose versteckt,

Drum haben auch wir Kinder kein Veilchen entdeckt.

Und was steckt sein Köpfelein still empor?

Was lispelt aus dem Moose so leise, leis' hervor?

«Suchet, so findet ihr! suchet mich doch!»

Ei, warte, Veilchen, warte! wir finden dich noch!

Hoffmann von Fallersleben

Wenn Sie das Kind die Sprache des Gedichtes gelehrt haben, dann kann das Kind in allen Nuancen mitmachen, dann brauchen Sie nicht hinterher durch einen Kommentar und Pedanterie ihm den Eindruck zu verderben. Das ist es, was ich Ihnen zur Behandlung von Lese­stücken empfehlen möchte, weil Sie dadurch die Gelegenheit haben, vieles mit den Kindern zu besprechen, was dem Schulunterricht über­haupt angehören soll, und weil Sie dem Kinde ungeteilte Befriedigung geben können in solchem Lesestücke. Das ist es also, was ich Ihnen mit Bezug auf die Behandlung des Lesestückes ans Herz legen möchte.

Jetzt wollen wir fortfahren in der Behandlung der Kindesseele. Ich habe Sie gestern gebeten, nachzudenken, wie man behandeln soll Frömmlinge, Brävlinge; Bravlinge, die sich durch ihre Scheinheilig­keit, Bravheit vordrängen, sich aber nicht zum Nutzen der Klasse aus-leben.

Es folgen Ausführungen der Anwesenden.

Rudolf Steiner: Ich habe diese Frage besonders aus dem Grunde gestellt, weil es schwierig ist, zu unterscheiden zwischen schädlichen und nützlichen Brävlingen. Man muß beachten, ob man es mit solchen zu tun hat, die später wirklich einmal eine Rolle spielen. Die sind auch so. Sie sind nützliche Brävlinge, aber unbequem.

Da könnte man die Geschichte erzählen, wie der Esel zu seinen Ohren kam.

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Man kann auch schärfere Mittel anwenden gegen besondere Bräv­linge. Man sollte sie aber nicht vor der Klasse bloßstellen und beschä­men. Das wirkt zuviel. Man kann aber einem Streber übergroße Lei­stungen, zum Beispiel Stabübungen auferlegen und dann die Tatsachen sprechen lassen, so daß das Kind sieht, daß es die Leistung nicht er­füllen kann, und daß es das dem Lehrer sagen muß. Dadurch zeigt sich, ob das Streben echt ist.

Es geben noch andere Teilnehmer Darstellungen hierzu.

Rudolf Steiner faßt am Schluß folgendermaßen zusammen: Ja, im wesentlichen ist ja bei dieser Diskussion die Sache schon herausge­kommen, um die es sich handelt.

Das erste wird sein, daß man versucht, sorgfältig festzustellen, ob es sich handelt um ein berechtigtes Hervortun der begabteren Schüler, die mehr leisten können. Bei diesen wird man darauf sehen, daß nicht die größere Begabung in ehrgeizigen Egoismus übergehe. Man wird versuchen, das, was sie mehr können, für die anderen fruchtbar zu machen. Einen solchen Brävling wird man im Sinne seines größeren Könnens etwas machen lassen, was den anderen zugute kommt, so daß er nicht nur für sich, sondern auch für die anderen mitarbeitet. Kann er besser rechnen, so läßt man ihn den anderen vorrechnen und die anderen sich an ihm hinaufranken. Wenn er dann vom Lehrer die Folge seiner Gesinnung erfährt, die sich so ausdrücken kann: «Der Müller ist ein guter Junge. Seht, der Müller, der kann ja recht viel. Solche Men­schen können den anderen viel nützen. Und ich lobe euch nun alle dafür, daß ihr von dem Müller so viel gelernt habt.» - Also überleiten das Lob auf den einen in das Lob für alle!

Hat man solche richtige hervorragende Schülerbegabung abgeson­dert, und hat man die wirklichen Brävlinge, die immer existieren, aus­gesondert, dann kennt man sie, und man wird sie fast immer durch Vereinigung von zwes Methoden zu behandeln haben.

Das erste wird sein, daß man mit ihnen, nicht vor der Klasse selber, sondern unter vier Augen reden wird. So daß sie einsehen, sie sind durchschaut. Man redet mit ihnen sehr eindringlich: «Ihr macht dieses, ihr mach das», und man charakterisiert auch diese Eigenschaften und

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legt nachher in diesem Falle die Sache auf die persönliche Note. «Ihr könnt das immer machen, ihr könnt das immer wieder und wieder machen. Ihr glaubt, das sei mir angenehm, ihr tut mir damit einen Ge­fallen? Nein, ich will das gar nicht haben. Es ist mir unangenehm!» Nicht vor der Klasse, aber unter vier Augen spricht man so zu ihnen. Das ist das eine. Man macht dem Schüler ganz klar, daß man ihn durchschaut.

Das andere ist dieses: Man stellt ihm Aufgaben, die ihm zu groß sind, und versucht, ihm klarzumachen, wenn er diese übergroßen Auf­gaben lösen muß, so ist es deshalb, weil er sich hervortun will. Es ist schwerer für ihn, diese Eigenschaften zu bekämpfen, als übergroße Aufgaben zu lösen. Aber unangenehmer ist es für ihn, diese Aufgaben zu machen. Deshalb wird er sich bemühen. Wir müssen ihm sagen, daß er solche Aufgaben deshalb bekommt, weil er sich hervordrängt. Aber wenn er diese Eigenschaften bekämpft, wird er keine anderen Aufgaben machen müssen als die übrige Klasse.

Man kann aber namentlich die beiden Dinge für einen Schüler oder eine Schülerin zusammenkoppeln und wird dadurch, daß man ihm sagt, daß man ihn durchschaut, und ihm sagt, daß er solche Aufgaben deshalb bekommt, weil er sich vordrängt, durch das Zusammenkoppeln dieser beiden Sachen sicher viel erreichen. Sie werden sehen, daß Sie den Schüler nach einiger Zeit kuriert haben werden, wenn Sie diese Me­thoden anwenden.

Wir werden ja noch manche größere Aufgabe zu lösen haben in diesen Seminarstunden. Für morgen aber möchte ich noch eine ähnliche Aufgabe stellen, die mit der letzten etwas verwandt, aber doch wieder anders ist, und bei deren Behandlung auch die Eurythmie in Betracht zu ziehen ist. Verzeihen Sie, daß ich diese Aufgabe stelle, aber sie gehört in das Gebiet der Didaktik: Was hat man zu tun, wenn sich unter den Schülern oder Schülerinnen ein besonderer Schwarm ent­wickelt für den Lehrer oder die Lehrerin?

«Schwarm», versteht jemand das nicht? Wenn ein Schüler schwärmt für eine Lehrerin oder umgekehrt, eine Schülerin für einen Lehrer, oder eine Schülerin für eine Lehrerin oder ein Schüler für einen Lehrer. Es

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kommen ja alle diese betreffenden Nuancen vor. Dieses tatsächlich richtige Schwärmen, das sehr störend auf die Fortführung des Unter­richts wirken kann, dies bitte ich Sie zu bedenken, wie das zu behan­deln ist.

Es muß schon in einem Grade vorhanden sein, daß es wirklich den Unterricht stört. Ich meine natürlich durchaus nicht das echte Respek­tieren, die richtige Achtung, und auch nicht ein richtiges Hinneigen in Liebe zur Lehrerin oder zum Lehrer, sondern eben dieses, was den Un­terricht stört durch ein ungesundes Schwärmen, wie es ja häufig in den Klassen vorkommt.

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SIEBENTE SEMINARBESPRECHUNG Stuttgart, 28. August 1919

Rudolf Steiner: Heute wollen wir eine Übung probieren, die dazu bestimmt ist, den Atem etwas länger zu machen.

Sprechübung: Erfüllung geht

Durch Hoffnung

Geht durch Sehnen

Durch Wollen

Wollen weht

Im Webenden

Weht im Bebenden

Webt bebend

Webend bindend

Im Finden

Findend windend

Kündend

Erreichen werden Sie das, was erreicht werden soll, nur, indem Sie die Zeilen richtig abteilen. Dann werden Sie den Atem richtig rhyth­misieren. Diese Übung bezieht sich darauf, daß man mit der Stimme turnt, um den Atem zu regulieren.

In Worten wie «Erfüllung», «Wollen» müssen beide 1 gesprochen werden. Man darf nicht ins erste 1 ein h hineinsprechen, sondern man muß beide 1 nebeneinander sprechen. Man muß ferner versuchen, nicht scheppernd zu sprechen, sondern Ton in die Stimme zu bekommen, tiefer aus der Brust herauszuholen, möglichst volle Vokale zu spre­chen, damit das Blecherne heraus kommt. - Alle Österreicher haben das Blech in der Stimme. Mehr Kugelluft.

Vor einer jeden der oben abgeteilten Zeilen soll der Atem bewußt sich in Ordnung bringen. Die zusammenstehenden Worte müssen auch zusammengehörig gelesen werden.

Sie wissen ja, für gewöhnlich macht man etwa die folgenden Sprech­übungen:

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Barbara saß straks am Abhang

Oder: Barbara saß nah am Abhang

Oder: Abraham a Sancta Klara kam an

Lesen einer Fabel von Lessing.

Das Roß und der Stier

Auf einem feurigen Rosse flog stolz ein dreister Knabe daher. Da rief ein wilder Stier dem Rosse zu: «Schande! Von einem Knaben ließ ich mich nicht regieren!» «Aber ich», versetzte das Roß, «denn was für Ehre könnte es mir bringen, einen Knaben abzuwerfen?»

Rudolf Steiner (nachdem alle die Fabel vorgelesen haben): Sie wer­den wohl, nachdem Sie das schon so oft gehört haben, das Gefühl ha­ben, daß das so geschrieben ist, wie man Fabeln und viele Dinge im 18. Jahrhundert eben geschrieben hat. Man hat so das Gefühl, daß sie nicht ganz fertig geworden sind, wie manche Dinge damals nicht ganz fertig geworden sind.

Rudolf Steiner verliest die Fabel noch einmal und sagt dann: Jetzt, im 20. Jahrhundert, würde man die Fabel etwa in folgender Weise fortführen können:

Stierehre! Und suchte ich die Ehre, indem ich störrisch stehen bliebe, so wäre das nicht Pferdeehre, sondern Eselsehre.

So würde man es in der jetzigen Zeit machen. Dann würden die Kin­der auch gleich merken, daß es drei Ehren gibt: eine Stierehre, eine Pferdeehre und eine Eselsehre. Der Stier wirft ab, das Pferd trägt den Knaben ruhig weiter, weil es ritterlich ist, der Esel bleibt störrisch stehen, weil er darin seine Ehre sieht.

Rudolf Steiner: Nun möchte ich heute zunächst Material schaffen für die morgige didaktische Stunde, da wir morgen insbesondere die Betrachtung der Lebensalter zwischen dem siebenten und dem vier­zehnten, fünfzehnten Jahr ins Auge fassen wollen. Es wird sich heute darum handeln, daß wir manches durchsprechen, was Ihnen Anwei­sung

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sein kann. Und dann brauchen Sie zu dem, was ich Ihnen heute als Anleitung gebe, nichts weiter hinzuzufügen, als daß Sie ein ge­bräuchliches Handbuch in die Hand nehmen und die einzelnen Tat­sachen dann ergänzen, die zu dem gehören, was wir heute besprechen. Es wird sich heute darum handeln, daß wir viel weniger darauf sehen, immer unser stoffliches Wissen beieinander zu haben, als daß wir vielmehr darauf sehen, den Geist eines zukunfttragenden Unterrichts in uns zu hegen und zu pflegen. Sie werden sehen, daß das, was wir heute besprechen, für die älteste Schulkindergattung in Betracht kommt.

So möchte ich mit Ihnen besprechen, was mit der Kulturentwicke­lung Europas, so vom ii. bis 17. Jahrhundert, zusammenhängt. Sie werden nicht aus den Augen verlieren dürfen, daß das Durchnehmen geschichtlicher Dinge mit Kindern, und auch schließlich mehr oder weniger mit Erwachsenen, immer ein subjektives Element in sich ha­ben muß. Man hat leicht sagen, man soll bei Geschichtsdarstellungen nicht Meinungen und subjektive Ideen in die Geschichte hineintragen. Verlangen kann man es, aber erfüllt werden kann es nicht. Denn neh­men Sie irgendeine Partie der Geschichte auf irgendeinem Gebiete; Sie werden mindestens die Tatsachen gruppieren müssen, entweder selbst, oder wenn die Tatsachen weiter zurückliegen, so sind sie schon gruppiert, dann haben andere sie gruppiert.

Nehmen Sie an, Sie schildern den Geist der alten Germanen, so werden Sie die «Germania» des Tacitus heranziehen. Aber der Tacitus war gar sehr ein subjektiver Geist; er hat das, was er herangebracht hat, schon gar sehr gruppiert. Sie dürfen nicht hoffen, daß Sie anders zurechtkommen, als eine subjektive Gruppierung von Tatsachen ent­weder selbst aufzustellen oder von anderen zu übernehmen.

Sie brauchen sich ja das nur an Beispielen klarzulegen. Sehen Sie einige Literaturbeispiele an:

Treitschke hat eine mehrbändige «Deutsche Geschichte des 19.Jahr-hunderts» geschrieben. Sie hat das Entzücken Herman Grimms, der doch auch ein fähiger Beobachter war, hervorgerufen; sie hat das Ent­setzen hervorgerufen vieler Angehöriger der Entente. Aber wenn Sie Treitschke durchlesen, so werden Sie gleich das Gefühl haben, daß gerade seine Vorzüge auf seiner stark subjektiven Färbung in der Gruppierung

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der Tatsachen beruhen. Es kommt ja in der Geschichte darauf an, daß man ein Urteil hat über die in der Geschichte treibenden Kräfte und Mächte. Nun handelt es sich darum, daß bei dem einen das Urteil reifer, beim anderen weniger reif ist, und der also gar nichts urteilen sollte, weil er gar nichts versteht von den treibenden Kräften. Der andere wird gerade, wenn er gute subjektive Urteile hat, den geschicht­lichen Fortgang sehr gut schildern.

Herman Grimm hat Friedrich den Großen geschildert, Macaulay hat auch Friedrich den Großen geschildert. Aber man bekommt ein vollständig verändertes Bild von Friedrich dem Großen durch Mac­aulay. Herman Grimm hat seinen Artikel sogar als eine Art Rezen­sion des Macaulayschen Artikels verfaßt und hat von seinem Gesichts­punkte aus gesagt: Der Friedrich der Große des Macaulay «ist ein verzwicktes englisches Lordsgesicht mit Schnupftabak an der Nase.» Der Unterschied ist nur der, daß Herman Grimm ein Deutscher des 19. Jahrhunderts ist, und Macaulay ein Engländer des 19. Jahr­hunderts. Und derjenige, der als Dritter beides beurteilt, würde eigent­lich sehr engherzig sein, wenn er das eine richtig, das andere falsch findet.

So könnte man noch viel drastischere Beispiele auswählen. Viele von Ihnen kennen die Schilderung Martin Luthers aus den gewöhnlichen Geschichtsbüchern. Machen Sie nur einmal das Experiment und lesen Sie dasselbe in katholischen Geschichtsbüchern durch, da werden Sie einen Martin Luther kennenlernen, den Sie bisher noch nicht gekannt haben! Wenn Sie es durchgelesen haben, da werden Sie in Verlegenheit sein, zu sagen, daß der Unterschied ein anderer ist, als der, der sich aus verschiedenen Gesichtspunkten ergibt. Nun werden solche Gesichts­punkte, wie sie aus dem Nationalen oder aus dem Konfessionellen stammen, eben gerade von der Lehrerschaft der Zukunft überwunden werden müssen. Deshalb muß man so sehr anstreben, die Lehrerschaft weitherzig zu bekommen, die Lehrerschaft auf den Standpunkt zu stellen, eine weitherzige Weltanschauung zu haben. Von diesem Ge­sichtspunkte aus wird sich auch ein freier Ausblick bieten über die geschichtlichen Tatsachen, und man wird sie so gruppieren, daß man dem Schüler die Geheimnisse des Menschheitswerdens überträgt.

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Wenn Sie nun etwas über die Kultur vom ii. bis 17. Jahrhundert an Ihre Schüler übertragen sollten, so würden Sie da in erster Linie schil­dern, was zu den Kreuzzügen geführt hat. Sie würden schildern den Verlauf des ersten, zweiten, dritten Kreuzzuges. Wie die Kreuzzüge allmählich versumpft sind und nicht dasjenige erreicht haben, was durch sie hätte erreicht werden sollen. Sie würden schildern den Geist der Askese, der dazumal durch einen großen Teil von Europa ging; wie überall aus der Verweltlichung der Kirche, oder doch im Zusam­menhang mit dieser Kirchenverweltlichung, Naturen hervorgingen wie Bernhard von Clairvaux, die voll inniger Frömmigkeit waren, von einer solchen Frömmigkeit, daß sie den Eindruck von Wunderwirkern auf ihre Umgebung machten. Sie würden versuchen, aus einem Hand­buch solche Gestalten biographisch kennenzulernen und sie lebendig vor Ihre Schüler hinzustellen, und würden versuchen, solchen leben­digen Geist aufwirbeln zu lassen, aus dem sich die für die damalige Zeit mächtigen Züge nach dem Orient entwickelt haben. Sie würden zu schildern haben, wie damals die Züge zustande gekommen sind durch Peter von Amiens und Walter von Habenichts; dann der Zug von Gott­fried von Bouillon und einigen anderen.

Sie werden dann schildern, wie diese Züge sich nach dem Orient in Bewegung gesetzt haben und wie ungeheure Mengen von Menschen umgekommen sind, oftmals ehe sie den Orient erreicht haben. Sie wer­den durchaus dreizehn- bis vierzehnjährigen Jungen und Mädchen schildern können, wie diese Züge sich zusammensetzten, wie sie sich in Bewegung setzten und sich ungeordnet nach dem Orient zu bewegten, und wie durch die Ungunst der Verhältnisse, aber auch im Durch­drängen durch fremde Völker viele Menschen zugrunde gingen.

Sie werden dann auch zu schildern haben, wie diejenigen, die im Orient ankommen, erst ein Weniges erreichen. Sie werden die Erfolge des Gottfried von Bouillon schildern, werden dann aber zeigen, wie sich ein Gegensatz ergibt zwischen den Kreuzfahrern der folgenden Kreuzzüge und der griechischen Politik. Wie die griechischen Völker eifersüchtig werden auf die Taten der Kreuzfahrer und den Gegensatz fühlen zwischen dem, was diese wollten, und dem, was die Griechen vorhatten mit dem Orient; wie die Griechen im Grunde genommen

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ebenso die orientalischen Interessen einbeziehen wollten in ihre In­teressensphäre wie die Kreuzfahrer in die ihrige. Ich würde Sie bitten, recht anschaulich zu schildern, wie der Gegensatz der Griechen auf­gerufen wird gegen das Wollen der Kreuzfahrer.

Dann würde ich meinen, daß Sie schildern sollten, wie im Orient die kämpfenden Kreuzfahrer, statt die orientalischen Völker in West-asien zu bekämpfen, sich untereinander bekämpfen; wie die euro­päischen Völker selber sich aufeinanderhetzen, wie namentlich die Franken und ihre Nachbarvölker durch die Ansprüche, die sie erheben an das, was erobert worden war, wiederum hintereinanderkommen und sich untereinander bekämpfen. Die Kreuzzüge sind aus feurigem En­thusiasmus zustande gekommen, aber der Geist der Zwietracht ergriff die Teilnehmer der Kreuzzüge, und dann kam auch noch der Gegen­satz zwischen Griechen und Kreuzfahrern herauf.

Zu alldem kam dazu der Gegensatz, der sich immer mehr und mehr geltend machte, zwischen der Kirche und den weltlichen Mächten, gerade im Zeitalter der Kreuzzüge. Und es ist vielleicht nicht unnötig, schon den Kindern etwas zum Bewußtsein zu bringen, was wahr ist, was aber durch die tendenziöse Geschichtsschreibung in allen wesent­lichen Punkten verhüllt worden ist. Gottfried von Bouillon, der Füh­rer des ersten Kreuzzuges, hatte eigentlich die Absicht, Jerusalem aus dem Grunde zu erobern, um ein Gegengewicht gegen Rom aufzurich­ten. Das sagten er und seine Begleiter den anderen nicht öffentlich; aber im Herzen trugen sie den Kampfruf: «Jerusalem gegen Rom!» Sie sagten sich: Bringen wir Jerusalem in die Höhe, damit es werden könne der Mittelpunkt des Christentums, damit nicht mehr Rom das sei. -Sie werden den Kindern diese Grundstimmung der ersten führenden Kreuzfahrer in taktvoller Weise übertragen, das wird wichtig sein.

Große Aufgaben waren es, die die Kreuzfahrer sich gestellt hatten, und auch diejenigen Aufgaben waren große, die sich nach und nach aus den Verhältnissen selber herausstellten für die Kreuzfahrer. Und die Menschen waren nach und nach zu klein, um diese Aufgaben ohne Schaden auf sich geladen zu sehen. Dadurch kam es, daß unter den Kreuzfahrern während der heftigsten Kämpfe allmählich Sittenlosig­keit und Unmoralität ausbrach.

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Nehmen Sie irgendein Handbuch, damit Sie die Tatsachen wie illu­strierend in diesen allgemeinen Gang der Ereignisse hineinstellen kön­nen. Sie werden bemerken, daß ich heute, indem ich gruppiere, wahr­haft nicht tendenziös schildere. Und auch weiterhin werde ich versu­chen, rein kulturhistorisch zu schildern, was sich vom ii. bis 17.Jahr-hundert in Europa zutrug.

Nehmen wir einmal an - was ja eine Hypothese ist, aber manchmal kann man sich gerade durch Hypothesen den Gang der Geschichte klarmachen -, die Franken hätten Syrien erobert und hätten in Syrien eine fränkische Herrschaft aufgerichtet, hätten sich mit den Griechen verständigt, hätten den Griechen Raum gelassen und ihnen mehr die Herrschaft im vorderen Teil von Kleinasien überlassen. Dann hätten sich alte Traditionen der Griechen erfüllt und Nordafrika wäre grie­chisch geworden. Ein Gegengewicht wäre geschaffen gewesen gegen dasjenige, was nachher geschah. Es hätten die Griechen eine Herrschaft ausgeübt über Nordafrika, die Franken über Syrien. So wären sie nicht alle untereinander in Streit gekommen und dadurch verlustig gegan­gen dieser Herrschaft. Dann wäre verhindert worden, daß gerade vor-gebrochen wären die schlimmsten asiatischen Völker, die Mongolen, die Mamelucken und die türkischen Osmanen. Durch das Unmoralisch-sein und dadurch, daß zuletzt die Kreuzfahrer ihren Aufgaben nicht gewachsen waren, kam es, daß sich die Mongolen, Mamelucken und Osmanen gerade auf den Gebieten ausgebreitet haben, welche die Kreuzfahrer versuchten zu europäisieren. Und so sehen wir, wie auf den großen, weite Volksgebiete umfassenden Enthusiasmus, der zu den Kreuzzügen geführt hat, der Gegenstoß von der anderen Seite kommt:

der muselmanisch-mongolische Vorstoß, der Militärdespotien errichtet und der durch lange Zeit der Schrecken Europas und der dunkle Schat­ten der Kreuzzugszeit bleibt.

Sehen Sie, während Sie solche Dinge schildern, indem Sie sich aus den Handbüchern die Bilder verschaffen, die Sie dazu brauchen, er­wecken Sie in den Kindern selber Bilder über die Kulturentwickelung, die bleibend sind. Und daß die Kinder Bilder bekommen, das ist das Wichtige. Die Bilder werden sie bekommen zunächst durch anschau­liche Schilderung. Können Sie dann dahin kommen, irgendwie beträchtliche

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malerische Darstellungen aus dieser Zeit auch als Kunstwerke darzubieten, so werden Sie das gesprochene Wort gern durch so etwas unterstützen.

Nun haben Sie den Kindern klargemacht zunächst dasjenige, was in den Kreuzzügen geschehen war. Und Sie haben die Kinder dazu gebracht, innerlich Bilder davon aufzunehmen. Jetzt wird es gut sein, daß Sie zu dem Schattenbild des mongolisch-mohammedanischen Schreckens hinzufügen das Gegenbild, das Gute, das sich entwickelt hat.

Schildern Sie anschaulich, wie die Pilger, die nach dem Orient ge­zogen sind, noch ganz anderes, viel Neues kennengelernt haben. In Europa war die Landwirtschaft damals noch sehr weit zurück. Im Orient konnte man eine sehr viel bessere Bewirtschaftung der Lände­reien kennenlernen. Die Pilger, die nach dem Orient gekommen sind und nachher wieder nach Europa zurückkehrten - es kamen ja noch viele zurück -, die haben eine ausgebildete Kenntnis landwirtschaft­lichen Betriebswesens mitgebracht, und es kam wirklich ein Auf­schwung der landwirtschaftlichen Produktion. Den verdankt man in Europa den Erfahrungen, welche die Pilger nach Europa mitbrachten.

So anschaulich, daß es das Kind förmlich sieht, schildern Sie, wie der Weizen und das Korn schlechter gewachsen sind vor den Kreuz­zügen, wie sie niedriger waren, wie sie schütterer waren, weniger voll waren, und wie sie nach den Kreuzzügen voller waren - das alles in Bildern! Dann schildern Sie, wie die Pilger wirklich auch kennen­gelernt haben, was der Orient damals hatte an Industriellem, was Europa damals noch nicht hatte. Es war der Okzident um vieles hinter dem Orient zurück. Was sich dann so schön herausbildet an indu­strieller Tätigkeit in den Städten Italiens, auch in den mehr nördlich gelegenen Städten, das ward den Kreuzzügen verdankt. Und auch Künstlerisches wird den Kreuzzügen verdankt. Da können Sie also Bilder hervorrufen von dem geistigen Kulturfortschritt in dieser Zeit.

Aber Sie können den Kindern auch schildern und sagen: «Seht ihr, Kinder, da haben die Europäer zuerst die Griechen kennengelernt; die sind schon im ersten Jahrtausend abgefallen von Rom, sind aber Chri­sten geblieben. In allen westlichen Gegenden hat man geglaubt, daß

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man überhaupt kein Christ sein kann, ohne zu dem Papst als oberstem Haupt der Kirche emporzuschauen.» Jetzt mache man den Kindern klar, wie die Kreuzfahrer kennengelernt haben, zu ihrer großen Über­raschung und Belehrung, daß es auch Christen gibt, die nicht den römi­schen Papst anerkennen. Dieses Loslösen der geistigen Seite des Chri­stentums von der weltlichen Kircheneinrichtung, das war etwas ganz Neues damals. Das mache man den Kindern klar.

Dann, daß unter den Muselmanen, die ja wenig erfreuliche Erden-bürger waren, es aber doch auch edle, freigebige, tapfere Menschen gab. Und dadurch haben die Pilger Menschen kennengelernt, die sogar tapfer und freigebig sein konnten, ohne Christen zu sein. Man konnte also sogar ein guter, tapferer Mensch sein, ohne Christ zu sein. Das war eine große Lehre, die für die damaligen Menschen Europas durch die Kreuzfahrer nach Europa zurückgebracht worden ist.

Also eine ganze Menge haben die Kreuzfahrer sich erobert im Orient, was sie für die geistige Kultur nach Europa gebracht haben.

Man macht den Kindern klar: «Seht, die Europäer, sie hätten nicht einmal Kattun, ja sie hätten nicht einmal ein Wort dafür. Sie hätten kein Musselin, auch das ist ein orientalisches Wort. Sie könnten sich nicht niederlegen, zurückräkeln auf ein Sofa, denn das Sofa haben die Kreuzfahrer, mit dem Ausdruck Sofa, erst mitgebracht. Sie hatten auch keine Matratze, auch Matratze ist ein orientalisches Wort. Auch der Bazar gehört hierher, was gleich auf eine ganze Gesinnung gegenüber dem öffentlichen Schaustellen von Erzeugnissen hinweist, was Schau­stellungen im großen produziert. Bazare haben die Orientalen nach ihrer Gesinnung im weiten Umfange gemacht. In Europa gab es früher nicht etwas Ähnliches, bevor die Europäer die Kreuzzüge unternom­men haben. Sogar das Wort Magazin ist kein europäisches, so sehr es mit Handeln und so weiter zusammenhängt. Diese Art, Magazine zu brauchen wegen des Umfangreichen des Handelns, das haben die Euro-päer erst von den Orientalen gelernt. - Man kann sich vorstellen)>, sagt man zu den Kindern, «wie eingeschränkt das Leben in Europa war, daß sie nicht einmal Magazine gebraucht haben. Auch das Wort Arse­nal gehört hierher. Aber seht, etwas anderes haben die Europäer auch gelernt bei den Orientalen; das haben sie sich mitgebracht in dem Wort

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Tarif. Steuerzahlen, das kannten die europäischen Völker bis zum 13. Jahrhundert sehr wenig. Aber tarifmäßig Steuer bezahlen, allerlei Ab­gaben bezahlen, das wurde erst eingeführt in Europa, als die Kreuz­fahrer es bei den Orientalen kennenlernten.»

Also man sieht schon, es ist vieles, vieles anders geworden in Europa durch die Kreuzzüge. Von dem hat sich nicht viel erfüllt, was die Kreuzfahrer gewollt haben. Es hat sich aber anderes, Vielfaches an Umgestaltung von Europa vollzogen durch das, was man im Orient kennengelernt hatte. Das alles verband sich dann noch mit der An­schauung der orientalischen Staatswesen, denn das Staatswesen hat sich im Orient schon viel früher ausgebildet als in Europa. In Europa waren die Gebilde der Verwaltung viel loser vor den Kreuzzügen, als sie nach den Kreuzzügen waren. Daß man dann weite Territorien unter staatlichen Gesichtspunkten zusammenfaßte, das ist schließlich auch erst durch die Kreuzzüge gekommen.

Nun kann man aber auch - ich setze immer voraus, daß die Kinder das Alter haben, das ich angedeutet habe - sie mit folgendem bekannt­machen: «Seht, Kinder, ihr habt früher durch geschichtliche Erzählung erfahren, daß die Römer früher einmal ihre Herrschaft ausgebreitet haben. Damals, als die Römer ihre Herrschaft ausgebreitet haben im Beginne der christlichen Zeitrechnung, da wurde Europa sehr arm, im­mer ärmer. Wodurch kam dieses Armwerden? Man mußte sein Geld hergeben an andere. Mitteleuropa wird jetzt auch wieder arm werden, weil es sein Geld abgeben muß an andere. Damals mußten die Euro­päer ihr Geld an die Asiaten abgeben. An die Grenzen des Römer-reiches wanderten die Geldmassen. Dadurch kam immer mehr die Na­turalwirtschaft auf. Das ist etwas, was wieder passieren könnte, so traurig es wäre, wenn die Menschen sich nicht zum Geistigen aufraf­fen. Allerdings, in dieser Armut, da entwickelte sich der asketische, hingebungsvolle Geist der Kreuzzüge.

Jetzt aber lernten die Europäer durch die Kreuzzüge in Asien drü­ben allerlei Neues kennen, industrielles Produzieren, Landwirtschaft. Dadurch konnten sie wiederum Dinge hervorbringen, die ihnen die Asiaten abkaufen konnten. Das Geld wanderte wieder zurück. Europa wurde immer reicher, gerade während der Kreuzzüge. Diese Bereicherung

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Europas kam dadurch, daß es seine eigene Produktion erhöhte. Das ist eine weitere Folge. Die Kreuzzüge sind wahre Völkerwande­rungen nach Asien. Nach Europa kam wieder zurück ein gewisses Können. Nur durch dieses Können ist Florenz möglich und zu dem geworden, was es eben nachher war. Nur dadurch konnten sich Ge­stalten entwickeln wie Dante und andere.»

Sehen Sie, es wäre notwendig, daß man die geschichtliche Darstel­lung von solchen Impulsen durchzogen sein ließe. Wenn heute gesagt wird, man soll mehr Kulturgeschichte treiben, dann denken die Leute, sie müssen recht trocken schildern, wie das eine aus dem anderen folgt. Geschichte sollte aber auch schon auf diesen unteren Schulstufen so ge­schildert werden, daß man subjektiv dabei ist, daß man Bilder ent­wickelt, daß die Zeit wirklich aufersteht. Daß aufersteht das arme, nur mit schwachbesetzten Feldern überdeckte Europa, wo keine Städte waren, wo die Leute ihre Landwirtschaft betrieben, die aber spärlich war. Wie aber gerade aus diesem armen Europa hervorgeht die Be­geisterung für die Kreuzzüge. Wie dann die Leute ihrer Aufgabe doch nicht gewachsen sind, wie sie in Streit kommen, wie Unmoral um sich greift, wie sie dann in Europa selber in Streit geraten. Wie ge­rade dasjenige nicht erreicht wird, was durch die Kreuzzüge angestrebt wird, sondern im Gegenteil, wie Boden geschaffen wird für die Mu­selmanen. Wie aber der Europäer vieles lernte im Orient; wie Städte, blühende Städte entstehen und in den Städten eine reiche geistige Kultur. Aber auch wie die Landwirtschaft sich hebt, wie die Felder fruchtbarer werden, wie die Industrie aufblüht, wie auch die geistige Kultur sich hebt.

Das alles versuche man in anschaulichen Bildern vor die Kinder hinzustellen und ihnen klarzumachen, wie sich die Menschen vor den Kreuzzügen nicht hingeräkelt haben auf Sofas, wie sich Spießbürger­lichkeit noch nicht geltend machen konnte in den Familien auf Sofas in den guten Stuben. Versuchen Sie anschaulich diese Geschichte zu schildern, dann werden Sie eine wahrere Geschichte geben. Zeigen Sie, wie Europa arm geworden ist bis zur Naturalwirtschaft und wieder reich geworden ist durch das, was man gelernt hat. Das wird die Ge­schichte beleben!

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Man wird oftmals heute gefragt: Was soll man lesen, welche Ge­schichtsdarstellung ist die beste? - Man kann immer nur sagen: schließ­lich ist jede die beste und jede die schlechteste; es ist schon einerlei, welchen geschichtlichen Autor man zur Hand nimmt. Lesen Sie nicht in den Zeilen, sondern zwischen den Zeilen. Suchen Sie sich erahnend inspirieren zu lassen, den wahren Gang der Handlung kennenzulernen. Suchen Sie sich ein Gefühl dafür zu verschaffen, was geschichtliche Darstellung ist. An der Art werden Sie erkennen, welcher Geschichts­schreiber in die Wirklichkeit eingedrungen ist, welcher nicht.

Sie werden das eine oder andere bei Ranke lesen. Wenn Sie Ihre Geschichtslektüre bei Ranke mit dem durchdringen, was wir hier von Wirklichkeitsgeist in uns lebendig machen, werden Sie sagen: Ranke ist sehr fleißig, aber er schildert die Charaktere so, daß sie nur Schat­ten sind. Man kann überall durchgreifen; sie sind nicht Fleisch und Blut. Und Sie können sagen: Ich mag ja die Geschichte nicht nur als Schattenspiel haben.

Einer der Kursteilnehmer rät zu Lamprecht.

Rudolf Steiner: Aber man kann da schon das Gefühl haben, Lam­precht schildert Kulturgeschichte, nicht Menschen, sondern angestri­chene Pappfiguren, die er nur mit möglichst vollen Tönen anstreicht. Es sind nicht Menschen; sie schauen aus wie körperliche Menschen, sind aber nur angestrichene Pappendeckelfiguren. Da muß man schon sagen:

Treitschke mag tendenziös sein, aber die Treitschke-Persönlichkeiten, die stehen doch auf ihren Beinen! Er stellt die Menschen doch auf die Beine, und sie haben Fleisch und Blut. Sie sind nicht Pappendeckel wie bei Lamprecht, und sie sind nicht bloß Schattenfiguren wie bei Ranke. Leider gibt es von Treitschke nur die Geschichte des 19. Jahrhunderts.

Wollen Sie sich ein Gefühl aneignen von wirklich guter Geschichts­schreibung und für den Geist eines Geschichtserzählers, dann lesen Sie den Tacitus. Wenn Sie den Tacitus lesen, dann wird alles bis ins Wort hinein ganz lebendig. Dann steht die Zeit und die Menschen und die Menschengruppen, die der Tacitus schildert, die stehen, wenn Sie das alles auf Ihren Wirklichkeitssinn wirken lassen, da wie das Leben selber! Von da aus versuchen Sie, darauf zu kommen, wie man sich in eine andere Darstellung hineinlebt.

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Ganz Veraltetes kann man doch nicht lesen, sonst würde der feurige Rotteck noch immer etwas sehr Gutes sein. Aber er ist veraltet, nicht nur den Tatsachen nach, sondern der Gesinnung nach. Denn er be­trachtet als Evangelium die damalige badische Staatsverfassung und den Liberalismus, er interpretiert sie hinein schon in das persische und ägyptische und griechische Leben. Aber alles mit Feuer, so daß man wünschen möchte, daß es auch in unserer Zeit noch viele solche Ge­schichtsdarsteller gäbe wie Rotteck.

Wenn Sie nun versuchen, die gebräuchlichen Darstellungen zu lesen, und sich anstrengen, Ihr Augenmerk zu richten auf das, was dort oft­mals fallengelassen wurde, dann werden Sie sich geeignet machen, lebendige Bilder über die Geschichtsentwickelung vom ii. bis 17. Jahr­hundert hinzustellen. Und Sie werden Ihrerseits fallenlassen vieles, was da erzählt wird über Friedrich Barbarossa, über Richard Löwenherz, über Friedrich II. Es ist ja manches interessant, aber für die wirkliche Erkenntnis der Geschichte nicht besonders wichtig. Viel wichtiger ist es, den Kindern die großen Impulse der Geschichte zu vermitteln.

Jetzt gehen wir über zu unserer Aufgabe, wie wir eine Klasse be­handeln würden, in der eine Anzahl von Schülern oder Schülerinnen einen «Schwarm» für den Lehrer oder die Lehrerin entwickeln.

Die wirklich gefährlichen Schwarmereien beginnen eigentlich doch erst mit dem zwölften bis vierzehnten Jahr. Was über das schulmäßige Alter in dieser Beziehung hinausliegt, ist dann schon ein schwerer Fall. Vorher ist es bei diesen Dingen von besonderer Wichtigkeit, daß man nicht alles furchtbar ernst nimmt, und daß man weiß, daß vieles schon wieder vergehen wird.

Es folgt eine Besprechung, während derer sich viele Teilnehmer zu diesem Thema äußern.

Rudolf Steiner: Das öffentliche Blamieren vor der Klasse würde ich für ein sehr zweischneidiges Schwert halten, weil es zu lange anhält und den Schüler aus der Klasse herausreißt. Es wird sich sehr schwer ein Verhältnis solcher Kinder, die man blamiert hat, zu der übrigen Klasse wieder herstellen. Gewöhnlich führt es dann doch dazu, daß die Kinder erreichen, daß sie aus der Schule genommen werden.

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F. erwähnt unter anderem, was der Lehrer tun könne, auch das Gebet.

Rudolf Steiner: Sehr richtig!

F.: Man muß mit dem betreffenden Kir'de sprechen und die Zuneigung ablenken.

Rudolf Steiner faßt zusammen: Die Prinzipien sind richtig, abzu­lenken die Begeisterungsfähigkeit, abzulenken die Hingabe. Nur wer­den Sie darin nicht viel erreichen, wenn Sie sich viel unterhalten mit diesen Kindern, weil ihnen das ganz gut passen würde. Weil diese Schwärmerei viel mehr beruht auf Gefühlen und auch Leidenschaften, nicht auf der Vorstellung, so wird es außerordentlich schwer sein, wenn man der Leidenschaft entgegenkommt durch öfteres Beisammensein, ihr wirksam zu begegnen.

Richtig ist, daß das Schwärmen aus Begeisterung und aus Hingabe hervorgeht, die in falsche Bahnen laufen. Bei den begabten Kindern kommt mehr in Betracht die Begeisterungs fähigkeit, bei den schwachen, minderbegabten, die Hingabeanlage.

Die Sache ist an sich nicht so wichtig, aber sie wird wichtig wegen ihrer Folgen für die Beteiligung am Unterricht, weil die Kinder weniger lernen, wenn sie schwärmen.

Ein allgemeines Schwärmen der Kinder ist nicht zu schlimm, es hält nicht lange an. Das vergeht sehr schnell. Es kommen Vorstellungen in die Klasse, die sich nicht erfüllen. Das führt zu Enttäuschungen, und dann kuriert es sich von selber. Da kann auch eine humoristische Er­zählung vor der ganzen Klasse ganz gut sein. Gefährlich wird es erst, wenn Gruppen anfangen zu schwärmen.

Die ganze Sache war notwendig zu durchdenken, weil sie in der Schulpraxis eine Rolle spielen kann. Die Schwärmerei an sich ist nicht gerade das Schlimmste, aber ungesunde Schwärmerei macht schwach. Die Kinder werden dadurch lässig und lethargisch. Es handelt sich unter Umständen um bedenkliche Schwächezustände der Kinder.

Der Fall steht auf des Messers Schneide, denn bei entsprechenden Maßnahmen kann die Sache dann umschlagen in das Gegenteil, in Haß.

Es ist auch sehr gut, zu sagen: Du bist erhitzt, geh einmal fünf Mi­nuten hinaus - und so weiter. Überhaupt handelt es sich darum, daß man in einem solchen Falle individualisiert, nicht nur bei den Kindern, sondern

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auch in der Behandlung. Man soll sich alles zunutze machen, wo­von man im gesunden Denken sich versprechen kann, daß es hilft.

Nur das eine sollte sorgfältig angestrebt werden, daß die schwär­menden Kinder nicht den Glauben bekommen, man merkt etwas von ihrer Schwärmerei. Man sollte geradezu eine Kunst darin entwickeln, den Glauben hervorzurufen, man bemerke gar nichts. Selbst in den Maßregeln, die man unternimmt, sollte das Kind den Gedanken haben, daß man die Sache sowieso macht.

Nehmen wir einmal an, eine Anzahl Kinder schwärmt für einen Lehrer, der zu Hause selbst vier, fünf, sechs Kinder hat. Und er hat ja das einfachste Mittel: er fordert die schwärmenden Kinder etwa zu einem Spaziergang auf und nimmt seine eigenen Kinder mit. Das wird schon sehr gut helfen. Aber die Kinder sollten nichts davon merken, daß er sie darum aufgefordert hat. Solche konkreten Dinge soll man sich zunutze machen.

Das, worum es sich in einem solchen Falle handelt, ist, daß man sich nur selbst ganz korrekt verhält und die Kinder, die so schwärmen, nicht anders behandelt als die anderen. Peinlich darauf sehen, sich korrekt zu verhalten. Sich nicht berühren lassen durch eine solche Schwärmerei, dann geht sie in einiger Zeit vorüber! Das Bedenkliche bleibt nur, daß eine gewisse Antipathie anstelle der Schwärmerei tritt. Man kann sie vermindern, wenn man gar nichts merken läßt. Man läßt sie nichts wissen davon, daß man es merkt, dann wird auch der Haß nicht so groß, als wenn man sie ermahnt, sie zu sehr ermahnt, oder sie vor der Klasse blamiert. Man erzählt eine Geschichte in kurzer Form, wodurch die Sache lächerlich wird. Aber es muß so sein, daß es er­scheint, als erzähle man sie sowieso. Der Konsequenz, daß hinterher eine gewisse Antipathie entsteht, kann man nicht entgehen. Man wird sich, wenn man jahrelang mit den Kindern arbeitet, eine normale Sym­pathie wieder erwerben können.

Man kann auch die andere Konsequenz nicht hintanhalten, daß die Kinder, wenn der Schwarm bedenkliche Form annimmt, etwas ge­schwächt werden. Man muß ihnen hinterher so helfen, daß sie wieder­um über die Schwäche wegkommen. Das wird noch die beste Therapie sein, die man anwenden kann. Alle übrigen Mittel: Geh mal fünf

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Minuten ,raus, Spaziergang und so weiter-, kann man anwenden; man muß sich aber immer durchaus auf den Standpunkt des gesunden Igno­rierens stellen. Das Kind wird etwas geschwächt sein; dann ihm liebe­voll hinterher helfen, das ist das, was der Lehrer selbst tun kann.

Würde die Sache sehr bedenklich werden, dann würde der Lehrer, weil er selbst Objekt ist, nicht selber viel tun können, dann würden schon andere Ratgeber zu Hilfe gezogen werden müssen.

Eine Aufgabe, mehr didaktischen, weniger erzieherischen Inhalts:

Legen Sie sich jeder zurecht, Sie erlebten mit einer Anzahl von Kindern in Ihrer Klasse, daß diese Gruppe in irgendeiner Richtung weniger gut mitkommt, zum Beispiel im Rechnen, in Sprachen, Naturgeschichte, Turnen oder in der Eurythmie. Wie würden Sie versuchen, durch be­sondere Behandlung der menschlichen Fähigkeiten einer solchen Ka­lamität zu begegnen, wenn sie im frühen Volksschulalter auftritt? Wie würden Sie auch durch die anderen Unterrichtsgegenstände nachhelfen?

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ACHTE SEMINARBESPRECHUNG Stuttgart, 29. August 1919

Sprechübungen:

In den unermeßlich weiten Räumen,

In den endenlosen Zeiten,

In der Menschenseele Tiefen,

In der Weltenoffenbarung:

Suche des großen Rätsels Lösung.

Rudolf Steiner: Die Sätze verhalten sich so, daß die vier ersten klin­gen wie eine Erwartung, und die letzte Zeile die Gesamterfüllung ist der vier ersten Zeilen.

Die ei nicht wie ai sprechen!

Jetzt gehen wir wiederum zurück zu der anderen Sprechübung:

Protzig preist

Bäder brünstig

Polternd putzig

Bieder bastelnd

Puder patzend

Bergig brüstend

Daran können Sie sehr viel lernen. Jetzt wiederholen wir den Satz:

Daß er dir log uns darf es nicht loben

Nun ein Ähnliches, aber dabei kommt eine Nuance nach dem Affek­tiven hin. Es sind vier Zeilen, auf die ich Sie aufmerksam machen möchte. Ich werde sie Ihnen nachher diktieren. Das Affektive soll mehr in der ersten Zeile zum Ausdruck kommen:

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Lalle Lieder lieblich

Lipplicher Laffe

Lappiger lumpiger

Laichiger Lurch.

Also Sie stellen sich vor, daß sie einen grünen Frosch vor sich haben, der Sie anguckt mit offenem Mund, mit etwas aufgespannten Lippen, und den reden Sie an mit den drei letzten Zeilen. Aber Sie muten ihm in der ersten Zeile zu, er solle «liebliche Lieder lallen». Diese erste Zeile müssen Sie wie humoristisch-affektiv, wie eine Zumutung an ihn sagen.

Jetzt noch ein Prosastück, eine Fabel von Lessing:

Die Eiche

Der rasende Nordwind hatte seine Stärke in einer stürmischen Nacht an einer erhabenen Eiche bewiesen. Nun lag sie gestreckt und eine Menge niedriger Sträuche lagen unter ihr zerschmettert. Ein Fuchs, der seine Grube nicht weit davon hatte, sah sie des Morgens darauf.

Worin besteht denn die Fabelmoral?

T.: Daß man erst beim Tode bemerkt, wie groß ein Mensch war.

H.: Daß ein Kleiner erst merkt, wenn ein Großer gestürzt ist, was er war.

Rudolf Steiner: Aber warum wird gerade der Fuchs verwendet, der doch schlau ist?

H.: Weil die Fuchsschlauheit an die Erhabenheit des Baumes nicht herankommt.

Rudolf Steiner: In welchem Satz würde mit Bezug auf die Fuchs-schlauheit die Fabelmoral stecken? - «Hätte ich doch niemals gedacht, daß er so groß gewesen wäre!»

Er hatte eben nie hinaufgeschaut. Er hatte ihn nur immer unten an­geschaut, war nur unten um ihn herumgegangen, und da hatte der Baum einen kleinen Raum eingenommen. Er hatte nur das gesehen, trotz seiner Schlauheit, was man unten von dem Umfange sieht.

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Ich mache Sie darauf aufmerksam: Fabeln, die an sich in ihrer be­sonderen Welt, in einer Fabeiwelt spielen, dürfen realistisch gelesen werden, niemals aber Gedichte.

Nun kommen wir heute nach der gestrigen Aufforderung an Sie zu etwas sehr Wichtigem, nämlich dazu, uns zu unterhalten über die Maß­nahmen, die wir zu treffen haben, indem wir bemerken, daß die eine Schülergruppe weniger veranlagt ist zu diesem oder jenem Gegenstand oder diesem oder jenem Teil des Lehrstoffes, die andere Schülergruppe mehr. Und ich werde Sie bitten: Wählen Sie sich für die ganze Zeit vom siebenten bis zum fünfzehnten Jahr aus, worauf Sie heute in Ge­danken Ihre Hauptaufmerksamkeit wenden wollen, ob auf die Schü­lergruppe, die nicht imstande ist, ordentlich Lesen oder Schreiben zu lernen, oder Naturgeschichte zu lernen, oder Rechnen oder Geometrie oder Singen zu lernen, und handeln Sie dann darüber ab, wie Sie sich in der Klasse oder überhaupt in der Behandlung der Schüler und im Auf­stieg in der Zeit verhalten wollen, damit Sie das, was da auftritt, mög­lichst ins gleiche bringen.

Mehrere Seminärteilnehmer machen däzu längere Ausführungen.

Rudolf Steiner: Die Dinge, die da auftreten, können sich zum Teil beziehen auf eine allgemeine Unbegabtheit. Aber sie können sich auch beziehen auf eine spezielle, eine spezifische Unbegabtheit. Man hat Zöglinge, die vielleicht für Lesen und Schreiben außerordentlich gut begabt sind, aber die, sobald man ans Rechnen kommt, sich für dieses Rechnen als unbegabt erweisen. Man hat dann Zöglinge, bei denen es noch mit dem Rechnen geht, aber in dem Augenblick, wo man beginnt, ihre Urteilskraft anzurufen, wo sie Naturwissenschaftliches richtig be­greifen sollen, geht es nicht mehr weiter. Dann gibt es solche Kinder, die nicht an Geschichte heran wollen. Diese spezifischen Unbegabt­heiten, die sind das Wichtige, die sollte man gut berücksichtigen.

Darauf nehmen Sie vielleicht mit Folgendem Rücksicht: Wenn Sie bemerken, daß ein Kind im allgemeinen gleich von Anfang an auch für Lesen und Schreiben unbegabt ist, dann tun Sie unter allen Um­ständen schon einmal gut, sich mit den Eltern in Verbindung zu setzen und sie zu bitten, zunächst einmal dem Kinde möglichst wenig Eierspeisen

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zu geben und möglichst wenig Mehlspeisen. Das übrige kann im wesentlichen bleiben. Wenn die Eltern darauf eingehen, das Kind eine Zeitlang, trotzdem ihm ein Teil der Nahrung entzogen wird, gut zu ernähren, dann kann man es vielleicht sogar eine Zeitlang auf wenig Fleisch und sehr viel Gemüse und Blätter enthaltende Nahrung setzen. Man wird dann bemerken, daß das Kind durch diese Diätänderung im wesentlichen eine Erhöhung seiner Fähigkeit zeigt. Dies nütze man aus. Man beschäftige das Kind gerade sehr stark im Anfang, also wenn es anfängt, seine Diät zu ändern.

Wenn man bemerkt, daß diese bloße Diätänderung nicht viel nützt, dann versuche man, das Kind einen ganz kurzen Zeitraum hindurch -ich will sagen, acht Tage lang -, nachdem man sich mit den Eltern in Verbindung gesetzt hat, überhaupt bis zum Ablauf der Vormittags-schule oder wenigstens der ersten Stunden der Vormittagsschule, wo ihm Lesen und Schreiben beigebracht werden soll, nichts essen zu lassen, sondern es lernen zu lassen auf nüchternen Magen, oder wenigstens es nur ein Minimum essen zu lassen. Man setze diese Prozedur nicht all­zulange fort, sondern lasse sie abwechseln mit normalem Ernährt-werden. Aber man nütze die Zeit, die Ihnen ganz gewiß das Kind mit bloßgelegten Fähigkeiten zeigen wird - mit stärkeren Fähigkeiten und mehr aufnahmefähig -, gut aus. Wiederholt man eine solche Diätkur mehrmals im Laufe eines Jahres, so wird man sehen, daß in etwas sich die Begabung eines mehr oder weniger jungen Kindes - das gilt also für die ersten Schuljahre - ändert. Das bitte ich Sie doch sehr zu be­rücksichtigen.

Und ich bitte Sie überhaupt zu berücksichtigen, daß die unsinnige Ernährungsweise in den ersten Kinderjahren, zu der manche Eltern hinneigen, namentlich bei phlegmatischen und sanguinischen Kindern, viel beiträgt zur Herabstimmung der Fähigkeiten. Das ewige Über-ernähren der Kinder - jetzt ist es ja etwas anders, aber man muß die Dinge doch wissen -, das Vollstopfen der Kinder mit Eierspeisen und Mehlspeisen, mit Mehlpampf, das ist etwas, was die Kinder ganz un­lustig und unfähig zum Lernen macht in den ersten Jahren des Schul-besuches.

Es wird gefrägt, wie es mit Kakao sei?

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Rudolf Steiner: Warum sollen denn die Kinder überhaupt Kakao trinken? Es ist ja gar nicht notwendig, wenn man nicht Kakao braucht, um ihre Verdauung zu regulieren. Man braucht ja manchmal solche Dinge, um die Verdauung zu regulieren. Bei Kindern, die eine zu rasche Verdauung haben, ist es besser, Kakao zu verwenden als andere Heilmittel; aber wenn das nicht nötig ist, dann braucht ein Kind über­haupt nicht solche Dinge zu haben. Die Kinder bekommen heute viel, was nichts taugt für sie.

Man kann da merkwürdige Beobachtungen machen. Als ich Erzieher war in den achtziger Jahren, da war ein junges Kind da; das Kind konnte von mir nicht erzogen werden, ich hatte nur die größeren. Es war ein kleiner Cousin. Es war eigentlich ein nettes, liebes Kind mit guten Einfällen. Es hätte einmal ein gutbegabtes Schulkind werden können. Ich war oftmals anwesend und konnte Zeuge sein, wie das Kind witzig und begabt war. Er war noch ein kleiner Kerl, noch kaum an das zweite Jahr herangekommen, als er einmal bei Tisch folgendes sagte. Er hatte zwei kleine Klößchen, zwei Knödelchen, und war schon so gescheit, daß, als man sagte: «Hans, jetzt hast du schon zwei Knö­delchen», er antwortete: «Und das dritte folgt sogleich.» Das sagte der kleine Knirps.

Dann schimpfte er auch sehr gern. Ich fand nicht, daß es schadet, wenn ein Kind in diesem Alter sich ausschimpft. Das legt sich später. Daher hatte er sich angeeignet, gerade mich ganz besonders zu be­schimpfen. Einmal, als ich zur Türe hereinkam - da war er schon etwas älter -, stellt er sich breit auf. Da fiel ihm kein Schimpfwort ein, das ihm groß genug war, da sagte er: «Da kommen zwei Esel!» Er war also sehr geistreich, nicht wahr?

Aber der Knabe war ein Blaßling, hatte schlechten Appetit und war etwas mager. Auf den Rat eines sonst ausgezeichneten Arztes bekam deshalb dieses Kind zu jeder Mahlzeit ein kleines Gläschen Rotwein. Ich hatte ja keine Verantwortung noch Einfluß auf diese sonderbare hygienische Erziehungsmethode, aber ich hatte so meine Sorge. Dann sah ich dieses Individuum wieder in seinem zweiunddreißigsten, drei­unddreißigsten Jahre - ein furchtbar nervöser Mensch! Ich frug, als er nicht dabei war, wie er denn als Schulkind gewesen sei. Ja, dieser

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zappelige Mensch, der in den Dreißigerjahren schon ganz nervös war, zeigte, wieviel Jammervolles das kleine Gläschen Rotwein bei den Mahlzeiten angerichtet hatte. Es war ein begabtes Kind, denn ein Kind ist begabt, das sagt: «Da kommen zwei Esel!»

«Frech wär er», ruft Frau Dr. Steiner dazwischen.

Rudolf Steiner: Von der Frechheit können wir ja dabei absehen. -Was geht da voraus? Es ist erstaunlich. Er findet kein Schimpfwort, was groß genug ist, da nimmt er die Zahl zu Hilfe. Das ist eine außer­ordentlich große Begabung. Nun, er war ein schwacher Schüler gewor­den und wollte nicht ordentlich lernen. Er war also durch diese Er­ziehungsmethode, durch den Wein, bereits im siebenten Jahre vollstän­dig verdorben.

Das ist etwas, was ich im Anfang unserer heutigen Besprechung Ihnen nahelegen möchte, daß es bei Begabungen nicht so unwesentlich ist, darauf zu sehen, wie man die Diät des Kindes einrichtet. Nament­lich aber bitte ich Sie, darauf zu achten, daß die Verdauung des Kindes nicht leidet. Daher müssen Sie auf irgendeinem taktvollen Wege, wenn Ihnen an der Befähigung des Kindes etwas auffällt, sich durch die Eltern erkundigen, ob das Kind einen ordentlichen Verdauungsprozeß hat. Versuchen Sie darauf hinzuwirken, daß derselbe reguliert wird.

T. spricht über die für das Rechnen unbegabten Kinder.

Rudolf Steiner: Wenn Sie besonders schwache Begabungen zum Rechnen entdecken, so tun Sie gut, folgendes zu machen: die anderen Kinder werden in der Regel in der Woche zwei Turnstunden, das heißt eine Eurythmiestunde und eine Turnstunde haben. Diese Kinder, die nicht gut rechnen, spannen Sie zusammen, und lassen Sie ihnen eine Eurythmie- oder Turnstunde oder eine halbe Stunde anknüpfen. Sie brauchen sich dadurch nicht mehr zu belasten; nehmen Sie sie mit ande­ren zusammen, wo gerade solche Übungen gemacht werden. Man muß sorgen, daß solche Kinder gerade durch das Turnen und die Eurythmie in ihren Fähigkeiten gehoben werden.

Sie lassen solche Kinder zunächst Stabübungen machen. Den Stab in der Hand: nach vorne 1, 2, 3; nach hinten 1, 2, 3, 4. Also das Kind muß immer den Stab nach vorne und nach rückwärts nehmen. Es muß sich anstrengen, den Stab auf irgendeine Weise bei 3 nach rückwärts

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zu kriegen. - Dann muß auch Laufen darankommen: 3 Schritte vor, 5 Schritte zurück; 3 Schritte vor, 4 Schritte zurück; 5 Schritte vor, 3 Schritte zurück und so weiter. - Versuchen Sie, turnend und auch vielleicht eurythmisch in die Bewegungen des Kindes die Zahl hinein­zumischen, so daß es genötigt ist, sich selbst bewegend, zu zählen. Sie werden sehen, daß das einen Erfolg hat. Ich habe das bei Schülern wie­derholt gemacht.

Und ich frage Sie nun: Warum hat das einen Erfolg? Nach dem, was Sie schon gelernt haben, können Sie sich darüber Vorstellungen bilden.

T. Eurythmische Bewegungen müssen doch ein gutes Mittel sein für den Geo­metrieunterricht.

Rudolf Steiner: Den Geometrieunterricht meinte ich aber nicht. Was ich sagte, bezog sich auf das Rechnen, weil ja dem Rechnen willent­liches Sich-Bewegen zugrunde liegt, der Bewegungssinn. Wenn man den in dieser Weise in Wirksamkeit bringt, so wirkt man anfeuernd auf diese Fähigkeit. Man holt etwas aus dem Unterbewußtsein herauf, was bei einem solchen Kinde nicht herauf will. Überhaupt sollte man durch Bewegungsübungen die mangelnden Fähigkeiten des Rechnens und auch der Geometrie anregen. Für Geometrie wird man viel tun können durch geistreiche Eurythmieübungen. Auch durch Stabübungen.

N.: Bei Schwierigkeiten in der Ausspräche muß män Bedacht nehmen äuf den Zusämmenhäng des Sprächlichen mit der Musik.

Rudolf Steiner: Die meisten Fälle einer schlechten Aussprache wür­den darauf beruhen, auf schlechtem Hören.

N.: Beim Geographieunterricht wird der sanguinische Schüler nicht recht mit-kommen; er hät verschwommene Vorstellungen. Dä würde ich Zeichenunterricht be­fürworten, Motive aus der Landkarte.

Rudolf Steiner: Wenn man den Geographieunterricht recht anschau­lich gestalten würde, wenn man namentlich die Länder, die Verteilung der Vegetation in den Ländern, die Verteilung der Bodenprodukte in den Ländern, durch graphische Darstellungen zeigt, in dieser Weise also den Unterricht recht anschaulich gestaltet, wird man gerade da bemerken, daß man nicht leicht eine allgemeine Stumpfigkeit des Schülermaterials findet. Dadurch kann man leicht gegen eine allgemeine

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Stumpfheit ankämpfen. Wenn man das auch noch dadurch be-lebt, daß man gerade beim Geographieunterricht versucht, das Land zuerst zu beschreiben, es dann aufzeichnet, es aufzeichnen läßt auf die Tafel, hineinzeichnet Flüsse, Gebirge, Verteilung von Vegetation, von Wald und Wiese, und dann Reisebeschreibungen mit den Schülern liest, dann wird man sehen, daß man meistens sehr wenig für Geographie un­begabte Schüler findet, ja, daß man die Geographie benützen kann, um Schüler zur Lebhaftigkeit zu bewegen und zum Herauskitzeln anderer Fähigkeiten. Man wird geradezu bemerken, wenn man die Geographie als solche interessant machen kann, wie in den Schülern andere Fähig­keiten aufgeweckt werden.

G.: Ich dachte an die erste bis dritte Klasse. Bei Faulheit würde ich mit Strenge vorgehen und den Ehrgeiz zu wecken versuchen. Zuweilen muß man das Kind darauf hinweisen, daß es eventuell die Klasse wiederholen muß. Da muß man eben auch Eifer und Ehrgeiz wecken.

Rudolf Steiner: Auf den Ehrgeiz zu rechnen, würde ich nicht so sehr empfehlen. Der Ehrgeiz sollte nicht so sehr geweckt werden. In den ersten Unterrichtsjahren kann man solche Dinge, wie Sie sie vorschla­gen, sehr gut brauchen, doch ohne zu starkes Betonen des Ehrgeizes, sonst muß man diesen Ehrgeiz später ja wieder wegerziehen, den man anerzogen hat. Man wird aber berücksichtigen müssen, das muß ich immer wiederum sagen, die Diät und Ernährung.

Vielleicht werden die Freunde, die jetzt diese Dinge noch behan­deln werden, darauf Rücksicht nehmen, daß es doch zahlreiche Kinder gibt, die im späteren Leben keinen Sinn dafür haben, Naturobjekte ordentlich aufzufassen und sich zu merken. Es kann den Lehrer zur Verzweiflung bringen bei einzelnen Zöglingen, daß sie sich niemals merken können, was unter den Mineralien ein Malachit ist oder eine Pechblende oder selbst ein Smaragd; die also überhaupt keinen Sinn dafür haben, die Naturobjekte aufzufassen und sie wiederzuerkennen. Auch bei Pflanzen, sogar bei Tieren ist das der Fall. Das bitte ich auch zu berücksichtigen.

A.: Ich hatte mir gedacht, daß bei den Kleinsten im Rechnen Gruppen zurückblei­ben. Am liebsten mache ich alles anschaulich an den Fingern, an Papierstückehen, an Kugeln oder Knöpfen. Man kann auch einen sogenannten Abteilungsunterricht ein­führen; ohne daß die Kinder es wissen, sind sie in zwei Gruppen eingeteilt, Begabte

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und Schwache. Man nimmt dann die Schwachen besonders vor, damit die Begabten nicht durch sie zurückbleiben.

Rudolf Steiner: Newton, Helmholtz, Julius Robert Mayer würden in einem solchen Falle immer unter den Schwachen gesessen haben.

A.: Das schadet ja nichts.

Rudolf Steiner: Gewiß, das schadet nichts. Sogar Schiller würde unter den Schwachen gesessen haben. Nach dem Lehrbefähigungszeug­nis für Robert Hamerling war er verhältnismäßig überall mit guten Zensuren bedacht, nur nicht im deutschen Aufsatz. Da hatte er als Zensur eigentlich unter normal.

Fräulein F. wird uns jetzt sagen - wie man durch Eurythmie helfen kann, das haben wir gehört -, aber wie sie glaubt, wie der Eurythmie geholfen werden könnte, wenn sich Kinder widerspenstig zeigen. Es sollte die Eurythmie auch widerspenstigen Kindern beigebracht werden.

F.: Ich hatte mir gedacht, daß melancholische Kinder wenig Interesse haben wer­den für rhythmische Übungen, Stabübungen, Taktieren, also alle Übungen, die er­fordern, daß man mit Unbefangenheit des Wesens sich hinstellt. Sie schauen lieber sn sich hinein, und sie ermüden leicht bei ihrer körperlichen Beschaffenheit. Vielleicht könnte man, wenn die anderen Stabübungen machen, diese Kinder singend begleiten lassen, oder Gedichte taktierend sagen lassen. So werden sie in den Rhythmus ge­zogen ohne körperliche Anstrengung. - Es ist aber auch möglich, daß Kinder diesen Übungen abgeneigt sind, weil sie die Tendenz haben, sich nie ganz in die Dinge hin-einzustellen, sondern einen Teil ihres Wesens in sich zurückzuhalten. Da müßte man sie Töne springen lassen, weil die eigentlich den ganzen Menschen in Anspruch neh­men. Zu gleicher Zeit sind sie objektiv.

Der Lehrer darf nicht in sich das Gefühl haben, das Kind könne etwas nicht. Man muß denken, daß die ganze vollkommene Eurythmie im Kinde liegt. Die eigene Sicherheit würde sich auch auf das Kind übertragen.

Rudolf Steiner: Alle diese Maßnahmen sind sehr gut. - Es würde sich noch empfehlen, bei Kindern, die nicht heran wollen an die Euryth­mie, eine besondere Freude an der Eurythmie dadurch hervorzurufen, daß man sie nicht nur bei anderen das Eurythmisieren viel von außen anschauen läßt, sondern daß man auch versucht, verschiedene Stel­lungsaufnahmen zu machen, Photographien. Diese müßte man verein­fachen, so daß die Kinder Augenbilder bekommen von den euryth­mischen Formen und Bewegungen, die der Mensch selbst macht. Solche Augenbilder vom Eurythmischen, die werden eingeprägt und werden

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befeuernd auf die eurythmischen Fähigkeiten wirken. Deshalb hatte ich Fräulein W. gebeten, solche Augenbilder zu machen, womit ich nicht meine bloße Wiedergaben von eurythmischen Stellungen, sondern diese umgesetzt in einfache schematische Bewegungsformen, die künst­lerisch wirkend sind. Diese könnte man dann verwenden, um den Kin­dern die Schönheit der Linie zu zeigen. Sie werden dann finden - was eine psychologisch außerordentlich interessante Tatsache ist -, daß das Kind wahrnehmen darf die Schönheit der Linie, die es selbst hervor­bringt in der Eurythmie, ohne eitel und kokett zu werden. Während es sonst, wenn es aufmerksam wird auf das, was es selber macht, leicht eitel wird, wird das gerade bei der Eurythmie vermieden. Daher ist auch in der Eurythmie ein Parallelismus mit der Anschauung der eu­rythmischen Linie zu suchen, die zur Hebung des Selbstgefühls ohne Erweckung von Eitelkeit und von Koketterie benützt werden kann.

M. erzählt, wie er Kindern die Dynamomaschine erklären würde. Er würde trach­ten, überall das hervortreten zu lassen, woraus sich das Grundphänomen ergebe.

Rudolf Steiner: Das ist ein sehr wichtiges Prinzip, das ist in anderen Gegenständen auch anwendbar. Es ist ein gutes Unterrichtsprinzip, aber gewissermaßen für alle Schüler gut im physikalischen Unterricht. Es ist nicht direkt auf die Frage bezüglich: Was macht man mit den schwachen Schülern? Denn in der Physik schwache Schüler werden Ihnen auch bei einem solchen Vorgang einigen Widerstand entgegen­setzen, besonders Mädchen.

O.: Da die Ernährung eine sehr wichtige Rolle spielt, würde ich Herrn Dr. Steiner bitten, uns doch noch etwas zu sagen über die Wirkung der verschiedenen Nahrungs­mittel auf den Körper.

Rudolf Steiner: Zum Teil habe ich ja schon vorhin einiges gesagt, zum Teil können Sie auch manches an den verschiedenen Stellen meiner Vorträge finden. Es würde vielleicht heute zu weit führen, alle Einzel­heiten nach dieser Richtung zu sagen. Namentlich aber sollte man ver­meiden, bei Kindern solche Dinge wie Tee und Kaffee zu bieten.

Tee macht die Gedanken so, daß sie nicht beieinander bleiben wol­len, daß sie sich fliehen. Daher ist Tee ganz gut für die Diplomaten, die immer schwätzen sollen, und die nicht einen Gedanken logisch aus dem anderen herausentwickeln wollen. Man sollte vermeiden, daß Kinder

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zu dieser Gedankenflucht veranlaßt werden durch den Teegenuß.

Aber auch Kaffee ist nicht gut für die Kinder, weil sie dadurch die Anlage in sich aufnehmen, zu pedantisch zu werden. Kaffee ist ja ein gewohntes Mittel der Journalisten, wodurch sie einen Gedanken aus dem anderen heraussaugen können. Das sollte man bei Kindern nicht kultivieren. Da sollte sich in der Gedankenentwickelung auf natur­gemäße Weise immer eines aus dem anderen ergeben. Kaffee und Tee, das sind Dinge, die zu denen gehören, die man vermeiden soll.

Was man als besonders wichtig für Kinder ansehen kann, ist ins­besondere alles dasjenige, was an der Pflanze grün ist; auch Milch. Womöglich wenig schwarzes Fleisch; nur helles Fleisch sollte man ge­ben. Wenn Sie schon durchaus diese Dinge wissen wollen, die sich auf die Ernährung beziehen.

D.: Wenn das Kind schwer begreift, muß man sich viel mit ihm abgeben und auch sehen, ob es in anderen Lehrfächern mitkommt. Wenn man sich nun mit unbegabten Kindern zuviel abgibt, würde die Schwierigkeit entstehen, daß die andern Kinder in der Zeit nicht beschäftigt werden.

Rudolf Steiner: Ich bitte, das durchaus nicht zu überschätzen, was die übrigen Kinder dadurch verlieren, daß man sich mit etwas schwä­cher begabten abgibt. Es ist in der Regel gar nicht so furchtbar viel verloren, wenn man es nur dahin bringt, daß die begabten Kinder auf dasjenige, wofür einzelne unbegabter sind, auch Aufmerksam­keit verwenden, wenn man es in der Weise vorbringt, wie man es für unbegabte Kinder vorbringen soll. Es ist damit wirklich nicht so furcht­bar viel verloren für die begabteren Kinder. Findet man den richtigen Takt, um den schwächeren Kindern die Dinge vorzuführen, so profi­tieren aus irgendeiner Ecke heraus auch die begabteren Kinder dadurch.

B.: Bei mangelndem Interesse würde ich immer künstlerische Eindrücke zu Hilfe nehmen. Bei mangelnder Fähigkeit, Steine zu behalten, ist mir ein Fall bekannt, bei dem das zusammengeht mit einer Schwierigkeit im Behalten von Formen überhaupt. Solche Kinder behalten auch Melodien nicht.

Rudolf Steiner: Sie haben besonders die Schwierigkeit herausgefun­den, die da besteht mit Bezug auf solche Kinder, die keine Auffassung und kein Behaltvermögen für Formen haben. Nun muß man da unter­scheiden, Formen, die mit dem Organischen in Verbindung stehen, und

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Formen, die mit Mineralischem in Verbindung stehen, denen wirklich parallelgehen Melodieformen. Nun handelt es sich darum, daß man es da doch zu tun hat mit einem sehr, sehr radikalen Fehler, einem großen Fehler in der Entwickelung des Menschen, und daß man schon darauf bedacht sein muß, diesen Fehler gründlich zu heilen.

Nun wird man sehr viel erreichen für das Behalten von organischen Naturformen, von Tier- und Pflanzenformen, wenn man versucht, die charakteristischen Dinge karikiert in der Zeichnung hervorzuheben, wenn man geradezu bei Tier- und Pflanzenformen - nicht geschmack­los, sondern geschmackvoll, aber doch auffällig - die Kinder Karika­turen behalten läßt, so daß sie auf diesem Umweg, Karikaturen zu behalten, das andere dann auch behalten. Also so könnte man eine Maus behalten lassen. Vielleicht noch die Zähne und die Schnurrhaare.

#Bild s. 99

Dann gibt es noch eine Möglichkeit für das Formauffassen: Man lasse das, was die Kinder von außen nicht begreifen können, von innen begreifen. Sagen wir zum Beispiel, ein Kind kann ein Parallelepipedon, ein von sechs Parallelogrammen begrenzter Körper, nicht von außen verstehen. Es behält das nicht. Man sagt dem Kind: «Stelle dich dir einmal als einen ganz kleinen Zwerg vor, daß du da hereinkommst. Dann ständest du da drinnen wie in einem Zimmer.» Man läßt es von innen auffassen, was es von außen nicht auffassen kann. Das kann es. Aber das muß man furchtbar oft mit dem Kinde wiederholen.

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Bei solchen Formen, die auch im Mineral auftreten, ist das verhält­nismäßig leicht zu erreichen. Schwieriger ist es schon, wenn es sich um das Auffassen des Farbigen oder sonstiger Eigenschaften des Minerals handelt. Da kommt man dem Verständnis einfach dadurch bei, daß man das Kleine von dem Kind recht groß vorstellen läßt. Also irgend­einen kleinen gelben Kristall läßt man wie einen riesigen kristallisier­ten Körper oftmals vorstellen.

Wenn es sich aber nun um Zeitliches handelt, um die Musik, da ist die Sache nicht so leicht. Wenn Sie da karikierend eingreifen wollen, da können Sie nur dadurch etwas erreichen - wenn noch gar nichts erreicht wird dadurch, daß Sie die räumliche Formauffassung verbes­sern -, daß Sie es geradezu rechnerisch dahin bringen, die Intervalle furchtbar zu vergrößern, die Töne recht lang wirken zu lassen, und durch die zeitliche Vergrößerung der Verhältnisse zwischen den Tönen eben auch die Melodie recht groß, als eine große, mächtige Wirkung vorzuführen. Dann können Sie etwas erreichen. Sonst werden Sie da überhaupt nicht viel verbessernd einwirken können.

Nun bitte ich Sie, folgende Fragen für morgen aufzuschreiben.

Erstens: Wie kann ich die höheren Pflanzen naturgeschichtlich be­handeln aus demselben Geiste heraus, wie ich das gestern für Tiere gezeigt habe, für Tintenfisch, Maus, Mensch?

Zweitens: Wie kann ich Moose, Schwämme, Flechten in diesen Un­terricht einfügen?

Es werden sich diese beiden Fragen wahrscheinlich zusammen er­geben.

Also die Pflanzen behandeln von demselben Gesichtspunkte aus, den ich gestern angeführt habe, darüber bitte ich Sie nachzudenken. Also nicht um anschaulichen Unterricht handelt es sich, sondern um Unter­richt nach dem neunten Jahr, wo der Naturunterricht eingreift.

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NEUNTE SEMINARBESPRECHUNG Stuttgart, 30. August 1919

Sprechübungen:

Nimm mir nicht, was, wenn ich freiwillig dir es reiche, dich beglückt.

Rudolf Steiner: Der Spruch ist mehr gemeint für die Sinnabteilung, sodaß Sie folgendes haben: Erst einen Satz, der kurz ist: «Nimm mir nicht», und dann den Satz: «was dich beglückt», der aber unterbrochen ist durch den anderen: «wenn ich freiwillig dir es reiche». Es ist die Absicht diese, daß das im Sprechen zur Geltung kommt. Man muß merken, Sie nehmen denselben Betonungscharakter wiederum auf, den Sie bei «was» ausgelassen haben und bei «dich» wiederum einsetzen lassen.

Redlich ratsam

Rüstet rühmlich

Riesig rächend

Ruhig rollend

Reuige Rosse

Nimm nicht Nonnen in nimmermüde Mühlen

Pfiffig pfeifen

Pfäffische Pferde

Pflegend Pflüge

Pferchend Pfirsiche

Wochenspruch (letzte August-Woche) aus dem «Seelenkalender»:

Ich fühle fruchtend fremde Macht

Sich stärkend mir mich selbst verleihn,

Den Keim empfind ich reifend

Und Ahnung lichtvoll weben

Im Innern an der Selbstheit Macht.

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Rudolf Steiner: Jetzt kommen wir zu unserer heutigen schweren Auf­gabe.

Ich habe Sie gestern gebeten, darüber nachzudenken, wie Sie die Unterrichtsstunden einrichten wollen, in denen Sie die niederen und die höheren Pflanzen in irgendeinem Beispiel mit den Kindern durch­nehmen wollten, so aus demselben Geiste heraus, wie ich es Ihnen gezeigt habe bei Tintenfiseh, Maus, Pferd und Mensch, wie man das für die Tiere machen muß. Vorausschicken will ich nur, daß ein sach­gemäßer Unterricht die Betrachtung über die Tiere vorausgehen lassen muß der Behandlung der naturgeschichtlichen Verhältnisse an den Pflanzen. Das wird sich nun ergeben, warum das so ist, indem Sie sich anstrengen werden, soweit Sie Beispiele geben können an der einen oder anderen Pflanze, die Pflanzenunterrichtsstunde zu charakteri­sieren.

Nun wird es ja vielleicht gut sein, wenn wir zuerst fragen: Wer hat schon Pflanzenunterricht gegeben? Der könnte zunächst einmal an­fangen. Darnach könnten sich die anderen richten.

T. Die Pflanze hat ein triebmäßiges Sehnen nach der Sonne. Die Blüten wenden sich der Sonne zu, auch wenn sie noch nicht aufgegangen ist. Aufmerksam machen auf den Unterschied zwischen dem Wunschleben des Tieres und des Menschen, und dem reinen Streben der Pflanze, sich der Sonne zuzuwenden. Dann dem Kinde den Be­griff des Eingespanntseins der Pflanze zwischen Sonne und Erde klarmachen. Bei jeder Gelegenheit die Beziehung zwischen der Pflanze und ihrer Umgebung erwähnen, besonders die Gegensätzlichkeit zwischen Pflanze und Mensch, Pflanze und Tier. Das Aus- und Einatmen der Pflanze besprechen. Das Kind fühlen lassen, daß die Pflanze gerade aus der verdorbenen» Luft durch die Kraft der Sonne das wieder aufbaut, was nachher dem Menschen zur Nahrung dient. Wenn man die Abhängigkeit des Menschen bezüglich der Nahrung bespricht, kann man hinweisen auf die Wichtigkeit eincr guten Ernte und so weiter. Über den Wachstumsprozeß: Jede Pflanze, selbst das Blatt, wächst nur am Grunde, nicht aber an der Spitze. Der eigentliche Wachstums-prozeß ist stets verhüllt.

Rudolf Steiner: Was heißt das, ein Blatt wächst nur am Grunde? Bei den Fingernägeln des Menschen ist es ebenso. Und wenn Sie etwas anderes am Menschen nehmen, die Haut, die Handoberfläche und tie­fer gelegene Teile, da ist es ebenso. Worin besteht denn eigentlich das Wachsen?

T.: Eigentlich in einem Herausschieben des Toten aus dem Lebenden.

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Rudolf Steiner: Ja, so ist es. Alles Wachsen ist ein Herausschieben des Lebendigen aus dem Inneren und ein Absterben und allmähliches Abschälen des Äußeren. Daher kann niemals außen etwas anwachsen. Es muß sich immer das Substantielle von innen nach außen vorschieben und an der Oberfläche abschuppen. Das ist das allgemeine Gesetz des Wachstums, das heißt des Zusammenhanges des Wachstums mit der Materie.

T.: Was am Blatt geschieht, daß eigentlich das Blatt stirbt, wenn es sich der Sonne aussetzt, gewissermaßen sich opfert, das geschieht erhöht in der Blüte. Sie stirbt, wenn sie befruchtet ist. Es bleibt bloß das im Innern Verborgene leben, was sich weiterentwickelt. - Bei den niederen Pflanzen muß man aufmerksam machen darauf, daß es Pflanzen gibt wie zum Beispiel die Pilze, die Ähnlichkeit haben mit dem Sa­men der höheren Pflanzen, daß andere niedere Pflanzen vor allem Ahnlichkeit haben mit den Blättern der höheren Pflanzen.

Rudolf Steiner: Sie haben ja manches Gute gesagt, aber es wäre doch zu wünschen, daß der Zögling im Verlaufe einer solchen Darstellung bekannt würde mit den Gliedern einer einzelnen Pflanze. Sie sind ja auch genötigt, fortwährend von den Gliedern der Pflanze zu sprechen, vom Blatt, Blüte und so weiter. Es wäre nun gut, wenn der Zögling be­kannt würde mit gewissen Gliedern der Pflanze, nach dem Prinzip, das Sie ja richtig gewählt haben: Die Pflanze an Sonne und Erde betrach­ten. Da muß etwas Leben hineinkommen in die Pflanzenbetrachtung, und von da aus muß dann die Brücke geschlagen werden zum Men­schen. Es ist Ihnen noch nicht gelungen, diese zu schlagen, denn das, was Sie gesagt haben, sind mehr oder weniger Utilitätsgeschichten, wie die Pflanzen dem Menschen nützlich sind, oder auch äußere Vergleiche. Was da herausgearbeitet werden muß, damit wirklich gerade das Kind sehr viel hat von einer solchen Betrachtung, das ist: Man wird ver­suchen müssen, nachdem man die Beziehung des Tieres zum Menschen klargelegt hat, doch auch die Beziehung der Pflanze zum Menschen klarzumachen. Denn es ist ja wohl zumeist im elften Jahr, wo wir mit so etwas einzusetzen haben, wo man also berücksichtigen kann, was das Kind schon gelernt hat, oder besser gesagt, daß das Kind die Dinge in irgendeiner Weise schon gelernt hat, die es da verwerten muß. -Nicht versäumt darf werden, die Pflanze selbst, nach ihrer Gestaltung, an die Fassungskraft des Kindes heranzubringen.

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M.: Man zeigt den Kindern den Keimprozeß, etwa an der Bohne. Zunächst die Bohne als Samenkorn, dann den Keim in verschiedenen Stadien. Man zeigt die Ver­schiedenheit der Pflanze durch die Jahreszeiten hindurch.

Rudolf Steiner: Das ist etwas, was eigentlich rationell erst vorge­nommen werden sollte mit Zöglingen, die schon das vierzehnte, fünf­zehnte Jahr überschritten haben. Wenn Sie das machen würden, so würden Sie sich überzeugen, daß die Kinder, die noch in der Volks­schule sind, den Keimvorgang noch nicht wirklich verstehen können. Das würde also verfrüht sein, den Keimvorgang vor den jüngeren Kin­dern zu entwickeln, die Geschichte mit der Bohne und so weiter. Inner­lich ist das den Kindern sehr fremd.

M. Ich wollte auch nur auf die Ähnlichkeit aufmerksam machen zwischen der jungen Pflanze und dem jungen Tier, und auch auf die Unterschiede. Das Tier wird von der Mutter versorgt, die Pflanze wird allein in die Welt geschickt. Mehr gemüt-haft wollte ich die Sache vorbringen.

Rudolf Steiner: Auch diese gemüthaften Vorstellungen taugen nicht für das Kind. Sie würden kein Verständnis finden bei dem Kinde.

M. Kann man Teile der Pflanze mit dem Menschen vergleichen? Zum Beispiel die Wurzel mit dem Kopf und so weiter?

Rudolf Steiner: Sie müssen die Pflanzen, wie es richtig war bei Herrn Ts. Ausführung, in die ganze Natur, Sonne, Erde und so weiter hineinstellen und müssen die Pflanze gleichsam im Zusammenhang mit der Welt lassen. Dann bekommen Sie eine Betrachtung heraus, die, wenn sie richtig gestaltet wird, auch schon beim Kinde auf ein gewisses Verständnis trifft.

R. beschreibt, wie man Pflanze und Mensch vergleichen kann, zum Beispiel den Baum mit dem Menschen: Rumpf = Stamm; Gliedmaßen = Äste und Zweige; Kopf = Wurzelwerk. Wenn wir essen, geht die Nahrung beim Menschen von oben nach unten, beim Baum von unten nach oben. Verschiedenheit: Mensch und Tier können sich frei bewegen, können Lust und Leid empfinden, die Pflanze nicht. Jede Pflanzenart entspricht, aber nur äußerlich, einer menschlichen Charaktereigentüm­lichkeit, Eiche = Stolz und so weiter, Flechten und Moose sind bescheiden.

Rudolf Steiner: Damit ist wieder vieles gesagt, aber es ist natürlich noch immer nicht der Versuch gemacht worden, die Pflanze selbst, ihren Formen nach, an das Kind heranzubringen.

Wie wäre es, wenn Sie zum Beispiel folgendes machen würden. Sie

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würden etwa fragen: «Seid ihr noch niemals spazierengegangen gegen den Sommer hin? Habt ihr da nicht auf den Feldern solche Blumen stehen sehen, wenn man sie anbläst, fliegen von ihnen Teile fort. Sie haben so kleine Fächerchen, die fliegen dann fort. Dann habt ihr diese Blumen doch auch etwas früher gesehen, wenn wir noch nicht so nahe am Sommer waren. Da schaut das so aus, daß oben nur die gelben blattartigen Gebilde waren. Und noch früher, mehr dem Frühling zu, da waren nur die grünen Blätter da, die sehr spitz gekerbt sind.

#Bild s. 105

Das, was wir da betrachten, zu drei verschiedenen Zeiten, das ist immer dieselbe Pflanze! Nur ist sie zuerst hauptsächlich grünes Blatt, nachher ist sie hauptsächlich Blüte, und nachher ist sie hauptsächlich Frucht. Denn das sind nur die Früchte, die da herumfliegen. Das Ganze ist ein Löwenzahn! Zuerst bekommt er Blätter, die grünen; dann treibt er Blüten und nachher kriegt er seine Früchte. Wodurch geschieht denn das alles? Wie kommt es denn, daß dieser Löwenzahn, den ihr kennt, sich einmal zeigt bloß mit grünen Blättern, dann mit Blüten und nach­her mit Früchtchen?

Das. kommt davon her: Wenn die grünen Blätter aus der Erde her-auswachsen, da ist es noch nicht so heiß im Jahr. Da wirkt noch nicht so stark die Wärme. Aber um die grünen Blätter herum, was ist denn da? Ihr wißt es. Es ist etwas, was ihr nur spürt, wenn der Wind geht, aber immer ist es um euch herum: die Luft. Ihr kennt das ja, wir haben schon davon gesprochen. Die Luft bringt hauptsächlich die grünen Blätter hervor, und wenn dann die Luft mehr durchzogen ist von der

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Wärme, wenn es wärmer wird, dann bleiben die Blätter nicht mehr Blätter, dann werden die obersten Blätter zur Blüte. Aber die Wärme geht ja nicht bloß zur Pflanze hin, sondern sie geht auch zu der Erde und dann wiederum zurück. Ihr seid gewiß schon einmal da gewesen, wo ein Stückchen Blech lag. Da werdet ihr bemerkt haben, daß das Blech die Wärme erst empfängt von der Sonne und dann sie wiederum ausstrahlt. Das tut eigentlich jeder Gegenstand. Und so macht es die Wärme: wenn sie noch herunterstrahlt, wenn die Erde noch nicht gar so warm geworden ist, da bildet sie die Blüte. Und wenn die Wärme wieder zurückstrahlt von der Erde zu der Pflanze herauf, dann bildet sie erst die Frucht. Daher muß die Frucht warten bis zum Herbst.»

Wenn Sie es so machen, dann bringen Sie die Organe, aber Sie brin­gen diese Organe zu gleicher Zeit in Beziehung zu dem, was Luft- und Wärmeverhältnisse sind. Nun können Sie in einer solchen Betrachtung dann weitergehen, und Sie können auf diese Weise versuchen, den zu­allererst heute angeschlagenen Gedanken weiter auszuführen, die Pflan­zen in Beziehung zu bringen zu den äußeren Elementen. Dadurch kom­men Sie dazu, das Morphologische, das Gestaltliche der Pflanzen auch mit der Außenwelt etwas in Berührung zu bringen. Versuchen Sie das einmal zu machen.

D. spricht über den Pflanzenunterricht.

Rudolf Steiner: Da ist viel Treffliches gesagt worden, aber man muß darauf hinarbeiten, daß die Kinder eine Übersicht bekommen über die Pflanzen: erst die niederen, dann mittlere, dann höhere. Das Gelehrte kann ganz wegbleiben. Eine Übersicht über die Pflanzen zu schaffen, das ist nicht leicht, aber das kann etwas sehr Bedeutsames werden für den Unterricht, und das kann an der Pflanzenwelt herausentwickelt werden.

Mchrerc Lehrer geben längere Ausführungen. Dabei wird einmal geiagt, «die Wurzcl dient zur Ernährung der Pflanze».

Rudolf Steiner: Den Ausdruck «dienen» sollte man vermeiden. Nicht die Wurzel «dient» zur Ernährung, sondern die Wurzel hängt zusammen mit dem Wasserleben der Erde, mit dem Säfteleben, während sich an der Luft die Blätter entwickeln. Aber was die Pflanze aus dem

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Boden saugt, ist nicht die hauptsächlichste Nahrung der Pflanze, son­dern das ist der Kohlenstoff von oben, aus der Luft. Die Pflanze nimmt Nahrung von oben her auf.

Den Metamorphosengedanken werden Kinder unmittelbar nicht aufnehmen, aber den Zusammenhang zwischen Wasser und Wurzel, Luft und Blättern, Wärme und Blüten.

Es ist nicht gut, den Befruchtungsvorgang bei der Pflanze zu früh zu besprechen; jedenfalls nicht in dem Alter, wo man anfängt, Bo­tanik zu treiben. Aus dem Grunde nicht, weil das Kind diesem Be­fruchtungsvorgang nicht wirklich ein Verständnis entgegenbringt. Man kann ihn schildern, aber man findet beim Kinde dafür kein inneres Verständnis.

Das hängt damit zusammen, daß der Befruchtungsvorgang bei der Pflanze gar nicht einmal etwas so furchtbar Hervorragendes ist, als es von der heutigen, abstrakten naturwissenschaftlichen Zeit angenom­men wird. Lesen Sie nur einmal die schönen Aufsätze Goethes aus den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, wo er über die «Verstäubung» und so weiter geschrieben hat, wo er die Metamorphose verteidigt gegen den eigentlichen Befruchtungsvorgang, und wo er weidlich schimpft darüber, daß die Menschen es für so furchtbar wichtig halten, die Fluren eigentlich als fortwährendes, kontinuierliches Hochzeitsbett zu schildern. Das widerstrebte Goethe, daß man den Befruchtungsvorgang zu sehr in den Vordergrund stellte bei der Pflanze. Da ist die Metamor­phose viel wichtiger als der Befruchtungsvorgang. Wenn man auch heute nicht mehr den Glauben Goethes teilen kann, daß eigentlich die Befruchtung etwas Nebensächliches ist und die Pflanze hauptsächlich durch Metamorphose, durch sich selbst wächst, wenn auch heute nach den fortgeschrittenen Erkenntnissen der Befruchtungsvorgang als wich­tig angesehen werden muß, so bleibt doch dieses bestehen, daß wir eigentlich schon unrecht tun, wenn wir den Befruchtungsvorgang bei der Pflanze so sehr hervorkehren, wie wir es heute tun. Wir müssen ihn mehr zurücktreten lassen und müssen an diese Stelle die Beziehun­gen der Pflanze zur Umwelt setzen. Es ist viel wichtiger, zu schildern, wie Luft und Wärme und Licht und Wasser an der Pflanze wirken als diesen abstrakten Befruchtungsvorgang, der heute so sehr in den Vordergrund

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gestellt wird. Das möchte ich ganz besonders betonen. Und ich möchte, weil dieses wirklich eine Crux ist und von besonderer Wich­tigkeit, daß Sie über diesen Rubikon kommen und weiterschürfen nach dieser Richtung: Suchen Sie die richtige Methodik, die richtige Behand­lungsweise der Pflanzen.

Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie leicht fragen können:

Welches sind die Ähnlichkeiten des Tieres mit dem Menschen? Sie wer­den mannigfaltige Ansichten finden. Aber die äußere Vergleichsmethode versagt sehr bald, wenn man sucht nach Ähnlichkeiten der Pflanze mit dem Menschen. Aber man kann sich doch auch fragen: Suchen wir nicht vielleicht bloß falsch, wenn wir solche Vergleiche suchen?

Am nächsten kam dem, wovon hier ausgegangen werden sollte, das, was Herr R. berührt, aber dann fallengelassen und nicht weiter aus­geführt hat.

Wir können jetzt ausgehen von etwas, was Sie ja wissen, was Sie aber dem Kinde im kindlichen Alter nicht beibringen können. Aber Sie können vielleicht bis zu unserer nächsten Zusammenkunft nach­denken darüber, wie Sie das in kindlich-verständliche Worte kleiden können, was Sie mehr theoretisch sehr gut wissen können.

Also, nicht wahr, unmittelbar vergleichen können wir den Men­schen, so wie er uns entgegentritt, nicht mit der Pflanze, aber es gibt gewisse Ähnlichkeiten. Ich habe gestern versucht, den menschlichen Rumpf aufzuzeichnen wie eine Art unvollkommene Kugel. Das, was dazugehört, was man da bekommen würde, wenn man die Kugel er­gänzte, das hat nämlich so eine gewisse Ähnlichkeit mit der Pflanze im Wechselverhältnis mit dern Menschen. Ja, man könnte noch weiter­gehen und könnte sagen: Wenn Sie, namentlich für die mittleren Sinne, für den Wärmesinn, den Sehsinn, den Geschmackssinn, den Geruchs­sinn, den Menschen - verzeihen Sie den Vergleich! Sie werden ihn ins Kindliche umsetzen müssen - «ausstopfen», so würden Sie allerlei Pflanzenformen bekommen. Einfach indem Sie ein weiches Material in den Menschen hineinstopfen, würde das von selbst Pflanzenformen annehmen. Die Pflanzenwelt ist in gewissem Sinne eine Art Negativ für den Menschen: es ist das die Ergänzung.

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Mit anderen Worten: Wenn Sie einschlafen, geht Ihr eigentlich See­lisches aus dem Leibe heraus; wenn Sie aufwachen, geht Ihr Seelisches, Ich und eigentliche Seele, wiederum in den Leib hinein. Mit diesem Leibe, der im Bette liegen bleibt, können Sie nicht gut die Pflanzenwelt vergleichen. Wohl aber können Sie die Pflanzenwelt vergleichen mit der Seele selbst, die hinaus- und hereingeht. Und Sie können ganz gut, wenn Sie über die Felder und Wiesen gehen und sehen die durch ihre Blüten leuchtende Pflanze, sich fragen: Was ist das für eine Tempera­ment, das da herauskommt? Das ist feurig! - Mit seelischen Eigen­schaften können Sie diese strotzenden Kräfte, die Ihnen aus den Blüten entgegenkommen, vergleichen. - Oder Sie gehen durch den Wald und sehen Schwämme, Pilze, und fragen sich: Was ist das für ein Tempera­ment, das da herauskommt? Warum ist das nicht an der Sonne? Das sind die Phlegmatiker, diese Pilze.

Also wenn Sie zu dem Seelischen übergehen, finden Sie überall Ver­gleichsmomente mit der Pflanzenwelt. Versuchen Sie die nur auszu­bilden! Während Sie die Tierwelt mehr vergleichen müssen mit der Leiblichkeit des Menschen, müssen Sie die Pflanzenwelt mehr verglei­chen mit dem Seelischen des Menschen, mit dem, was den Menschen «ausstopft», und zwar als Seele ausstopft, wenn er am Morgen auf­wacht. Die Pflanzenwelt ergänzt den Menschen, wie seine Seele ihn ergänzt. Würden wir die Formen ausstopfen, so würden wir die Pflan­zenformen bekommen. Sie würden auch sehen, wenn Sie das zustande brächten, den Menschen zu konservieren wie eine Mumie, und beim Herausnehmen nur alle Blutgefäßbahnen, alle Nervenbahnen leer lie­ßen, und würden da hineingießen einen sehr weichen Stoff, dann wür­den Sie alle möglichen Formen bekommen durch die Hohlformen des Menschen.

Die Pflanzenwelt steht zum Menschen so, wie ich Ihnen eben aus­geführt habe, und Sie müssen versuchen, den Kindern klarzumachen, wie die Wurzeln mehr verwandt sind mit den menschlichen Gedanken, die Blüten mehr mit den menschlichen Gefühlen, ja schon mit den Affekten, den Emotionen.

Daher ist es auch, daß die vollkommensten Pflanzen, die höheren Blütenpflanzen, am wenigsten Tierisches haben. Am meisten Tierisches

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haben die Pilze und die niedrigsten Pflanzen, die man auch am wenig­sten mit der menschlichen Seele vergleichen könnte.

Also arbeiten Sie darauf hin, daß Sie jetzt diesen Gedanken, von dem Seelischen auszugehen und die pflanzlichen Charaktere zu suchen, über die verschiedensten Pflanzen hin ausdehnen. Dadurch charakteri­sieren Sie ja die Pflanzen, daß die einen mehr ausbilden den Frucht-charakter: die Pilze und so weiter; die anderen mehr den Blattcharak­ter: die Farne, die niederen Pflanzen; auch die Palmen haben ja ihre mächtigen Blätter. Nur sind diese Organe in verschiedener Weise aus­gebildet. Ein Kaktus ist dadurch ein Kaktus, daß die Blätter wuchern in ihrem Wachstum; ihre Blüte und Frucht ist ja nur etwas, was da ein­gestreut ist in die wuchernden Blätter.

Also versuchen Sie, den Gedanken, den ich Ihnen andeutete, so recht ins Kindliche zu übersetzen. Strengen Sie Ihre Phantasie an, daß Sie bis zum nächsten Mal die Pflanzenwelt über die Erde hin ganz lebendig schildern können wie etwas, was wie die Seele der Erde ins Kraut, ins Blühen schießt, die sichtbare, die offenbar werdende Seele.

Und verwenden Sie die verschiedenen Gegenden der Erde, warme Zone, gemäßigte Zone, kalte Zone, nach dem vorwiegenden Pflanzen­wachstum, so wie im Menschen die verschiedenen Sinnesgebiete in sei­ner Seele ihre Beiträge liefern. Versuchen Sie sich klarzumachen, wie eine ganze Vegetation verglichen werden kann mit der Tonwelt, die der Mensch aufnimmt in seine Seele. Wie eine andere Vegetation ver­glichen werden kann mit der Lichtwelt, eine andere mit der Geruchs­welt und so weiter.

Dann machen Sie den Gedanken fruchtbar, wodurch Sie herauskrie­gen den Unterschied zwischen einjährigen und mehrjährigen Pflanzen, zwischen westlicher, mitteleuropäischer, osteuropäischer Pflanzenwelt. Machen Sie den Gedanken fruchtbar, daß eigentlich im Sommer die ganze Erde schläft und im Winter wacht.

Sehen Sie, wenn Sie so etwas tun, werden Sie viel Sinn im Kinde erwecken für Sinnigkeit und für Geistigkeit. Das Kind wird später viel mehr begreifen, wenn es einmal ein ausgewachsener Mensch ist, wie unsinnig es ist, zu glauben, daß der Mensch seiner Seele nach am Abend nufhört zu sein, und morgens wieder anfängt zu sein, wenn man ihm

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das Entsprechen von Leib und Seele beim Menschen verglichen haben wird mit dem, was sich ergibt als Wechselverhältnis zwischen der Men­schenwelt und der Pflanzenwelt ebenso wie zwischen Leib und Seele.

Wie wirkt denn die Erde auf die Pflanze? Die Erde wirkt auf die Pflanze, wie eben der menschliche Leib wirkt auf die Seele. Die Pflan­zenwelt ist überall das Umgekehrte zum Menschen, so daß Sie, wenn Sie an die Pflanzenwelt kommen, den menschlichen Leib mit der Erde -und noch mit etwas anderem, da werden Sie selbst darauf kommen -vergleichen müssen. Ich wollte nur Andeutungen geben, damit Sie dann möglichst erfinderisch auf noch mehr kommen bis zum nächsten Mal. Dann werden Sie sehen, daß Sie den Kindern sehr viel Gutes tun, wenn Sie ihnen nicht äußerliche Vergleiche beibringen, sondern innerliche.

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ZEHNTE SEMINARBESPRECHUNG Stuttgart, 1. September 1919

Sprechübungen:

Pfiffig pfeifen aus Näpfen

Pfäffische Pferde schlüpfend

Pflegend Pflüge hüpfend

Pferchend Pfirsiche knüpfend

Kopfpfiffig pfeifen aus Näpfen

Napfpfäffische Pferde schlüpfend

Wipfend pflegend Pflüge hüpfend

Tipfend pferchend Pfirsiche knüpfend

Rudolf Steiner: Das «pf« sollte recht regsam turnerisch gemacht wer­den.

Ein Stück, wobei zum Teil auf die Form, zum Teil auf den Inhalt zu achten ist, ist das Folgende:

Aus den «Galgenliedern» von Christian Morgenstern:

Das Gebet

Die Rehlein beten zur Nacht,

Hab acht!

Halb neun!

Halb zehn!

Halb elf!

Halb zwö]f!

Zwölf!

Die Rehlein beten zur Nacht,

Hab acht!

Sie falten die kleinen Zehlein,

die Rehlein.

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Rudolf Steiner: Jetzt werden wir unsere Betrachtungen über die Pflan­zenwelt fortsetzen.

Es folgen Ausführungen einiger Kursteilnehmer

Rudolf Steiner macht mehrfache Zwischenbemerkungen dazu: Es wird später einmal solche Schüler geben, die das Pflanzenreich kennen­lernen mehr nach wissenschaftlichen Begriffen, die da wären: Moose, Flechten, Algen, Monokotyledonen, Dikotyledonen. Dies systematische Kennenlernen nach wissenschaftlichen Grundsätzen wird manchmal in die Schule hineingetragen. Aber jeder Mensch, der in der Jugend Pflan­zen nach wissenschaftlichen Grundsätzen kennenlernt, sollte sie zuerst kennenlernen so, wie wir sie beschreiben, durch Vergleich mit den menschlichen Seeleneigenschaften. Niemand sollte zuerst wissenschaft­liche Botanik kennenlernen. Nachher, später kann er dann an das mehr wissenschaftliche Pflanzensystem herankommen. Es ist ein Unterschied, ob wir erst versuchen die Pflanzen zu beschreiben, und nachher wissen­schaftlich an sie herankommen, oder umgekehrt. Man verdirbt sehr viel beim Menschen, wenn man ihm gleich wissenschaftliche Botanik bei-bringt, wenn er nicht zuerst solche Begriffe bekommt, wie wir sie jetzt darzustellen versuchten. Er sollte aus der Seele, aus dem Gedächtnis herausbringen solche allgemein menschlichen Pflanzenbegriffe, wenn er an die wissenschaftliche Systematik herankommt.

Die Pflanzenwelt ist die sichtbar gewordene Seelenwelt der Erde. Die Nelke ist kokett. Die Sonnenblume ist so richtig bäurisch. Die Son­nenblumen lieben so bäurisch zu glänzen. Recht große Blätter von Pflan­zen würden seelisch bedeuten: mit nichts fertig werden, lange zu allem brauchen, ungeschickt sein, namentlich nicht fertig werden können. Man glaubt, er ist fertig, er ist aber immer noch dabei. - Das Seelische in den Pflanzenformen suchen!

Wenn der Sommer herankommt, schon wenn der Frühling heran­kommt, so breitet sich Schlaf über die Erde aus. Der wird immer dichter und dichter; es ist nur ein Räumlich-Ausbreiten. Wenn die Pflanze am meisten sich entfaltet, schläft sie am meisten. Und im Herbst vergeht der Schlaf, da sind die Pflanzen nicht mehr da, da ist der Schlaf nicht mehr über die Erde ausgebreitet. Beim Menschen gehen die Gefühle,

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Leidenschaften und Affekte und so weiter mit hinein in den Schlaf, aber dadrinnen würden sie aussehen wie die Pflanzen. Was wir an der Seele unsichtbar haben, verborgene Eigenschaften der Menschen, sagen wir Koketterie, wird sichtbar in den Pflanzen. Beim wachenden Men­schen sehen wir das nicht, am schlafenden Menschen aber könnte es hellseherisch beobachtet werden. Koketterie: so sieht sie aus, wie eine Nelke. Eine kokette Dame, die würde aus ihrer Nase fortwährend Nel­ken hervortreiben. Da würde ein langweiliger Mensch riesige Blätter aus seinem ganzen Leibe hervortreiben, wenn Sie ihn sehen könnten.

Wenn der Gedanke angeschlagen wird, daß die Erde schläft, muß man auch weitergehen. Man muß festhalten: die Pflanzenwelt wächst im Sommer. Die Erde schläft im Sommer, im Winter wacht sie. Die Pflanzenwelt ist die Seele der Erde. Beim Menschen hört alles auf, was Seelenleben ist, wenn er einschläft; bei der Erde fängt es recht an, wenn sie einschläft. Das Seelische äußert sich am schlafenden Menschen aber nicht. Wie führt man das Kind über diese Schwierigkeit hinweg?

Ein Kursteilnehmer hatte gemeint, die Pflanzen seien als die Träume der Erde anzusehen.

Rudolf Steiner: Aber die Pflanzenwelt des Sommers sind nicht die Träume der Erde. Die Erde schläft im Sommer. Träume können Sie nur das nennen, wie die Pflanzenwelt aussieht im Frühling und im Herbst. Nur in den ersten Anfängen, meinetwegen das Märzveilchen, wenn es noch grün ist, nicht aber mehr, wenn es blüht, und dann die Zeit, wo das Laub wieder abfällt, können Sie mit Träumen vergleichen. Versuchen Sie, von da den Übergang zu gewinnen zu dem wirklichen Begreifen der Pflanze.

Sie müßten zum Beispiel folgendes mit dem Kinde anfangen: «Sieh dir einmal an einen Hahnenfuß, irgendeine Pflanze, die wir ausgraben können aus der Erde, die uns unten Wurzeln zeigt, Stengel, Blätter, Blü­ten, und dann Staubgefäße, Stempel, um daraus die Frucht zu entwilt­keln.» - Solch eine Pflanze führe man dem Kinde wirklich vor.

Dann führe man dem Kinde vor einen Baum und sage ihm: «Sieh einmal, stelle dir neben der Pflanze diesen Baum vor! Wie ist es mit diesem Baum? Ja, er hat da unten auch Wurzeln, allerdings, aber dann ist kein Stengel da, sondern ein Stamm. Dann breitet er erst die Äste

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aus, und dann ist es so, als ob auf diesen Ästen erst die eigentlichen Pflanzen wüchsen. Denn da sind viele Blätter und Blüten auf den Ästen darauf; da wachsen kleine Pflanzen wie auf den Ästen selber oben darauf. So daß wir tatsächlich, wenn wir wollen, die Wiese so anschauen können: Da wachsen zum Beispiel so gelbe Hahnenfüße über die ganze Wiese hin. Sie ist bedeckt mit einzelnen Pflanzen, die ihre Wurzeln in der Erde haben, und die da wachsen über die ganze Wiese hin. Aber beim Baum ist es, wie wenn man die Wiese genommen hätte, hätte sie hinaufgehoben, hätte sie gebogen, und dann wachsen erst da droben die vielen Blüten. Der Stamm ist ein Stück Erde selbst. Der Baum ist dasselbe wie die Wiese, auf der die Pflanzen wachsen.

Dann gehen wir vom Baum über zum Löwenzahn oder zur Kamille. Da ist etwas Wurzelhaftes in der Erde darinnen; es wächst etwas her­aus wie Stengel, Blätter. Aber da ist oben ein Blütenkörbchen, da stehen lauter kleine Blüten nebeneinander. Beim Löwenzahn ist es ja so, daß der da oben ein Körbchen macht, und da hat er lauter kleine Blüten, vollständige Blüten, die da drinnen stecken im Löwenzahn. Jetzt, nicht wahr, haben wir: den Baum, den Korbblütler und die gewöhnliche Pflanze, die Stengelpflanze. Beim Baum ist es so, wie wenn die Pflan­zen erst da oben wachsen würden. Beim Korbblütler ist die Blüte da oben; das sind aber keine Blumenblätter, das sind unzählige, vollent-wickelte Blumen.

Jetzt denken wir, es wäre die Geschichte gerade so, als ob die Pflanze alles da unten behält in der Erde. Sie will die Wurzeln entfalten, bringt es aber nicht dazu. Sie will Blätter entfalten, bringt es nicht dazu. Nur da oben, dasjenige, was sonst in der Blüte drinnen ist, entfaltet sich: da kommt ein Pilz heraus. Und wenn es zur Not ist und die Wurzel da un­ten mißglückt und nur Blätter herauskommen: da kommen Farne her­aus. Das sind alles verschiedene Formen, aber es sind alles Pflanzen.»

Zeigen Sie dem Kinde den Hahnenfuß, wie der seine Würzelchen ausbreitet, wie der seine fünf gelben gefransten Blütenblätter hat. Dann zeigen Sie ihm den Baum, wie da darauf erst das Pflanzliche wächst; dann Korbblütler, dann den Pilz, dann Farnkraut, nicht sehr wissen­schaftlich, sondern so, daß die Kinder die Form im allgemeinen ken­nen. Dann sagen Sie dem Kinde: «Ja, was glaubst du eigentlich, warum

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ist denn eigentlich der Pilz ein Pilz geblieben? Warum ist der Baum ein Baum geworden? - Vergleichen wir einmal den Pilz mit dem Baum. Was ist denn da für ein Unterschied? Ist es denn nicht so, als ob die Erde in ihrer Kraft sich herausgedrängt hätte, wie wenn sich ihr Inner­stes im Baum herausgedrängt hätte in den äußeren Raum, in die Höhe, um da draußen erst die Blüten und Früchte zu entwickeln? Und beim Pilz hat sie da drinnen behalten, was sonst über die Erde emporwächst, und nur das Alleroberste sind die Pilze. Beim Pilz ist der Baum unter der Erde, er ist nur in den Kräften vorhanden. Der Pilz ist, was sonst Äußerstes des Baumes ist. Wenn sich viele, viele Pilze über der Erde ausbreiten, dann ist das so, wie wenn da unten ein Baum wäre, nur ist er in der Erde drinnen. Wenn wir einen Baum sehen, ist es so, wie wenn die Erde sich selbst aufgestemmt, aufgestülpt hätte und ihr Inneres nach außen bringen würde.»

Jetzt kommen Sie schon näher dem, wie die Sache eigentlich ist:

«Wenn da die Pilze wachsen, da mit den wachsenden Pilzen, da nimmt die Erde etwas auf, was sie nach außen befördert, wenn sie Bäume wachsen läßt. Wenn die Erde also Pilze wachsen läßt, so behält sie die Kraft des wachsenden Baumes in sich. Wenn die Erde aber Bäume wachsen läßt, dann kehrt sie die wachsende Kraft des Baumes nach außen.»

Jetzt haben Sie etwas, was allerdings, wenn es Sommer wird, nicht in der Erde darinnen ist, sondern herauskommt aus der Erde; und wenn es Winter ist, da geht es hinunter in die Erde. - «Wenn es Sommer ist, da sendet die Erde durch diese Kraft des Baumes ihre eigene Kraft in die Blüten hinein, läßt sie entfalten, und wenn es Winter ist, nimmt sie sie wieder zurück in sich selber. Wo ist eigentlich die Kraft, die im Sommer da außen in den Bäumen kreist - nur klein sich zeigt in dem Veilchen, groß in den Bäumen -,im Winter? Die ist da drunten in der Erde im Winter. Und was tun denn die Bäume, die Korbblütler und dies alles, wenn es tief Winter ist? Da entfalten sie sich dann ja ganz unter der Erde, da sind sie da drinnen in der Erde, da entfalten sie das Seelenleben der Erde. Das haben die alten Leute gewußt. Deshalb haben sie Weihnachten, wo man das Seelenleben sucht, nicht auf den Sommer gesetzt, sondern auf den Winter.

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Geradeso wie beim Menschen, wenn er einschläft, sein Seelenleben nach außen geht, und wenn er wacht, nach innen, nach dem Leibe geht, so geschieht es ja bei der Erde auch. Im Sommer, wenn sie schläft, schickt sie ihre safttragende Kraft nach außen. Im Winter nimmt sie sie zurück, wacht auf, indem sie all die verschiedenen Kräfte in sich hat. -Denkt, Kinder, wie diese Erde alles empfindet, alles fühlt! Denn das­jenige, was ihr den ganzen Sommer da seht in Blüten und Blättern, was im Sommer da strotzt, wächst, blüht, in den Hahnenfüßchen, den Ro­sen, den Nelken: im Winter ist es unter der Erde, da fühlt, zürnt, freut sich das, was unter der Erde ist.»

So bekommt man nach und nach den Begriff des unter der Erde im Winter lebenden Lebens. Das ist die Wahrheit! Und das ist gut, wenn man das den Kindern beibringt. Das ist nicht etwas, was die materia­listischen Menschen für eine Schwärmerei halten könnten. Aber man geht da zu dem über, was wirklich als das Ganze in dem Pflanzenleben besteht. Die Kinder werden abgeleitet von dem gewöhnlichen In-den-Pflanzen-Aufgehen in das, was die Säfte im Sommer in der Hitze über die Erde treibt, im Winter wieder zurücknimmt in die Erde hinein, in dieses Aufundabflutende.

Auf diese Weise bekommen Sie dasjenige, was wirkliches Seelen-leben der Erde ist, sich spiegelnd in den Pflanzen. Farne, Moose, Pilze entfalten unter der Erde alles das, was ihnen fehlt, nur bleibt es Äther-substanz, wird nicht physische Substanz. Wenn diese Ätherpflanze über die Erdoberfläche herauskommt, dann verwandelt sie das, was da her­ausdringt, durch die Wirkung der äußeren Kräfte in diese Rudimente von Blättern, was die Pilze, Moose, Farne sind. Drunten unter einer Moosfläche, oder einer von Pilzen bewachsenen Fläche, ist etwas wie ein Riesenbaum, und wenn die Erde das da unten nicht aufzehren kann, nicht bei sich behalten kann, dann drängt es sich nach außen.

Der Baum ist ein Stückchen der Erde selbst, Stamm und Äste. Da wird nur das, was bei den Pilzen und Farnen noch da drunten ist, her­ausgehoben. So daß der Baum, wenn er langsam hineingeschoben würde in die Erde, alles ändern würde; wenn man ihn untertauchen ließe, würden aus den Blättern und Blüten werden Farne, Moose, Pilze, und es würde für ihn dann Winter werden. Nur entzieht er sich dem Winterwerden.

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Er ist dasjenige, was sich etwas dem Winterwerden entzieht. Würde ich aber so einen Pilz oder Farn beim Schopf packen können und immer weiter herausziehen aus der Erde, so daß das, was unten an Äthersubstanz ist, an die Luft käme, so würde ich einen ganzen Baum herausziehen, und was Pilze wären, würden außen Blüten werden und aussehen wie Bäume. Und die einjährigen Pflanzen stehen mitten drinnen. Die Korbblüte ist, nur in einer einzelnen Form, dasjenige, was da dann entsteht. Wenn ich die Korbblüte herunterschicken würde, dann würden sich auch lauter einzelne Blüten entwickeln. Die Korb-blüte ist etwas. was man nennen könnte einen zu schnell aufgeschosse­nen Baum.

So kann auch in der Erde ein Wunsch leben. Die Erde hat das Be­dürfnis, den Wunsch ins Schlafleben versinken zu lassen. Das tut sie im Sommer, und der Wunsch steigt auf als Pflanze. Oben wird er dann erst sichtbar, als Wasserlilie. Unten in der Erde lebt er als Wunsch, oben wird er dann Pflanze.

Die Pflanzenwelt ist die sichtbar gewordene Seelenwelt der Erde, und daher mit der Seele des Menschen zu vergleichen. Aber man soll nicht bloß vergleichen, sondern die wirklichen Formen der Pflanzen hineinbekommen. Erst aus dem Gesamtvergleich kann man zu den einzelnen Pflanzen kommen.

Ein leises Schlafen werden Sie vergleichen mit den gewöhnlichen Pflanzen, ein Wachen während des Schlafes mit den Pilzen - wo viele Pilze sind, da ist eine Stelle, wo die Erde wacht während des Som­mers -, ein ganz gründliches, tiefes Schlafen mit den Bäumen. Daraus ersehen Sie, daß die Erde nicht so schläft wie der Mensch, sondern daß die Erde an verschiedenen Stellen mal mehr schläft, mehr wacht, mehr schläft, mehr wacht. So auch der Mensch, der ja im Auge und in den übrigen Sinnesorganen gleichzeitig nebeneinander hat Schlafen, Wa­chen und Träumen.

Aufgabe für morgen: Machen Sie ein Verzeichnis und stellen Sie auf: links ein Register der menschlichen Seeleneigentümlichkeiten, vom Gedanken herunter durch alle seelischen Affekte, Lust-, Unlustgefühle, aktive, heftige Affekte, Zorn, Trauer und so weiter bis zum Willen

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herunter. Mit dern Plan der menschlichen Seelenwelt können bestimmte Pflanzenformen verglichen werden.

Rechts führen Sie dann an die zugehörigen einzelnen Pflanzen­gestaltungen, so daß Sie in diesem Glied oben haben die Gedanken­pflanzen, unten die Willenspflanzen, in der Mitte alle die übrigen Pflanzen.

Rudolf Steiner gibt darauf noch eine anschauliche Erläuterung des pythagoreischen Lehrsatzes und verweist auf einen Artikel von Dr. Ernst Müller - in Ostwalds «Annalen der Naturphilosophie»: «Be­merkung über eine erkenntnistheoretische Grundlegung des pythago­goreischen Lehrsatzes.»

#Bild s. 119

In der Zeichnung liegt der rote Teil des Flächeninhaltes der beiden Katheten­quadrate bereits innerhalb des Hypotenusenquadrates. Der übrige Teil dieses Ka­thetenquadrat-Inhaltes wird durch Verschiebung des blauen und grünen Dreiecks in der Richtung der Pfeile mit den innerhalb des Hypotenusenquadrates liegenden, noch ungedeckten Flächen zur Deckung gebracht.

Rudolf Steiner: Man muß das Ganze aus Pappe ausschneiden, dann wird es erst anschaulich.

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ELFTE SEMINARBESPRECHUNG Stuttgart, 2. September 1919

Rudolf Steiner: Bei der sprachlichen Übung, die wir hier vornehmen, handelt es sich ja hauptsächlich um ein Geschmeidigmachen der Sprach­organe.

Sprechübungen:

Ketzer petzten jetzt kläglich

Letztlich leicht skeptisch

Man sollte sich gewöhnen, daß die Zunge es wie von selbst sagt.

Zuwider zwingen zwar

Zweizweckige Zwacker zu wenig

Zwanzig Zwerge

Die sehnige Krebse

Sicher suchend schmausen

Daß schmatzende Schmachter

Schmiegsam schnellstens

Schnurrig schnalzen

Ganz vollkommen sind diese letzten Dinge nur, wenn sie auswen­dig gesagt werden, ebenso das vorige.

Aus «Wir fanden einen Pfad» von Christian Morgenstern:

Wer vom Ziel nicht weiß,

Kann den Weg nicht haben,

Wird im selben Kreis

All sein Leben traben;

Kommt am Ende hin,

Wo er hergerückt,

Hat der Menge Sinn

Nur noch mehr zerstückt.

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Rudolf Steiner: Jetzt wollen wir zu unserer Aufgabe gehen, an der wir ja schon lange nagen.

M. gibt ein Verzeichnis von Seelenstimmungen und von den Pflanzen, die diesen Stimmungen zuzuteilen wären.

Rudolf Steiner: Alle diese vorgebrachten Dinge sind so, daß sie ei­nen erinnern an die Zeit der Phrenologie, wo man in beliebiger Weise menschliche Seeleneigenschaften zusammengelesen hat, und dann aller­lei Erhebungen am Kopf gesucht und diese mit menschlichen Seelen-eigenschaften zusammengebracht hat. So sind aber die Dinge nicht, obwohl das menschliche Haupt durchaus als Ausdruck der Seelenbil-dung gefaßt werden kann. Man kann sagen, wenn jemand eine ganz stark vorspringende Stirn hat, so kann er ein Philosoph sein, während er mit nach hinten fliehender Stirn, wenn er begabt ist, ein Künstler werden kann. Man kann nicht sagen, der Künstler «sitzt» irgendwo, aber man kann mit der Empfindung unterscheiden, was in die eine oder in die andere Form hineinfließt. Nun handelt es sich darum, daß man die Seele in dieser Weise anschaut: was mehr intellektualistisch ist, das treibt in die Stirn hinein; was mehr künstlerisch ist, das läßt die Stirn verlaufen. - So ist es auch bei diesem Suchen unter den Pflan­zen. Ich meine, man sollte nicht so äußerlich suchen, sondern man sollte mehr ins Innere eindringen und die tatsächlichen Verhältnisse schil­dern.

I. macht Ausführungen dazu.

Rudolf Steiner: Wenn Sie zu sehr nur nach den Sinnen sehen, wer­den Sie den Gesichtspunkt etwas verrücken. Die Sinne kommen inso­fern in Betracht, als von jedem Sinn aus etwas in unserer Seele lebt, was von diesem Sinn wahrgenommen wird. Wir verdanken zum Bei­spiel dern Sehsinn eine Anzahl von seelischen Erlebnissen; anderen Sin­nen verdanken wir andere Erlebnisse der Seele, die von den Sinnen her­kommen. Da können wir dann Erlebnisse in unserer Seele zurückda­tieren zu diesen Sinnen. Dadurch kommt der Sinn in Zusammenhang mit dern Seelischen. Aber direkt sollte man nicht für die Pflanzen gel­tend machen, daß sie die Sinne der Erde ausdrücken. Das tun sie nicht.

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S. führt Beispiele an aus den Schriften von Emil Schlegel, dern homöopathischen Arzt in Tübingen.

Rudolf Steiner: Auch Schlegel vergleicht noch zu äußerlich. Er geht dabei zurück auf das, was bei den Mystikern zu finden ist, bei Jakob Böhme und anderen, auf die sogenannten «Signaturen». Die mittel­alterlichen Mystiker kannten gewisse Beziehungen zur seelischen Welt und hatten daraus auch tiefere medizinische Gesichtspunkte. Wenn man findet: diese bestimmte Pflanzengruppe steht in Beziehung zu einer seelischen Eigenschaft - zum Beispiel Pilze stehen in besonderer Beziehung zu der seelischen Eigenschaft des viel Nachdenkens, des viel Überlegens, des So-seelisch-Lebens, daß man zu diesem seelischen Er­leben nicht viel braucht aus der Außenwelt, sondern alles mehr aus sich selbst herauspumpt -, dann wird man wiederum finden, daß diese seelische Eigenschaft, die im Grunde genommen auf die Pilze hinweist, sehr intime Beziehungen zu allen kopfschmerzartigen Krankheiten hat. Daraus wird man auf Beziehungen von Pilzen zu kopfschmerzartigen Krankheiten kommen. In der Tierlehre kann man diese Vergleiche nicht so machen.

Eine ordentliche Anordnung der Pflanzen gibt es heute noch nicht. Sie müssen versuchen, gerade durch die Beziehungen des menschlichen Seelischen zu den Pflanzen Ordnung in das Pflanzenleben selbst hin­einzubekommen. Wir wollen eine Ordnung des Pflanzenreiches haben.

Sie müssen zuerst an der Pflanze unterscheiden dasjenige, was be­rechtigte Teile an der Pflanze sind: Wurzel, Stengel, der zum Stamm auswachsen kann, Blätter, Blüten, Früchte. Die Pflanzen gliedern sich so in der Welt, daß bei der einen Pflanzengattung mehr die Wurzel aus­gebildet ist; das andere verkümmert. Bei anderen sind mehr die Blätter ausgebildet, bei anderen mehr die Blüten; sie sind fast nur Blüte. Die Dinge müssen verhältnismäßig genommen werden. Wir bekommen eine Gliederung der Pflanzen, indem wir darauf sehen, welche Organ-systeme, Wurzel, Stamm, Blatt und so weiter überwiegen, dadurch unterscheiden sich die Pflanzen in gewisser Beziehung voneinander. Wenn Sie nun alles Blütenhafte als zu einer gewissen Seeleneigenschaft gehörig erkennen, so werden Sie auch die anderen Organsysteme wie­derum anderen Seeleneigenschaften zuteilen müssen. So daß es also

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eins und dasselbe ist, einzelne Teile zu den Seeleneigenschaften zu rech­nen, und das ganze Pflanzenreich dazuzurechnen. Das ganze Pflanzen­reich ist eigentlich wiederum eine einzige Pflanze.

Wie ist es denn eigentlich mit dem Schlafen und Wachen der Erde? Jetzt schläft die Erde bei uns, aber bei den Gegenfüßlern erwacht sie. Sie trägt den Schlaf auf die andere Seite. Daran nimmt natürlich auch die Pflanzenwelt teil, und das bedingt auch Unterschiede der Vegetation. Da bekommen Sie dann die Möglichkeit, nach dieser räumlichen Ver­teilung von Schlafen und Wachen auf der Erde, das heißt nach Som­mer und Winter, eine Gliederung, eine Einteilung der Pflanzen heraus­zubekommen. Es ist ja unsere Vegetation nicht dieselbe wie beim Ge­genfüßler. Wir werden hier nur Rücksicht nehmen auf die schlafende und wachende Seele, wie wir sie bei uns kennen. Zu den Blättern ge­hört bei den Pflanzen alles; alles an ihnen ist umgewandeltes Blatt.

Ein Teilnehmer vergleicht Pflanzengruppen mit Temperamenten.

Rudolf Steiner: Man kommt auf eine schiefe Ebene, wenn man die Temperamente unmittelbar auf das Pflanzenreich bezieht.

Wir wollen einmal folgendes sagen; wir sind ja nach unserem Lehr­plan, wenn wir das Pflanzenreich zu lehren anfangen, gegen das elfte Jahr der Kinder. Wir sagen: «Kinder! Ihr waret doch nicht immer so groß, als ihr jetzt seid. Ihr habt eine ganze Menge gelernt, was ihr früher nicht gekonnt habt. Ihr waret, wie euer Leben angefangen hat, klein und ungeschickt und habt das Leben noch nicht führen können. Damals konntet ihr, wie ihr noch ganz klein waret, noch nicht einmal sprechen. Ihr konntet auch noch nicht gehen. Ihr habt vieles nicht gekonnt, was ihr jetzt könnt. Besinnen wir uns einmal alle, denken wir zurück an die Eigenschaften, die ihr gehabt habt, wie ihr ganz kleine Kinder waret. Könnt ihr euch erinnern an die Eigenschaften, die ihr da gehabt habt? Könnt ihr euch erinnern? Könnt ihr euch er­innern, was ihr da getan habt?» Man fragt so fort, bis alle einsehen und «nein» sagen.

«Ihr wißt also alle nichts über dasjenige, was ihr getan habt, wie ihr ganz kleine Pürzelchen waret. - Ja, liebe Kinder, gibt es nicht noch etwas anderes in euch, von dern ihr auch nicht wißt hinterher, was ihr

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getan habt?» Die Kinder denken nach. Vielleicht ist einer dabei, der darauf kommt, andernfalls führt man sie darauf hin. Es kann dann die Antwort kommen von einem: «Wie ich geschlafen habe.» - «Ja, es geht euch also da gerade so, wenn ihr klein seid, wie wenn ihr im Bett liegt und schlaft. Da schlaft ihr also als ganz kleine Sputzi, und da schlaft ihr, wenn ihr im Bett liegt.

Nun gehen wir in die Natur hinaus und suchen etwas, was da drau­ßen in der Natur so schläft, wie ihr geschlafen habt, als ihr noch ein ganz kleines Sputzi waret. Ihr könnt natürlich nicht selber draufkom­men, aber diejenigen, die so etwas wissen, die wissen, daß so fest, wie ihr schlaft, wenn ihr ein ganz kleines Sputzi seid, alles das schläft, was ihr im Walde als Pilze und Schwämme findet. Pilze, Schwämme. sind kindschlafende Seelen.

Jetzt kam die Zeit, wo ihr sprechen und gehen gelernt habt. Ihr wißt das von euren kleinen Geschwistern, daß man zuerst sprechen und gehen lernt. Das Sprechen zuerst und dann das Gehen, oder das Gehen zuerst und dann das Sprechen. Da ist eine Eigenschaft, die eure Seele dazubekommt, die habt ihr von Anfang an nicht gehabt. Ihr habt etwas dazugelernt, ihr könnt dann mehr, wenn ihr gehen und sprechen könnt.

Jetzt gehen wir in die Natur hinaus und suchen uns wiederum etwas, was auch mehr kann als die Schwämme und Pilze. «Das sind Algen» -ich muß jetzt dern Kinde etwas von Algen vorführen - «das sind Moose» - ich muß dern Kinde Moose zeigen. - «Was da drinnen in Algen und Moosen ist, das kann schon viel mehr, als was in den Pilzen drinnen ist.»

Dann zeige ich dern Kinde ein Farnkraut und sage: «Sieh mal, das Farnkraut, das kann noch viel mehr als die Moose. Das Farnkraut, das kann schon so viel, daß man sagen muß, es sieht so aus, wie wenn es schon Blätter hätte. Es ist schon Blattartiges daran. Ja, du erinnerst dich nicht, was du getan hast, als du sprechen und gehen gelernt hast. Da warst du immer ziemlich schlafend. Aber wenn du deine Geschwi­ster anschaust oder andere kleine Kinder, dann weißt du, daß sie dann später nicht mehr so lang schlafen als im Anfang. Aber einmal kam der Zeitpunkt, bis zu dern ihr euch zurückerinnert, wo eure Seele aufwachte.

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Denkt nur daran! Der Zeitpunkt, der da in eurer Seele gewe­sen ist, der läßt sich vergleichen mit den Farnen. Aber immer besser könnt ihr euch an euer Seelenleben erinnern, immer besser und besser. Wir wollen uns einmal ganz klar sein darüber, wie ihr dazu gekom­men seid, zu sagen. Es ist ungefähr der Zeitpunkt, bis zu dern ihr euch erinnern könnt. Aber das kam so nach und nach. Zuerst sagtet ihr immer , wenn ihr euch selber meintet.» Nun läßt man sich von dern Kinde so etwas erzählen, was es von seiner Kindheit weiß. Dann sagt man zu ihm: «Sieh mal, vorher war es wirk­lich so in deiner Seele, wie wenn alles schläft; da war es wirklich Nacht in deiner Seele. Aber nun ist sie erwacht. Jetzt ist mehr in dir erwacht als früher, sonst wärest du nicht gescheiter. Aber da mußt du doch noch immer wieder schlafen. Es ist nicht alles in dir erwacht, es schläft noch vieles. Es ist erst ein Teil erwacht.

Deine seelischen Eigenschaften, wie du so vier, fünf Jahre alt ge­worden bist, die, ja, die kommen dern nahe, was ich dir jetzt zeige.» Wir werden dem Kind irgendwelche Pflanzen vorführen aus der Fa­milie der Gymnospermen, der Nadelhölzer, die sich nur etwas voll­kommener gestalten als die Farne, und dann werden Sie dern Kinde sagen: «Sieh einmal, dann gibt es in deinem späteren Seelenleben, wie du sechs oder sieben Jahre alt geworden bist, das, daß du hast in die Schule gehen können, und alle die Freuden, die dir die Schule gebracht hat, die gingen dann in deiner Seele auf.» - Da macht man ihm klar, in-dern man ihm eine Pflanze aus der Familie der Nadelhölzer, der Gyrn­nospermen vorführt: «Sieh mal, die haben noch keine Blüten. So war es mit deiner Seele, ehe du in die Schule gekommen bist.

Jetzt aber, wo du in die Schule gekommen bist, da kam in deine Seele etwas hinein, was sich nur mit der blühenden Pflanze vergleichen läßt. Aber sieh, da hast du zuerst nur wenig gelernt, wie du so acht, neun Jahre alt warst. Jetzt bis du schon ein ganz gescheites Wesen, schon elf Jahre alt, jetzt hast du schon eine ganze Menge gelernt.

Sieh einmal, da reiche ich dir eine Pflanze, die hat solche Blätter, einfach streifennervige (Zeichnung 1). Und da reiche ich dir eine Pflanze, die hat solche Blätter, kompliziertere Blätter, netznervige (Zeichnung 2). Und wenn du die Blüten anschaust, bei denen (Zeichnung 1),

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#Bild s. 126

da sind sie anders als bei den Pflanzen, die solche Blätter haben (Zeichnung 2). Deren Blüten sind komplizierter, und alles ist komplizierter bei denen, die solche netznervigen Blätter haben (Zeich­nung 2), als bei denen, die solche streifennervigen haben (Zeichnung 1).»

Jetzt weist man dern Kinde so etwas vor wie Herhstzeitlose, Mono­kotyledonen. Bei denen ist alles einfach. Das vergleicht man mit dern siebenten, achten, neunten Jahre.

Und dann geht man dazu über, zeigt dern Kinde solche Pflanzen, welche die Blüten oben einfach haben, so daß sie noch nicht ordentliche Blumenblätter haben. Man sagt: «Da hast du Pflanzen, wo du an der Blüte noch nicht unterscheiden kannst grüne Blättchen und farbige Blättchen; solche, wo du die Blättchen unten an der Blüte noch nicht unterscheiden kannst von denen, die die Blüte oben hat. Das bist du! Das bist du jetzt!

Und später, da wirst du noch älter! Wenn du zwölf, dreizehn, vier­zehn Jahre alt sein wirst, da wirst du dich vergleichen können mit sol­chen Pflanzen, die Kelch und Blütenblätter haben. Da wirst du in deiner Seele so sein, daß du unterscheiden kannst grüne Blätter, die mnn den Kelch nennt, und farbige Blätter, die man die Blumenblätter nennt. Das mußt du aber erst werden»! - So läßt man die Pflanzen un­terscheiden in Pflanzen mit einfacher Blütenhülle = elfjährige Kinder, und Pflanzen mit doppelter Blütenhülle = dreizehn- bis vierzehnjäh­rige Kinder. «Das wirst du erst!»

Und nun können Sie wunderschön dern Kinde irgend zwei, drei Exemplare Moose, Farne, Gymnospermen, Monokotyledonen, Diko­tyledonen vorführen. Nun können Sie wunderschön sich ergehen darinnen,

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daß das Kind sich erinnern soll. Und Sie lassen erzählen vom kleinen vierjährigen Wilhelm, führen das Farnkraut vor, lassen er­zählen vom siebenjährigen Fritz und führen da vor die entsprechende Pflanze, lassen erzählen den elfjährigen Ernst und führen die andere Pflanze vor. Sie bringen das Kind dahin, daß es sich besinnt auf die Seeleneigenschaften des werdenden Kindes. Und dann übertragen Sie das ganze Wachstum der werdenden Seele auf die Pflanze, nehmen das zu Hilfe, was ich gestern gesagt habe vorn Baum, da bekommen Sie die Seeleneigenschaften parallelisiert mit den entsprechenden Pflanzen.

Da ist Prinzip darin! Da wird nicht in beliebiger Weise das eine mit dern anderen parallelisiert, wie man es gerade aufliest. Da ist Prinzip darinnen, Gestaltung! Das muß darin sein! Sie bekommen das ganze Pflanzenreich heraus, mit Ausnahme desjenigen, was in der Pflanze entsteht, wenn die Blüte Frucht bringt. Sie machen das Kind aufmerk­sam, daß aber die höheren Pflanzen aus ihren Blüten Früchte hervor­bringen: «Das kann man mit eurer Seele erst vergleichen, wenn ihr aus der Schule herausgekommen seid.» - Alles, was bis zur Blüte geht, kann man nur vergleichen mit dem, was bis zur Geschlechtsreife geht. Den Befruchtungsvorgang, den läßt man draußen für Kinder, den kann man darin nicht haben.

Nun sage ich noch etwa: «Seht, liebe Kinder, wie ihr ganz klein waret, da habt ihr doch eigentlich nur so etwas wie eine schlafende Seele gehabt.» - Nun, je nachdem es ist, erinnert man das Kind daran:

«Nun, sieh mal, woran hast du denn deine Hauptfreude gehabt als kleines Kind? Du hast es jetzt vergessen, weil du es verschlafen hast, aber du siehst es jetzt beim Annchen oder Mariechen, bei deinem kleinen Schwesterchen. Woran hat denn das die größte Freude? Zuerst am Schnuller oder der Milchflasche. Nicht wahr, da hat auch die Seele noch die größte Freude am Schnuller oder an der Milchflasche. Dann kommt erst die Zeit bei dern größeren Brüderchen oder Schwesterchen, wo man nicht bloß Freude an der Milchflasche hat, wo man Freude hat, wenn man spielen darf. - Ja, sieh, da habe ich dir zuerst gesprochen von den Pilzen, von den Algen, von den Moosen. Die haben fast alles, was sie haben, von der Erde. Wir müssen in den Wald gehen, wenn wir sie kennenlernen wollen. Da wachsen sie, wo es feucht ist, wo es

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schattig ist. Die getrauen sich nicht recht heraus in die Sonne. Das ist so, wie deine Seele war, als du dich noch nicht herausgetrautest zum Spielen, sondern mit Milch und Saugflasche dich vergnügtest. Bei dem, was die andere Pflanzenwelt ist, da ist es so, daß Blätter und Blüten sich entwickeln, wenn die Pflanze nun nicht mehr bloß das hat, was sie von der Erde, vorn schattigen Wald hat, sondern wenn sie an die Sonne, an Luft und Licht herauskommt. Das sind die seelischen Eigenschaften, die an Licht und Luft gedeihen.» - So zeige man dern Kinde den Unter­schied zwischen dem, was unten wie der Pilz oder wie Wurzeln lebt und das braucht, was unten Wässeriges, Erde und Schatten ist, und dem, was Luft und Licht braucht wie Blüten und Blätter. - «Daher sind auch diejenigen Pflanzen, die Blüten und Blätter tragen, weil sie Luft und Licht lieben, die sogenannten Pflanzen, wie du, wenn du fünf oder sechs Jahre alt bist, das höhere Alter hast als da­mals mit dern Schnuller.»

Wenn man immer mehr und mehr herüber- und hinüberlenkt die Gedanken von den seelischen Eigenschaften, wie sie sich entwickeln im kindlichen Alter, zu den Pflanzen, dann bekommt man die Möglich­keit, alles in entsprechender Weise einzuteilen. Daher kann man sagen:

Säuglings-Seelen freuden: Pilze, Schwämme

Erste kindliche Seelenfreuden,

Seelenschmerzen und Affekte: Algen, Moose

Erlebnisse an der Entstehung

des Selbstbewußtseins: Farne

Erlebnisse im späteren Zeitalter bis zur Schule, mit vier bis fünf

Jahren: Gymnospermen, Nadelhölzer

Erste Schulerlebnisse' siebentes, achtes, neuntes Jahr bis zum

elften Jahr hin: Streifennervige Pflanzen,

Monokotyledonen; Pflanzen mit einfacher Blütenhülle

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Erlebnisse der Elfjährigen: Einfache Dikotyledonen

Schulerlebnisse vom zwölften

bis fünfzehnten Jahr: Netznervige Pflanzen, Dikoty­

ledonen; Pflanzen, die einen

grünen Kelch und farbige Blu­

menblätter haben,

«also Erlebnisse an dem, wofür ihr jetzt noch zu dumm seid, was ihr jetzt noch nicht wißt, was ihr erst werdet mit dem dreizehnten, vierzehnten Jahr: an dem, wo ein grüner Kelch ist und eine farbige Blüte. Freut euch! Ihr werdet einmal so reich in eurer Seele sein, daß ihr gleicht der Rose mit farbigem Blumenblatt und grünem Kelchblatt. Das ist etwas, was erst wird, aber freut euch! Das ist schön, wenn man sich freuen kann auf das, was man erst wird.» - Freude machen auf die Zukunft! Daß man Freude damit macht, darauf kommt es an.

Also die aufeinanderfolgenden seelischen Eigenschaften bis zur Ge­schlechtsreife hin kann man mit dern Pflanzenreiche vergleichen. Dann geht der Vergleich nicht mehr weiter, weil da das Kind den Astralleib entwickelt, den die Pflanze nicht mehr hat. Aber wenn die Pflanze über sich selbst hinaustreibt bis in die Befruchtung hinein, so kann man das mit seelischen Eigenschaften des sechzehnten, siebzehnten Jahres ver­gleichen. Man braucht aber gar nicht auf den Befruchtungsvorgang aufmerksam zu machen, sondern auf den Wachstumsvorgang, weil das der Realität entspricht. Dern Befruchtungsvorgang bringen die Kinder kein Verständnis entgegen, aber dern Wachstumsvorgang, weil er sich vergleichen läßt mit dern Wachstumsvorgang der Seele. So wie die Seele des Kindes sich unterscheidet in den verschiedenen Lebensjahren, so unterscheiden sich die Pflanzen von den Pilzen bis zum Hahnenfuß, der gewöhnlich zu den Höchstentwickelten, zu den Ranunkulazeen, gerechnet wird. Es ist wirklich so, wenn die gelben Hahnenfüße im Frühling herauskommen auf den saftigen Wiesen, so erinnert das an die seelische Verfassung, an die seelische Stimmung vierzehn-, fünfzehnjäh­riger Knaben und Mädchen.

Wird einmal ein wirklich systematisierender Botaniker so vorgehen, so wird er auch ein Pflanzensystem herausbekommen, das den Tatsachen

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entspricht. Aber den Kindern kann man wirklich die ganze äußere Pflanzenwelt als ein Bild der sich entwickelnden Kinderseele vorfüh­ren. Da kann man ungeheuer viel tun.

Man soll nicht in dieser vereinzelnden Art, wie die alten Phreno­logen es haben, unterscheiden, sondern man soll einen Gesichtspunkt, der durchführbar ist, drinnen haben. Da werden Sie finden, daß es nicht ganz richtig ist, einfach ohne weiteres alles Wurzelhafte mit dem Den­ken in eins zu beziehen. Beim Kinde ist ja das Geistige im Kopfe noch schlafend. Also nicht das Denken im Allgemeinen, sondern das kind­lich Denkende, das noch schläft, ist nach dern Wurzelhaften hin zu orientieren. So bekommen Sie von dern schlafenden Denken in den Pilzen sowohl wie in dern Kinde ein Bild, wie das kindlich Denkerische, das noch schläft, mehr nach dern Wurzelhaften hin gerichtet ist.

Rudolf Steiner stellt dann folgende Aufgaben:

Erstens: Sich eine zusammenfassende Gestaltung der bisherigen Pflanzengeschichte zurechtlegen.

Zweitens: Geographische Behandlung der Niederrheingegend, etwa von der Lahn an, in der Art, wie ich heute über den Geographieunter­richt gesprochen habe: Gebirge. Flüsse, Städte, Kulturelles, Wirtschaft­liches.

Drittens: Dasselbe für die Gegend des Mississippi.

Viertens: Wie unterrichtet man am besten über Flächenberechnung und Umfangberechnung von Flächen?

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ZWÖLFTE SEMINARBESPRECHUNG Stuttgart, 3. September 1919

Sprechübungen:

Ketzerkrächzer petzten jetzt kläglich

Letztlich plötzlich leicht skeptisch

Rudolf Steiner: Erst dann sind die Dinge richtig, wenn man sie aus­wendig herschnurren kann. Bewußt jede Silbe sprechen!

Nur renn nimmer reuig

Gierig grinsend

Knoten knipsend

Pfänder knüpfend

Aus «Wir fanden einen Pfad» von Christian Morgenstern:

Wer vorn Ziel nicht weiß,

Kann den Weg nicht haben,

Wird im selben Kreis

All sein Leben traben;

Kommt am Ende hin,

Wo er hergerückt,

Hat der Menge Sinn

Nur noch mehr zerstückt.

Wer vom Ziel nichts kennt,

Kann's doch heut erfahren;

Wenn es ihn nur brennt

Nach dern Göttlich-Wahren;

\vlenn in Eitelkeit

Er nicht ganz versunken

Und vorn Wein der Zeit

Nicht bis oben trunken.

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Rudolf Steiner: Die Nuancen, in denen die Strophen gelesen werden müssen, werden wir erst morgen nach Vorlesung der dritten Strophe ersehen können.

Einige Kursteilnehmer geben die als Aufgabe gestellte zusammenfassende Dar­stellung der bisher besprochenen Pflanzengeschichte.

Rudolf Steiner: Möglichst viele Beispiele geben! - Der Metamorpho­segedanke und der Gedanke des Keimens ist für die Kinder unter vier­zehn Jahren, besonders für Kinder von neun bis elf Jahren noch nicht verständlich.

Da ist noch etwas zu bemerken, was sehr wichtig ist. Sie haben ganz gewiß verfolgt, daß in der neueren Zeit von allen Seiten her die Frage erörtert worden ist über die sogenannte sexuelle Aufklärung der Kin­der. Nun ist ja dabei alles mögliche pro und kontra angegeben worden. In der Hauptsache ergeben sich drei Fragen.

Es ist in Betracht zu ziehen: Wer soll die sexuelle Aufklärung geben? Wer sich im Ernst mit aller Verantwortung des Erziehers in die Schule hineindenkt, der wird bald merken, daß es außerordentlich schwer ist, diese Aufgabe zu übernehmen. Ich glaube, Sie würden alle nicht gern zwölf- bis vierzehnjährigen Rangen und Ranginnen sexuelle Aufklä­rung geben.

Zweitens handelt es sich darum: Wie soll man die Aufklärung ge­ben? Auch das ist nicht so ganz leicht, wie man zu Werke gehen soll.

Drittens handelt es sich darum: Wo soll man sie gehen? Wo soll man sie anbringen? Beim naturwissenschaftlichen Unterricht und so weiter?

Wenn man den Unterricht nach richtigen pädagogisch-didaktischen Grundsätzen erteilen würde, so würde die Sache sich ganz von selbst ergeben. Wenn Sie so vorgehen, daß Sie den Kindern den Wachstums-vorgang in Zusammenhang mit Licht, Luft, Wasser, Erde und so weiter erklären, dann nimmt das Kind solche Begriffe auf, daß Sie langsam bei den Pflanzen übergehen können zum Befruchtungsvorgang, und dann bei den Tieren und beim Menschen. Aber Sie müßten im großen die Sache betrachten, die Pflanzen entstehen lassen an Licht, Wasser, Erde, kurz, jene Vorstellungen vorbereiten, die überhaupt den kompli­zierten Wachstums- und Befruchtungsvorgang vorstellungsgemäß beim

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Kinde veranlagen. Daß so viel geschwätzt wurde über die sexuelle Auf­klärung, ist ein Beweis dafür, daß die Methoden des Unterrichtes heute nicht in Ordnung sind, sonst würde man die Elemente schon ganz früh geschaffen haben aus solchen keuschen, reinen Vorstellungen heraus wie den Erklärungen des Wachstumsvorganges im Zusammenhang mit Licht, Luft, Wasser und so weiter.

M. macht geographische Ausführungen über Gegenden am mittleren und unteren Rhein

Rudolf Steiner: Beim Kartenzeichnen sollte man die Gebirge braun, die Flüsse blau zeichnen. Den Fluß sollte man immer seinem Lauf ge­mäß vorn Ursprung an zeichnen, nie von der Mündung aus. Eine Karte für die Bodenverhältnisse und die Naturgrundlage, Kohle, Eisen, Gold' Silber; dann eine zweite für die Städte, die Industrie und so weiter.

Ich mache darauf aufmerksam, daß es wichtig ist, eine Auswahl zu treffen und so zu gliedern, daß man öfter einmal zurückkommt auf die­ses Gebiet. Auch ist die Art des Vortrages da recht wichtig. Versuchen Sie, sich recht in den Stoff hineinzulegen, so daß das Kind immer das Gefühl hat, man schildert, sich absolut hineinlebend, wenn man Indu­strie schildert, immer so, als wenn man selber dort arbeitete. Beim Berg­bau wieder so und so weiter. Möglichst lebendig! Je lebendiger man schildert, um so mehr arbeiten die Kinder da mit.

T. entwickelt die Flächenberechnung, ausgehend vom Quadrat und übergehend zum Rechteck, Parallelogramm, Trapez, Dreieck.

Rudolf Steiner: Es ist schwierig, dern Kinde beizubringen, was ein Winkel wirklich ist. Könnten Sie eine Methode bringen, um dern Kinde das zu zeigen? Vielleicht erinnern Sie sich, wie schwer es Ihnen gewor­den ist, das zu unterscheiden, ganz abgesehen davon, daß es Herrschaf­ten hier geben könnte, die noch nicht wissen, was ein Winkel wirklich ist.

Auf diese Weise werden Sie dern Kinde beibringen, was ein großer und ein kleiner Winkel ist, indem Sie zuerst Winkel zeichnen, wobei Sie die Schenkel einmal groß, einmal klein machen. Welcher Winkel ist größer? - Sie sind beide gleich groß!

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#Bild s. 134

einem großen, das zweite Mal unter einem kleinen Winkel gelaufen sind. Wenn sie unter einem kleinen Winkel gelaufen sind, so sind ihre Wege näher beieinander; wenn unter einem großen, sind sie weiter aus­einander. Auch beim Ellbogen läßt sich das zeigen.

Es ist gut, daß schon vorher eine Vorstellung vom großen und klei­nen Winkel da ist, ehe man beginnt, durch den Kreis den Winkel zu messen.

T. spricht weiter über die Verwandlung eines Parallelogramms in ein Rechteck, um klarzumachen, daß die Fläche gleich Grundlinie mal Höhe ist.

Rudolf Steiner: Man kann schon so vorgehen. Aber wenn Sie die ganze Überlegung bis morgen noch einmal auf einen etwas anderen Boden bringen, so würde sich vielleicht doch empfehlen, darüber nach­zudenken, ob man nicht den Begriff der Fläche als solcher und den der Größe der Fläche dem Kinde auf irgendeine Weise rationell beibringen könnte. Das Kind kennt die Figur des Quadrates, und Sie wollen jetzt dern Kinde beibringen, daß das eine Fläche ist und daß die Fläche grö­ßer und kleiner sein könnte.

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Zweitens: Denken Sie bis morgen nach, wie Sie den Kindern Auf­gaben stellen würden, wo sie das Rechnen, ohne Zahlen zu schreiben, ausführen könnten, was man sonst immer Kopfrechnen genannt hat.

Denken Sie einmal, Sie würden dern Kinde die Aufgabe stellen: Von irgendwo geht ein Bote ab, der macht so und so viele Meilen, und weit hinterher geht ein anderer Bote ab, der geht nicht, sondern der fährt mit dern Fahrrad, der macht so und so viele Meilen. Wann hat der Bote mit dern Fahrrad den gehenden Boten eingeholt? Dieses ist so zu behan­deln, daß die Kinder eine gewisse Geistesgegenwart entwickeln im Er­greifen von Situationen und im Überblicken von Situationen.

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DREIZEHNTE SEMINARBESPRECHUNG Stuttgart, 4. September 1919

Sprechübungen:

Klipp plapp plick glick

Klingt Klapperrichtig

Knatternd trappend

Rossegetrippel

Rudolf Steiner: Auswendig üben!

Aus «Wir fanden einen Pfad» von Christian Morgenstern:

Wer vom Ziel nicht weiß,

Kann den Weg nicht haben,

Wird im selben Kreis

All sein Leben traben;

Kommt am Ende hin,

Wo er hergerückt,

Hat der Menge Sinn

Nur noch mehr zerstückt.

Wer vom Ziel nichts kennt,

Kann's doch heut erfahren;

Wenn es ihn nur brennt

Nach dem Göttlich-Wahren;

Wenn in Eitelkeit

Er nicht ganz versunken

Und vom Wein der Zeit

Nicht bis oben trunken.

Denn zu fragen ist

Nach den stillen Dingen,

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Und zu wagen ist,

Will man Licht erringen;

Wer nicht suchen kann,

Wie nur je ein Freier,

Bleibt im Trugesbann

Siebenfacher Schleier.


T. versucht, den Begriff der Fläche für neunjährige Kinder anschaulich zu gestal­ten. (Quadrate zum Messen von anderen, größeren quadratischen Flächen ausschnei­den lassen, Schahlonieren.)

Rudolf Steiner: Es ist gut begreiflich zu machen, daß dann, wenn man 3 Meter als Länge einer Quadratseite hat, die Fläche 9 Quadrat­meter ist, aber damit bleiben wir immer in der Sphäre, welche aus sol­chen anschaulichen Stücken etwas zusammensetzt, und es wird trotz­dem sehr schwierig sein, da eine richtige Vorstellung der Fläche hervor­zurufen.

Gemeint habe ich: Wie geht man richtig vor, und in welches Lebens-alter kann solch ein Vorgehen fallen, um tatsächlich herauszubekom­men, daß die Fläche Fläche ist und Fläche wird, wenn man die Länge mit der Breite multipliziert? Wie kommt man dazu, diesen Begriff der Fläche beim Kinde hervorzurufen? - Das hängt davon ab, wo man hineinfallen läßt diesen Unterricht über die Flächen. Da muß gesagt werden: Es ist nicht gut, den Unterricht über die Flächen dorthin fal­len zu lassen, wo man die Buchstabenrechnung noch nicht durchge­nommen hat. Wir können den Unterricht über die Fläche rationell erst vornehmen, wenn wir schon vorgenommen haben die Buchstabenrech­nung. So ist die Antwort: Wir warten mit dem Flächenunterricht, bis wir die Buchstabenrechnung vorgenommen haben.

Und nun weiter die Frage: Wie bringen Sie es dahin, daß Sie mit den Kindern übergehen von der gewöhnlichen Zifferrechnung zur Buchstabenrechnung? Ich will Sie darauf leiten, und dann führen Sie es weiter aus. Sie müssen, ehe Sie zur Buchstabenrechnung übergehen, doch schon mit den Kindern durchgemacht haben die Zinsrechnungen:

Zinsen sind gleich Kapital mal Prozent, mal Zeit, dividiert durch 100

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Zinsen = (Kapital * Prozent * Zeit) / 100

Kürzt man auf die Anfangsbuchstaben ab, so kann man schreiben:

Z = (K * P * T) / 100

T = tempus, lateinisch = Zeit. ist die gebräuchlichste Abkürzung für Zeit.

Sie gehen, indem Sie zu dieser Formel kommen, von gewöhnlichen Zahlen aus, und das Kind begreift verhältnismäßig leicht, was das Kapital ist, welches die Prozente sind, welches die Zeit ist und so weiter.

Also diesen Vorgang werden Sie dem Kinde klarzumachen versu­chen und sich überzeugen, daß die Kinder in ihrer Mehrheit die Sache begriffen haben. Und von da würden Sie zur obigen Form übergehen und immer darauf sehen, daß Regel hineinkommt.

K ist = Kapital; P ist = Prozent; T ist = Zeit (Tempus); Z ist = Zinsen. Dann ist das oben Angegebene eine Formel, die ich mir bloß als Grundformel merke. Dadurch habe ich schon den ersten Schritt ge­macht vom Übergang zur Buchstabenrechnung. Wenn das Kind nun diese Formel hat, so braucht es nur die Zahl einzusetzen in diese Formel, und es muß immer das Richtige herauskommen. Haben Sie die dann daraus abgeleitete Formel:

K= (Z * 100) / (T * P)

so können Sie sich mnemotechnisch merken, daß Sie die drei Buchsta­ben K, P, T beliebig miteinander vertauschen können, so daß sich noch folgende Möglichkeiten ergeben:


T = (Z * 100) / (K * P) P= (Z * 100) / (K * T)


Auf diese Weise haben wir dem Kinde Kapitalrechnung beigebracht, und jetzt können wir übergehen zum Buchstabenrechnen. Sie können ruhig sagen: «Wir haben gelernt, eine Summe 25 war gleich 8 mehr 7

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mehr 5 mehr 5, 25 = 8 + 7 + 5 + 5.» Nicht wahr, das hat das Kind einmal begriffen. Jetzt, nachdem Sie ihm das auseinandergesetzt ha­ben, können Sie ihm sagen: «Da (statt 25) kann aber auch eine andere Summe stehen, und da (statt 8, 7, 5, 5) können andere Zahlen stehen, so daß wir auch sagen können, da stünde Zahl. Also stünde da zum Beispiel: 5, eine Summe. Und da stünde: a + b + c + c. Aber, wenn da c stünde anstelle der ersten 5, so muß es auch anstelle der zweiten 5 stehen. Gerade so, wie ich anstelle von beliebigem Kapital K einsetze, setze ich an dieser Stelle den Buchstaben c ein.»

Nachdem Sie in einem konkreten Fall den Übergang von der Zahl zum Buchstaben gezeigt haben, dann können Sie nun auch den Begriff des Multiplizierens entwickeln, und aus diesem konkreten 9.9 können Sie entwickeln a . a. Oder Sie können aus a 2 entwickeln a . b und so weiter. Also das würde der Weg sein, aus diesen Zahlenrechnungen überzugehen zur Buchstabenrechnung. Und aus dieser zur Flächenbe­rechnung, a . a = a2.

Aufgabe für morgen: Zinsenrechnung, recht geistreich einleuchtend entwickeln für Kinder im elften, zwölften Jahr mit dem, was dazuge­hört, mit der Umkehrung: Prozent-, Zeit-, Kapitalrechnung. - Dann von da aus entwickeln, wie man beleuchtet Diskontrechnung. Dann wie man dem Kinde beibringt Rabatt- und Emballagerechnung, und wie man ihm beibringt den Begriff und die Berechnung eines Wechsels. Das gehört hinein in das zwölfte und dreizehnte Jahr, so daß es für das ganze Leben bleibt; sonst wird es später immer wieder vergessen. Man kann es ja in einfacher Weise nehmen, aber da hinein gehört es. Wenn jemand dieses ordentlich kann, dann kann er die Methodik des ganzen Rechnens. Zinseszinsrechnung gehört nicht in diese Jahre hinein.

Also organisch übergehen in die Buchstabenrechnung bis zum Multi­plizieren und von da in die Flächenberechnung.

Nun würde ich bitten, daß wir auf die anderen Fragen von gestern eingehen. Denn auch da ist wichtig, daß Sie die Kinder durch Rech­nungstellen zur Geistesgegenwart anregen.

G. schlägt die Errichtung eines kleinen Verkaufistandes vor mit Früchten, Ge­müse, Kartoffeln und so weiter, wobei die Kinder selbständig einkaufen, verkaufen, bezahlen, Geld herausgeben, überhaupt selbständig alles berechnen müssen.

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Rudolf Steiner: Dieses Kaufmannsprinzip ist ganz gut für die zweite Klasse. Und es ist gut, darauf zu bestehen, daß derjenige, dem man eine Rechnung gegeben hat, sie auch wirklich selbst löst, und daß man kei­nen anderen für ihn eintreten läßt. Immer das Interesse aller wachhal­ten!

Es wird über das Kopfrechnen gesprochen; über das Rechnen, ohne zu schreiben

Rudolf Steiner erzählt, daß Gauß als sechsjähriger Knabe einmal zu folgender Lösung gekommen sei: Gestellt war die Aufgabe, die Zahlen von 1 bis 100 zu addieren. Gauß überlegte sich, daß es vorteil­hafter und einfacher sei, um schnell zu dem Resultat zu kommen, die gleichen Zahlen nochmals zu nehmen, sie aber so zu der ersten Reihe von 1 bis 100 anzuordnen, daß man sich die erste Reihe wie gewöhnlich von links nach recht geschrieben 1, 2, 3, 4, 5... 100 vorstellen könne, darunter aber dann in umgekehrter Anordnung die zweite Reihe 100, 99, 98, 97, 96... 1, so daß zu stehen kommen unter die 1 die 100, unter die 2 die 99, unter die 3 die 98. Dann ergäben jedesmal die beiden unter­einanderstehenden Zahlen addiert die Summe 101. Die Summe müsse hundertmal genommen werden, ergibt 10100, und müsse dann nur noch - weil man darin ja zweimal die Zahlen von 1 bis 100 addiert hat, einmal vorwärts, einmal rückwärts - halbiert werden, ergibt 5050. So löste Gauß zum nicht geringen Erstaunen seines Lehrers damals im Kopf diese gestellte Aufgabe.

T. führt unter anderen zwei Arten von Aufgaben an: 1. Zeit- und Strecken-berechnung, wenn Lokomotiven mit verschieden großem Radumfang gegeben sind; 2. Aufgaben mit Voll- und Auslaufenlassen von Gefäßen mit verschieden weiter Aus flußröhre.

Rudolf Steiner: Beim Ausdenken von Rechenaufgaben kann man Phantasie verwenden. Man kann Geistesgegenwart erzeugen durch Be-wegungsaufgaben. Sie können mit dem gestrigen Beispiel zur Praxis übergehen, wenn Sie sagen: Ich habe einen Eilboten fortgeschickt mit ei­nem Botenbrief. Der Brief ist gegenstandslos geworden. Ich muß einen anderen Boten fortschicken. Wie schnell muß der weiterkommen, um noch vorher anzukommen, ehe der Brief sein Unheil angerichtet hat?

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Wenigstens annähernd soll das Kind das berechnen können, das ist ganz gut.

Ein Teilnehmer weist auf Fehlerrechnungen hin.

Rudolf Steiner: Solche Fehlerrechnungen sind überhaupt sehr üblich. Es ist üblich, daß man gleich die Fehler miteinrechnet. Nun, in einem Punkte wird heute eine solche Fehlerrechnung gemacht und wird ein­mal korrigiert werden müssen. Als Kopernikus sein «Kopernikanisches System» aufgestellt hat, stellte er drei Lehrsätze auf. Würde man alle drei benützen, um den Weg der Erde durch den Weltenraum zu skiz­zieren, so würde man eine ganz andere Bewegung bekommen, als sie jetzt von unseren Astronomen angenommen und auf unseren Schulen gelehrt wird. Diese elliptische Bewegung wird nur dadurch möglich, daß man den dritten Lehrsatz unberücksichtigt läßt. Wenn der Astro­nom sein Fernrohr hinausrichtet, so stimmen die Dinge nicht. Zu die­sem Zweck setzt man auch Fehler in Rechnung; durch die Besselschen Gleichungen werden jedes Jahr Fehler eingesetzt für das, was in der Wirklichkeit nicht stimmt. Die Besselschen Fehlergleichungen, in denen steckt der dritte Satz des Kopernikus.

Methodisch muß man so verfahren, daß man das Kind nicht bloß beschäftigt mit ausgedachten Beispielen, sondern daß man zu prak­tischen Beispielen aus dem Leben kommt. Man muß alles ins Prak­tische auslaufen lassen. Dabei kann man immer durch Folgendes das Vorhergehende befruchten lassen und umgekehrt.

In was würden Sie alle diese Bewegungsberechnungen, das Auslau­fen von Flüssigkeiten durch kleine Löcher langsam, durch große schnell, die Kreisbewegungsaufgaben an Maschinen mit verschieden großen Rädern - in was würden Sie das auslaufen lassen?

Sie würden am besten dazu übergehen, den Kindern die Uhr zu erklären in ihren verschiedenen Gestalten, als Pendeluhr, Taschenuhr und so weiter.

Aufgaben für morgen:

Erstens: ein geschichtliches Thema zu behandeln nach dem früher gegebenen Musterbeispiel, kulturgeschichtlich.

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Zweitens: Behandlung von irgend etwas aus der alhgemeinen Natur, Auf- und Untergang der Sonne, Jahreszeiten oder dergleichen, das Ihnen naheliegt, etwas aus dem Weitgebäude. Es kommt darauf an, die Unterrichtsmethode geltend zu machen.

Drittens: Über die Prinzipien des Musikalischen im allerersten Schuljahr.

Viertens: Wie ist Poetisches zu gestalten im Englischen und Fran­zösischen? Wie ist den Kindern beizubringen das Empfinden des Poe­tischen in der englischen, der französischen Sprache?

Fünftens: Wie ist es möglich, dem Kinde beizubringen den Begriff der Ellipse, der Hyperbel, des Kreises, der Lemniskate und den Begriff des geometrischen Ortes? - Das alles ist den Kindern beizubringen. unmittehbar bevor sie die Schuhe verhassen.

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VIERZEHNTE SEMINARBESPRECHUNG Stuttgart, 5. September 1919

U. entwickelt die Prinzipien des musikalischen Unterrichts im ersten und zweiten Schuljahr.

Rudolf Steiner: Man sollte nicht versäumen, das Objektive, vom Menschen Abgesonderte, das Instrument, auch hören zu lassen. Immer muß darauf gesehen werden, daß das Kind ziemlich lange vor dem neunten Jahre, in der zweiten Hälfte des zweiten Schuljahres, an das Soloinstrument herankommt, so daß das Klavier sich später anschlie­ßen würde für diejenigen, die dafür in Betracht kommen. Das ist ja das Wesentliche, daß wir auf diesem Gebiete richtig anfangen.

T. gibt eine Fortsetzung der Zinsrechnung mit Übergang zur Buchstabenrechnung. Wenn E = Endkapital, A = Anfangskapital, Z = Zins, P = Prozentsatz, T = Zeit


ist, so ist E - A + Z. Da ferner Z=(A * P * T) / 100 so wird E = A + (A * P* T) / 100

Rudolf Steiner: In dieser Form kann man ja heute nie ein Kapital anlegen. Diese Form hat nur dann einen Reaiitätswert, wenn T gleich oder kleiner als ein Jahr ist. Denn in der Realität sind zwei Fälle gege­ben: entweder man hebt die Zinsen jährlich ab, dann verbleibt immer das gleiche Anfangskapital, oder man läßt die Zinsen beim Kapital, dann braucht man die Zinseszinsrechnung. Läßt man T weg, das heißt, rechnet man für ein Jahr, dann ist es real. Es ist notwendig, den Kin­dern die Realität zu geben.

Es wird gut sein, stramm darauf hinzuarbeiten, daß der Übergang in die Buchstabenrechnung auch wirklich gemacht wird. Zunächst wird man den Übergang entwickeln von der Addition in die Multiplikation, dann von der Subtraktion in die Division.

Rudolf Steiner erläutert dann den Übergang vom Zahlenrechnen zum Buchstabenrechnen an nachfolgendem Beispiel. Man schreibt zu­nächst eine Summe von Zahlen hin, in wehcher die Addenden ahle un­gheich sind:

20 = 7 + 5 + 6 + 2

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Es können auch einzelne Addenden gleich sein:

25 = 5 + 5 + 9 + 6

Und es können alle Addenden gleich sein:

18 = 6 + 6 + 6

Geht man nun in der gestern bereits geschilderten Weise dazu über, die Zahlen durch Buchstaben zu ersetzen, so habe ich einmal die Summe Si = a + a + a, das sind drei a, dreimal a = 3. a;

dann S2 = a + a + a + a + a, fünfmal a = 5. a;

dann S3 = a + a + a + a + a + a + a, siebenmal a = 7. a und so weiter.

Ich mache das immerzu, kann es neunmal, einundzwanzigmal, fünf­undzwanzigmal machen. Ich mache es m-mal:

Sm = a + a + a + a + ... . m-mal = m . a.

So bekomme ich aus der Unbestimmtheit der Anzahl der Addenden den einen Faktor, während der Addend selbst der andere Faktor ist. Auf diese Weise läßt sich leicht aus der Addition die Multiplikation entwickeln und begreifen. So macht man den Übergang von bestimm­ten Zahlen zu algebraischen Größen, zu a . a = a2, a . a . a = a3.

Ebenso kann man aus der Subtraktion die Division ableiten.

Wenn wir b wegnehmen von einer sehr großen Zahl a, dann bekom­men wir den Restr

r = a - b

Nehmen wir nochmals b weg, so erhalten wir den Rest r, = a - b - b = a - 2b

Ein drittes Mal b weggenommen, ergibt

r, = a - b - b - b = a-3b und so weiter.

Wir können dies so lange machen, bis von der Zahl a kein Rest mehr übrig bleibt, können es n- mal machen:

rn = a - b - b - b - ... . n-mal = a - nb.

Wenn dann kein Rest mehr bleibt, das heißt, der letzte Rest gleich 0 ist, so ist

0 = a - nb

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Dann ist a ganz aufgeteilt, weil ja kein Rest bleibt, a = nb. Ich habe n-mal das b weggenommen, habe das a in lauter b aufgeteilt, a/b=n

da ist eben das a ganz aufgezehrt. Ich habe gefunden, daß ich das n-mal machen kann und bin damit übergegangen von der Subtraktion zur Division.

Man kann somit sagen: Es ist die Multiplikation ein besonderer Fall der Addition, die Division ein besonderer Fall der Subtraktion, nur daß man eben nicht nur einmal, sondern wiederholt hinzufügt, bezie­hungsweise wegnimmt.

Es kommt die Rede auf negative und imaginäre Zahlen.

Rudolf Steiner: Eine negative Zahl ist ein Subtrahend, zu dem kein Minuend mehr da ist; eine Aufforderung zu einer Operation, zu der kein Stoff mehr da ist, die nicht ausgeführt werden kann. - Eugen Düh-ring wies die imaginären Zahlen als Unsinn zurück und sagte von der Gaußschen Definition des Imaginären, sie sei eine Eselei, keine Realität, ein ausspintisiertes Zeug.

Also man entwickelt immer das Multiplizieren aus der Addition, und dann das Potenzieren aus der Multiplikation. Und weiter das Di­vidieren aus der Subtraktion, das Radizieren aus der Division.

addieren subtrahieren

multiplizieren dividieren

potenzieren radizieren

Erst nach Beginn der Buchstabenrechnung, vom elften bis zwölften Jahre ab, geht man zum Potenzieren und Radizieren über, weil beim Radizieren das Potenzieren eines algebraischen Polynoms eine Rolle spielt.

In diesem Zusammenhang ist weiter durchzunehmen: Brutto-, Net­to-, Tara-, Emballagerechnung.

Es wird eine Frage gestellt, die Benützung von Formeln betreffend.

Rudolf Steiner: Nun handelt es sich aber darum, ob Sie lieber sehr häufig die Formel nicht benützen, sondern immer wieder den Gedankengang

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machen wollen - wobei Sie ja allerdings Sprachkultur treiben können, das ist ja richtig -, oder aber, ob Sie nicht doch zur Formel übergehen wollen. Wenn Sie es taktvoll machen, daß die Formel gut verstanden wird, ist das auch recht nützlich, um bis zu einem gewissen Grade Sprachkultur daran zu üben.

Aber von einem gewissen Zeitpunkt an ist es auch gut, die Formel zu etwas Gefühltem beim Kinde zu machen. Die Formel zu etwas zu machen. was inneres Leben hat, so daß zum Beispiel wenn bei

Z = (K * P * T) / 100

das T größer wird, das Kind ein Gefühl von dem Anwachsen des Gan­zen dabei bekommt.

Damit würde also gesagt worden sein, was ich an dieser Steile sagen wollte, daß man die konkreten Zahlen benützen sollte bei einer solchen Gelegenheit wie bei der Zins- und Prozentrechnung, um den Übergang zur Buchstabenrechnung zu finden, und um daran Multiplizieren, Divi­dieren, Potenzieren, Radizieren zu entwickeln. Das sind ja Dinge, die durchaus mit den Kindern schon gemacht werden müssen.

Nun möchte ich die Frage aufwerfen: Halten Sie es für gut, das Po­tenzieren und das Wurzelziehen, das Radizieren, schon zu behandeln, bevor Sie Buchstabenrechnung gemacht haben, oder würden Sie es nachher machen?

T.: Potenzieren vorher, Radizieren nachher.

Rudolf Steiner: Also Sie gehen doch aus und sollten auch in Zukunft davon ausgehen, daß Sie möglichst bald, vom elften, zwölften Jahre ab, mit der Buchstabenrechnung beginnen und dann erst zum Poten­zieren, Radizieren übergehen. Denn nach der Buchstabenrechnung läßt sich auf sehr einfache und ökonomische Weise quadrieren, kubieren, potenzieren und wurzelziehen mit den Kindern, während man vorher furchtbar viel Zeit darauf verwendet. Sie werden leicht und ökono­misch unterrichten, wenn Sie zuerst die Buchstabenrechnung mit den Kindern besprochen haben.

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E. gibt eine geschichtliche Ausarbeitung für Schüler der letzten Kla3se über Städte-gründung und -entwicklung und spricht für die Zeit der Magyarcneinfälle von «Deutschland>.

Rudolf Steiner: Ich würde da doch recht achtgeben, daß nicht unbe­wußt verwurstelte Vorstellungen entstehen. Es gab natürlich damals, zur Zeit Heinrichs, des sogenannten Städtebauers, kein Deutschland. Man muß sich etwa so ausdrücken: Städte am Rhein oder an der Donau, an den Orten, die später deutsch geworden sind. Nicht wahr, vor dem 10. Jahrhundert hat man es ja auch nicht mit Magyaren zu tun; vorher hat man es bei solchen Einfällen mit Hunnen, Avaren zu tun. Vom 10. Jahrhundert an kann man dann schon sagen «Deutschland».

Sehen Sie, ich würde da zum Beispiel - das ist ja eine Aufgabe, die man vornimmt bei den Schülern der letzten Volksschulklassen - den Kindern einen Begriff der Chronologie beizubringen versuchen. Wenn man so sagt «9., 10. Jahrhundert», da wird die Vorstellung zu wenig konkret. Wie würden Sie das machen, daß eine konkrete Vorstellung von der Zeit bei den Kindern ersteht?

Da könnten Sie dem Kinde klarmachen: «Wenn du jetzt so alt bist, wie alt sind deine Mutter, dein Vater? Dann, wie alt sind Großvater und Großmutter?» - Da bringen Sie die ganze Generationenfolge her­aus und können dem Kinde klarmachen, daß eine solche von drei Gene­rationen etwa hundert Jahre ausmacht. Also in hundert Jahren wären es drei Generationen. Vor hundert Jahren waren also die Urgroßeltern Kinder. Vor neun Jahrhunderten waren es nicht drei, sondern 9.3 = 27 Generationen. - «Nimm einmal an», sagt man zum Kinde, «du hältst die Hand deines Vaters, der hält die Hand deines Großvaters, der die Hand deines Urgroßvaters und so fort. Wenn sie nun so nebeneinander stünden, der wievielte Mann wäre Heinrich I., der wievielte Mann würde dann den Magyaren etwa um das Jahr 926 gegenüberstehen? Der siebenundzwanzigste Mensch würde das sein.» - Das würde ich dann recht anschaulich darstellen. Nachdem ich so die Kinder konkret zu der Vorstellung gebracht habe, wie lange das her ist, dann würde ich ihnen schildern die Magyarenzüge. Würde ihnen klarmachen, wie die Magya­ren damals Mitteleuropa überfielen. Wie die Magyaren hereinbrachen mit einer Wildheit, so daß alles flüchten mußte bis auf die kleinen Kinder

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in den Wiegen, die man auf die Gipfel der Berge tragen mußte. Wie dann die hereinbrechenden Magyaren Dörfer und Wälder verbrannten. Recht anschaulich würde ich den Magyarensturm schildern.

E. schildert weiter, wie Heinrich aus der Erkenntnis heraus, daß er in dem be­festigten Goslar den Magvaren habe widerstehen können, den Entschluß zur Grün­dung befestigter Städte gefaßt habe, und daß es auf diese Weise zu zahlreichen Städtegründungen gekommen sei.

Rudolf Steiner: Könnten Sie diese Darstellung nicht noch einmal kulturhistorisch bringen? Denn das ist etwas monarchisch auffrisierte Geschichtslegende, daß Heinrich diese Städte gegründet habe. Alle diese Städte des 10. Jahrhunderts waren ja in ihrer Grundanlage, in den Märkten, schon da. Sie wurden nur in ihrem Ausbau dadurch gefördert, daß Leute, die in der Nachbarschaft dieser Städte wohnten, sich an-schlossen, um eine leichtere Verteidigungsmöglichkeit zu gewinnen gegen die anstürmenden Magyaren, und so diese Orte stärkten. Es waren mehr wirtschaftliche Gründe, die da wirkten und die zur Städte-bildung führten. Heinrich hat nicht gar viel dazu getan.

Ich würde Sie nur bitten, recht anschaulich das alles zu bringen, recht lebendig zu verfahren, damit die Kinder innerlich anschauliche Bilder bekommen, so daß die Kinder förmlich alles greifen können. Sie müssen die Phantasie in Anspruch nehmen und solche Dinge be­nützen, wie ich sie Ihnen gezeigt habe bei dem Konkretmachen der Zeit. Man hat tatsächlich nichts davon, zu wissen, in weichem Jahre zum Beispiel die Schlacht bei Zama gewesen ist und so weiter, aber wenn man sich vorstellt, wenn man weiß, daß Karl der Große zum dreißigsten Vorfahren hinaufreicht, wenn man sich durch die Genera­tionen hindurch die Hände reichen würde, dann erhält man dadurch eine anschauliche, konkrete Vorstellung von der Zeit. Da rückt diese Zeit viel näher - ja freilich, sie rückt viel näher! -, wenn man weiß, daß Karl der Große bis zum dreißigsten Vorfahren hinauf zu finden ist.

T.: Wäre es nicht gut, bei solchen Kulturbeschreibungen auch auf das ganz andere Denken und Fühlen der Menschen in diesen Perioden hinzuweisen?

Rudolf Steiner: Ja, darauf habe ich ja immer in meinen Vorträgen und auch sonst hingewiesen. Vor allem auch, daß Sie namentlich den großen Umschwung uni das 15. Jahrhundert, das ganz andere Empfinden,

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Fühlen und Denken der Menschen vor und nach dieser Zeit recht anschaulich machen. Zum Beispiel auch schon Lamprecht, den ich aber damit nicht besonders empfehlen will, ist bemüht, ein ganz an­deres Denken, Empfinden und Fühlen der Menschen vor dieser Zeit-periode zu konstatieren. - Die Dokumente sind daraufhin noch gar nicht benützt worden.

Wenn Sie sich ein bißchen hineinfinden wollen in die kulturge­schichtliche Betrachtung, so müssen Sie vor allem entwickeln können einen gewissen Spürsinn, und wenn Sie diesen haben für Weiteres und Engeres, was die Autoren erzählen, für Spießigeres und etwas Weit­herzigeres, dann können Sie richtigere Vorstellungen gewinnen für Kul­turgeschichtliches.

Rudolf Steiner empfiehlt auf eine Anfrage hin zur Anschaffung für die Lehrerbibliothek:

Buckle, Geschichte der Zivilisation in England. Lecky, Geschichte der Aufklärung in Europa.

An diesen kann man die Methode schulen für die kulturgeschichtlichen Betrachtungen. Von Lamprecht kämen in Frage die älteren Teile, aber es ist vieles schief und subjektiv.

Wenn Sie sich diesen Instinkt für die wirklichen treibenden kultur­geschichtlichen Kräfte nicht angeeignet haben, dann werden Sie Ge­fahr laufen, mit wahrhaft Wildenhruchscher Blödigkeit, mit Wilden­bruchscher Diiettantenhaftigkeit zum Beispiel die Kaiser- und Königs-dramen und solche Familienkatzbalgereien wie zwischen Ludwig dem Frommen und seinen Söhnen für wesentliche kulturgeschichtliche Er­eignisse zu halten.

Gustav Freytags «Bilder aus der deutschen Vergangenheit» sind ganz gut, aber man darf sich nicht zu sehr beschmieren lassen von dieser Gemütlichkeit einer für Tanten geschriebenen Geschichtsbetrach­tung. Wir müssen gerade heute herauskommen aus dem Denk- und Empfindungsstil, der so bei diesen Leuten der Grenzbotenliteratur der Mitte des 19. Jahrhunderts da war, bei Gustav Freytag, Julian Schmidt und so weiter. Lassalle nannte ihn «Schmulian Jüd»; bei Lassalle klang das nicht antisemitisch.

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Es wird gefragt, nach Houston Stewart Chamberlains «Grundlagen des 19. Jahr­hunderts».

Rudolf Steiner: Auch bei Chamberlain muß man erst recht einen guten Instinkt entwickeln, denn ein Viertel bei ihm ist geistreich, und drei Viertel ist wüstes, ungesundes Zeug. Es steht sehr viel sehr Gutes bei ihm, aber man muß alles selber übersehen und selber ein Urteil ent­wickeln. Die kulturgeschichtlichen Schilderungen sind besser bei Buckle und Lecky. Chamberlain ist mehr so ein Smokingträger. Er ist doch ein etwas eitler Herr, der nicht gerade als Autorität zu gelten hat, der aber doch manches richtig bemerkt hat. Es ist ja auch sein Ende kein schönes gewesen, ich meine den Prozeß mit der «Frankfurter Zeitung».

Es werden Kautskys Schriften erwähnt.

Rudolf Steiner: Ja, wenn man in der Regel das Gegenteil von dem annimmt, das er da zeigt. Man bekommt von modernen Sozialisten ein gutes und interessantes Tatsachenmaterial, wenn man sich nicht betäu­ben läßt von den Theorien, die ihre Schilderungen durchziehen.

Ein eigentümliches Bild bietet auch Mehring, wie er erst in seinem Buch, in seiner Geschichte der Sozialdemokratie, auf die Sozialdemo­kraten schimpft, so lange er Freisinniger war; dann nachher, als er zu den Sozialdemokraten übergetreten war, ändert er das nur um auf die Freisinnigen.

M. gibt eine Einführung in die Grundbegriffe der mathematischen Geographie für Schüler im dreizehnten Jahr, Beobachtungen am Sonnenaufgang und an der Sonnenbahn.

Rudolf Steiner: Sie können, wenn Sie die Kinder hinausbestellt ha­ben, das später sehr gut in die Zeichnung verwandeln lassen und darauf sehen, daß ein gewisser Parallelismus besteht zwischen der Zeichnung und dem, was die Kinder draußen angesehen haben. Es ist nur ratsam, nicht zuviel auf einmal von diesem Linienhaften zu geben. Es ist sehr wichtig, daß man diese Dinge den Kindern beibringt, aber wenn man zuviel zusammenfaßt, dann bringt man es so weit, daß die Kinder es nicht mehr auffassen. Man kann es einfügen in Geographie und Geo­metrie. Der ungefähre Abschluß solcher Ausführungen würde sein, daß man den Begriff der Ekliptik und der Koordinaten entwickelt.

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A führt das gleiche Thema, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, für kleinere Kinder aus und versucht, den Gang der Sonne und der Planeten durch eine sche­matische Zeichnung klarzumachen.

Rudolf Steiner: Nun, es wird diese Auffassung immer mehr an Be­deutung abnehmen, weil das seither Angenommene über diese Bewe­gungen nicht ganz richtig ist. In Wirklichkeit hat man es zu tun mit einer solchen Bewegung (Rudolf Steiner zeichnet an die Tafel):

#Bild s. 151

Da ist zum Beispiel (1. Stellung) einmal hier die Sonne; da ist Saturn, Jupiter, Mars, und da ist Venus, Merkur, Erde. Nun bewegen sich die alle in der angegebenen Richtung (Schraubenlinie) so hintereinander fort, daß, wenn die Sonne dann da herübergekommen ist (2. Stellung), so ist Saturn, Jupiter, Mars hier, Venus, Merkur und die Erde da. Und jetzt dreht sich die Sonne weiter und geht dahin (3. Stellung). Dadurch wird der Schein hervorgerufen, als wenn sich die Erde um die Sonne drehte. In Wahrheit geht die Sonne voran, und die Erde kriecht immer nach.

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B. gibt eine Darstellung aus der altägyptischen Kultur.

Rudolf Steiner: Vor allem müßte man dazu übergehen, das vorzu­bringen, was das ganz andere Prinzip der Nachbildung ist. Es besteht bei den alten Ägyptern der Mangel, daß sie unperspektivisch sehen. Es malt der alte Agypter das Gesicht im Profil und den übrigen Körper en face. Diese Eigentümlichkeit der Auffassung müßte man den Kin­dern schon beibringen.

Dann müßte man herstellen den Zusammenhang des ägyptischen Zeichnens und Malens mit dem naturgeschichtlichen Prinzip, das sie hatten, daß sie die Menschen mit Tierköpfen machten und so weiter. Schon in alten Zeiten ist die Vergleichung des Menschen mit den Tieren sehr weit getrieben worden. Man könnte dann dem Kinde dasjenige beibringen, was veranlagt ist in jedem menschlichen Kopf und was zum Teil das Kind heute noch sieht. Die Ägypter haben noch diese Ver­wandtschaft der Menschenphysiognomie mit den Tieren wahrgenom­men. Sie waren noch auf dieser kindlichen Stufe der Anschauung.

B. fragt bei der Besprechung der Pyramiden, was man eigentlich den Kindern darüber sagen solle.

Rudolf Steiner: Es ist natürlich außerordentlich wichtig, allmählich zu versuchen, auch für die Kinder das Richtige an die Stelle des Fal­schen zu setzen. Tatsächlich waren die Pyramiden ja Einweihungsstät­ten. Und da kommt man ja nun dahin, daß man den Kindern den Begriff des höheren ägyptischen Unterrichts, der zu gleicher Zeit eine Einweihung war, beibringt. Man muß etwas erzählen davon, was da vorgegangen ist. Es sind da religiöse Handlungen ausgeführt worden, wie sie heute in den Kirchen ausgeführt werden, die aber zugleich dazu führten, daß das Weltall erkannt werden konnte. Der alte Ägypter hat eben so gelernt, daß ihm vorgezeigt worden ist in feierlichen Hand­lungen, was sich im Weltall und in der Menschheitsentwickelung voll­zieht. Es war religiöse Übung und Unterricht eines. Es war so, daß Unterricht und religiöse Handlung eigentlich zusammenfielen.

B. beschreibt die Arbeit an den Pyramiden und Obelisken und sagt, daß man annehmen müsse, daß zum Herbeischaffen, Bearbeiten und Einbauen der riesigen

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Blöcke mehrere Millionen Menschen benötigt sein müßten. Man müsse sich fragen, wie es überhaupt möglich gewesen sei, mit den damaligen technischen Hilfsmitteln die großen, schweren Kalk- und Granitblöcke zu bewegen und aufzuschichten.

Rudolf Steiner: Ja, aber ganz richtige Vorstellungen werden Sie bei den Kindern nur hervorrufen, wenn Sie ihnen sagen, daß, wenn die Menschen mit der heutigen Körperkraft arbeiten würden, man zweiein­haibmal soviel Menschen brauchen würde. Aber in Wahrheit haben die Ägypter ja zweieinhalbmal soviel Körperkräfte gehabt wie unsere heutigen Menschen, wenigstens die, die an den Pyramiden und so wei­ter gearbeitet haben. Es gab natürlich auch schwächere Menschen.

B. fragt, ob auch auf die Mythologie einzugehen wäre.

Rudolf Steiner: Nicht wahr, wenn man die ägyptische Mythologie nicht in ihrer wahren Gestalt darstellen kann, so muß man sie eben weglassen. Kann man aber die ägyptische Mythologie in der wahren Gestalt darstellen, dann soll man es tun. In der Waldorfschule wird es ganz gut sein, die richtigen Begriffe von der ägyptischen Mythologie, die Sie ja ganz gut kennen, schon den Kindern beizubringen, wenn man überhaupt darauf eingehen will.

K. macht Ausführungen über die Erarbeitung der Begriffe: Geometrischer Ort, Kreis, Ellipse, Hyperbel, Lemniskate. (Das soll am nächsten Tage noch fortgesetzt werden.)

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ERSTER LEHRPLANVORTRAG Stuttgart, 6. September 1919, vormittags

Meine lieben Freunde, es wäre selbstverständlich noch recht, recht viel auch auf dem Gebiete der allgemeinen Pädagogik vorzubringen, allein in solchen Dingen muß ja alles einen vorläufigen Abschluß finden. Und so wollen wir denn heute vormittag in der Zeit, die uns noch bleibt, das in der allgemeinen Pädagogik und in der Didaktik Betrach­tete überführen in eine skizzenhafte Behandlung unseres Lehrzieles für die einzelnen Stufen. Wir haben ja, sowohl durch die allgemein päd­agogischen Betrachtungen wie durch die didaktischen Betrachtungen, die notwendigen Gesichtspunkte zu gewinnen versucht, um die Glie­derung des Lehrstoffes mit Rücksicht auf die Entwickelung des werden­den Menschen richtig betrachten zu können. Und so werden wir denn immer darauf bedacht sein, daß der Unterricht soviel als möglich zu­sammengefaßt werden soll in der Art, wie ich es Ihnen gezeigt habe, daß man das Mineralogische in das Geographische hinüberführen kann, daß man in der geistigen Behandlung der Kulturgeschichte durch Völ­kercharakteristiken Geschichte und Geographie verknüpfen kann. In­dem man das immer beachtet, daß man aus einem in das andere über­leiten kann, wollen wir, nach den einzelnen Kategorien verteilt, ein­mal den Unterrichtsstoff, wie wir ihn heranbringen wollen an unsere Zöglinge, durchlaufen.

Da kommt ja zunächst für uns in Betracht, daß wir, wenn wir die Kinder ins erste Schuljahr hereinbekommen, geeignete Stoffe finden zum Vorerzählen und Nacherzählenlassen. An diesem Vorerzählen von Märchen, von Sagen, aber auch von äußerlich-realistischen Wirk­lichkeiten, und in dem Nacherzählenlassen bilden wir heran das eigent­liche Sprechen. Wir bilden heran den Übergang von der Mundart zur gebildeten Umgangssprache. Indem wir darauf sehen, daß das Kind richtig spricht, werden wir auch den Grund legen für richtiges Schrei­ben.

Wir werden parallel gehen lassen diesem Vor- und Nacherzählen die Einführung des Kindes in eine gewisse bildnerische Formensprache.

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Wir lassen das Kind einfache, runde, eckige Formen, rein um der For­men willen, zeichnen, nicht, wie gesagt, um der Nachahmung eines Äußeren willen, sondern rein um der Formen willen. Und wir scheuen uns nicht, mit diesem Zeichnen einfaches Malerisches zu verbinden, in­dem wir die Farben nebeneinanderstellen; so nebeneinanderstellen, daß das Kind eine Empfindung bekommt, was es heißt, Rot neben Grün zu stellen, Rot neben Gelb zu stellen und so weiter.

Und aus dem, was wir so erreichen, können wir auf die Art, wie wir es in unserer Didaktik betrachtet haben, das Schreiben an das Kind heranbringen. Naturgemäß wäre es, wenn wir allmählich den Über­gang suchten von gezeichneten Formen zu der lateinischen Schrift. Falls wir in der Lage sind, die lateinische Schrift vorausgehen zu lassen, so sollten wir das durchaus tun, denn wir werden erst dann die lateinische Schrift in die deutsche überführen können. Und wir gehen dann, nach­dem das Kind gelernt hat, einfache Schriftformen, die es an Wörtern belebt, zu schreiben und zu lesen, über zu den gedruckten Buchstaben. Da nehmen wir wiederum zuerst natürlich die lateinischen und dann die deutschen.

Wenn wir rationell in diesen Dingen vorgehen, dann werden wir es im ersten Schuljahr dahin bringen, daß das Kind immerhin in ein­facher Weise das oder jenes aufs Papier zu bringen vermag, was man ihm vorspricht, oder was es sich selbst vornimmt, aufs Papier zu brin­gen. Man bleibt beim Einfachen, und man wird es dahin bringen, daß das Kind auch Einfaches lesen kann. Man braucht ja durchaus nicht darauf bedacht zu sein, daß das Kind in diesem ersten Jahr irgend etwas Abgeschlossenes erreicht. Das wäre sogar ganz falsch. Es handelt sich vielmehr darum, das Kind in diesem ersten Jahr so weit zu bringen, daß es gegenüber dem Gedruckten nicht gewissermaßen wie vor etwas ihm ganz Unbekannten steht, und daß es die Möglichkeit aus sich her-ausbringt, irgend etwas in einfacher Weise niederzuschreiben. - Das wäre, wenn ich so sagen darf, das Ideal für den Unterricht im Sprach­lichen und im Schreiben.

Dabei würde zu Hilfe kommen dasjenige, was ja im weiteren dann zu besprechen ist: jene Elastizität und Gefügigkeit, welche das Kind sich aus dem Gesangsunterricht heraus für seine Sprachorgane aneignen

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wird, und es wird sich, ohne daß man das beabsichtigt, eine feinere Empfindung für gedehnte, geschärfte Laute und so weiter ergeben. Es braucht das gar nicht im Musikalischen beabsichtigt zu werden, wenn das Kind in das gehörmäßige Verständnis desjenigen eingeführt wird, was das Instrument im Musikalischen hervorbringt, zunächst in ein­facher und für das Gehör - wenn ich jetzt das Wort bilden darf, weil man ja doch nicht sagen kann «übersichtlich» - in «überhörlicher» Weise; man wird verstehen können, was ich meine: «überhörlich» ist dasjenige, was nun wirklich innerlich als eins in dem vielen erlebt wird, so daß sich einem nicht die Dinge überstürzen im inneren Aufnehmen.

Nun wird man zu dem eben Gesagten dasjenige hinzufügen, was das Kind anregen kann zum Nachdenken, indem man ihm Naheliegendes erklärt: dasjenige, was später geordneter auftreten soll in Geographie, in Naturgeschichte. Das erklärt man ihm, bringt es seinem Verständnis nahe, indem man an Bekanntes - an bekannte Tiere, an bekannte Pflan­zen, an bekannte Bodenkonfigurationen, an Berg, Fluß, Wiese - an-knüpft. Die Schule nennt das Heimatkunde. Aber es handelt sich dar­um, daß man gerade im alierersten Schuljahr ein gewisses Aufwecken des Kindes gegenüber der Umgebung zustande bringt; ein Aufwecken des Seeischen, so daß es lernt, sich selber wirklich zu verbinden mit der Umgebung.

Und wenn dann das zweite Schuljahr angeht, da wird man versu­chen, das Vorerzählen, das Nacherzähienlassen fortzusetzen und weiter auszubilden. Das Kind kann allmählich im zweiten Schuljahr dazu übergeführt werden, daß es dasjenige aufschreibt, was man ihm erzählt. Und dann kann man es, nachdem es herangebildet ist an dem Aufschrei­ben dessen, was man ihm erzählt, auch veranlassen, das, was man ihm beigebracht hat über Tiere, Pflanzen, Wiese und Wald der Umgebung, in ganz kleinen Beschreibungen wiederzugeben.

Nun wäre es wichtig, daß man im ersten Schuljahr nicht viel tippt an Grammatik und so weiter. Aber im zweiten Schuljahr sollte man schon dem Kinde Begriffe beibringen von dem, was ein Hauptwort ist, was ein Eigenschaftswort ist und was ein Tätigkeitswort oder Zeitwort ist. Und es sollte daran angeknüpft werden in einfacher, anschaulicher Weise die Besprechung des Baues von Sätzen.

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Mit Bezug auf die Beschreibung, die denkende Beschreibung der Umgebung fahre man fort in dem, was man im ersten Schuljahr begon­nen hat.

Das dritte Schuljahr wird im wesentlichen eine Fortsetzung des zweiten Schuljahres sein mit Bezug auf Sprechen, Lesen, Schreiben und noch mit Bezug auf vieles andere. Man wird die Fähigkeit erweitern, Gesehenes und Gelesenes niederzuschreiben. Man wird nun aber auch versuchen, in dem Kinde ein bewußtes Gefühl hervorzurufen für kurze, lange, gedehnte Laute und so weiter. Dieses Erfühlen der Sprachartiku­lation und überhaupt der Sprachkonfiguration, das ist etwas, was gut im achten und neunten Jahr getrieben werden kann, wenn man das Kind im dritten Schuljahr hat. Da versuche man dann, dem Kinde eben eine Vorstellung der Wortarten zu geben, der Satzglieder und des Auf­baues eines Satzes, also der Eingliederung von Satzzeichen, Komma, Punkt und so weiter in den Satz.

Das vierte Schuljahr wird wiederum eine Fortsetzung sein des drit­ten Schuljahres in bezug auf Vorerzählen und Nacherzählenlassen. Und es wird gut sein, wenn man darauf sieht, insofern man Dichtungen be­handelt - kurze Gedichte -, daß man insbesondere im ersten und zwei­ten Schuljahr das Kind instinktiv Rhythmus, Reim, Takt erfühlen läßt, und daß man die innere Formung des Gedichtes, also was sich auf die inneren Schönheiten des Gedichtes bezieht, zur Empfindung bringt beim Kinde im dritten und vierten Schuljahr.

Dann aber versuche man dasjenige, was das Kind gelernt hat mit Bezug auf schriftliches Nacherzählen, schriftliches Beschreiben, über­zuleiten in das Abfassen von Briefen, von Briefen aller Art. Dann ver­suche man gerade in dieser Zeit bei dem Kinde eine deutliche Vorstel­lung von den Zeiten hervorzurufen, von alledem, was durch die Ver­wandlungsformen des Verbums zum Ausdruck kommt. Also daß das Kind gerade in dieser Zeit in Begriffen - wir sind etwa zwischen dem neunten und zehnten Jahre jetzt - das bekommt, was es in dieser Be­ziehung bekommen soll, daß es ein Gefühl dafür bekommt, daß es nicht sage: Der Mann lief -, wenn es sagen sollte: Der Mann ist gelaufen. -Daß es also nicht verwechsele die Mitvergangenheit, das sogenannte Präteritum, mit dem Perfektum oder der Vergangenheit. Daß es ein

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Gefühl bekommt, wann man sagt: Der Mann stand -, und wann man sagt: Der Mann hat gestanden -, und ähnliche Dinge in bezug auf die Verwandlungsformen desjenigen, was durch das Verbum ausgedrückt wird. Ebenso versuche man, dem Kinde gefühlsmäßig, instinktiv den Zusammenhang, sagen wir zum Beispiel der Präpositionen mit dem, wovor eben die Präpositionen stehen, beizubringen. Aber überall sehe man, daß das Kind sich ein Gefühl dafür erringe, wie man an der einen Steile «an» sagen soll, an der anderen Stelle «bei» und so weiter. Pla­stisch gliedern die Sprache, das ist dasjenige, was ja an der Mutter­sprache gegen das zehnte Jahr hin geübt werden soll. Plastisch empfin­den die Sprache!

Nun wird es sich darum handeln, daß wir im fünften Schuljahr alles dasjenige wiederholentlich fortsetzen, was wir im vierten gepflogen haben, und daß wir namentlich von da ab Rücksicht nehmen auf den Unterschied der tätigen und der leidenden Verbalformen, also auf Ak­tives und Passives im Gebrauch des Verbums. Dann versuche man, ge­rade in dieser Zeit das Kind zu veranlassen, nicht nur Gesehenes und Gehörtes frei wiederzugeben, sondern womöglich Gehörtes und Ge­lesenes in unmittelbarer Rede anzuführen. Also so anzuführen, wie man es anführen müßte, wenn man es in Gänsefüßchen, in Anführungs­zeichen schreiben soll. Man versuche, das Kind viel darin zu üben, daß es in der Art des Sprechens Rücksicht darauf nimmt, wann es seine eigene Meinung gibt und wann es die Meinung eines anderen mitteilt. Man versuche dann auch in dem, was man schreiben läßt, im Kinde einen starken Unterschied hervorzurufen zwischen dem, was es selber denkt und gesehen hat und so weiter, und dem, was es mitteilt aus dem Munde anderer. Und in Verbindung damit suche man die Anwendung der Satzzeichen noch einmal zu vervollkommnen. - Das Briefschreiben wird dann weiter ausgebildet.

Und wenn es ins sechste Schuljahr geht, da setzen wir natürlich wiederholentlich alles das fort, was wir im fünften gepflogen haben. Und wir versuchen nun, dem Kinde stilistisch stark ein Gefühl von dem beizubringen, was das Konjunktivische ist. Dabei spreche man möglichst über diese Dinge in Beispielen, damit das Kind unterscheiden lerne zwischen dem, was unmittelbar behauptet werden darf, und dem, was

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konjunktivisch ausgedrückt werden muß. Und man versuche, mit dem Kind solche Redeübungen zu machen, in denen man stark darauf sieht, daß nichts durchgelassen werde, was das Kind falsch leistet mit Bezug auf die Anwendung des Konjunktivischen. Also wenn das Kind sagen sollte: Ich sorge dafür, daß mein Schwesterchen laufen lerne - so lasse man ihm nie durch, wenn es sagt: Ich sorge dafür, daß mein Schwester­chen laufen lernt -, damit ein starkes Gefühl von dieser inneren Plastik der Sprache eben in das Spracherfühlen übergehe.

Nun lasse man die Briefe übergehen in leichte, anschauliche Ge­schäftsaufsätze, worin wirklich solche Dinge behandelt werden, die das Kind von anderswoher schon kennengelernt hat. Man kann ja im drit­ten Schuljahr das, was man über Wiese, Wald und so weiter sagt, schon ausdehnen auf geschäftliche Beziehungen, so daß später Stoff da ist für das Ableisten einfacher Geschäftsaufsätze.

Im siebenten Schuljahr wird man das wieder fortzusetzen haben, was im sechsten Schuljahr gemacht worden ist. Und nun versuche man, an den Sprachformen dem Kinde ein richtiges plastisches Erfassen der Ausdrucksformen für das Wünschen, Erstaunen, Bewundern und so weiter zu entwickeln. Man versuche, daß das Kind lerne, dieser inneren Konfiguration der Gefühle gemäß die Sätze zu formen. Dabei gehe man weniger so vor, daß man etwa Gedichte oder sonstiges maiträtiert, um zu zeigen, wie der oder jener einen Wunschsatz geformt hat, sondern man gehe direkt darauf los, indem man das Kind aussprechen läßt etwas Gewünschtes, dann den Satz formen läßt. Dann läßt man aussprechen etwas Bewunderndes und läßt dann den Satz formen, oder man hilft dem Kinde, den Satz zu formen. Und dann vergleicht man den Wunsch-satz mit dem Satz der Bewunderung, um auf diese Weise die Anschau­ung der inneren Plastik der Sprache weiter auszubilden.

Nun wird das, was in der Naturgeschichte heraufgebracht worden ist, es dem Kinde schon ermöglichen, im Aufsatze leichte Charakteristi­ken zu geben, sagen wir von dem Wolfe, von dem Löwen, von der Biene und so weiter. Neben diesem mehr auf das allgemein Menschliche in der Bildung Hingehenden pflege man in dieser Zeit besonders die Abfassung von geschäftlich-praktischen Dingen. Der Lehrer muß sich darum kümmern, was es für geschäftlich-praktische Dinge gibt, und

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muß sie dann in dieser Zeit in einer vernünftigen Form in die Köpfe seiner Schulkinder hineinbringen.

Im achten Schuljahr wird es sich darum handeln, daß man dem Kinde ein zusammenhängendes Verständnis beibringt für länger aus­gedehnte prosaische oder poetische Darstellungen, so daß man in dieser Zeit etwas Dramatisches, etwas Episches mit den Kindern liest. Dabei muß man immer berücksichtigen, was ich gesagt habe: Alle Erklärun­gen, alle Interpretationen vorausgehen lassen, so daß, wenn es ans Lesen kommt, dieses Lesen immer der letzte Abschluß desjenigen ist, was man mit einem gelesenen Stoff tut.

Insbesondere aber darf in diesem achten Schuljahr das Geschäftlich-Praktische gerade im Bereiche des Sprachunterrichts nicht außer acht gelassen werden.

Nun wird es sich darum handeln, daß wir in einer möglichen Art, wenn die Kinder das vierte Schuljahr erreicht haben, in den Lehrplan frei die lateinische Sprache aufnehmen können, während wir die fran­zösische und englische Sprache in ganz einfacher Weise schon heran­bringen an das Kind, wenn es eben in die Schule hereinkommt.

Die lateinische Sprache beginnen wir, wenn das Kind im vierten Schuljahr ist, mit dem Anhören, und soweit es geht, dem Wiederge­ben - was sich erst nach und nach ausbilden wird - von kleinen Ge­sprächsstücken. Man beginne auch da durchaus mit dem Vorsprechen und versuche, an Gesprochenem durch das Gehörte zunächst dasjenige zu erreichen, was eben da gewöhnlich für das erste Jahr vorgeschrieben ist. Man wird dann diesen Unterricht im Lateinischen nach der An­leitung, die ich in den didaktischen Vorträgen gegeben habe, soweit fortführen, daß der Schüler die Volksschule bei uns verläßt mit einem Beherrschen des Lateinischen, wie es sonst etwa dem Unterricht in der Tertia entspricht. Also wir haben im Lateinischen in unserem vierten Schuljahr ja ungefähr dasjenige zu erreichen, was die Sexta gibt; in unserem fünften Schuljahr, was die Quinta gibt; in unserem sechsten Schuljahr, was die Quarta gibt; und dann bleibt uns dasjenige, was als Unterricht in der Tertia zu geben ist.

Daneben führen wir den Unterricht im Französischen und Englischen

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fort, namentlich mit Berücksichtigung desjenigen, was wir im didaktischen Teil dieser Vorträge gehört haben.

Und wir lassen für diejenigen, die es lernen wollen, von dem sech­sten Schuljahr an frei beginnen mit den Elementen des Griechischen, indem wir auch da so verfahren, wie wir es im didaktischen Teil gehört haben. Namentlich versuchen wir aber wiederum, das Schreiben der griechischen Buchstaben dazu zu verwenden, auch dieses Schreiben an­hand des Formenzeichnens heranzubilden. Und es wird für diejenigen, die jetzt Griechisch lernen wollen, eine außerordentliche Wohltat sein, in anderen Buchstabenformen dasjenige zu wiederholen, was zuerst beim Herausholen des Schreibens aus dem Zeichnen getrieben werden soll.

Nun, Sie haben gesehen, wir verwenden in freier Weise dasjenige, was aus der nächsten Umgebung bekannt ist, um eben einen freien Sachunterricht zu treiben. Das Kind kann ganz gut, indem es mit dem dritten Schuljahr gegen das neunte Jahr zugeht, durch diesen Sach­unterricht eine Anschauung davon haben, wie man - nun, ich kann nur Beispiele herausheben - Mörtel zubereitet, wie man ihn verwendet beim Hausbau. Es kann auch eine Vorstellung davon haben, wie man düngt, wie man ackert, wie der Roggen, der Weizen aussieht. Kurz, in freier Weise läßt man das Kind eindringen in dasjenige seiner näch­sten Umgebung, was es verstehen kann.

Dann wird man im vierten Schuljahr von diesem Unterricht aus den Übergang finden, um - noch immer in freier Weise - über das zu spre­chen, was der nächstliegenden Geschichte angehört. Man kann zum Beispiel dem Kinde erzählen, wie, sagen wir, wenn es gerade der Tat­sache nach sich ergibt, der Weinbau in seine (des Kindes) eigene Hei­matgegend gekommen ist, w ie der Obstbau gekommen ist, wie diese oder jene Industrie aufgetreten ist und ähnliches.

Dann auch aus der nächstlie den Geographie. Also man beginnt zunächst, so wie ich es Ihnen dargestellt habe, mit der nächstliegenden Geographie.

Im fünften Schuljahr wird man alle Anstrengungen machen, um mit wirklich geschichtlichen Begriffen für das Kind beginnen zu können.

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Und man soll durchaus nicht davor zurückschrecken, gerade in dieser Zeit, in der das Kind im fünften Schuljahr ist, dem Kind Begriffe bei­zubringen über die Kultur der morgenländischen Völker und der Grie­chen. Die Scheu, in alte Zeiten zurückzugehen, ist nur erzeugt worden durch die Menschen unseres Zeitalters, die keine Fähigkeit haben, ent­sprechende Begriffe hervorzurufen, wenn man in diese alten Zeiten zurückgeht. Ein zehn- bis eifjähriges Kind kann ganz gut, namentlich wenn man fortwährend an sein Gefühl appelliert, auf alles das auf­merksam gemacht werden, was ihm ein Verständnis beibringen kann für die morgenländischen Völker und für die Griechen.

Daneben beginnt man eben in der Geographie damit, so wie ich es gezeigt habe, Bodenkonfigurationen, und was in wirtschaftlicher Be­ziehung damit zusammenhängt, für einen gewissen Teil der Erde, den mehr naheliegenden, dem Kinde beizubringen.

In das sechste Schuljahr gehören hinein geschichtliche Betrachtun­gen über die Griechen und Römer und über die Nachwirkungen der griechischen und römischen Geschichte bis zum Beginn des 15. Jahr-hunderts .

In der Geographie setze man dasjenige fort, was man im fünften Schuljahr gepflegt hat, indem man andere Teile der Erde berücksich­tigt, und versuche dann, den Übergang zu finden von den klimatischen Verhältnissen zu den Himmelsverhältnissen, wovon wir gestern Nach­mittag einige Proben hier vorgeführt haben.

Im siebenten Schuljahr wird es sich darum handeln, daß man dem Kinde recht begreiflich macht, welches Leben der neueren Menschheit mit dem 15. Jahrhundert heraufzieht, und daß man dann die euro­päischen und so weiter Verhältnisse etwa bis zum Beginn des 17. Jahr­hunderts schildert. Es ist dies der allerwichtigste Zeitraum, auf den man viel Sorgfalt verwenden muß. Es ist wichtiger sogar als das Nächst­folgende.

Dann versuche man in der Geographie die Dinge über die Himmels-verhältnisse fortzusetzen und mit der Betrachtung der geistigen Kul­turverhältnisse der Erdbewohner, der Erdenvölker, zu beginnen; im­mer im Zusammenhang mit dem, was man über die materiellen Kul­turverhältnisse, namentlich die wirtschaftlichen Verhältnisse, in den

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zwei ersten Jahren, in denen Geographie getrieben wurde, für die Kin­der gewonnen hat.

Im achten Schuljahr versuche man, mit den Kindern die Geschichte bis herauf zur Gegenwart fortzuführen, wobei man aber wirklich das Kuiturgeschichtliche durch und durch berücksichtigt. Das meiste von dem, was den Inhalt der heute noch gebräuchlichen Geschichte aus­macht, erwähne man überhaupt nur nebenbei. Es ist viel wichtiger, daß das Kind erfahre, wie die Dampfmaschine, der mechanische Webstuhl und so weiter die Erde umgestaltet haben, als daß es allzufrüh solche Kuriositäten erfahre wie die Korrektur der Emser Depesche oder der­gleichen. Diejenigen Dinge, die in unseren Geschichtsbüchern stehen, sind die allerunwichtigsten für die Erziehung des Kindes. Und selbst Karl der Große und ähnliche geschichtliche Größen sollten im Grunde genommen recht vorübergehend behandelt werden. Was ich Ihnen ge­stern gesagt habe mit Bezug auf die Art, wie man sich hilft, die abstrakte Zeitvorstellung immer in Konkretes überzuführen, darin tue man recht, recht viel. Denn das ist notwendig, daß man darin recht, recht viel tue.

Nun brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, daß schon an diesen Lehrgegenständen, von denen wir bis jetzt gesprochen haben, beim Kinde sich mancherlei entwickeln lassen wird von einem Bewußtsein, daß Geist alles durchdringt, was in der Welt vorhanden ist. Daß Geist in unserer Sprache lebt. Daß Geist in dem lebt, was als Geographisches die Erde bedeckt. Daß Geist lebt in dem Leben der Geschichte. Wenn wir versuchen, den lebendigen Geist in allem zu fühlen, dann werden wir auch die richtige Begeisterung finden, diesen lebendigen Geist auf unsere Schüler zu übertragen.

Und dann werden wir an unseren Schülern für die Zukunft wieder gutmachen lernen, was namentlich die religiösen Bekenntnisse seit dem Beginn der neueren Zeit an der Menschheit verschuldet haben. Diese religiösen Bekenntnisse, die nirgends darauf gesehen haben, daß der Mensch sich möglichst frei entwickeie, sie haben von den verschieden­sten Richtungen her den Materialismus großgezogen. Darf man nicht das gesamte Weltmaterial dazu verwenden, dem Menschen beizubrin­gen, daß Geist wirke, dann wird der religiöse Unterricht zu einer

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Pflegestätte für den Materialismus. Die religiösen Bekenntnisse haben es sich geradezu zur Aufgabe gemacht, dem übrigen Unterricht zu ver­bieten, vom Geist und von der Seele zu sprechen, weil die sich dieses als ein Privilegium nehmen wollten. Dabei ist diesen religiösen Be­kenntnissen immer mehr die Wirklichkeit über diese Dinge ausgetrock­net, und so ist das, was im Religionsunterricht vorgebracht wird, nur eine Substanz von sentimentalen Redensarten und Phrasen. Und das, was uns heute so furchtbar aufgeht in der Phrase, die in aller Welt herrscht, das ist eigentlich mehr noch ein Ergebnis der Kanzelkultur, als es ein Ergebnis der Weltkuitur überhaupt ist. Denn die ieersten Phrasen werden in den religiösen Bekenntnissen zutage gefördert und dann durch den Instinkt der Menschheit übertragen in das äußere Le­ben. Gewiß erzeugt das äußere Leben auch sehr viel von Phrasenhaf­tem, aber am meisten sündigen in dieser Beziehung doch die religiösen Bekenntnisse.

Wir werden sehen, meine lieben Freunde, wie die erste Rubrik «Re­ligionsunterricht» - die ich auch in dieser Besprechung gar nicht an-taste, denn die wird die Aufgabe der Kirchengemeinschaften sein - in unserem Waldorfschul-Unterricht auf die folgenden Rubriken wirken wird. Denn das muß ich ja ganz leer lassen, was da als erste Rubrik steht. Oben wird frei bleiben «Religionsunterricht». Da werden ein­fach die Stunden dem Religionslehrer überlassen. Da ist er freier Wal­ter. Da hört er nicht auf uns, selbstverständlich. Da hört er auf die Verfassung, auf das Amtsblatt seiner Kirchenverwaltung oder kirch­lichen Schulverwaltung. Wir werden unsere Pflicht nach dieser Rich­tung tun, und werden ruhig unsere Pflicht aber auch in bezug darauf tun, den Geist aus den übrigen Unterrichtsgegenständen für die Kinder hervorzuzaubern.

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ZWEITER LEHRPLANVORTRAG Stuttgart, 6. September 1919, vormittags

Wir kommen nun dazu, den weiteren Unterrichtsstoff zu verteilen auf die verschiedenen Schulstufen.

Da seien wir uns nur ja recht klar darüber, daß wir gegen das neunte Jahr zu, also im dritten Schuljahr, damit beginnen, die Tiere in ent­sprechender Auswahl zu behandeln, und immer so in Beziehung zum Menschen zu bringen, wie ich das probeweise dargestellt habe.

Da setzen wir dann im vierten Schuljahr fort, so daß wir also im dritten und vierten Schuljahr naturwissenschaftlich die Tierwelt in Beziehung zum Menschen der Betrachtung unterwerfen.

Dann gehen wir im fünften Schuljahr dazu über, unbekanntere Tierformen noch hinzuzufügen, beginnen aber auch in diesem fünf­ten Schuljahr mit der Pflanzenlehre und treiben sie dann nament­lich so, wie wir das im didaktischen Teil unseres Seminars besprochen haben.

Dann setze man die Pflanzenlehre im sechsten Schuljahr fort und gehe über zur Behandlung der Mineralien. Aber die Behandlung der Mineralien geschehe durchaus im Zusammenhang mit der Geographie.

Im siebenten Schuljahr kehre man wiederum zum Menschen zurück und versuche namentlich das beizubringen, worauf ich gestern hinge-deutet habe, was in bezug auf die Ernährungs- und Gesundheitsver­hältnisse dem Menschen beigebracht werden sollte. - Und man ver­suche mit dem, was an physikalischen und chemischen Begriffen ge­wonnen wird, eine zusammenfassende Anschauung hervorzurufen über Erwerbsverhältnisse, Betriebsverhältnisse - also diesen oder jenen Be­trieb - und Verkehrsverhältnisse; das alles im Zusammenhang mit dem physikalischen, chemischen und geographischen Unterricht, aus der Naturgeschichte heraus.

Im achten Schuljahr werden Sie den Menschen so aufzubauen haben, daß Sie dasjenige darstellen, was von außen in ihn hineingebaut ist:

die Knochenmechanik, die Muskelmechanik, der innere Bau des Auges und so weiter. - Dann geben Sie jetzt wiederum eine zusammenfassende

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Darstellung der Betriebsverhältnisse und Verkehrsverhältnisse im Zu­sammenhang mit Physik, Chemie und Geographie.

Wenn Sie namentlich den naturgeschichtlichen Unterricht so gestal­ten, wie wir es eben besprochen haben, dann werden Sie ihn ungeheuer lebendig machen können, und Sie werden aus der Naturgeschichte heraus dem Kinde ein Interesse erwecken für alles Weltliche und alles Menschliche.

Mit dem Physikunterricht beginnen wir im sechsten Schuljahr, und zwar so, daß wir ihn durchaus an dasjenige anknüpfen, was die Kinder gewonnen haben durch den Musikunterricht. Wir beginnen den Phy­sikunterricht, indem wir die Akustik herausgebären lassen aus dem Musikalischen. Also Sie knüpfen durchaus die Akustik an die musi­kalische Tonlehre an und gehen dann über zur Besprechung der physi­kalisch-physiologischen Beschaffenheit des menschlichen Kehlkopfes. Das menschliche Auge können Sie hier noch nicht besprechen, aber den Kehlkopf können Sie besprechen. Dann gehen Sie über - indem Sie nur die wichtigsten Dinge durchnehmen - zur Optik und zur Wärmelehre. Auch die Grundbegriffe der Elektrizität und des Magnetismus bringen Sie in dieses sechste Schuljahr hinein.

Dann gehen Sie im siebenten Schuljahr über zu der Erweiterung des Akustischen, des Thermischen, also des Wärmelehreunterrichts, des optischen Unterrichts, des Elektrizitäts- und Magnetismusunterrichts. Und erst von da aus gehen Sie über zu den wichtigsten mechanischen Grundbegriffen, also Hebel, Rad an der Welle, Rolle, Flaschenzug, Rollenzug, Schiefe Ebene, Walze, Schraube und so weiter.

Dann gehen Sie aus von einem solchen Vorgang wie von der Ver­brennung und suchen von einem solchen alltäglichen Vorgang dann den Übergang zu gewinnen zu einfachen chemischen Vorstellungen.

Im achten Schuljahr erweitern Sie wiederum wiederholentlich das­jenige, was im sechsten gepflogen worden ist, und gehen über zur Hy­draulik, also zu der Lehre von der Kraft, die durch das Wasser wirkt. Also alles dasjenige nehmen Sie vor, was zu dem Begriff, wie Seiten-druck im Wasser, Auftrieb gehört: alles, was zum Archimedischen Prinzip, was also in die Hydraulik gehört.

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Es würde reizvoll gewesen sein, drei Jahre lang über Pädagogik hier Vorträge zu halten, und alles einzelne, was Sie aus eigener Er­findung heraus sich gestalten müssen, auch einmal durch Musterbei­spiele zu behandeln. Aber das kann nicht sein. Wir müssen uns eben mit dem begnügen, was wir hier angeführt haben.

Dann schließen Sie gewissermaßen den physikalischen Unterricht ab durch die Aeromechanik, also durch die Mechanik der Luft, wobei alles zur Sprache kommt, was zusammenhängt mit der Klimatologie, Barometer- und Witterungskunde.

Und Sie führen die einfachen chemischen Begriffe weiter, so daß das Kind auch begreifen lernt, wie industrielle Prozesse mit chemischen zusammenhängen. Sie versuchen, im Zusammenhang mit den chemi­schen Begriffen dasjenige zu entwickeln, was zu sagen ist in bezug auf die Stoffe, die den organischen Körper aufbauen: Stärke, Zucker, Ei­weiß, Fett.

Nun wird es uns obliegen, auch alles, was sich auf Rechnen, Mathe­matik, Geometrie bezieht, zu verteilen auf die acht Schulstufen.

Sie wissen ja, die äußere Methodik schreibt vor, im ersten Schuljahr vorzugsweise die Zahlen im Zahlenraum bis 100 zu behandeln. Man kann sich an das auch halten, denn es ist ziemlich gleichgültig, wenn man bei den einfacheren Zahlen bleibt, wie weit man den Zahlenraum im ersten Schuljahr treibt. Die Hauptsache ist, daß sie, insofern Sie den Zahlenraum gebrauchen, die Rechnungsarten darin so betreiben, daß Sie eben dem Rechnung tragen, was ich gesagt habe: die Addition zuerst aus der Summe heraus, die Subtraktion aus dem Rest heraus, die Multiplikation aus dem Produkt heraus und die Division aus dem Quotienten heraus entwickelt. Also gerade das Umgekehrte von dem, was gewöhnlich gemacht wird. Und erst nachdem man gezeigt hat, 5 ist 3 plus 2, zeigt man das Umgekehrte: durch Addition von 2 und 3 entsteht 5. Denn man muß starke Vorstellungen im Kinde hervor­rufen, daß 5 gleich 3 plus 2 ist, daß 5 aber auch 4 plus list und so wei­ter. Also die Addition erst als zweites nach der Auseinanderteilung der Summe; und die Subtraktion, nachdem man gefragt hat: Was muß ich von einem Minuenden abziehen, damit ein bestimmter Rest bleibt und

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so weiter. Wie gesagt, daß man das dann mit den einfacheren Zahlen im ersten Schuljahr macht, ist selbstverständlich. Ob man nun gerade den Zahlenraum bis 100 oder bis 105 oder bis 95 benützt, das ist im Grunde nebensächlich.

Dann aber beginne man, wenn das Kind mit dem Zahnwechsel fer-tig ist, ja gleich damit, es das Einmaleins lernen zu lassen, und meinet-willen sogar das Einspluseins; wenigstens, sagen wir, bis zur Zahl 6 oder 7. Also das Kind möglichst früh das Einmaleins und Einspluseins einfach gedächtnismäßig lernen zu lassen, nachdem man ihm nur prin­zipiell erklärt hat, was das eigentlich ist, es prinzipiell an der ein­fachen Multiplikation erklärt hat, die man so in Angriff nimmt, wie wir das gesagt haben. Also kaum daß man imstande ist, dem Kinde den Begriff des Multiplizierens beizubringen, übertrage man ihm auch schon die Pflicht, das Einmaleins gedächtnismäßig zu lernen.

Dann führe man im zweiten Schuljahr für einen größeren Zahlen-raum die Rechnungsarten weiter. Man versuche, einfache Aufgaben auch ohne Schriftliches, eben im Kopfe, mündlich mit dem Schüler zu erledigen. Man versuche, unbenannte Zahlen womöglich zuerst zu ent­wickeln an Dingen - ich habe Ihnen ja gesagt, wie Sie an Bohnen oder was auch, die unbenannten Zahlen entwickeln können. Aber man sollte doch auch das Rechnen im Zusammenhang mit benannten Zahlen nicht aus dem Auge verlieren.

Im dritten Schuljahr wird alles für kompliziertere Zahlen fort­gesetzt, und es werden schon die vier Rechnungsarten, wie sie im zwei­ten Schuljahr gepflogen worden sind, in Anwendung gebracht auf ge­wisse einfache Dinge des praktischen Lebens.

Im vierten Schuljahr wird das fortgesetzt, was in den ersten Schul­jahren gepfiogen worden ist. Aber jetzt müssen wir übergehen zur Bruchlehre und namentlich zur Dezimalbruchlehre.

Wir wollen dann im fünften Schuljahr mit der Bruchlehre und mit der Dezimaibruchlehre fortsetzen und alles dasjenige an das Kind her­anbringen, was ihm die Fähigkeit beibringt, sich innerhalb ganzer, ge­brochener, durch Dezimaibrüche ausgedrückter Zahlen frei rechnend zu bewegen.

Dann gehe man im sechsten Schuljahr über zur Zins- und Prozentrechnung,

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zur Diskontrechnung, zur einfachen Wechseirechnung und begründe damit die Buchstabenrechnung, wie wir es gezeigt haben.

Nun bitte ich zu beachten, daß wir bis zum sechsten Schuljahr die geometrischen Formen: Kreis, Dreieck und so weiter herausgeholt ha­ben aus dem Zeichnen, nachdem wir zuerst in den ersten Jahren das Zeichnen für den Schreibunterricht getrieben haben. Dann sind wir allmählich dazu übergegangen, aus dem Zeichnen, das wir für den Schreibunterricht getrieben haben, beim Kinde kompliziertere Formen zu entwickeln, die um ihrer selbst willen, um des Zeichnens willen be­trieben werden; auch Malerisches zu betreiben, das um des Malerischen willen betrieben wird. In diese Sphäre leiten wir den Zeichen- und Mal-unterricht im vierten Schuljahr, und im Zeichnen lehren wir, was ein Kreis ist, eine Ellipse ist und so weiter. Aus dem Zeichnen heraus lehren wir dieses. Da setzen wir noch fort, durchaus auch immer zu plasti­schen Formen hinführend, indem wir uns des Plastilins bedienen -wenn es zu haben ist; sonst kann man irgend etwas anderes benützen, und wenn es Straßenkot wäre, das macht nichts! -, um auch Formen­anschauung, Formenempfindung hervorzuholen.

Von dem, was auf diese Weise im Zeichnen gelehrt worden ist, über-nimmt nun der Mathematikunterricht, der geometrische Unterricht das, was die Kinder können. Jetzt geht man erst über dazu, geometrie-gemäß zu erklären, was ein Dreieck, ein Quadrat, ein Kreis ist und so weiter. Also die raumesmäßige Auffassung dieser Form wird aus dem Zeichnen hervorgeholt. Und was die Kinder aus dem Zeichnen heraus gelernt haben, daran gehe man jetzt im sechsten Schuljahr mit dem geometrischen Begreifen erst heran. Dafür werden wir dann sehen, daß wir in das Zeichnerische etwas anderes aufnehmen.

Im siebenten Schuljahr versuche man, nachdem man zur Buchsta­benrechnung übergegangen ist, Potenzieren, Radizieren beizubringen; auch das, was man das Rechnen mit positiven und negativen Zahlen nennt. Und vor allen Dingen versuche man, die Kinder in das herein-zubringen, was im Zusammenhang mit freier Anwendung des prak­tischen Lebens die Lehre von den Gleichungen genannt werden kann.

Da setze man dann das, was mit der Gleichungslehre zusammenhängt,

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im achten Schuljahr fort, soweit man die Kinder bringen kann, und füge dazu Figuren- und Flächenberechnungen und die Lehre von den geometrischen Orten, wie wir sie gestern wenigstens gestreift haben.

Das gibt Ihnen ein Bild, wie Sie sich in Mathematik und Geometrie mit den Kindern zu verhalten haben.

Jetzt treiben wir, wie wir gesehen haben, in den ersten Schuljahren den zeichnerischen Unterricht so, daß wir zuerst dem Kinde ein ge­wisses Empfinden an runden, an eckigen Formen und so weiter beibringen.

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Aus der Form heraus entwickeln wir das, was wir dann für den Schreibunterricht brauchen. Wir vermeiden es am Beginne dieses elementarischen Zeichenunterrichts ganz, irgend etwas nachzuahmen. Vermeiden Sie es, soviel Sie nur können, das Kind zuerst einen Stuhl oder eine Blume oder irgend etwas nachahmen zu lassen, sondern brin­gen Sie ihm soviel als möglich Linienformen aus sich selbst hervor:

runde, spitzige, haibrunde, elliptische, gerade Formen und so weiter. Rufen Sie im Kinde das Gefühl hervor, was für ein Unterschied ist zwischen Kreisbiegung und Ellipsenbiegung. Kurz, erwecken Sie das Formengefühl, bevor der Nachahmungstrieb erwacht ist! Erst später lassen Sie das, was in den Formen gepflegt worden ist, auf das Nach­ahmen anwenden. Lassen Sie das Kind erst einen Winkel zeichnen, so daß es in der Form den Winkel begreift. Dann zeigen Sie ihm den Stuhl und sagen ihm: «Siehst du, da ist ein Winkel, und da ist noch einmal ein Winkel» und so weiter. Lassen Sie das Kind nichts nachahmen, bevor Sie nicht in ihm aus innerem Gefühl heraus die Form in ihrer Selbst-tätigkeit gepflegt haben, die dann später erst auch nachgeahmt wer­den kann. Und so halten Sie es auch noch, wenn Sie zur mehr selbstän­digen Behandlung des Zeichnens und des Malerischen und auch des Bildnerischen übergehen.

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Dann lassen Sie im sechsten Schuljahr einfache Projektions- und Schattenlehre auftreten, die Sie sowohl mit freier Hand behandeln wie auch mit dem Lineal und Zirkel und dergleichen. Sehen Sie darauf, daß das Kind einen guten Begriff bekommt und nachzeichnen, nachbilden

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kann, wie, wenn hier ein Zylinder ist, hier eine Kugel, und die Kugel vom Lichte beschienen wird, wie der Schatten von der Kugel auf dem Zylinder ausschaut. Wie Schatten geworfen werden! Also einfache Projektions- und Schattenlehre muß im sechsten Schuljahr auftreten. Das Kind muß eine Vorstellung bekommen und muß nach­ahmen können, wie Schatten auf ebenen Flächen, auf gekrümmten Flächen, von anderen mehr oder weniger ebenen oder von körperlichen Dingen geworfen werden. Das Kind muß in diesem sechsten Schuljahr einen Begriff davon bekommen, wie sich Technisches mit Schönem ver­bindet, wie ein Stuhl zu gleicher Zeit technisch geeignet sein kann für einen Zweck, und wie er nebenbei eine schöne Form haben kann. Und diese Verbindung von Technischem mit Schönem soll dem Kinde in den Begriff, in den Griff hineingehen.

Dann sollte im siebenten Schuljahr alles das gepflegt werden, was sich auf Durchdringungen bezieht. Also als einfaches Beispiel sagen Sie: «Da haben wir einen Zylinder, der wird von einem Pfosten durch­drungen. Der Pfosten muß durchgesteckt werden durch den Zylinder.» Sie müssen zeigen, was da in dem Zylinder für eine Schnittfläche ent­steht beim Hineingehen und beim wieder Herausgehen. Das muß mit

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dem Kinde gelernt werden. So etwas muß es lernen, was entsteht, wenn sich Körper oder Flächen gegenseitig durchdringen, so daß es weiß, welcher Unterschied ist, ob eine Ofenröhre oben senkrecht durchs Plafond geht, wobei ein Durchdringen im Kreis erfolgt, oder schief, wobei ein Durchdringen in der Ellipse erfolgt. - Dann muß das Kind in diesem Jahr eine gute Vorstellung beigebracht erhalten vom Perspekti­vischen. Also einfaches perspektivisches Zeichnen, Verkürzung in der Entfernuiig, Verlängerung in der Nähe, Überdeckungen und so weiter. Und dann wiederum die Verbindung des Technischen mit dem Schönen, so daß man in dem Kinde eine Vorstellung davon hervorruft, ob es schon oder unschön ist, wenn irgendeine, sagen wir, teilweise Über-deckung einer Wand eines Hauses durch einen Vorsprung hervorge­rufen wird. Ein solcher Vorsprung kann schön oder unschön eine solche Wand überdecken. Solche Dinge wirken ungeheuer, wenn sie einem Kinde gerade im siebenten Schuljahre, also wenn es dreizehn, vierzehn Jahre alt ist, beigebracht werden.

Das alles steigert man ins Künstlerische, indem man gegen das achte Schuljahr hingeht.

Und in einer ähnlichen Weise, wie diese Dinge gepflegt worden sind, müssen nun auch die restlichen Dinge gepflegt werden. Wir werden dann heute Nachmittag darauf zurückkommen und einiges noch er­gänzend zu unserem Lehrplan hinzuzufügen haben. Da wird vor allen Dingen darauf gesehen werden müssen, wie auch das Musikalische in

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dem ersten Schuljahr möglichst aus dem Einfachen, Elementarischen hervorgeholt wird, und wie dann in das Kompliziertere übergegangen wird etwa vom dritten Schuljahr an. So daß nach und nach das Kind sowohl am Instrument - und namentlich am Instrument - wie auch im Gesanglichen dasjenige aufnimmt, was gerade bildnerisch, bildend für die Fähigkeiten des Kindes ist.

Herausgeholt werden muß nun aus allem übrigen Künstlerischen das Turnen und die Eurythmie. Aus dem Musikalischen, und auch aus dem sonstigen Künstlerischen, muß das Turnen und die Eurythmie heraus-geholt werden.

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FÜNFZEHNTE SEMINARBESPRECHUNG und DRITTER LEHRPLANVORTRAG Stuttgart, 6. September 1919, nachmittags

Sprechübungen:

Schlinge Schlange geschwinde

Gewundene Fundewecken weg

Gewundene Fundewecken

Geschwinde schlinge Schlange weg

Marsch schmachtender

Klappriger Racker

Krackle piappernd linkisch

Flink von vorne fort

Krackle piappernd linkisch

Flink von vorne fort

Marsch schmachtender

Klappriger Racker

Rudolf Steiner: Das ist zum Einsetzen gut. Hinweisen auf den, der fort­setzen soll; dann setzt der nächste oder ein anderer fort.

Dritter Lehrplanvortrag

Wir haben am Vormittag schon darauf hingewiesen: in ähnlicher Weise, wie nur allgemeine Linien angegeben werden können für das Bildend­Künstlerische, so kann man auch für das Musikalische nur allgemeine Linien angeben. Das einzelne muß selbstverständlich der pädagogischen

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Freiheit überlassen bleiben. Und da würde ich nun bitten, diese allge­meinen Linien so zu betrachten, daß sie im Grunde genommen alles eingliedern lassen, was man für vernünftig halten kann im musikali­schen Unterricht.

Im ersten, zweiten und dritten Schuljahr wird man es ja im wesent­lichen zu tun haben mit einfachen musikalischen Verhältnissen. Und diese einfachen musikalischen Verhältnisse sollen so benützt werden, daß der Gesichtspunkt der ist: an dem, was man pädagogisch zurich­tet im Musikalischen, Stinimbildung und Gehör des Menschen, des wer­denden Menschen, heranzubilden. Also der Gesichtspunkt ist, das Mu­sikalische so zuzurichten, daß es geeignet ist, den Menschen zum rich­tigen Bilden des Stinimlichen, des Tonlichen, und zum richtigen Hören aufzurufen. Wir verstehen uns wohl darin.

Dann kommt das vierte, fünfte und sechste Schuljahr. Da wird man ja auch schon drinnen sein in der Zeichenerklärung, der Notenerklä­rung. Man wird schon umfassende Übungen machen können in der Ton­leiter. Namentlich im fünften und sechsten Schuljahr wird man auf die Tonarten eingehen können. Man wird da schon D-dur und so weiter haben können. Mit dem Moll muß man möglichst lange warten, aber es kann doch schon auch in dieser Zeit an das Kind herangebracht werden.

Aber alles das, um was es sich dabei handelt, ist, nunmehr gewisser­maßen nach dem Entgegengesetzten hinzuarbeiten: das Kind anzupas­sen an die Erfordernisse des Musikalischen, also den Unterricht mehr nach der ästhetischen Seite hinüberzutreiben. Zuerst soll das Kind die Hauptsache sein. Es soll alles so zugerichtet sein, daß das Kind Hören und Singen lernt. Dann aber soll das Kind, nachdem es in den ersten drei Schuljahren begünstigt worden ist, sich den künstlerischen Anfor­derungen der musikalischen Kunst anpassen. Das wird das Pädagogische sein, was dabei zu berücksichtigen ist.

Und in den beiden letzten Schuljahren, im siebenten und achten Schuljahr, bitte ich zu berücksichtigen, daß das Kind überhaupt nicht mehr das Gefühl hat, es werde «dressiert» zu irgend etwas, sondern daß das Kind schon das Gefühl hat, es treibe Musik, weil das ihm Vergnügen macht, weil es das genießen möchte, als Selbstzweck, zur Freude. Dahin

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hat der sogenannte Musikunterricht zu wirken. Daher kann in diesen zwei Jahren das musikalische Urteil geweckt und ausgebildet werden. Es kann schon darauf aufmerksam gemacht werden, welchen Charak­ter dieses musikalische Kunstwerk hat und welchen jenes hat. Welchen Charakter ein Beethovensches Kunstwerk hat und welchen Charakter ein Brahmssches Kunstwerk hat. In einfachen Formen also sollte man das Kind zum musikalischen Urteil bringen. Vorher muß man das mu­sikalische Urteil zurückhalten, aber jetzt muß man es pflegen.

Es wird nun von ganz besonderer Wichtigkeit sein, daß eine gewisse Verständigung eintritt. Sie wissen, ich habe am Vormittag ganz das gleiche angegeben für ein bildendes Kunstwerk. Ich sagte: Zuerst ver­wenden wir das Zeichnen so, daß das Schreiben daraus hervorgehen kann. Dann wird das Zeichnen als Selbstzweck verwendet. Also es bildet dann die Kunst dasjenige, worauf es ankommt. In dem Moment, wo das Kind übergeht von den Utilitätsformen dazu, im Zeichnen und Malen die freien, künstlerischen Formen zu entwickeln, in dem Mo­ment - also zwischen dem dritten und vierten Schuljahr - ist auch im Musikalischen überzugehen, so wie ich es bezeichnet habe; zuerst so arbeiten, daß es auf das Physiologische des Kindes ankommt; dann so arbeiten, daß das Kind sich der musikalischen Kunst anpassen muß. Also diese Übergänge im Zeichnerisch-Malerischen und im Musikali­schen sollten eigentlich einander entsprechen.

Nun kommt uns im offiziellen Lehrplan eines zugute: da ist in den ersten drei Schuljahren überhaupt kein Turnen. Da beginnen wir also mit der Eurythmie. Und da wäre es schon sehr schön, wenn im ersten Schuljahre namentlich Eurythmie im Einklang mit dem Musikalischen getrieben würde, so daß tatsächlich die Anpassung an Geometrie und Musik in der Eurythmie besonders gepflegt wird.

Im zweiten Schuljahr würde man erst mit dem Ausbilden der Buch­staben beginnen, das man dann weiter fortsetzt im dritten Schuljahr; immer so, daß man immer wiederum an Musik und Geometrie und Zeichnerisches anknüpft.

Und dann im vierten, fünften und sechsten Schuljahr kommen hinzu die Formen, also für Konkretes, Abstraktes und so weiter, wobei solche

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Dinge für die Kinder ja möglich werden, weil sie in der Grammatik ja mittlerweile so weit vorwärtsgekommen sind.

Dann setzen wir das fort im siebenten und achten Schuljahr für kompliziertere Formen.

Vom vierten Schuljahr ab teilen wir die eurythmische Kunst mit dem Turnen, und zwar so, daß wir im vierten, fünften und sechsten Schul­jahr «Gliederbewegen» im Turnen haben, dann alles das, was mit Lau­fen, Springen, Klettern zusammenhängt, und nur einfache Geräteübun­gen.

Kompliziertere Geräteübungen sind erst im siebenten und achten Schuljahr zu machen, in dem die freien Übungen auch fortgesetzt wer­den. Aber die freien Übungen sollen alle mit Laufen, Klettern, Sprin­gen zusammenhängen.

Wenn Sie das alles durchdenken, was Sie selber sich haben überlegen können, werden Sie das alles im Einklang finden mit dem, was jetzt auf diese Weise zu schildern versucht worden ist.

Fortsetzung der Seminarbesprechung

K. ipricht über Ellipie, Hyperbel, Kreis, Lemniikate und den Begriff des geometri­ichen Ortes. Er erwähnt dabei, wie die Lemniikate (Gassinische Kurve) eine Form III annehmen. kann, bei der der eine Ast der Kurve den Raum verläßt und als der andere Ast wieder in ihn eintritt.

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Rudolf Steiner macht dazu mehrere Zwischenbemerkungen: Was als Stücke verhalten sich zueinander wie Zirbeidrüse und Herz. Der eine Ast liegt im Kopf, die Zirbeidrüse, der andere Ast liegt in der Brust, das Herz. Nur ist das eine, die Zirbeldrüse, schwächer ausgebildet, das Herz stärker.

D. spricht über ein geschichtliches Thema, über die Völkerwanderung.

Rudolf Steiner macht dazu mehrere Zwsichenbemerkungen: Was als Gründe für die Völkerwanderung angeführt wird, beruht sehr häufig auf geschichtlichen Konstruktionen. Das Wesentliche ist, wenn man den Dingen zu Leibe geht, bei der eigentlichen Völkerwanderung, wo die Goten und so weiter vorrücken, daß die Römer das Geld haben, und die Germanen kein Geld haben, und daß die Tendenz besteht, daß überall da, wo eine Grenze ist, die Germanen in irgendeiner Weise sich das römische Geld aneignen wollen. Daher werden sie Söldner und alles mögliche. Es sind ja ganze Legionen von Germanen in den römischen Sold eingetreten. Es ist die Völkerwanderung eine wirtschaftlich-finan­zielle Frage. Erst auf dieser Grundlage konnte dann die Ausbreitung des Christentums vor sich gehen. Die Völkerwanderung als solche rührt aber von der Habgier der Germanen her, die das Geld der Römer haben wollten. Die Römer wurden auch arm dabei! Auch schon beim Cimbernzug war es so. Den Cimbern wurde gesagt: Die Römer haben Gold! - während sie selbst arm waren. Das wirkte auf die Cimbern sehr stark. Sie wollen Gold holen. Römisches Gold!

Es sind verschiedene Völkerschichten da, auch noch keltische Über-reste. Sie finden heute noch deutliche Sprachanklänge an die keltische Sprache, zum Beispiel bei den Quellflüssen der Donau, Brig und Breg, Brigach und Brege. Dann überall, wo in den Ortsnamen «-ach» vor­handen ist, zum Beispiel Unterach, Dornach und so weiter. «Ach» kommt von Wässerchen her, von aqua, weist auf Keltisches zurück. Auch «III» und dergleichen erinnert ans alte Keltische. Über das Kel­tische schichtet sich dann das Germanische. - Gegensatz von Arianern und Athanasianern.

Sehr wichtig ist, daß Sie den Kindern klarmachen müssen, daß ein großer Unterschied besteht - das ist gerade an der Völkerwanderung

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ersichtlich -, ob, wie zum Beispiel in Spanien und Italien, die germani­schen Völker, wie die Goten, in schon der Agrikultur nach völlig in Anspruch genommene Gebiete einziehen. Hier wurde alles besessen. Da ziehen die gotischen und andere Völker ein. Die verschwinden. Die gehen also auf in den anderen Völkern, die schon da waren. - Nach Westen ziehen die Franken vor. Die kommen in Gegenden, die der Ag­rikultur nach noch nicht vollständig besetzt sind. Die erhalten sich. Daher hat sich von den Goten nichts erhalten, die eben in Gegenden eingezogen sind, wo der Boden schon ganz in Besitz genommen war. Von den Franken hat sich alles erhalten, weil sie in noch brachliegende Gegenden eingezogen sind. Das ist ein geschichtliches Gesetz, das sehr wichtig ist. Später kann der Hinweis wiederholt werden bei der Kon­figuration von Nordamerika, wo allerdings die Indianer ausgerottet worden sind, aber doch das bestand, daß in Brachgegenden eingewan­dert werden konnte.

Es handelt sich auch darum, daß Sie dann klarmachen, welches der Unterschied ist zwischen so etwas, wie zum Beispiel das Frankenreich Karis des Großen war, und einem späteren Staat. Wenn Sie diesen Unter­schied nicht kennen, kommen Sie nicht über den Rubikon des 15. Jahr­hunderts hinweg. Das Reich Karis des Großen ist noch kein Staat. Wie ist es bei den Merowingern? Sie sind eigentlich zunächst nichts anderes als Großgrundbesitzer. Und bei ihnen gilt lediglich nur das Privatrecht. Und immer mehr geht dann dasjenige, was aus den alten germanischen Großgrundbesitz-Verhältnissen stammt, über in das römische Recht, wo derjenige, der bloß die Ämter verwaltet, nach und nach die Macht bekommt. So geht allmählich der Besitz über an die Verwaltung, an die Beamten, und indem dann später die Verwaltung die eigentliche Herrschermacht wird, entsteht erst der Staat. Der Staat entsteht also durch die Inanspruchnahme der Verwaltung. Es entsteht der Grafen-adel im Gegensatz zum Fürstenadel. «Graf» hat denselben Ursprung wie Graphologe: es kommt her von graphein, schreiben. «Graf» heißt Schreiber. Der Graf ist der römische Schreiber, der Verwalter, wäh­rend der Fürstenadel als alter Kriegeradel noch mit Tapferkeit und Heldenmut und dergleichen zusammenhangt. Der «Furst» ist der Erste, der Vorderste. So ist also mit dem Übergang vom Fürsten zum Grafen

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das staatliche Prinzip entstanden. Das kann man natürlich an diesen Dingen ganz gut anschaulich machen.

L. führt aus, wie er die Ausbreitung des Christentums bei den Germanen an die Kinder heranbringen würde.

Rudolf Steiner: Das arianische Christentum hat im praktischen Aus-leben etwas sehr stark dem späteren Protestantismus ähnliches, es war aber weniger abstrakt, war noch konkreter.

Im 1. und 2. Jahrhundert war unter den römischen Soldaten an Rhein und Donau sehr stark der Mithrasdienst verbreitet, namentlich unter den Offizieren. - Thor, Wotan, Saxnot wurden im heutigen El-saß und überall bis ins 6., 7., 8. Jahrhundert als die alten germanischen Volksgötter, als die drei wesentlichen Hauptgötter verehrt mit germa­nischen religiösen Gebräuchen.

Man kann zahlreiche Szenen schildern, wie im Elsaß, im Schwarz­wald die Kirchlein durch die römischen Kleriker gebaut werden. «Wir wollen dem Wotan das und das tun», sangen die Männer. Die Frauen sangen: «Der Christus ist für die gekommen, die nichts tun von sich aus.» Dieser Trick wurde schon benützt bei der Ausbreitung des Chri­stentums, daß man nichts zu tun hatte, um selig zu werden.

«Eiche» ist in der altgermanischen Kultsprache die Bezeichnung für den Priester des Donar. In der Zeit, als Bonifatius wirkte, kam noch stark in Betracht, ob man noch die Formeln wußte. Bonifatius wußte sich in Besitz gewisser Formeln zu setzen. Er wußte das Zauberwort, der Donarpriester wußte es nicht mehr. Bonifatius hat durch seine höhere Macht, durch die «Axt», das Zauberwort, den Priester des Donar, die «Donar-Eiche», gefällt. Der Priester starb vor Gram; er ging zugrunde «durch das Feuer des Himmels». Das sind Imaginations-bilder! Nach einigen Generationen ist das in das bekannte Bild um­geformt worden.

Solche imaginativen Bilder müssen Sie lesen lernen. Und so lernend lehren, lehrend lernen.

Bonifatius hat das germanische Christentum verrömischt.

Karis des Großen Leben hat Eginhard beschrieben. Eginhard ist ein Schmeichler.

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U. spricht über den musikalischen Unterricht.

Rudolf Steiner: Die im Musikunterricht weniger Fortgeschrittenen sollte man wenigstens zu den Übungen der Fortgeschrittenen dazu­nehmen, wenn sie auch untätig dabei sind und nur zuhören. Wenn alles nichts nützt, kann man sie immer noch absondern. Es wird übri­gens noch viele Gegenstände geben, wo ähnliche Übelstände eintreten, daß also die Fortgeschrittenen und die Zurückgebliebenen nicht in Ein­klang zu bringen sind. Das wird sich weniger einstellen, wenn man für die richtigen Methoden sorgt. Heute wird das nur durch allerlei Verhältnisse kaschiert. Wenn Sie nach unseren Gesichtspunkten prak­tisch unterrichten werden, werden Sie die Schwierigkeiten, die Sie sonst gar nicht bemerken, auch mit anderen Gegenständen bekommen als nur mit der Musik. Zum Beispiel beim Zeichnen und Malen. Sie krie­gen Kinder, die Sie im Künstlerischen sehr schwer vorwärtsbringen können, auch im Plastisch-Künstlerischen, im Bildnerisch-Künstleri­schen. Da muß man auch versuchen, nicht zu früh an die Trennung der Kinder zu gehen, sondern erst, wenn es gar nicht mehr geht.

N. spricht über die Behandlung des Poetischen im französischen und englischen Unterricht.

Rudolf Steiner: Wir halten durchaus daran fest, das Englische und Französische ganz von Anfang an mit den Kindern in mäßiger Weise zu treiben. Nicht gouvernantenhaft, sondern so, daß sie die beiden Sprachen richtig schätzen lernen, und daß sie ein Gefühl bekommen für den richtigen Ausdruck in den beiden Sprachen.

Wenn ein Schüler in der zweiten bis vierten Klasse beim Rezitieren steckenbleibt, muß man ihm gutmütig und in aller Sanftheit nachhel­fen, damit er zutraulich wird und nicht den Mut verliert. Man muß da den guten Willen auch für das Werk nehmen.

Für die zwölf- bis fünfzehnjährigen Kinder ist das lyrisch-epische Element geeignet, Balladen; auch markante historische Darstellung, gute Kunstprosa und einzelne dramatische Szenen.

Und dann fangen wir mit dem vierten Schuljahr mit der lateinischen Sprache an, und im sechsten Schuljahr mit dem Griechischen, für diejenigen

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Kinder, die es mitnehmen wollen, damit wir es drei Jahre lang treiben können. Wenn wir die Schule ausbauen könnten, würden wir mit dem Lateinischen und dem Griechischen zugleich beginnen. Wir müssen dann Rat schaffen dafür, daß diejenigen Kinder, die Lateinisch und Griechisch mitnehmen, im Deutschen etwas entlastet werden. Das kann sehr gut geschehen, weil viel Grammatikalisches dann im Grie­chischen und Lateinischen besorgt wird, was sonst im Deutschen be­sorgt werden muß. Und auch noch manches andere wird erspart wer­den können.

Man sprach C wie K im alten Latein; das mittelalterliche, das ein gesprochenes Latein war, hatte C. Im alten Römerland wurden viele Dialekte gesprochen. Man kann «Cicero» sagen, weil das im Mittel­alter noch so gesprochen wurde. Man kann von etwas «Richtigem» in der Sprache nicht reden, da es etwas Konventionelles ist.

Die Methodik des altsprachlichen Unterrichts ist auf derselben Linie aufzubauen, nur ist darauf Bedacht zu nehmen, daß man beim alt­sprachlichen Unterricht, mit Ausnahme dessen, was ich heute morgen gesagt habe, im wesentlichen den Lehrplan benützen kann. Denn er stammt noch aus den besten pädagogischen Zeiten des Mittelalters her. Es ist da noch vieles, was sich pädagogisch noch ein wenig zeigen kann, was sich für die Methodik des Griechischen und Lateinischen findet. Da schreiben die Lehrpläne noch immer das nach, was man früher getan hat, und das ist nicht ganz unvernünftig. Die Abfassung der Schulbücher ist etwas, was man heute nicht mehr benützen kann, in­sofern man die etwas holperigen Memorierregeln doch heute eigentlich unterlassen sollte. Die kommen dem heutigen Menschen etwas kind­lich vor, und sie sind ja, indem sie ins Deutsche übertragen sind, auch etwas zu holperig. Das wird man versuchen zu vermeiden, sonst aber ist die Methodik nicht so schlecht.

Plastisches soll vor dem neunten Jahre beginnen, Kugeln, dann an­deres und so weiter. Auch beim Plastischen soll man ganz aus den For­men heraus arbeiten.

R fragt, ob man Zeugnisse geben soll.

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Rudolf Steiner: Solange die Kinder in derselben Schule sind, wozu soll man da Zeugnisse geben? Geben Sie sie dann, wenn die Kinder abgehen. Es ist ja nicht von einer tiefgehenden pädagogischen Bedeu­tung, neue Zensuren auszusinnen. Zensuren unter die einzelnen Ar­beiten wären ganz frei zu geben, ohne bestimmtes Schema.

Die Mitteilung an die Eltern ist ja unter Umständen auch etwas wie eine Zensur, aber das wird sich nicht ganz vermeiden lassen. Wie es auch zum Beispiel als notwendig sich herausstellen kann - was wir natürlich mit einer gewissen anderen Note behandeln würden, als es gewöhnlich behandelt wird -, daß ein Schüler länger auf einer Stufe bleiben muß; das müssen wir natürlich dann auch machen. Wir wer­den es ja tunlichst vermeiden können durch unsere Methode. Denn wenn wir den praktischen Grundsatz verfolgen, womöglich so zu ver­bessern, daß der Schüler durch die Verbesserung etwas hat - also wenn wir ihn rechnen lassen, weniger Wert darauf legen, daß er etwas nicht kann im Rechnen, sondern darauf, daß wir ihn dazu bringen, daß er es nachher kann -, wenn wir also das dem bisherigen ganz entgegenge­setzte Prinzip verfolgen, dann wird das Nichtkönnen nicht mehr eine so große Rolle spielen, als es jetzt spielt. Es würde also im ganzen Un­terricht die Beurteilungssucht, die der Lehrer sich dadurch anerzieht, daß er jeden Tag Noten ins Notizbuch notiert, umgedreht werden in den Versuch, in jedem Momente dem Schüler immer wieder und wie­derum zu helfen und gar keine Beurteilung an die Stelle zu setzen. Der Lehrer müßte sich ebenso eine schlechte Note geben wie dem Schüler, wenn der Schüler etwas nicht kann, weil es ihm dann nur noch nicht gelungen ist, es ihm beizubringen.

Als Mitteilung an die Eltern und als von der Außenwelt Gefordertes können wir, wie gesagt, Zeugnisse figurieren lassen. Da müssen wir uns schon an das halten, was üblich ist. Aber in der Schule müssen wir durchaus die Stimmung geltend machen, daß das eben für uns - das brauchen wir ja nicht besonders auseinanderzusetzen - nicht in erster Linie eine Bedeutung hat. Diese Stimmung müssen wir verbreiten wie eine moralische Atmosphäre.

Nun ist alles zur Geltung gekommen bei uns, so daß Sie eine Vor­stellung bekommen, mit Ausnahme dessen, was dann in irgendeiner

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Form noch in bezug auf die technische Eingliederung in die Schule wird zur Sprache kommen müssen, wozu wir noch nicht gekommen sind, weil einfach die Besetzung nicht da war: das sind die weiblichen Hand­arbeiten. Das ist etwas, was in irgendeiner Weise noch eingegliedert werden muß. Darauf muß gesehen werden, aber es war niemand da, der dafür in Betracht gekommen wäre.

Nun wird es natürlich notwendig sein, daß wir auch die Schule in ihrer praktischen Gliederung besprechen. Daß mit Ihnen besprochen wird, in welchen Klassen Sie zu unterrichten haben und so weiter, wie wir die Sachen auf Vor- und Nachmittag verlegen und so weiter. Das muß besprochen werden, bevor wir den Unterricht beginnen. Morgen wird ja die feierliche Eröffnung sein, und dann werden wir schon Gelegenheit nehmen, morgen oder übermorgen das, was noch für die technische Einteilung nötig ist, zu besprechen. Wir werden darüber noch eine entscheidende Konferenz im engsten Kreise haben. Ich werde dann auch noch einige Worte über die Schulweihe zu sagen haben.

Schlußworte

Heute möchte ich nun diese Betrachtungen schließen, indem ich Sie noch einmal hinweise auf das, was ich Ihnen gewissermaßen ans Herz legen möchte. Das ist, daß Sie wirklich an vier Dinge sich halten:

Erstens daran, daß der Lehrer im großen und auch im einzelnen in der ganzen Durchgeistigung seines Berufes und in der Art, wie er das einzelne Wort spricht, den einzelnen Begriff, jede einzelne Empfin­dung entwickelt, auf seine Schüler wirke! Daß der Lehrer ein Mensch der Initiative sei, daß er Initiative habe! Daß er niemals lässig werde, das heißt, nicht voll dabei sei bei dem, was er in der Schule tut, wie er sich den Kindern gegenüber benimmt. Das ist das erste: Der Lehrer sei ein Mensch der Initiative im großen und im kleinen Ganzen.

Das zweite, meine lieben Freunde, ist, daß wir als Lehrer Interesse haben müssen für alles dasjenige, was in der Welt ist und was den Menschen angeht. Für alles Weltliche und für alles Menschliche müssen wir als Lehrer Interesse haben. Uns irgendwie abzuschließen für etwas,

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was für den Menschen interessant sein kann, das würde, wenn es beim Lehrer Platz griffe, höchst bedauerlich sein. Wir sollen uns für die gro­ßen Angelegenheiten der Menschheit interessieren. Wir sollen uns für die großen und kleinsten Angelegenheiten des einzelnen Kindes inter­essieren können. Das ist das zweite: Der Lehrer soll ein Mensch sein, der Interesse hat für alles weltliche und menschliche Sein.

Und das dritte ist: Der Lehrer soll ein Mensch sein, der in seinem Inneren nie ein Kompromiß schließt mit dem Unwahren. Der Lehrer muß ein tiefinnerlich wahrhaftiger Mensch sein. Er darf nie Kompro­misse schließen mit dem Unwahren, sonst werden wir sehen, wie durch viele Kanäle Unwahrhaftiges, besonders in der Methode, in unseren Unterricht hereinkommt. Unser Unterricht wird nur dann eine Aus­prägung des Wahrhaftigen sein, wenn wir sorgfältig darauf bedacht sind, in uns selbst das Wahrhaftige anzustreben.

Und dann etwas, was leichter gesagt als bewirkt wird, was aber doch auch eine goldene Regel für den Lehrerberuf ist: Der Lehrer darf nicht verdorren und nicht versauern. Unverdorrte frische Seelenstim­mung! Nicht verdorren und nicht versauern! Das ist dasjenige, was der Lehrer anstreben muß.

Und ich weiß, meine lieben Freunde, wenn Sie das, was wir in diesen vierzehn Tagen von den verschiedensten Seiten her beleuchtet haben, richtig aufgenommen haben in Ihre Seelen, dann wird gerade auf dem Umweg durch die Empfindungs- und Willenswelt das scheinbar Fern­liegende Ihnen sehr nahekommen, indem Sie den Unterricht ausüben. Ich habe gerade in diesen vierzehn Tagen nichts anderes gesagt, als was im Unterricht unmittelbar dann praktisch werden kann, wenn Sie es in Ihren Seelen wirken lassen. Aber unsere Waldorfschule wird dar­auf angewiesen sein, meine lieben Freunde, daß Sie so in Ihrem eigenen Inneren verfahren, daß Sie wirklich die Dinge, die wir jetzt durch-genommen haben, in Ihren Seelen wirksam sein lassen.

Denken Sie an manches, was ich versucht habe klarzumachen, um ein Begreifen des Menschen, namentlich des werdenden Menschen, psychologisch herbeizuführen, denken Sie an manches zurück! Und wenn Sie nicht wissen, wie Sie das eine oder andere im Unterricht vor­zubringen haben, oder wann Sie es vorzubringen haben, an welcher

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Stelle, dann wird Ihnen überall ein Gedanke kommen können über solche Einrichtungen des Unterrichts, wenn Sie sich an das richtig er­innern, was in diesen vierzehn Tagen vorgekommen ist. Natürlich müßte vieles viele Male mehr gesagt werden, aber ich möchte ja aus Ihnen auch nicht lehrende Maschinen machen, sondern freie, selbstän­dige Lehrpersonen. So ist auch dasjenige gehalten worden, was in den letzten vierzehn Tagen an Sie herangebracht worden ist. Die Zeit war ja so kurz, daß appelliert werden mußte im übrigen an Ihre hinge­bungsvolle, verständnisvolle Tätigkeit.

Denken Sie aber immer wiederum an das, was zum Verständnis des Menschen, und namentlich des Kindes, jetzt vorgebracht worden ist. Bei allen einzelnen methodischen Fragen wird es Ihnen dienen können.

Sehen Sie, wenn Sie zurückdenken, dann werden sich schon bei den verschiedenen Impulsen dieser vierzehn Tage unsere Gedanken be­gegnen. Denn ich selbst, das kann ich Ihnen die Versicherung geben, werde zurückdenken! Denn es lastet diese Waldorfschule gar sehr heute wohl auf dem Gemüte derjenigen, die an ihrer Einleitung und Ein­richtung beteiligt sind. Diese Waldorfschule muß gelingen! Daß sie gelinge, davon wird viel abhängen! Mit ihrem Gelingen wird für man­ches in der Geistesentwickelung, das wir vertreten müssen, eine Art Beweis erbracht sein.

Wenn ich persönlich jetzt am Schluß mit ein paar Worten sprechen darf, möchte ich sagen: Für mich selbst wird diese Waldorfschule ein wahrhaftiges Sorgenkind sein. Und ich werde immer wieder und wie­der müssen mit meinen Gedanken sorgend auf diese Waldorfschule zurückkommen. Aber wir können, wenn wir den ganzen Ernst der Lage betrachten, wirklich gut zusammenarbeiten. Halten wir uns na­mentlich an den Gedanken, der ja unser Herz, unseren Sinn erfüllt:

daß mit der geistigen Bewegung der Gegenwart doch ebensogut geistige Mächte des Weltenlaufes verbunden sind. Glauben wir an diese guten Mächte, dann werden sie inspirierend in unserem Dasein sein, und wir werden den Unterricht erteilen können.

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Bemerkungen zur ersten Buchausgabe der Seminarbesprechungen

In den wirtschaftlichen und politischen Wirren, die dem deutschen Zusammenbruch vom November 1918 folgten, faßte Emil Molt, der Leiter der Waldorf-Astoria-Zi­garettenfabrik in Stuttgart, den Entschluß, für die Kinder seiner Werkangehörigen eine Schule zu gründen, und er bat Rudolf Steiner, deren Einrichtung und Leitung zu übernehmen.

Am 7. September 1919 wurde die »Freie Waldorfschule> als «einheitliche Volks­und höhere Schule» eröffnet. In den Wochen vorher hielt Rudolf Steiner für die von ihm dafür ausgewählten Lehrer einen pädagogischen Kurs ab, um sie in ihre neue Aufgabe einzuführen. Die Gliederung dieses fünfzehn Tage umfassenden Kurses war die folgende: morgens um neun Uhr fand täglich ein Vortrag statt über allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, in der zweiten Vormittagshälfte folgte ein weiterer über methodisch~didaktische Fragen, und am Nachmittag wurden in seminaristischer Form pädagogische Besprechungen abgehalten.

Den Inhalt des vorliegenden Buches bildet die Reihe dieser Seminarbesprechun gen. Die beiden anderen Reihen, die »Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik», die »Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches» sind schon früher mehrfach in Buchform erschienen.

Alle drei Reihen sind bis zu einem gewisse Grade in sich selbständig, sie sind aber auch vielfach durch Querverbindungen miteinander verknüpft. Die «Allgemeine Menschenkunde» mag als am stärksten in sich abgeschlossen erscheinen, und doch bedürfen insbesondere ihre ersten Vorträge sehr der Ergänzung durch das, was in den ihnen täglich folgenden Vorträgen über «Methodisch-Didaktisches> hinzugefügt wurde. Dagegen stehen die Seminarbesprechungen dieser ersten Tage - es wurde da vor allem die Temperamentenlehre in ihrer pädagogischen Bedeutung dargestellt -verhältnismäßig abgerundet für sich da. Vom vierten Kurstag an jedoch ändert sich das. Der enge Zusammenhang zwischen den beiden Vormittagsvorträgen löst sich. Dafür schließt sich nun das, was am späteren Vormittag vortragsmäßig zur Me­thodik und Didaktik ausgeführt wurde, eng zusammen mit dem, was dann am Nach­mittag über dasselbe Thema in seminaristischer Form erarbeitet wurde. Diese beiden Reihen erscheinen von nun ab geradezu wie ineinander verzahnt. So werden zum Beispiel die Probleme des Tierkundeunterrichts in den methodisch-didaktischen Vor­mittagsvorträgen, die der Pflanzenkunde aber nachmittags im Seminar behandelt.

Eine besondere Gestalt hat dann wieder der Schlußtag des ganzen Kurses. So wie jede einzelne methodische Maßnahme des Unterrichts aus einer wirklichen Menschenkunde, aus einer gründlichen, Leib, Seele und Geist umfassenden Erkennt­nis des werdenden Menschen herauswachsen soll, so soll auch der stufenweise Auf­bau der Schule als Ganzes, ihr Lehrplan, sich organisch aus der Menschenkunde heraus ergeben. Deshalb konnten alle drei Reihen des Kurses am Schluß in der Dar­stellung eines solchen Lehrplanes zusammenlaufen und zum Ausklang kommen, in­dem diesem Thema am letzten Tage nicht nur die beiden Vormittagivorträge gewid­met wurden, sondern auch ein Teil der letzten, der fünfzehnten Seminarbesprechung.

So stützen und ergänzen die drei Reihen einander mannigfaltig. Deshalb ist auch ein wirklich gründliches Verstehen einer einzelnen Reihe beziehungsweise eines ein­zelnen Buches, kaum möglich, wenn nicht die beiden anderen laufend mit herange--zogen werden.

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In den Seminarbesprechungen stellte Rudolf Steiner Aufgaben und Fragen all­gemein pädagogischer oder speziell didaktischer Art, und an deren Bearbeitung durch die Kursteilnehmer schlossen sich lebhafte Gespräche an, in die er dann wieder mehr­fach mit längeren, grundsätzlichen Darstellungen eingriff. Nur solche längeren Aus-führungen können als wörtlich, oder doch nahezu wörtlich nachgeschrieben ange­sehen werden. Von dem aber, was Rudolf Steiner in der Lebendigkeit der Gespräche gesagt hat, ist vieles nur bruchstöckweise, manches wohl gar nicht erhalten geblieben. Daran sollte sich der Leser immer erinnern. Das, was die einzelnen Seminarteilnehmer sagten, ist nur soweit mitgeteilt, als es nötig schien, um den Gang des Gespräches, in dem Rudolf Steiners Zwischenbemerkungen standen, deutlich werden zu lassen.

Bei den am Kurs teilnehmenden ersten Lehrern der Waldorfschule konnte die Kenntnis der grundlegenden Werke der anthroposophischen Geisteswissenschaft vor~ ausgesetzt werden. Und ebenso die Kenntnis dessen, was in den vorangehenden Mo­naten des Jahres 1919 von Rudolf Steiner und seinen Mitarbeitern zur Erneuerung des sozialen Lebens angestrebt wurde, und was er in dem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» zusammengefaßt hatte.

Auch der heutige Leser des vorliegenden Buches sollte diese geisteswissenschaft-liehen und sozialen Grundgedanken kennen oder kennenlernen, weil er sonst auch bei dem, was hier über Pädagogik gesagt ist, nicht erwarten kann, zu einem vollen Verständnis und zu einem sachgemäß begründeten Urteil kommen zu können.

E.G.

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HINWEISE

Die Seminarbesprechungen 1-14 waren erstmalig gedruckt im 5.-8. Jahrgang (1931-35) der Zeitschrift »Zur Pädagogik Rudolf Steiners» (später »Erziehungskunst») und im 13. Jahrgang (1939) der Zeitschrift »Die Mensehensehule»; die Lehrplanvorträge im 14. Jahrgang (1940) der »Menschensehule». Die 15. Seminarbesprechung war bis­her nicht veröffentlicht. Durch neu aufgefundene Notizen mehrerer Teilnehmer konnte der Text der Auflage von 1959 beträchtlich erweitert und an vielen Stellen verbessert werden. Über Änderungen in dieser Neuauflage siehe Hinweis zu S.20.

zu seit,

10 bei einem Vortrag, den ich gehalten habe in bezug auf die Temperamente: Siehe »Das Geheimnis der menschlichen Temperamente», Berlin 4. März 1909 in «Wo und wie findet man den Geist», Gesamtausgabe Dornach 1962, Bibl.-Nr. 57~ Siehe auch die Zusammenstellung der Parallelvorträge von München, Karlsruhe und Berlin »Das Geheimnis der menschlichen Temperamente», Son­derdruck der »Mensehensehule», Zbinden Verlag Basel 1967.

15 auf das heute morgen Gesagte: Siehe »Allgemeine Mensehenkunde als Grund­lage der Pädagogik», Gesamtausgabe Dornach 1968, Bibl.-Nr. 293, 1. Vortrag und «Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisehes», Gesamtausgabe Dornach 1966, Bibl.-Nr. 294, 1. Vortrag.

17 es werden alle mö glichen Modifikationen eintreten: Bei der Eröffnung der Wal­dorfsehule am 7. September 1919 waren noch nicht alle Sehulräume fertig­gestellt; man mußte zuerst noch mit »Sehiehtunterrieht» arbeiten.

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18 in den großen Gärten: Damals dehnten sich um das Schulhaus herum noch große Gärten aus.

20 ist dort aber am wenigsten zur Realisierung gekommen: diese Teztänderung sowie die anderen Ergänzungen, die in diese Neuauflage 1969 eingefügt wur­den, beruhen darauf, daß ein neu aufgefundenes Heft mit stenographischen Notizen eines Teilnehmers, Rudolf Mayer, Berlin, aus dessen Nachlaß benutzt werden konnte.

21 Die Schlußprüfung ist ein Kompromiß mit der Behörde: Eine Jahresschluß­prüfung hat nie stattgefunden. Rudolf Steiner hatte einen Vorschlag ausge­arbeitet und den Behörden unterbreitet (das sog. «Memorandum>), wonach die Schüler der Waldorfschule jeweils am Ende des 3., 6. und 8. Schuljahres das Lehrziel der öffentlichen Schulen ebenfalls erreicht haben sollten. Dieser Vorschlag wurde von den Behörden angenommen.

Das »Memorandum» ist abgedruckt in »Die Menschensehule», 39. Jahrg., Heft 9, S.242 und in «Konferenzen Rudolf Steiners mit den Lehrern der Freien Waldorfsehule in Stuttgart 1919-1924», Einleitungen-Hinweise, Band 9, S.15 f.

27 Rudolf Steiner zeichnet folgende Figuren an die Tafel: Von diesen Original­zeichnungen während der Seminarbespreehungen ist leider nichts erhalten ge­blieben. Die in diesem Buch eingefügten Abbildungen beruhen auf Nachzeich­nungen.

41 Helen Keller, 1880-1968, amerikanische Schriftstellerin schweiz. Abstammung. Sie wurde im Alter von 19 Monaten blind und taub. Siehe »Geschichte meines Lebens», nach der amerik. Neuauflage Bern 1955.

in meiner Erkenntnistheorie: Siehe »Grundlinien einer Erkenntnistheorie der

Goetheschen Weltanschauung», Gesamtausgabe Dornach 1960, Bibl.-Nr. 2,

und «Wahrheit und Wissenschaft», Gesamtausgabe Dornach 1958, Bibl.-Nr. 3.

44 gesprenkelt... also kariert . . . für das phlegmatische Kind: Diese Zeichnung ist nur ungenau und widersprechend überliefert. Die Wiedergabe auf unserer Farbtafel fußt zwar auf guten Gründen, kann aber nicht als völlig gesichert angesehen werden.

46 Goethe... hat den schönen Gedanken geprägt, daß am Abnormen studiert werden könne das Normale: Vgl. »Die Metamorphose der Pflanzen» § 7 und »Verfolg(Nacharbeiten und Sammlungen> (S. 147ff.) in «Goethes Natur­wissenschaftliche Schriften», hg. von Rudolf Steiner, Dtsch. Nat. Lit. Band I.

50 Zu den folgenden Sprachübungen vergl. «Methodik und Wesen der Sprach-gestaltung», Gesamtausgabe Dornach 1964, Bibl.-Nr. 280.

53 »Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien«, vierzehn Vorträge Kassel 24. Juni-7. Juli 1909, Gesamtausgabe Dornach 1959, Bibl.-Nr. 112.

«Vom Vater hab' ich...»: Zahme Xenien VI.

54 «Der Hüter der Schwelle» und »Der Seelen Erwachen»: Siehe Rudolf Steiner «Vier Mysteriendramen», Gesamtausgabe Dornach 1962, Bibl.-Nr. 14.

Jeh habe . . . hier vorgetragen, daß es den Felix Balde gegeben hat: Siehe den

Vortrag vom 22. Juni 1919 in »Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer

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und pädagogischer Fragen», Gesamtausgabe Dornach 1964, Bibl.-Nr. 192 und das 3. Kap. in »Mein Lebensgang», Gesamtausgabe Dornach 1962, Bibl.-Nr. 28.

68 wic der Esel zu seinen Ohren kam: Hier könnte auf folgende Erzählung hin­gewiesen werden, die sich bei Dr. Oskar Dähnlsardt findet in »Naturgeschicht­liche Volksmärchen», Bd. I, 5. Aufl. Leipzig 1918, Nr.64, S. 93.

«Warum der Esel lange Ohren hat (Aus Ungarn).

Als Gott die Welt geschaffen hatte, versammelte er alle Tiere und gab jedem seinen Namen. Man soll dich Pferd, dich Löwe, dich Wolf, dich Bär, dich Fuchs nennen,> sagte er zu ihnen. Dann befahl er ihnen am nächsten Tage wie­derzukommen, um zu prüfen, ob sie ihre Namen nicht vergessen hätten. Der Esel war damals ein hübsches, niedliches Tier, er hatte keine langen Ohren, und Gott hatte ihm einen der hübschesten Namen gegeben und ihm gesagt, ihn ja nicht zu vergessen. Als sich die Tiere am nächsten Tag versammelten, konnte jedes seinen Namen sagen, nur der Esel nicht, der hatte ihn vergessen. Darüber wurde Gott böse, nahm die beiden Ohren des Tieres, zog sie ein großes Stück in die Länge und sagte: >Esel, der du bist, da du so schnell vergißest>. Seitdem ist der Arme ein Esel geblieben und hat seine langen Ohren behalten.»

73 für die morgige didaktische Stunde: Gemeint ist der 8. Vortrag des Kurses »Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches».

74 Publius Cornelius Tacitus, um 55-120. »Germania», aus dem Lateinischen mit Erläuterungen von Dr. Max Oberbreyer, Univ.-Bibl. Leipzig o. J.

Heinrich von Treitschke, 1834-1896. »Deutsche Geschichte im 19. Jahrhun­dert», 5 Bde., Leipzig 1879ff.

Herman Grimm, 1828-1901. »Friedrich der Große und Macaulay» in »Fünf­zehn Essays. Erste Folge», 3. Aufl. Berlin 1884. Das Zitat auf S. 116.

Lord Thomas Babington Macaulay, 1800-1859. »Friedrich der Große» in »Kri­tische und historische Aufsätze», deutsch von J. Moellenhoff, Univ.-Bibl. Leip­zig o. J.

lesen Sie dasselbe (die Schilderung Luthers) zn katholischen Geschichtsbüchern durch: Beispielsweise in »Geschichte der katholischen Kirche» von Dr. Anton Wappler, 3. Aufl. Wien 1875.

83 Leopold von Ranke, 1795-1886. »Die römischen Päpste», Berlin 1834; »Deut­sehe Geschichte im Zeitalter der Reformation», Berlin 1839ff.; »Französische Geschichte», Stuttgart 1852-61; »Englische Geschichte», Berlin 1859ff. u. a

Karl Lamprecht, 1856-1915. «Deutsche Geschichte», 19 Bde., Berlin 1891ff. u. a~

84 Karl von Rotteck, 1775-1840. «Allgemeine Geschichte», 9. Bde, Freiburg 1812-1827; »Allgemeine Weltgeschichte», 4 Bde, Stuttgart 1830-1834, u. a~

97 hatte ich Fräulein W gebeten, solche Augenbilder zu machen: die aus Holz gesägten und bemalten Eurythmiefiguren.

(über Ernährung) können Sie auch manches an den verschiedenen Stellen meiner

Vorträge finden: Siehe »Zur Heilpädagogik», Auszüge von Vorträgen aus den

Jahren 1908-1924, Dornach 1938, über »Diät» S. 127-154.- »Welche Bedeutung

191

hat die okkulte Entwickelung des Menschen für seine Hüllen und sein Selbst?«, Gesamtausgabe Dornach 1957, Bibl.-Nr. 145, Vortrag 1 und 2. - «Eine okkulte Physiologie», acht Vorträge, Prag 1911 (Neuauflage in Vorbereitung). - «Er­nährungsfragen im Lichte der Geisteswissenschaft», Vortrag vom 8. Januar 1909 in München, abgedruckt im Heft 47 und 48 des 14. Jahrganges (1935) des »Goetheanum». - »Ernährungsfragen. t)ber das Verhältnis der Nahrungs­mittel zum Menschen», 3 Vorträge in Dornach 1923 und 1924. Der i. Vortrag in »Rhythmen im Kosmos und im Menschenwesen - Wie kommt man zum Schauen der geistigen Welt?>, Gesamtausgabe Dornach 1962, Bibl.-Nr. 350 und Vortrag II und III vorgesehen in Bibl.-Nr. 354.

100 wie ich das gestern für Tiere gezeigt habe: Siehe «Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches», 7. Vortrag.

101 Wochenspruch aus dem »Seelenkalender»: Siehe Rudolf Steiner »Wahrspruch­worte», Gesamtausgabe Dornach 1968, Bibl.-Nr. 40.

107 Lesen Sie . . . die scbönen Aufsätze Goethes: Siehe »VerfolgiVerstäubung, Ver­dunstung, Vertropfung» in «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften» hg. von Rudolf Steiner, Dtsch. Nat. Lit. Band I, S. 163.

108 Ich habe gestern versucht: Siehe »Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches»,

7. Vortrag.

für die mittleren Sinne: Über die zwölf Sinne sprach Rudolf Steiner u. a. im

8. Vortrag der »Allgemeinen Menschenkunde».

119 verweist auf einen Artikel von Dr. Ernst Müller: «Bemerkung über eine er­kenntnistheoretische Grundlegung des Pythagoreischen Lehrsatzes» in den »Annalen der Naturphilosophie» herausgegeben von Wilhelm Ostwald, X. Band, Leipzig 1911, S. 162ff. - Abgedruckt in »Die Menschenschule», XIII. Jahrgang 1939, Heft 10.

122 Emil Schlegel, 1852-1935, homöopathischer Arzt.; «Religion der Arznei, das ist Herr Gotts Apotheke. Signaturenlehre als Wissenschaft», Leipzig 1915.

Jakob Böhme, 1575-1624. »De signatura rerum», 1621.

130 wie ich heute über den Geographieunterricht gesprochen habe: Siehe »Erzie­hungskunst. Methodisch-Didaktisches>, ii. Vortrag.

136 Die am Tag zuvor angekündigten Hinweise zur Rezitation des Gedichtes feh­len in den Nachschriften.

140 Karl Friedrich Gauss, 1777-1855, Mathematiker.

145 Engen Dühring wies die imaginären Zahlen als Unsinn zurück: Hier wurden Rudolf Steiners Worte offenbar unvollständig und entstellt nachgeschrieben. Es ist der Versuch gemacht, die Stelle zurechtzurücken, sie bleibt aber zwei­felhaft.

Eugen Dühring, 1833-1921. Vgl. die Schrift »Neue Grundmittel und Erfin­dungen zur Analysis, Algebra, Funktionsrechnung und zugehörigen Geometrie» von Eugen und Ulrich Dühring, Leipzig 1884, besonders Kapitel 1 und 2. - Ru­dolf Steiner hat Eugen Dührings Meinung nicht wörtlich, aber sinngemäß

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wiedergegeben. Er teilte die Dühringsche Ansicht über die imaginären Zahlen nicht. Seine Äußerungen darüber, worauf die imaginären Zahlen hinweisen, sind zu finden im »Zweiten Naturwissenschaftlichen Kursus (Wärme-Lehre)», Dornach 1925 im XII. Vortrag (in Vorbereitung).

149 H. Th. Buckle, 1821-1862. »History of Civilisation in England», 1857. Deutsch von A Ruge, Heidelberg 1859 und von J. H. Ritter, 2 Bde, 2. Aufl. Leipzig 1900.

W E. H. Lecky, 1838-1903. »History of the Rise and Influence of the Spirit of Rationalism in Europe», 2 Bde., London 1865. Deutsch von H. Jolovicz, Leipzig und Heidelberg 1868.

Ernst von Wildenhruch, 1845-1909, schrieb u. a »Die Karolinger» und die Doppeltragödie »Heinrich und Heinrichs Geschlecht».

Gustav Freytag, 1816-1895. »Bilder aus der deutschen Vergangenheit», 5 Bde., Leipzig 1859ff.

Heinrich Julian Schmidt, 1818-1886, Literarhistoriker.

Ferdinand Lassalle, 1825-1864, Begründer der Sozialdemokratie in Deutsch­land.

150 Houston Stewart Chamberlain, 1855-1927. »Die Grundlagen des 19. Jahrhun­derts», München 1899.

151 Karl Johann Kautsky, 1854-1938. Schriften zur Geschichte des Sozialismus und zur allgemeinen Geschichte.

Franz Mehring, 1846-1919. »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie», 4 Bde. 1897.

151 f. Zur Sonnenhewegung: Siehe Rudolf Steiner »Entsprechungen zwischen Mikro­kosmos und Makrokosmos. Der Mensch - eine Hieroglyphe des Weltenalls», 16 Vorträge, Dornach 9. April-16. Mai 1920, Gesamtausgabe Dornach 1958, Bibl.-Nr. 201 (vgl. besonders die Vorträge 2, 3 und 6). - »Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie», 18 Vorträge, Stuttgart 1.-18. Januar 1921, Dornach 1926 (in Vorbereitung).

152 und was zum Teil das Kind heute noch sieht: Siehe »Allgemeine Menschen­kunde», 12. Vortrag.

153 K~ macht Aus fu~~hrun gen üher die Erarheitung: Die Ausführungen des Kursteil­nehmers sind abgedruckt worden als »Ergänzung zu Seminar XIV» in der »Menschenschule», Jahrg 13 (1939), Heft 12, S. 428-435. - Vgl. dazu auch Rudolf Steiner »Wege zu einem neuen Baustil», 5 Vorträge, Dornach 1914; 2. Aufl~, Stuttgart 1957 und den »Hinweis zu S. 45«.

154 das in der allgemeinen Pädagogik und in der Didaktik Betrachtete: Siehe »All-gemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik» und »Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches».

durch Völkercharakteristiken Geschichte und Geographie verknüpfen kann

Siehe «Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches», 11. Vortrag.

193

155 das Schreiben an das Kind heranbringen: Siehe «Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches>, Vortrag 1 und S.

160 Die lateinische Sprache beginnen wir, wenn das Kind im vierten Schuljahr ist:

Später wurde das von Rudolf Steiner dahin abgewandelt, daß sowohl mit dem Lateinischen wie mit dem Griechischen in der fünften Klasse begonnen werden sollte.

nach der Anleitung, die ich in den didaktischen Vorträgen: Siehe «Erziehungs­kunst. Methodisch-Didaktisches>, 9. Vortrag.

161 von dem sechsten Schuljahr frei beginnen mit den Elementen des Griechischen:

Siehe Hinweis zu Seite 160.

man beginnt . . . so wie ich es Ihnen dargestellt habe: Siehe »Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches», 11. Vortrag.

164 die erste Rubrik «>Religionsunterricht»: Über die Stellung des Religionsunter­richtes sprach Rudolf Steiner in der Ansprache bei der Eröffnung der Freien Waldorfschule am 7. September 1919. Siehe «Rudolf Steiner in der Waldorf­schule», Stuttgart 1958 (Verlag Freies Geistesleben), - der »Freie anthroposo­phische Religionsunterricht> wurde erst einige Wochen später eingerichtet.

165 wie ich das probeweise dargestellt habe: Siehe »Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches», 7. Vortrag.

worauf ich gestern hin gedeutet habe: s. o. 14. Vortrag.

167 daß Sie dem Rechnung tragen, was ich gesagt habe: s. o. i. Vortrag und die 4, Seminarbesprechung.

180 Das arianische Christentum: Vgl. dazu die in der Arbeiterbildungsschule in Berlin gehaltenen Vorträge vom 18. Oktober bis zum 20. Dezember 1904 »Geschichte des Mittelalters bis zu den großen Erfindungen und Entdeckun­gen», Dornach 1936; (vorgesehen in der Gesamtausgabe unter Bibl.-Nr. 51).

181 wir fangen mit dem vierten Schuljahr mit der lateinischen Sprache an: Siehe Hinweis zu S. 160. 184 Morgen wird ja die feierliche Eröffnung sein: Siehe die Ansprache Rudolf Steiners bei der Eröffnungsfeier am 7. September 1919 in «Rudolf Steiner in der Waldorfschule>, Stuttgart 1958.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.