GA 276

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ERSTER VORTRAG Dornach, 27. Mai 1923

#G276-1961-SE009 Das Künstlerische in seiner Weltmission

#TI

ERSTER VORTRAG

Dornach, 27. Mai 1923

#TX

Heute möchte ich anschließend an mancherlei, das ich in den letz­ten Zeiten vor Ihnen entwickelt habe, noch einmal eine Art von Betrachtung anstellen über die Entwickelung der Menschheit in der nachchristlichen Zeit und dabei dann auf einiges aufmerksam machen, das sich am besten gerade im Anschlusse an die voran gegangenen Betrachtungen ergeben wird.

Wenn wir zurückblicken in der Entwickelung der Menschheit, so müssen wir sagen, die Epochen, die wir in der anthroposophi­schen Geisteswissenschaft annehmen, um eine Überschau zu haben über die Menschheitsentwickelung, sind durchaus aus der besonderen Seelen- und überhaupt menschlichen Beschaffenheit innerhalb dieser Epochen herausgebildet. Diese menschliche Beschaffen­heit unterscheidet sich doch recht sehr in den einzelnen Epochen. Nur hat man heute wenig Geneigtheit, hinauszusehen gerade über die heutige Seelen- und Menschheitsverfassung, und man kon­struiert sich die Entwickelung der Menschheit so zurück, als ob etwa in der historischen Zeit, die man nach Dokumenten verfolgt, wenn auch eine Zivilisations-Entwickelung stattgefunden hat, die man nach äußeren Dokumenten beschreibt, doch im allgemeinen die Seelenverfassung immer dieselbe gewesen wäre. In Wahrheit hat sich diese Seelenverfassung geändert, und wir kennen die Zeit-punkte, in denen sie sozusagen eine äußerlich deutlich bemerkbare Umwandelung erfahren hat.

Der letzte dieser Zeitpunkte ist oftmals genannt worden als der des fünfzehnten nachchristlichen Jahrhunderts. Der nächstvoran­gehende war der des achten vorchristlichen Jahrhunderts, und so könnten wir dann weiter zurückgehen. Es ist auch oftmals in unse­ren Kreisen betont worden, wie richtig es eigentlich ist, wenn von einem Kunsthistoriker wie Herman Grimm darauf hingewiesen wird, daß eigentlich das volle Verständnis, das volle historische Verständnis

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der Menschen der Gegenwart nur bis in die Römerzeit zurückgreift. Da setzen sich in den Seelen dieselben Vorstellungen fest, annähernd wenigstens dieselben Vorstellungen, die heute noch immer, manchmal sogar in einer schlüninen Weise geltend sind, indem sie sich fortgeerbt haben wie etwa die römischen Rechts-begriffe, die mit unserem sozialen Leben gar nicht mehr stimmen, und so weiter. Aber immerhin durch die ganze Art und Weise, wie der Mensch der Gegenwart sich in das allgemeine soziale Leben hineinlebt, hat er noch ein Verständnis für dasjenige, was bis ins Römertam zurückgreift. Gehen wir dagegen ins Griechentum zu­rück, so wird zwar auch äußerlich historisch beschrieben nach dem Muster dessen, was später ist, aber man dringt damit in das eigentliche Seelenwesen des Griechen gar nicht hinein. Und Herman Grimm hat recht, wenn er sagt: Die menschlichen Gestalten, welche gewöhnlich von der Geschichte als die Griechen geschildert wer­den, sind eigentlich schattenhaft, so wie sie geschildert werden. -Man sieht da mit dem gewöhnlichen Bewußtsein nicht mehr in dasjenige hinein, was in den Seelen gelebt hat, kann daher auch das soziale Gefüge nicht in der richtigen Weise verstehen. Noch viel verschiedener von unserem Seelenleben ist dann das Seelen-leben der Menschen in der ägvptisch-chaldäischen Periode, die hin­ter dem achten vorchristlichen Jahrhundert liegt, noch verschie­dener in der urpersischen Epoche, wie ich sie genannt habe in mei­ner «Geheimwissenschaft», und ganz verschieden von dem, was wir heute vom Morgen bis zum Abend in unserem Seelenleben füh­len, ist dann das Seelenleben der urindischen Epoche, der ersten Epoche, die der großen atlantischen Katastrophe gefolgt ist.

Aber mit Hilfe der Geisteswissenschaft läßt sich herausfinden, welche Verschiedenheit in diesen Epochen in bezug auf die Gesamt-verfassung des Menschen eigentlich geherrscht hat. Und da muß man sagen, so über den Menschen zu fühlen, annähernd so, wie wir das heute tun, das ist eigentlich erst aus der vierten nachatlan-tischen Epoche herübergekommen. Daß man so, wie es heute üblich ist, von Leib, Seele, Geist, vom Ich im Menschen redet und einen inneren Zusammenhang des Menschen mit dem Erdenplaneten

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fühlt, hat die Menschheit der Gegenwart aus der vierten nachatlantischen Epoche. Aber so ist das Leben erst im Laufe der Zeit geworden. Man möchte sagen, so erdgebunden ist es erst geworden, so daß der Mensch sich durchaus nur im Zusammen-hange mit der Erde fühlt, sich dem Kosmos gegenüber fremd fühlt, daß er die Sterne, die Sternbewegungen, man möchte sagen schon die Wolken als etwas betrachtet, was außerhalb seines irdi­schen Wohnplatzes liegt und nur eine geringe Bedeutung für ihn hat. Das ganze Fühlen, ja auch die Impulse des Wollens der Men­schen, die vor der griechisch-lateinischen Epoche liegen, waren, wenn ich mich des Ausdruckes bedienen darf, elementar-kosmisch. Der Mensch brauchte nicht erst eine Philosophie, um sich als ein Glied des ganzen Weltenalls zu fühlen, vor allen Dingen zunächst des sichtbaren Weltenalls. Es war dem Menschen natürlich, war für ihn eine Selbstverständlichkeit, sich nicht nur als Erdenbürger zu fühlen, sondern sich als ein Glied des ganzen Kosmos zu fühlen.

Insbesondere in der ersten, in der urindischen Epoche, also wenn wir in das siebente, achte Jahrtausend der vorchristlichen Zeit zurückgehen, finden wir, daß der Mensch ganz anderes, vielleicht kann ich nicht sagen sprach, aber fühlte von dem, was wir heute Ich nennen. Gewiß, die Menschen haben sich in der damaligen Zeit überhaupt nicht so über die Dinge ausgesprochen, weil die menschliche Sprache sich nicht in solcher Weise auf die Dinge erstreckt hat wie heute, aber wir müssen die Dinge in unsere Sprache hineinbekommen. Und so möchte ich sagen, der Angehö­rige der urindischen Epoche sprach nicht von dem Ich so wie wir heute, daß es gewissermaßen eine Art Punkt ist, der die Seelen-erlebnisse zusammenfaßt, sondern wenn in der vorindischen Zeit von dem Ich gesprochen wurde, so war es selbstverständlich, daß das Ich überhaupt mit der Erde und ihren Ereignissen wenig zu tun hat. Indem der Mensch sich als ein Ich fühlte, fühlte er sich eigentlich gar nicht als der Erde angehörig, fühlte sich als Ich im Zusammenhange zunächst mit dem Fixsternhimmel. Von dem Fix­sternhimmel hatte er das Gefühl, der gibt ihm die Festigkeit seines Ich, gibt ihm das Gefühl, daß er überhaupt ein Ich hat. Und dieses

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Ich wurde gar nicht als ein menschliches Ich gefühlt. Mensch war der Mensch nur dadurch, daß er auf Erden mit einem physischen Leibe umkleidet wurde. Durch diesen physischen Leib, der als eine Art Schale des Ich angesehen wurde, war der Mensch Erdenbürger. Aber das Ich wurde eigentlich innerhalb des Irdischen immer als etwas Fremdes angesehen. Und wollten wir heute einen Namen prägen für die Art, wie das Ich angesehen wurde, so müßte man sagen: Der Mensch fühlte dazumal gar nicht menschliches Ich, sondern göttliches Ich.

Der Mensch hätte hinaussehen können zu allem möglichen Ge­stein, zu den Bergen, zu den Felsen, er hätte alles ansehen können, was sonst auf der Erde ist, wenn er von alledem gesagt hat, es ist, es existiert, so würde er aber zu gleicher Zeit in diesen alten Zei­ten empfunden haben, wenn es nur dieses Sein gäbe, das es auf der Erde in Steinen, in Pflanzen, in Flüssen, in Bergen, in Felsen gibt, dann könnten wir Menschen kein Ich haben. Denn alles das, was diesen irdischen Dingen und Wesenheiten die Existenz garan­tiert, könnte dem Ich keine Existenz garantieren. Der Mensch fühlte nicht ein menschliches Ich in sich, sondern ein göttliches Ich. Das göttliche Ich war ihm ein Tropfen aus dem Meere des Göttlichen. Aber wenn er vom Ich reden wollte - ich sage das mit den Einschränkungen, die ich gerade vorhin gemacht habe -, so fühlte er zunächst das Ich als ein Geschöpf des Fixsternhimmels. Den Fixsternhimmel empfand er als das einzige, was ein solches Sein hat. Weil das Ich ein ähnliches Sein hat wie der Fixsternhim­mel, kann das Ich überhaupt von sich sagen: Ich bin. Könnte das Ich nur nach Maßgabe des Seins eines Steines oder der Pflanzen­welt oder der Berge und Felsen sagen: Ich bin, so würde das Ich kein Recht haben zu sagen: Ich bin. Nur weil das Ich sternenhaft ist, kann es sagen: Ich bin. Weil die Existenz, welche die Sterne haben, in dem Ich lebt, kann das Ich sagen: Ich bin. Die Menschen dieser uralten Menschheitsepoche haben gesehen, da draußen flie­ßen die Flüsse, da bewegen sich die Bäume durch den Wind. Aber wenn man von dem menschlichen Ich, das den physischen Men­schenleib bewohnt und in sich den Impuls hat, ich gehe dahin, ich

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gehe dorthin, ich bewege mich auf der Erde -, wenn man von die­sem Ich als dem Aktiven in der Bewegung nur so sagen könnte, es bewegt den Körper, wie man sagen kann, der Wind bewegt die Bäume, oder wie man überhaupt von irgend etwas auf der Erde, das in Bewegung sein kann, sagt, es bewegt sich, dann würde man kein Recht haben, dem Ich einen Bewegungs-Impuls zuzuschreiben.

Etwa so würde der Lehrer in den Mysterien zu seinen Schülern in jener alten Zeit gesagt haben: Ihr könnt sehen, wie die Bäume bewegt werden, wie die Gewässer in den Flüssen fließen, wie das Meer sich bewegt. Aber weder von den Bäumen, die sich bewegen, noch vön dem Wasser, das in den Flüssen sich bewegt, noch von den Wellen, die das Meer aufwirft, könnte das Ich jemals lernen, jene Bewegungs-Impulse zu entwickeln, welche der Mensch ent­wickelt, wenn er seinen Körper in Bewegung über die Erde trägt. Das kann das Ich von einem bewegten Erdending niemals lernen. Das kann das Ich nur lernen, weil es der Bewegung der Planeten, der Sternenbewegung angehört. Nur von Mars, von Jupiter, von Venus kann das Ich sich bewegen lernen. Und wenn das Ich will­kürlich sich auf Erden bewegt, so führt das Ich etwas aus, was es dadurch ist, daß es der sich bewegenden, planetarischen Sternen-welt angehört. - Weiter würde es einem Menschen dieser alten Menschheitsepoche ganz unbegreiflich erschienen sein, wenn jemand gesagt hätte: Sieh einmal, da steigen aus deinem Gehirn Gedanken heraus. - Wenn man sich heute zurückversetzt in die Seelenverfas­sung, die man selber gehabt hat, denn wir sind durch die Leben in der alten urindischen Epoche durchgegangen, und man stellt sich dann der heutigen Seelenverfassung gegenüber, in der man glaubt, daß die Gedanken aus dem Gehirn herauskommen, so erscheint dem alten Menschen, der man selber war, das, was der neue Mensch glaubt, ganz unsinnig, durchaus unsinnig. Denn der alte Mensch wußte, Gedanken könnten niemals aus einer Gehirnmasse herauskommen. Er wußte, daß die Sonne dasjenige ist, was die Ge­danken erregt, und daß der Mond dasjenige ist, was die Gedanken wiederum beruhigt. Er schrieb der Wechselwirkung von Sonne und Mond das Leben der Gedanken in sich selber zu. So wurde das

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göttliche Ich in der ersten nachatlantischen Epoche, in der ur­indischen Zeit, als etwas, was dem Fixsternhimmel angehört, was den planetarischen Bewegungen angehört, angesehen, was der Wechselwirkung von Sonne und Mond angehört. Eigentlich be­trachtete man das, was das Ich von der Erde hat, etwa so, wie Ereig­nisse, die an dem kosmisch-göttlichen Ich vorübergingen, während das Wesen des Ich durchaus kosmisch-göttlicher Natur für diese alten Zeiten war.

Die zweite Epoche habe ich in meiner «Geheimwissenschaft» die urpersische genannt. Da war die Lebendigkeit der Anschauung des kosmischen Ich nicht mehr so wie in der urindischen. Da war gewissermaßen diese Anschauung schon abgedämpft. Aber der Mensch erlebte in dieser Zeit in intensiver Weise den Jahreslauf mit, von dem ich in den letzten Zeiten öfters hier gesprochen habe. Heute ist der Mensch eigentlich ein Regenwurm geworden, nun ja, es ist natürlich ein Bild, er ist ein Regenwurm geworden, weil er so fortlebt, nicht einmal ein Regenwurm, denn der kommt so­gar aus seiner Erdenwohnung heraus, wenn es regnet, aber nicht wahr, der Mensch lebt heute so fort. Es ergibt sich nichts Beson­deres für ihn als höchstens so abstrakte Unterschiede: Wir sind unangenehm berührt, wenn es regnet und wir keinen Regenschirm haben, wir richten uns nach Schnee im Winter und Sonnenschein im Sommer, gehen aufs Land und so ähnliche Dinge. - Also wir leben schon den Jahreslauf mit, aber in einer furchtbar schatten-haften Weise. Wir leben ihn nicht mehr mit unserem ganzen Menschtum mit. Mit unserem ganzen Menschtum erlebten wir den Jahreslauf in der urpersischen Epoche. Da war es so, daß der Mensch, wenn die Weihnachtszeit da war, empfand: Ja, jetzt ist die Erdenseele mit der Erde vereinigt, jetzt umkleidet sich die Erde mit der Schneedecke, - die heute für die Menschen nichts anderes ist als gefrorenes Wasser. Aber dazumal war es das Kleid, mit dem sich die Erde umkleidet, um sich abzuschließen vom Kosmos, um ein individuell-selbständiges Leben im Kosmos zu entwickeln, weil die Seele der Erde sich mit der Erde innig verbunden hat während der Herbstesmonate bis in die Zeit, die wir heute als die Weih­nachtszeit

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bezeichnen. Die Menschen fühlten auch: Ja, jetzt ist die Erdenseele mit der Erde vereint. - Der Mensch mußte mit seinem Seelenhaften selber sich hinkehren zu demjenigen, was in der Erde lebt. Der Mensch fühlte gewissermaßen die mit der Erde vereinte Erdenseele unter der Schneedecke. Seelisch durchsichtig wurde die Schneedecke für den Menschen. Er fühlte die Elementargeister unter der Schneedecke, welche die Kraft der Pflanzensamen über den Winter hinübertragen bis zum nächsten Frühling. Kam dann die Frühlingszeit, so fühlte er, wie die Erde ihre Seele gewisser­maßen ausatmete, wie die Erde danach strebte, ihr Seelenhaftes dem Kosmos zu öffnen, und er ging selber mit in seinem Fühlen und Empfinden mit diesem Sichöffnen der Erde gegenüber dem Kosmos. Er fing an, dasjenige, was er während der Winterzeit an Anhänglichkeit, an Seelen-Anhänglichkeit der Erde gegenüber ent­wickelt hat, zum Kosmos hinaufzuheben.

Freilich, der Mensch konnte in dieser Zeit nicht mehr bloß zu dem Kosmos hinaufschauen wie in der unmittelbar vorangehenden Epoche, wo es ihm klar war, wenn ich zum Kosmos hinaufschaue, sehe ich das, was meinem Ich Existenz und Bewegung und Gedan­ken gibt. Aber er sah dann ahnend zum Kosmos hinauf und sagte sich: Dasjenige, was mich im Winter mit der Erde verbindet, for­dert mich auf, mich jetzt ahnend in den Kosmos zu erheben. - Er wußte nicht mehr so intensiv wie in der älteren Zeit seinen Zu­sammenhang mit dem Kosmos, aber er empfand ihn in einer gewis­sen Weise ahnend. Wie sich das Ich in den alten, urindischen Zei­ten als kosmisch erlebte, so erlebte sich das Astralische im Men­schen in der urpersischen Zeit als dasjenige, was mit dem Jahres-lauf ging. Der Mensch lebte den Jahreslauf mit. Der Mensch wurde gewissermaßen ernst, wenn er im Winter seelisch die Schneedecke unten sah, wurde ernst gestimmt; er ging in sich. Er stellte damals das an, was wir heute Gewissenserforschen nennen würden. Er öffnete sich mit einer gewissen Frohheit dem Kosmos, wenn der Frühling herankam. Er ging, ich möchte sagen in einer gewissen Entrücktheit in das Kosmische auf, nicht mehr in der klaren Weise, wie in der urindischen Zeit, aber in einer gewissen Entrücktheit,

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indem er sich froh fühlte, entrissen dem menschlichen Leiblichen gerade in der Mitte der Sommerzeit, in der Zeit, die wir heute die Johannizeit nennen würden. Wie er sich im Winter verbunden fühlte mit den klugen Geistern der Erde, so fühlte er sich während der Hochsommerzeit verbunden mit den immerdar im Kosmos, ich möchte sagen tanzenden und jubelnden, frohen Geistern, welche die Erde umschwammen. Ich beschreibe nur, wie gefühlt wurde.

Dann wiederum fing die Menschenseele an zu fühlen, wenn es gegen unsere jetzige August-, Septemberzeit namentlich, zuging, wie sie wieder zur Erde zurückkehren müsse, wie sie aber Kräfte bekommen hat, die sie während ihrer Entrücktheit in der Sommer­zeit vom Kosmos hereingeholt hat, die möglich machen, mehr innerlich menschlich zu leben während der Winterzeit. Es war das tatsächlich so, daß man in jenen alten Zeiten mit dem ganzen Men­schen das Leben des Jahreslaufes miterlebte, so daß man das Gei­stige des Jahreslaufes als seine eigene menschliche Sache empfand. Und dazumal war es, wo man es als wichtig fühlte, an gewissen Zeitpunkten des Jahreslaufes zu lernen, intensiv mit diesem Jahres-lauf mitzufühlen. In dieser Zeit entstanden die Impulse zu den eigentlichen Festen. Später haben die Menschen das Festliche im Laufe des Jahres mehr oder weniger nur noch traditionell empfun­den. Manches blieb wie die Sonnenwende-Feste, die nur noch Spu­ren von dem Miterleben des Jahreslaufes zeigen. Dieses Miterleben des Jahreslaufes war in jenen älteren Zeiten ein mächtiges, ein intensives.

Damit aber war auch eine völlige Änderung im innersten Be­wußtsein des Menschen verbunden. In der urindischen Zeit wäre es den Menschen ziemlich unmöglich erschienen, wenn ihnen je­mand gesprochen hätte vom Volk. Es erscheint das den Menschen heute paradox, weil sie sich nicht vorstellen können, daß auch das Fühlen innerhalb des Volkes erst aufgekommen ist. Gewiß, die Ver­hältnisse der Erde machten auch in der urindischen Epoche not­wendig, daß die Menschen, die zusammen auf einem Territorium wohnten, engere Beziehungen hatten, als weiter hinaus, aber der Volksbegriff, das Gefühl, einem Volke anzugehören, war in der

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urindischen Epoche nicht vorhanden. Da war etwas anderes vor­handen. Da war ein sehr lebendiges Gefühl für die Generationen-folge vorhanden. Der Sohn empfand sich als der Sohn des Vaters, als der Enkel des Großvaters, als der Urenkel des Urgroßvaters. So wurden allerdings die Dinge nicht gemacht, wie man sie heute aus unseren gangbaren Begriffen beschreiben muß, aber man kann sie so beschreiben, denn man trifft damit doch das Richtige. Wenn man hineinschauen würde in die Denkweise jener alten Zeit, so würde man finden, daß innerhalb der Familie strenge darauf ge­sehen wurde, daß man angeben konnte, wie weit man hinaufzählen konnte, wer der Großvater, Urgroßvater, Ururgroßvater war, wie man hinaufzählen konnte bis zu einem sehr, sehr fernen Ahnen. In der Generationenfolge fühlte man sich. Damit fühlte man sich auch viel weniger in der Gegenwart als später. Man fühlte sich innig verbunden mit der Generationenfolge. Was in einer kari­katurhaften Art im Adelsprinzip zurückgeblieben ist, im Genera­tionen-Fühlen im Adelsprinzip, im Ahnenprinzip, war in der ur­indischen Zeit etwas, was für jeden Menschen ein Selbstverständ­liches war, man brauchte da nicht Familienchroniken dazu. Des­halb war es ganz anders in jenen alten Zeiten, denn das mensch­liche Bewußtsein selber gab im instinktiven Hellsehen einen Zu­sammenhang mit der Ahnenreihe, indem man sich in einer gewis­sen Weise nicht nur an die eigenen persönlichen Erlebnisse erin­nerte, sondern fast noch so lebendig, wie man sich an die eigenen Erlebnisse erinnerte, sich dazumal an die Erlebnisse des Vaters, des Großvaters erinnerte. Diese Erinnerungen wurden immer schatten­hafter, aber das menschliche Bewußtsein hatte innerhalb der Bluts-folge der Generationen einen Zusammenhang. Also das Fühlen in den Generationen war es dazumal namentlich, was eine bedeutende Rolle spielte. Der Volksbegriff, das Sichfühlen im Volke, kam pa­rallel damit herauf, aber auch langsam. Im urpersischen Zeitalter war es noch gar nicht in starker Weise ausgeprägt, es kam erst langsam herauf im Laufe der Zeit. Als man nicht mehr das leben­dige Bewußtsein hatte, in den Generationen zu leben, da füllte sich das Bewußtsein aus mit dem Volkszusammenhang, gewissermaßen

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mit dem gegenwärtigen Volkszusammenhang, während in jener ältesten Zeit der Blutszusammenhang im Zeitenlaufe das Wesent­liche war, worauf man sah.

Sehen Sie, voll bedeutsam wurde der Volksbegriff erst in der dritten nachatlantischen Periode, in der ägyptisch-chaldäischen Peri­ode. Aber in der ägyptisch-chaldäischen Epoche war schon wieder­um dieses Bewußtsein vom Jahreslauf etwas abgelähmt. Dagegen war allerdings in dieser Epoche bis in das letzte Jahrtausend der vorchristlichen Zeit hinein ein lebendiges Bewußtsein davon vor­handen, daß die Welt von Gedanken regiert wird, daß Gedanken überall in der Welt leben. Ich habe schon in einem anderen Zu­sammenhange angedeutet, die Anschauung, die wir heute haben, daß Gedanken in uns entstehen und über die Dinge draußen sich erstrecken, wäre einem Menschen der damaligen Zeit ungefähr so vorgekommen, wie wenn heute einer ein Glas Wasser trinkt und sagt, meine Zunge bringt das Wasser hervor. Es kann sich ja einer einbilden, seine Zunge bringe das Wasser hervor, in Wahrheit schöpft er das Wasser aus der ganzen Wassermenge der Erde, die ein Einheitliches ist. Aber es könnte einer glauben, wenn er beson­ders einfältig wäre, wenn er zum Beispiel nicht diesen Zusammen-hang seiner Wassermenge im Glase mit der Wassermenge der gan­zen Erde sehen würde, das Wasser entstünde auf seiner Zunge. Das­selbe würden die Angehörigen der ägyptisch#SE276-019

ist. Der Angehörige der ägyptisch-chaldäischen Epoche hat den Leib so empfunden, daß er in ihm nur das Ergebnis desjenigen gesehen hat, was im ätherischen Leibe gedankenhaft lebt. Ein Bild des Menschengedankens war für den Angehörigen dieser Epoche der physische Leib des Menschen. Er hat ihm nicht jene Wichtig­keit beigemessen, die wir ihm heute beimessen. Während dieser Zeit bildete sich dann immer mehr und mehr zu einer Bestimmt­heit gerade der Volksbegriff aus. Und so können wir sagen: Der Mensch wurde immer mehr und mehr Erdenbürger. - Sein Zusam­menhang mit der Sternenwelt und seinem Ich war ihm in der drit­ten nachatlantischen Kulturperiode schon ziemlich abhanden ge­kommen. Man errechnete noch in der Astrologie diesen Zusam­menhang, aber man schaute ihn nicht mehr im elementaren Be­wußtsein. Der Jahreslauf, der für den astralischen Leib wichtig ist, wurde nicht mehr in seiner Unmittelbarkeit empfunden. Aber im­merhin, das Gedankliche des Kosmos fühlte man noch. Der Mensch war sozusagen schon mehr dazu gekommen, das Erdenschwere als sein Wesen zu empfinden. Nur empfand er den Gedanken als etwas so Lebendiges, daß er noch nicht dieses Wesen erschöpft glaubte in dem Erdenschweren.

Das fand erst Geltung in der griechisch-lateinischen Kultur­epoche und bildete sich immer mehr und mehr während dieser Kulturepoche aus. Da wurde dem Menschen erst der physische Leib das Wichtige. Es hat natürlich alles in seiner Zeit seine tiefe Be­rechtigung, und wir sehen gerade an der griechischen Kultur dieses volle, frische Sichhineinleben in den physischen Leib an allen ein­zelnen Ergebnissen der griechischen Kultur. Ich möchte sagen, ins-besondere der griechischen Kunst sieht man dieses Sichhineinleben in den physischen Leib an. Wirklich, für die Griechen der älteren Zeit namentlich war dieser physische Leib etwas, was sie empfan­den, so wie ein Kind, wenn es Freude hat über neue Kleider, weil das Hineinfühlen in den physischen Leib jugendfrisch war. Man lebte sich hinein. Als die griechisch4ateinische Epoche dann weiter­ging, und als namentlich das Römertum ausgebildet war, fühlte man nicht mehr das Frische des Sichhineinlebens in den physischen

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Leib, man fühlte schon mehr den physischen Leib, nun, wie soll ich sagen, wie einer, der ein Staatskleid hat und weiß, daß er durch die Staatsuniform etwas bedeutet. So ungefähr war das Gefühl, das natürlich nicht mit Worten so ausgesprochen wurde, das aber im ganzen Fühlen und Empfinden lag. Der Römer empfand seinen physischen Leib als das ihm von der Weltenordnung zugedachte Staatskleid. Der Grieche hatte die ungeheure Freude, daß er nun, nachdem er geboren worden ist, sich mit etwas anziehen kann, daß ihm zuerteilt war solch ein physischer Leib. Das gab auch der grie­chischen Kunst, der Tragödie, gab den Dichtungen Homers jenen eigentümlichen Schwung in der Schilderung und in der Darstel­lung des Menschlichen, sofern dieses Menschliche auch mit der äußeren physischen Erscheinung des Menschen zusammenhängt. Man muß für alle psychologischen Tatsachen die inneren Gründe aufsuchen. Versuchen Sie nur einmal, sich hineinzuversetzen in die Art der Freude, die bei Homer von der Schilderung des Hektor, des Achill und so weiter ausströmt, wie da das Äußere geschildert wird, wie der große Wert gelegt wird auf die Schilderung des Äußeren. Im Römertum hat sich das gesetzt. Das Romanische ist überhaupt etwas, wo alles gewissermaßen gesetzt wird, wo das. jenige anfängt, was wir noch mit unserem gewöhnlichen Bewußt­sein verstehen können. Denn in dieser vierten nachatlantischen Kulturepoche wird der Mensch erst eigentlich Erdenbürger. Und in ein Unbestimmtes zieht sich dasjenige zurück, was früher die Anschauung über Ich, astralischen Leib, Ätherleib war. Die Grie­chen haben noch ein lebendiges Gefühl, daß der Gedanke in den Dingen lebt. Ich habe das in meinen «Rätseln der Philosophie» dargestellt. Dann wird das allmählich überwunden. Man kommt zu dem Glauben, daß der Gedanke nur im Menschen entstehe. Und immer mehr und mehr wächst der Mensch in dieser Art in seinen physischen Leib hinein.

In der Gegenwart hat man nun noch kein rechtes Gefühl davon, wie eigentlich sich das in der fünften nachatlantischen Kultur-epoche, die seit dem fünfzehnten Jahrhundert erst da ist, geändert hat. Wir wachsen aus unserem physischen Leibe wieder heraus, nur

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merken wir es noch nicht Wir phantasieren noch, könnte man sagen, von dem, was ein Grieche bei der menschlichen Gestalt ge­fühlt hat. Aber unser Gefühl ist sehr dumpf. Wenn wir schatten­haft den schnellfüßigen Achilleus empfinden, so ist dieses Gefühl dumpf. Daß das überhaupt für den Griechen etwas war, was ihm eine unmittelbare, ich möchte sagen schlaghafte Anschauung von dem Achilleus gab, daß Achilleus in seinem Wesenhaften vor ihm stand, fühlen wir viel zu schattenhaft. Und wir sind in bezug auf alle Kunst aus dem Durchdringen des physischen Leibes mit menschlicher Seele herausgewachsen. Während der Grieche in den letzten Jahrhunderten der vorchristlichen Zeit fühlte, wie ihm der kosmische Gedanke entschwand, wie der Gedanke nur mehr er­faßt werden konnte, wenn man auf den Menschen zurückreflek­tierte, ist heute dem Gedanken gegenüber vollständige Unsicher­heit bei den Menschen vorhanden. Sehen Sie, einem Griechen etwa des sechsten Jahrhunderts der vorchristlichen Zeit wäre es furcht­bar komisch vorgekommen, wenn man ihm zugemutet hätte, die wissenschaftliche Frage zu lösen, wie der Gedanke mit dem Gehirn zusammenhängt. Er hätte gar nicht empfunden, daß es eine solche Frage geben kann, denn was eigentlich in diesem Satze liegt, wäre ihm als etwas ganz Selbstverständliches erschienen. Etwa so hätte er gesagt, wie wir, wenn wir sagen würden: Ich nehme die Uhr in die Hand. Da soll ich jetzt anfangen, philosophisch nachzuspeku­lieren, welche Beziehung zwischen der Uhr und meiner Hand ist. Ich untersuche das Fleisch in meiner Hand, ich untersuche das Glas und das Metall in meiner Uhr. Da untersuche ich die Beziehungen zwischen dem Fleisch in meiner Hand und dem Glas und dem Me­tall in meiner Uhr, um daraus eine philosophische Einsicht zu be­kommen, warum meine Hand die Uhr ergriffen hat und hält. -Ja, wenn ich das machen würde, nicht wahr, es wäre irrsinnig für das heutige Bewußtsein. So irrsinnig wäre es dem alten griechi­schen Bewußtsein erschienen, das Selbstverständliche, daß die menschliche Wesenheit durch das Gehirn Gedanken ergreift, aus dem Wesen der Gedanken oder aus dem Wesen des Gehirnes er­klären zu wollen, denn man hat das in der unmittelbaren Anschauung,

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wie man es in der Anschauung hat, daß die Hand die Uhr nimmt, und man hält es doch nicht für notwendig, das Metall der Uhr mit dem Muskeifleisch irgendwie in eine wissenschaftliche Be­ziehung zu setzen. Die Probleme ergeben sich im Laufe der Zeit je nach der Art und Weise, wie man die Dinge anschaut. Es war für den Griechen selbstverständlich, was wir heute den Zusammen­hang zwischen Denken und Organismus nennen, so selbstverständ­lich wie der Zusammenhang mit der Uhr und der Hand, wenn ich die Uhr ergreife. Er spekuliert nicht darüber nach, es war für ihn selbstverständlich. Er wußte, wie er die Gedanken mit seinem Men­schen zusammenzubringen hat. Das wußte er, instinktiv wußte er das.

Wenn ich nun fragen wurde: Ja, da ist doch nur eine Hand, und die Uhr müßte eigentlich herunterfallen, warum hält sich denn diese Uhr? So wäre das für den Griechen noch dieselbe Frage ge­wesen, wie wenn wir heute fragen: Was entwickelt die Gedanken in dem Gehirn? Das ist für uns eine Frage geworden, weil wir gar nicht mehr wissen, wie wir den Gedanken schon losgelöst haben. Wir sind auf dem Wege, die Gedanken wieder vom Menschen los­zulösen, und wir wissen nicht, was wir mit den Gedanken anfan­gen sollen, weil wir den physischen Leib nicht mehr haben, wir sind schon wieder auf dem Wege, aus ihm herauszuwachsen. Ich möchte noch einen anderen Vergleich gebrauchen. Man hat nicht nur Kleider, sondern auch Taschen darinnen, man kann etwas hin-einstecken. Ja, so war es bei den Griechen. Der menschliche Leib war etwas, was Gedanken, Gefühle, Willensimpulse gewisser­maßen in sich hineinstecken konnte. Heute wissen wir nicht, was wir mit den Gedanken, Gefühlen und Willensimpulsen am Men­schen anfangen sollen. Es ist so, wie wenn wir Taschen hätten in unseren Kleidern, und alle Sachen herunterfallen würden, oder wenn wir ängstlich würden, was wir mit ihnen anfangen sollen, sie gewissermaßen immer nur in der Hand schleppen wollten, weil wir uns nicht bewußt sind, daß wir Taschen haben. So sind wir uns nicht der Natur unseres Organismus bewußt, wissen nicht, was wir mit dem Seelenleben gegenüber dem Organismus anfangen sollen,

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denken die kuriosesten Ideen aus in bezug auf Psychoparallelis­mus und so weiter. Das wäre aber für ein griechlsches Bewußtsein so, wie wenn ein Mensch, der nicht sieht, daß er Taschen hat, gar nicht darauf kommt, in diese Taschen etwas hineinzustecken, daß sie dazu da sind. Ich will aber das alles nur aus dem Grunde sagen, um anzudeuten, wie wir nach und nach wiederum fremd werden unserem physischen Leibe.

Das ist nun auch im Gange der Menschheitsentwickelung be­gründet. Wenn wir noch einmal zurückblicken zu der urindischen Zeit, wie der Mensch hinaufsah in der Generationenreihe bis zu einem fernen Ahnen, ja, er hatte nicht das Bedürfnis, die Götter wo anders zu suchen als in dieser Generationenreihe. Er blieb, weil ihm der Mensch selber ein Göttliches war, ganz stehen in der menschlichen Entwickelung, suchte in der Vorfahrenschaft das Göttliche. Es war die Menschheitsentwickelung das Feld, wo er das Göttliche suchte.

Dann kam die Zeit, die ihre Hochblüte hatte in der ägyptisch. chaldäischen Kultur, wo der Volksbegriff besonders hoch gekom. men war. Da sah man das Göttliche in den einzelnen Volksgöttern, in dem, was nun räumlich nebeneinander der Blutsverwandtschaft gemäß lebte.

Dann kam die Griechenzeit, wo der Mensch sich gewisser-maßen entgöttert fühlte, wo er Erdenbürger geworden war. Da kam erst die Notwendigkeit, die Götter über der Erde zu suchen, hinaufzuschauen zu den Göttern. Der alte Mensch wußte von den Göttern, indem er zu den Sternen sah. Der Grieche schon brauchte zu den Sternen hinzu noch etwas aus eigenem, um zu den Göttern zu schauen. Dieses Bedürfnis aber wird nun immer größer inner­halb der Menschheit. Die Menschheit muß immer mehr und mehr die Fähigkeit entwickeln, abzusehen vom Physischen, abzusehen vom physischen Sternenhimmel, abzusehen vom physischen Jahres-laufe, abzusehen von dem, was der Mensch empfindet, indem er den Gegenständen gegenübersteht, heute wo er nicht mehr die Ge­danken bei den Gegenständen schauen kann. Der Mensch muß die Möglichkeit erwerben, das Göttlich-Geistige als ein Besonderes

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über und außer dem Sinnlich-Physischen erst zu entdecken, damit er es wiederum in dem Sinnlich-Physischen finden kann.

Das energisch geltend zu machen, ist gerade die Aufgabe der anthroposophischen Geisteswissenschaft. Und in dieser Art wächst anthroposophische Geisteswissenschaft aus der ganzen Menschheits­entwickelung auf der Erde heraus. Wir haben immer darauf zu sehen, daß Anthroposophie nicht etwas ist, was durch irgendeine Willkür herbeigeholt wird und als ein Programrn in die Mensch­heitsentwickelung hineingestellt wird, sondern etwas ist, was sich aus den inneren Notwendigkeiten der Menschheitsentwickelung für unsere Zeitepoche ergibt. Es ist im Grunde genommen nur ein Zurückbleiben, daß in unserer Zeit der Materialismus sich geltend machen kann. Dem wirklichen Zeitbedürfnisse entspricht es ge­rade, weil der Mensch nicht nur Erdenbürger geworden ist, wie er es in der Griechenzeit war, sondern sogar schon wiederum dem Erdenbürgertum entfremdet ist, also nicht mehr weiß, was er mit seinem Seelisch-Geistigen dem Leibe gegenüber anfangen soll, daß sich für den Menschen die Notwendigkeit ergibt, das Geistig-Seelische in sich zu schauen ohne das Physische. Indem neben die­sem wirklich in den Tiefen der Seele heute lebenden Bedürfnisse der Materialismus da ist, ist er ein ahrimanisches Stehenbleiben bei dem, was im Griechischen, auch im Römischen noch das Natur­gemäße für den Menschen war. Da konnte man hinschauen auf das Physische, denn man sah im Physischen noch das Geistige. Indem man stehengeblieben ist, sieht man heute im Physischen nicht mehr das Geistige, sondern nimmt das Physische nur als solches hin. Da wird Materialismus daraus. Es ist überhaupt in die Menschheitsentwickelung ein Zug hereingekommen, der, wenn ich so sagen darf, fortentwickelungs-feindlich ist. Die Menschheit scheut sich heute noch, neue Begriffe zu prägen, sie möchte noch die alten Begriffe fortentwickeln. Über diese Fortentwickelungs-Feindlichkeit müssen wir hinauskommen. Wenn wir fortentwickelungs-freundlich werden, werden wir auch ein ganz natürliches Verhältnis zu so etwas gewinnen, wie es die anthroposophische Geistesentwickelung ist, die eben von einem antiquierten Bedürfnisse zu dem heute

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wahrhaft gegenwartigen Bedürfnisse der Menschheit, nämlich sich zum Geistigen zu erheben, geht.

So wollte ich auch heute wiederum einen Gesichtspunkt gewin­nen, von dem aus Sie ersehen können, wie Anthroposophie durch­aus sich als eine Notwendigkeit in der Entwickelung der Mensch­heit für unsere gegenwärtige Zeit ergibt.

ZWEITER VORTRAG Dornach, 1. Juni 1923

#G276-1961-SE026 Das Künstlerische in seiner Weltmission

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ZWEITER VORTRAG

Dornach, 1. Juni 1923

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Es wird eines der Ergebnisse einer richtig verstandenen und richtig in die Zeitzivilisation eingelebten anthroposophischen Geisteswissen­schaft sein, daß sie auf alles Künstlerische befruchtend wirken wird. Es muß gerade in unserer heutigen Zeit stark betont werden, daß die menschlichen Neigungen für das Künstlerische in starkem Maße zurückgegangen sind. Ja, es darf vielleicht sogar gesagt wer­den, daß innerhalb der anthroposophischen Kreise nicht immer ein volles Verständnis dafür vorhanden ist, daß von uns gesucht wird, innerhalb der anthroposophischen Bewegung Künstlerisches mög­lichst weitgehend einfließen zu lassen. Das hängt natürlich mit der erwähnten allgemeinen Abneigung der heutigen Menschheit gegen das Künstlerische zusammen.

Man darf sagen, daß in einer starken Art Goethe zuletzt das ganze Geistesleben und die Kunst innerhalb dieses Geisteslebens als eine Einheit empfand, und daß man dann immer mehr und mehr in der Kunst etwas gesehen hat, was eigentlich nicht notwen­dig in das Leben hineingehört, sondern gewissermaßen zum Leben, man möchte fast sagen wie eine Art Luxus hinzukommt Kein Wunder, daß unter diesen Voraussetzungen auch dann das Künst­lerische vielfach die Gestalt des Luxusmäßigen annimmt.

Nun war gerade älteren Zeiten, die in der Art, wie ich das oft­mals dargestellt habe, durch die Reste des alten Hellsehens leben­digen Bezug zur geistigen Welt hatten, das eigen, in dem Künst­lerischen etwas zu suchen, ohne das eine allgemeine Zivilisation nicht sein kann. Man mag vom heutigen Gesichtspunkte aus gegen das, sagen wir, manchmal Steife orientalischer oder afrikanischer Kunstformen Antipathie haben, aber darum handelt es sich nicht. Es handelt sich uns in diesem Augenblicke darum, nicht wie wir uns zu den einzelnen Kunstformen verhalten, sondern es soll sich uns darum handeln, wie das Künstlerische durch die Gesinnung

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der Menschen in die allgemeine Zivilisation hineingestellt worden ist. Und darüber wollen wir heute einiges sprechen als Grundlage für Betrachtungen, die wir jetzt und in den folgenden Vorträgen anstellen wollen. Wir müssen einen gewissen Zusammenhang zwi­schen dem ganzen Charakter des heutigen Geisteslebens und der künstlerischen Gesinnung sehen, die ich gerade mit einigen Worten charakterisierte.

Wenn man das Bestreben hat, den Menschen, so wie man das heute macht, ganz und gar nur als das höchste Naturprodukt, als das höchste Naturwesen anzusehen, als dasjenige Wesen, das sich in der Entwickelungsteihe der anderen Wesen in einem gewissen Zeitpunkte der Erdenentwickelung ergeben hat, dann fälscht man die ganze Stellung des Menschen gegenüber der Welt, weil in Wahrheit der Mensch nicht jenes zufriedene Verhältnis zur Außen­welt haben kann, wenn er sich den elementaren Impulsen in seiner Seele hingibt, die er haben müßte, wenn das wahr wäre, daß er gewissermaßen nur der Schlußpunkt der Naturschöpfung wäre. Wenn sich die Tierreihe einfach so herauf entwickelt hätte, wie das heute von der Wissenschaft als schulwissenschaftlich angesehen wird, dann müßte eigentlich der Mensch, der nichts anderes sein könnte als eben dieses höchste Naturprodukt, restlos von seiner Lage im Weltenall, im Kosmos befriedigt sein. Er müßte nicht ein besonderes Streben haben, etwas über das Natürliche hinaus zu schaffen. Wenn man in der Kunst zum Beispiel etwas schaffen will, wie es die Griechen getan haben im idealisierten Menschen, dann muß man in einem gewissen Sinne unbefriedigt sein in dem, was die Natur gibt. Denn sonst, wäre man befriedigt, würde man nichts in die Natur hineinstellen, was über die Natur hinausgeht. Wäre man mit Nachtigall- und Lerchengesang musikalisch vollständig befriedigt, würde man nicht Sonaten und Symphonien komponie­ren, denn man würde das als etwas Unwahres, Verlogenes emp­finden. Das Wahre, das Natürliche, würde sich erschöpfen müssen im Nachtigallengesang und Lerchengesang. Eigentlich fordert die gegenwärtige Weltenanschauung, daß man sich mit der Nach­ahmung des Natürlichen begnüge, wenn man überhaupt etwas

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schaffen will, denn im Augenblicke, wo man über das Natürliche hinaus schafft, muß man dieses Hinausschalfen als etwas Lügen­haftes empfinden, wenn man nicht eine andere Welt noch annimmt als diejenige, welche die natürliche ist. Das sollte man durchaus einsehen.

Nun ziehen natürlich die Menschen der Gegenwart die künst­lerische Konsequenz des Naturalismus nicht. Denn was würde herauskommen, wenn man die kuastlerische Konsequenz des Na­turalismus zöge? Höchstens könnte man die Forderung aufstellen, man dürfe nur dasjenige, was in der Natur da ist, nachahmen. Ja, ein Grieche oder gar ein Angehöriger einer älteren Zivilisation, sagen wir ein Grieche der Zeit vor dem Äschylos, würde gesagt haben, wenn man ihm irgend etwas hätte darstellen wollen, was die Natur bloß nachahmt: Wozu denn das? Wozu Menschen spre­chen lassen auf der Bühne, wie sie im Leben sprechen! Da braucht man ja nur auf die Straße zu gehen. Wozu braucht man es sich auf der Bühne vorstellen zu lassen? Es ist ganz unnötig. Auf der Straße hat man das, was einem die Menschen im gewöhnlichen Erdenleben sagen, viel besser. - Er würde das gar nicht verstanden haben, daß man die Natur einfach nachahmen soll. Denn man hat, wenn man an einem Geistesleben nicht teilnimmt, kaum irgend­einen Impuls für irgendeine Gestaltung, die über das Rein-Natür­liche hinausgeht. Wo soll man es auch hernehmen, wenn man sich an einem Geistesleben nicht beteiligt? Dann muß man es einfach von dem hernehmen, was man einzig und allein zugibt, nämlich von der Natur. Alle die Zeiten, die für das Künstlerische wirklich ursprünglich schöpferisch waren, standen von der menschlichen Seele aus in einer ganz bestimmten Beziehung zur geistigen Welt. Und auch aus dieser geistgestimmten Beziehung zur geistigen Welt ist das Künstlerische hervorgegangen. Niemals eigentlich wird aus etwas anderem, als aus der Beziehung der Menschen zur geistigen Welt, das Künstlerische hervorgehen können. Diejenige Zeit, welche nur naturalistisch sein will, müßte, wenn sie innerlich wahr wäre, durchaus unkünstlerisch, das heißt philiströs werden. Und zum Phi­lister hat unsere Zeit wirklich die allermannigfaltigste Anlage.

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Nehmen wir einmal die einzelnen Künste selbst. Es wird vom reinen Naturalismus, vom rein Naturalistisch-Philiströsen erne künstlerische Baukunst wenn ich mich des Pleonasmus bedienen darf - Baukunst führt heute sehr weit oft von der Kunst ab wenn sie auch Kunst genannt wird uberhaupt kaum geschaffen werden können, denn wenn die Menschen nicht das Bedurfnis haben, sich an Stätten zu vereinigen wo Geistiges getrieben wird und diesen Stätten Häuser bauen wollen, werden sie keine Häuser fur geistige Impulse bauen. Sie werden also reine Nutzlichkeitsbauten auf fuh ren. Und was werden sie denn über die Nützlichkeitsbauten sagen? Nun, sie werden sagen: Man baut, um sich zu schützen, um ¾en Menschen zu schützen damit man nicht im Freien kampieren m , der Familie oder den einzelnen Menschen eine Umhüllung. - Man wird immer mehr den Schutzgedanken für das Körperlich-Natür­liche in den Vordergrund stellen, wenn man von der Baukunst vom naturalistischen Standpunkt aus spricht. Wenn das im allgemeinen vielleicht nicht immer zugegeben wird, weil sich die Leute genie­ren, es zuzugeben, in den Einzelheiten wird es schon zugegeben. Es gibt heute unzählige Menschen, die nehmen es einem übel, wenn ein Haus, das zum Bewohnen da sein soll, nur irgend etwas, was man für zweckmäßig hält einem Prinzip des Schönen, des Künst­lerischen aufopfert. Man ,iört heute sogar oftmals die Redensart, künstlerisch bauen, das kommt zu teuer. So wurde nicht immer ge­dacht, so konnte vor allen Dingen in denjenigen Zeiten nicht ge­dacht werden, in denen die Menschen in ihrer Seele eine Beziehung zur geistigen Welt empfanden. Denn in diesen Zeken empfand man über den Menschen und sein Verhältnis zur Welt etwa so: kh stehe hier in der Welt aber wie ich da stehe mit dieser mensch­lichen Gestalt, die vori Seele und Geist bewohnt wird, trage ich etwas in mir, was in der rein natürlichen Umgebung nicht vorhan­den ist. - Wenn dasjenige was Geist und Seele ist, diese physische Leibesgestalt verläßt dann kommt heraus, wie sich die physische Umgebung zu diesei' physischen Leibesgestalt verhält. Dann zehrt die physische Umgebung diese Leibesgestalt als Leichnam auf. Da erst wirken die Naturgesetze, wenn man Leichnam ist. Solange man

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nicht Leichnam ist, auf der physischen Erde lebt, entzieht man durch das, was man aus der geistigen Welt herangebracht hat, durch Seele und Geist des Menschen, die Stoffe und Kräfte, die dann im Leichnam übrig bleiben, dem Wirken der physischen Welt.

Ich habe es öfter ausgesprochen, das Essen ist nicht etwas so Ein­faches, wie man es sich gewöhnlich vorstellt. Wir essen, aber wenn die Speise in unseren Organismus kommt, dann ist sie Naturpro­dukt, Naturstoff und Naturkräfte. Die sind uns ganz fremd. Wir können sie nicht innerhalb unseres Organismus haben. Wir wan­deln sie um in unserem Organismus. Wir machen sie zu etwas ganz anderem. Und diejenigen Kräfte und Gesetze, durch die wir die Speisen zu etwas ganz anderem machen, sind nicht die Gesetze der physischen Erdenumgebung, sind die Gesetze, die wir aus einer anderen Welt in die physische Erdenwelt hereintragen. So hat man gedacht in bezug auf dieses, so hat man gedacht in bezug auf vieles andere, als man ein Verhältnis zur geistigen Welt hatte. Heute denken die Menschen: Nun ja, die Naturgesetze, die wirken im Roastbeef, wenn es auf dem Teller liegt, sie wirken im Roast­beef, wenn es auf der Zunge ist, wenn es im Magen, wenn es in den Gedärmen ist, wenn es im Blute ist, immer Naturgesetze! -Daß da dem Roastbeef geistig-seelische Gesetze entgegenkommen, die der Mensch aus einer anderen Welt in diese Welt hineingetra-gen hat, und es zu etwas ganz anderem machen, das liegt gar nicht im Bewußtsein einer bloß naturalistischen Zivilisation, so paradox es klingt, denn so in dieser Groteskheit es auszusprechen, genieren sich selbstverständlich die materialistisch gesinnten Menschen. Aber in Wirklichkeit leben sie so, daß sie diese Gesinnung haben. Das überträgt sich dann auch auf die künstlerische Gesinnung, denn letzten Endes - warum bauen wir uns heute Häuser? Damit man am besten geschützt ist für das Roastbeef-Essen! Nun ja - es ist nur eine Einzelheit herausgegriffen selbstverständlich, aber alles, was man so denkt, tendiert schon nach dieser Richtung hin.

Dem gegenüber stellten in denjenigen Zeiten, in welchen die Menschen ein lebendiges Bewußtsein von dem Verhältnis des Men­schen zum geistigen Weltenall hatten, für ihre wertvollsten Bauten

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das Prinzip des Schutzes der menschlichen Seele auf der Erde vor der irdischen Umgebung auf. Natürlich, wenn ich das mit heutigen Worten ausspreche, dann klingt es paradox. Man hat nicht in älte­ren Zeiten in derselben Weise die Dinge ausgesprochen wie heute. Man war nicht in demselben Sinne abstrakt. Man hat die Dinge mehr gefühlt, unbewußt empfunden. Aber diese Gefühle, diese un­bewußten Empfindungen waren spirituell. Wir kleiden sie heute in deutliche Worte. Aber deshalb sprechen sie ganz richtig das­jenige aus, was man in älteren Zeiten in den Seelen erlebt hat. Da hätte man gesagt: Wenn der Mensch durch sein Erdenleben durch­gegangen ist, muß er seinen physischen Leib ablegen. Dann, wenn er diesen physischen Leib abgelegt hat, muß sein Seelisch-Geistiges von der Erde aus den Weg ins geistige Weltenall hinaus finden. -Sehen Sie, das war eine wichtige Empfindung, die man einstmals unter Menschen hatte: Wie findet die Seele, wenn sie nun nicht mehr durch den Leib in die Erdenumgebung hineingestellt ist, sich zurecht? - Sie ist da im Tode, sie muß den Weg finden von der Erde in geistige Welten zurück.

Heute sorgen sich natürlich die Menschen nicht um solche Dinge, aber es gab Zeiten, in denen dies eine wesentliche, eine Hauptsorge des Menschen war, wie die Seele den Weg in die gei­stigen Welten hinaus zurück findet. Denn man sagte sich, da drau­ßen sind Steine, da draußen sind Pflanzen, da draußen sind Tiere. Alles, was man von Steinen, von Pflanzen, von Tieren haben kann, wird, wenn der Mensch es aufnimmt, von seinem physischen Leibe verarbeitet. Sein physischer Leib hat die geistigen Kräfte, um das Mineralische zu überwinden, wenn er zum Beispiel Salzartiges auf­nimmt. Er hat die geistig-seelischen Kräfte, um das Rein-Pflanz­liche zu überwinden, wenn er Pflanzliches genießt Er hat die gei­stig-seelischen Kräfte, um das Tierische ins Menschliche zu ver­wandeln, wenn er Tierisches ißt. Und der physische Leib ist der Vermittler zwischen dem, was dem eigentlichen Menschen, der aus geistigen Welten herunterkommt, von der Erde ganz fremd ist. Mit dem physischen Leib kann man auf der Erde stehen. Mit dem phy­sischen Leib kann man unter irdischen Mineralien, Pflanzen und

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Tieren sein. Aber wenn der physische Leib abgelegt ist, dann ist die Seele wie nackt da, ist so da, wie sie nur in der geistigen Welt sein kann. Dann müßte die Seele, weil sie den physischen Leib abgelegr hat, sich sagen: Wie komme ich durch das Unreine der Tiere hin­durch, um hinauszukommen aus der irdischen Region? Wie kann ich durch dasjenige, was in den Pflanzen das Licht verarbeitet, das Licht anzieht, das Licht verdichtet, wie kann ich aus diesem Pflanz­lichen heraus, da ich doch zu den Weiten des Lichtes muß und ich gewöhnt worden bin, auf der Erde in dem verdichteten Lichte durch die Pflanzen zu leben? Wie komme ich über die Mineralien hinaus, die mich überall als Seele stoßen, wenn ich sie nicht durch meine leiblichen Säfte auflösen kann?

Das waren religiös-kulturelle Sorgen in alten Zeiten der Mensch­heitsentwickelung. Da haben die Menschen nachgesonnen, was sie für die Seelen, insbesondere für diejenigen Seelen, die ihnen wert waren, zu tun haben, damit diese die Linien, die Flächen, die For­men finden, durch die sie in die geistige Welt kommen können. Die Grabgewölbe, die Grabdenkrnäler, die Grabbaukünste wurden entwickelt, die im Wesentlichen zunächst in ihren Formen darstel­len sollten, was für die Seele da sein muß, damit sie, wenn sie des physischen Leibes entblößt ist, nicht sich an Tieren, Pflanzen, Mine­ralien stößt, sondern längs der architektonischen Linien den Weg zurück in die geistige Welt findet. Deshalb sehen wir, wie in älte­ren Kulturen sich das unmittelbar aus dem Totenkult charakteri­stisch herausentwickelt. Wenn wir verstehen wollen, wie die älte­ren Architektur-Formen gebildet worden sind, müssen wir überall Rücksicht darauf nehmen, zu verstehen, wie die Seele, wenn sie körperentblößt ist, ihren Weg in die geistige Welt zurückfindet. Durch die Mineralien, durch die Pflanzen, durch die Tiere kann sie ihn nicht finden. Durch die Formen, die sich über ihr architek­tonisch wölbten, glaubte man, da die Seele in einer gewissen Be­ziehung zum verlassenen Leib stünde, könne sie diesen Weg hinaus in die geistige Welt finden. In dieser Empfindung liegt einer der Grundimpulse für die Entstehung alter architektonischer Formen. Sie sind aus Totenbauten heraus entstanden, insofern die architektonischen

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Formen künstlerische waren, nicht bloße Nützlichkeits­Formen. Das Künstlerische der Baukunst hängt innig mit dem Totenkultus zusammen oder auch damit, daß man wie in Grie­chenland der Athene, dem Apollo den Tempel baute. Denn gerade so, wie man der menschlichen Seele zuschrieb, daß sie nicht sich entfalten könne, wenn sie sich entfalten soll gegenüber der äuße­ren umgebenden Natur in Mineralien, Pflanzen, Tieren, so schrieb man auch dem Göttlich-Geistigen des Apollo, des Zeus, der Athene zu, daß sie sich nicht entfalten können, wenn sie umgeben sind von der bloßen Natur, wenn man ihnen nicht aus dem Geistigen des Menschen heraus die Formen schafft, durch welche sich das See­lische in den geistigen Kosmos hinaus entfalten kann. Wie die Seele zum Kosmos steht, das muß man studieren, dann wird man die Maße in der komplizierten Bauform des alten Orients ver­stehen. Zugleich sind diese Bauformen des alten Orients ein leben­diger Beweis dafür, daß die Menschen, deren Phantasie diese Bau-formen entsprungen sind, sich gesagt haben: Der Mensch ist in seinem Inneren nicht von der Welt, die ihn auf Erden umgibt. Er ist von einer anderen Welt. Daher braucht er Formen, die zu ihrn gehören, insofern er aus einer anderen Welt ist. - Aus dem bloßen naturalistischen Prinzip heraus wird keine wahre historische Kunst­form verstanden. So daß man sagen kann: Was liegt in den Bau-formen? - Nun, hier meinetwillen ist schematisch der menschliche Körper, hier ist die menschliche Seele. Die menschliche Seele will

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sich allseits entfalten. Wie sie sich entfalten will, abgesehen vom Leibe, wie sie ihr Wesen hinaustragen will in den Kosmos, das wird architektonische Form.

Seele, wenn du verlassen willst deinen physischen Leib, um ein Verhältnis zum äußeren Kosmos zu bekommen, wie willst du dann ausschauen? - Das war die Frage. Die architektonischen Formen waren die leibhaften Antworten auf diese Frage.

Oh, man kann schon fühlen innerhalb der Menschheitsentwicke­lung, wie diese Empfindung fortwirkte. In der Zeit der Abstraktio­nen gewinnt alles einen anderen Anstrich. Wir wollen aber nicht alte Zeiten wieder zurückwünschen, sondern sie verstehen. Aber wir wollen doch verstehen, wenn wir heute noch in Orte hinaus­kommen, in denen mancher gar nicht so alte Gebrauch sich noch erhalten hat, warum wir zum Beispiel da an die Kirche herantreten und ringsherum die Gräber sehen. Nicht jeder einzelne konnte ein Grabhaus haben, aber die Kirche war das gemeinsame Grabhaus für alle. Und die Kirche ist die Antwort auf die Frage, welche die Seele sich stellte: Wie möchte ich mich zunächst entfalten, um dem Körper, der mich allein mit der physischen Welt, der Erde verbindet, in der richtigen Weise entkommen zu können? - In der Kirchenform ist gewissermaßen die Begierde der Seele nach ihrer Form, wenn sie den Körper verlassen hat.

Kulturelemente, die noch aus älteren Zeiten stammen, können allein verstanden werden, wenn man sie im Zusammenhange mit den Empfindungen, mit den Gefühlen, mit den Intuitionen, die man von der geistigen Welt hatte, versteht. Man muß wirklich eine Empfindung dafür haben, die einmal bei denen da war, welche ur­sprünglich die Kirche gebaut haben und den Friedhof ringsherum. Man muß eine Empfindung dafür haben, daß bei denen das Gefühl vorhanden war: Liebe Seelen, die ihr von uns wegsterbet, was wollt ihr, daß wir euch als Formen bauen, damit ihr, wenn ihr noch euren Körper umfliegt, wenn ihr noch nahe eurem Körper seid, die Formen schon habt, die ihr annehmen wollt nach dem Tode? -Und da war die Antwort, die man ein für allemal für die fragenden Seelen hinstellen wollte, die Form der Kirche, die Architektonik

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der Kirche. So werden wir an das eine Ende des Erdenlebens ge­wiesen, wenn wir zum Künstlerischen der Architektur kommen. Gewiß, das alles metamorphosiert sich. Dasjenige, was aus dem Totenkultus hervorgegangen ist, kann zur höchsten Ausbildung des Lebens werden, wie es auch geworden ist, wie es am Goetheanum versucht worden ist. Aber man muß die Dinge verstehen, muß ver­stehen, wie die Architektur überhaupt sich aus dem Prinzip des Verlassens des physischen Körpers durch die Seele entfaltet, aus dem Prinzip des Hinauswachsens der Seele über den Leib, wie es faktisch sich vollzieht im Erdenleben, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet.

Blicken wir nach der anderen Seite des Lebens hin, nach der Geburt, nach dem Hereinkommen des Menschen in die physi­sche Welt, da allerdings wird es notwendig sein, daß ich Ihnen etwas sage, worüber Sie vielleicht, oder wenigstens viele unter Ihnen vielleicht, vielleicht auch nicht - dann würde ich sagen:

Gott sei Dank - innerlich ein wenig lächeln werden. Aber es ist dennoch eine Wahrheit. Sehen Sie, wenn die Seele auf Erden ankommt, um sich in ihren Körper, wenn ich mich so ausdrücken darf, zu begeben, so kommt sie aus den geistig-seelischen Welten herunter. In diesen geistig-seelischen Welten sind zunächst nicht Raumesformen. Raumesformen kennt die Seele nur, wenn sie ihren Körper verläßt, wo das Räumliche noch nachwirkt. Wenn die Seele herunterkommt, um ihren Körper erst zu beziehen, kommt sie aus einer Welt, in der Raumesformen nicht bekannt sind, in der von unserer physischen Welt Farbenintensitäten, Farbenqualitäten, aber nicht Raumeslinien, nicht Raumesformen bekannt sind. In der Welt, die ich Ihnen in der letzten Zeit öfters beschrieben habe, die der Mensch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt durchlebt, lebt er in einer durchseelten, durchgeistigten Licht- und Farben- und Toneswelt, in einer Welt der Qualitäten, der Intensitäten, nicht in einer Welt der Quantitäten, der Ausdehnungen. Und er kommt herunter, taucht in seinen physischen Leib ein, er empfindet - ich schildere jetzt die Empfindung, wie man sie in gewissen, von der Geschichte fast vergessenen, primitiven Zivilisationen hatte -, daß

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er in seinen physischen Leib untertaucht. Durch den physischen Leib bekommt er sogleich eine Beziehung zur Umgebung: Da wachse ich ja in den Raum hinein. - Dieser physische Leib ist schon ganz auf den Raum gestimmt: Das ist mir fremd. Es war nicht so in der geistig-seelischen Welt. Hier werde ich gleich in drei Dimensionen hineingespannt. - Diese drei Dimensionen haben keinen Sinn, bevor man aus der geistig-seelischen Welt in die phy­sische Welt heruntersteigt. Aber Farbiges, Farbenharmonisches, Tonharmonisches, Tonmelodisches, das hat seinen guten Sinn in der geistigen Welt Da empfand dann der Mensch in jenen alten Zeiten, in denen man solche Dinge eben empfand, ein tiefes Be­dürfnis, nicht das an sich zu tragen, was ihm eigentlich fremd ist. Er empfand höchstens sein Haupt als aus der geistigen Welt ge­geben. Denn dasjenige, was sein übriger Leib - ich habe das öfter ausgeführt - in früheren Erdenleben war, ist zum Haupte gewor­den. Der übrige Leib wird erst in dem nächsten Erdenleben zu einem Haupte werden. Diesen übrigen Leib empfindet der Mensch jener alten Zeiten der Schwerkraft angepaßt, den Kräften, die um die Erde herumkreisen. Er empfindet das, wie gesagt, als hinein-gezwängt in den Raum. Und er empfindet das, was da in seinen physischen Leib von der Umgebung hereinkommt, mit dem passe ich als Mensch, der etwas aus geistigen Welten herunterträgt, gar nicht zusammen. Ich muß etwas tun, um damit zusammenzupassen.

Sehen Sie, da trägt der Mensch aus den geistigen Welten in die physische Welt die Farbe seiner Bekleidung herein. Führt uns die Architektur an das Todesende des menschlichen Lebens, so führt uns die Bekleidungskunst im Sinne der alten Zeiten, wo man an dem Farbenfrischen, an dem Künstlerischen seiner Kleidung seine Freude, seine Frohheit und dafür Verständnis hatte, an das Geburts­ende. In den alten Bekleidungen hatte man dasjenige, was die Men­schen aus dem vorirdischen Dasein an Vorliebe für Farbiges, für Zusammenstimmendes aus der geistigen Welt hereintrugen. Und es ist gar kein Wunder, daß in der Zeit, in welcher der Ausblick auf das vorirdische Leben abgeschafft wurde, die Bekleidungskünste in den Dilettantismus hineinwuchsen. Denn, nicht wahr, in den heutigen

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Bekleidungen spüren Sie kaum irgendwie, daß der Mensch das durch die Art und Weise, wie er im vorirdischen Dasein gelebt hat, an sich sehen möchte. Aber studieren Sie wirklich hochgekommene primitive Kulturen in ihrer Farbenfreudigkeit in den Bekleidungen, mit ihrem oftmals charakteristisch Farbigen in den Bekleidungen, dann werden Sie sehen, daß Sie in der Bekleidungskunst eigentlich eine berechtigte große Kunst haben, durch die der Mensch das vor-irdische Dasein in das irdische Dasein hereintragen will, wie er durch die architektonische Kunst das nachirdische Dasein aufneh­men möchte, das Dasein, wo er sich dem Raum entringt, ihn noch hat, aber los will vom Raum und das in architektonischen Formen ausdrückt. Sie können heute noch, wenn Sie sich zu Völkerschaften wenden, die ihre Volkstrachten haben, an diesen Volkstrachten die Frage sich beantworten: Wie haben sich eine Anzahl von Seelen zusammengefunden, um das aus der Verwandtschaft, in der sie im vorirdischen Dasein waren und aus der sie sich in einer Volks-gemeinschaft gefunden haben, in ihren Bekleidungen zum Aus­druck zu bringen? - Andenken an ihr Aussehen im Himmel wollten die Menschen in ihren Bekleidungen schaffen. Sie werden daher oftmals in ältere Zeiten zurückgehen müssen, wenn Sie sinnvolle Bekleidungen finden wollen.

Aber auf der anderen Seite können Sie wiederum sehen, wie in der Zeit, wo das ganze Menschliche vom Künstlerischen ergriffen war, ob man nun durch die besonderen Verhältnisse, aus denen heraus man kam oder im Hineinwachsen war, Maler wurde oder was anderes, es seinen tiefen Sinn hatte, wenn Sie da eine Magda­lena zum Beispiel bei Raflael anschauen oder eine Maria. Die sind ganz anders bekleidet. Aber Sie werden sehen, die Magdalenen­Kleidung behält dann Raffael für alle seine Magdalenen bei, im wesentlichen auch die Marien-Kleidung wiederum für alle Marien, weil er noch ein Lebendiges, wenigstens eine lebendige Tradition hatte, daß man das Geistig-Seelische, das man vom Himmel auf die Erde herunterbringt, in der Bekleidung zum Ausdrucke bringt. Dadurch bekommt die Bekleidung Sinn. Der heutige Mensch wird sagen, sie bekäme auch Sinn dadurch, daß sie einen wärme. Nun

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ja, gewiß, das ist der materielle Sinn, aber dadurch entstehen nicht künstlerische Formen. Künstlerische Formen entstehen immer durch die Beziehung zum Geistigen hin. Diese Beziehung zum Geistigen muß man wieder finden, wenn man bis zum wirklich Künstleri­schen wieder vordringen will.

Indem Anthroposophie das Geistige in seiner Unmittelbarkeit ergreifen will, kann sie zugleich befruchtend für die Kunst wirken. Denn diejenigen Dinge, die man genötigt ist, als die großen Welt-und Lebens-Geheimnisse aus dem anthroposophischen Forschen heraus zu enthüllen, laufen zuletzt selber in Künstlerisches aus. Das muß man richtig erschauen. Was nicht Kopf im vorhergehen-den Erdenleben war, das formt sich in seinen Kräfteverhältnissen um, wird Kopf, wird Haupt in dem nachfolgenden Erdenleben. Daß es dann mit physischer Erdenmaterie ausgefüllt wird, ist selbst­verständlich. Das habe ich schon oftmals erklärt, daß man natür­lich nicht den blödsinnigen Einwand machen darf, der physische Leib ist ganz zugrunde gegangen, wie kann daraus ein Kopf wer­den. Nun, viel gescheiter sind die andern Einwände in der Regel auch nicht, die gegen Anthroposophie gemacht werden. Natürlich ist der Einwand sehr billig. Aber es handelt sich nicht um die phy­sische Ausfüllung, sondern um den Kräftezusammenhang, der durch die geistige Welt hindurchgeht.

Der Kräftezusammenhang, der heute in unserem ganzen physi­schen Organismus, Beinorganismus und so weiter ist, ob die Kräfte vertikal oder horizontal sind, zusammenhalten oder auseinander­pressen, rundet sich, wird Kräftezusammenhang für unser Haupt im nächsten Erdenleben. Da aber arbeiten alle höheren Hierar­chien mit, wenn diese Umwandelung, die Metamorphose von Bei­nen, Füßen und so weiter in das Haupt des Menschen geschieht. Da arbeiten die ganzen Himmelsgeister mit. Kein Wunder, daß zunächst das Haupt diejenige Form trägt, durch die es als das Ab­bild des weiten Raumes erscheint, der sich rund über uns wölbt, daß dann das Nächste erscheint als das Abbild der um die Erde herumkreisenden Atmosphäre und atmosphärischen Kräfte. Man möchte sagen, im oberen Teil des Hauptes hat man das getreue

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Abbild des Himmels, im mittleren Teil des Hauptes hat man schon die Anpassung des Hauptes an die Brust, an dasjenige, was an all das angepaßt ist, was die Erde umkreist. In unserer Brust brauchen wir die die Erde umkreisende Luft, brauchen wir das die Erde um­webende Licht und so weiter, und so weiter. Wie aber unser ganzer Organismus in keinem Formzusammenhang steht - nur in einem Stoffzusammenhang - mit der oberen Wölbung des Hauptes, so steht unsere Brust nun schon in einer Beziehung zur Nasenbildung, zu alledem, was der mittlere Teil des Hauptes ist.

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Und kommen wir zum Mund herunter, so steht der Mund bereits zum dritten Gliede in der menschlichen Dreigliederung in Be­ziehung, zu dem Verdauungs-, zu dem Ernährungs-, zu dem Be­wegungs-Organismus. Wir sehen, wie sich dasjenige, was durch die Himmel durchgegangen ist, um auf der Erde aus der früheren hauptlosen Leibesbildung Haupt zu werden, in seiner majestäti­schen Wölbung oben noch an die Himmel anpaßt, wie es sich aber schon im mittleren Teil an dasjenige anpaßt, was der Mensch ist durch den Erdenumkreis, und wie es an das angepaßt ist, was der Mensch durchaus als Erdenmensch ist durch Schwerkraft, durch die irdischen Stoffe, in der Mundbildung.

So enthält das Haupt des Menschen, ich möchte sagen, wenn wir

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mit den alten Ausdrücken der europäischen Mythologie sprechen wollen: Asgard, die Burg der Götter, oben. Midgard, die mittlere Partie, die eigentliche Menschenheimat auf Erden. Dasjenige, was zur Erde zugehört, Jotunheim, die Heimat der Riesen, der irdischen Geister.

Asgard Midgard Jotunheim.

Das alles wird einem aber nicht klar, wenn man es nur in abstrak­ten Begriffen überschaut, das alles wird einem klar, wenn man künstlerisch das menschliche Haupt in seiner Beziehung zu seinem geistigen Ursprung durchschaut, wenn man in diesem mensch-lichen Haupt Himmel, Erde und Hölle in gewissem Sinne sieht, wobei die Hölle natürlich nicht der reine Teufelsort ist, sondern nur das Jotunheim, das Riesenheim. Und wir haben dann durch­aus in dem menschlichen Haupte wiederum den ganzen Menschen.

Man möchte sagen, man sieht recht dieses menschliche Haupt, wenn man in der Wölbung, die das Haupt oben trägt, die reinste Erinnerung sieht an die vorige Erdeninkarnation des Menschen, wenn man in der mittleren Partie, der unteren Augenpartie und in der Nasenpartie, Ohrenpartie, die schon durch die Atmosphäre der Erde getrübte Erinnerung sieht und in der Mundbildung die durch die Erde bezwungene frühere menschliche Bildung, die schon auf die Erde gebannte menschliche Bildung. In seiner Stirnbildung bringt sich der Mensch in einer gewissen Weise dasjenige mit, was ihm karmisch aus seinem früheren Erdenleben überliefert ist. In seiner Kinnbildung ist er schon von dem irdischen Leben der Gegenwart bezwungen, drückt schon Sanftmut oder Eigensinn die­ses gegenwärtigen Lebens in seiner besonderen Kinnbildung aus. Er hätte kein Kinn, wenn sich nicht die frühere kopflose oder außerkopfliche Organisation in die gegenwärtige Hauptesorgani­sation hinein verwandelte. Aber es ist in bezug auf die Mund- und Kinnbildung die Summe der gegenwärtigen Erdenimpulse so stark, daß da schon das Frühere in das Gegenwärtige hereingepreßt, hereingespannt wird. Daher wird niemand sagen, der künstlerisch empfindet, der Mensch ist auffällig durch seine besonders hervorragende

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Stirne. Das wird man nicht sagen, wenn man künstlerisch empfindet. Man wird immer auf die Wölbung der Stirne, auf die Flächenbildung der Stirne sehen, wird auch in bezug auf das Her-vortreten oder Nachhintengehen das Wölbende vorzugsweise ins Auge fassen. Beim Kinn wird man sagen, es ist eigensinnig spitz nach vorne gehend, oder es ist sanft nach rückwärts geformt. Da fängt man an, die Form am Menschen aus dem ganzen Weltenall heraus zu verstehen, und nicht nur aus dem gegenwärtigen Weken­all heraus - da findet man wenig -, sondern aus dem zeitlichen Weltenall heraus, zuletzt auch aus dem außerzeitlichen.

Man findet, wie man durch eine anthroposophische Betrachtung zum Künstlerischen einfach hingetrieben wird, wie wirklich das unkünstierische Philistertum mit einer wahren, lebendigen Erfas­sung des Anthroposophischen eigentlich gar nicht mehr vereinbar ist. Deshalb ist es, ich möchte sagen eine solche Misere für un­künstlerische Naturen, skh mit dem Ganzen der Anthroposophie in Einklang zu bringen Sie möchten abstrakt ganz gerne natürlich im gegenwärtigen Leben die Erfüllung früherer Erdenleben sehen, aber sie vermögen nicht nun auch wirklich auf die Formen einzu­gehen, die da schaffend als umgestaltete Gestalten unmittelbar künstlerisch für das Anschauen sich offenbaren. Dafür muß man auch einen Sinn bekommen, wenn man ins wirkliche lebendige Anthroposophische hineingeht.

Das ist, möchte ich sagen, das erste Kapitel, das ich habe geben wollen, um zu zeigen wie sich auf allen möglichen Gebieten das Ungeistige unserer Zeit zeigt. Es zeigt sich unter anderem das Un­geistige in der ungeistigen Stellung, die man zur Kunst einnrnimt. Und es wird, wenn die Menschheit sich überhaupt aus dem Un­geistigen heraus retten will einer der Faktoren zu dieser Rettung auch die Hinneigung zum Künstlerischen sein. Wahres Leben wie­derum im Künstlerischen: Anthroposophie kann dazu führen.

DRITTER VORTRAG Dornach, 2. Juni 1923

#G276-1961-SE042 Das Künstlerische in seiner Weltmission

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DRITTER VORTRAG

Dornach, 2. Juni 1923

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Gestern versuchte ich zu zeigen, wie anthroposophische Anschau­ung der Welt dazu führen muß, Künstlerisches wiederum in in­tensiverer Weise in die Zivilisation der Menschheit aufzunehmen, als dies unter dem Einflusse des Materialismus, oder des Naturalis­mus, wie er sich im Künstlerischen zum Ausdrucke bringt, ge­schehen kann. Ich habe versucht zu zeigen, wie, wenn ich mich so ausdrücken darf, der anthroposophische Blick die Erzeugnisse der Architektur, die architektonische Form empfindet, und wie eine Kunst, die man heute eigentlich gar nicht als solche empfindet, bei der man lächelt, wenn man von ihr als Kunst spricht, wie die Be­kleidungskunst empfunden wird. Dann habe ich noch aufmerksam darauf gemacht, wie der Mensch selbst in seiner Gestaltung künst­lerisch erfaßt werden kann, indem ich darauf hingewiesen habe, wie das menschliche Haupt kosmisch bedingt ist und dadurch auf den ganzen Menschen in seiner Art hinweist.

Versuchen wir noch einmal, wichtige Momente dieser dreifach künstlerischen Anschauung der Welt vor uns hinzustellen. Wenn wir auf die architektonischen Formen sehen, so müssen wir in ihnen im Sinne der gestrigen Ausführungen etwas erblicken, was die Menschenseele gewissermaßen erwartet, wenn sie in irgend­einer Weise, insbesondere durch den Tod, den physischen Leib ver­läßt. Sie ist, so sagte ich, während des physischen Erdenlebens ge­wöhnt, durch den physischen Leib in räumliche Beziehung zur Um­gebung zu treten. Sie erlebt dje Raumesformen, aber diese Raumes-formen sind eigentlich nur Formen der äußeren physischen Welt. Indem nun die Menschenseele zum Beispiel mit dem Tode die phy­sische Welt verläßt, sucht sie gewissermaßen dem Raum ihre eigene Form aufzudrücken. Sie sucht jene Linien, jene Flächen, überhaupt alle jene Formen, durch die sie aus dem Raume herauswachsen und in die geistige Welt hineinwachsen kann. Und dies sind im wesentlichen

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die architektonischen Formen, insofern die architektonischen Formen als künstlerische in Betracht kommen. So daß wir eigent­lich immer blicken müssen auf das Verlassen des menschlichen Leibes durch die Seele und ihre Bedürfnisse nach ihrem Verlassen in bezug auf den Raum, wenn wir das eigentlich Künstlerische der Architektur verstehen wollen.

Um das eigentlich Künstlerische der Bekleidung zu verstehen, habe ich auf die Bekleidungsfreudigkeit primitiver Völker hin­gewiesen, die noch wenigstens eine allgemeine Empfindung davon haben, daß sie aus der geistigen in die physische Welt herunter­gestiegen sind, in den physischen Leib untergetaucht sind, aber sich sagen als Seele: In diesem physischen Leibe finden wir etwas ande­res als Umhüllung, als wir empfinden können gemäß unserem Auf­enthalte in der geistigen Welt. - Da entsteht das instinktive, emp­findungsgemäße Bedürfnis, in solchen Farben und in solchen, wenn ich mich so ausdrücken darf, Schnitten eine Umhüllung zu suchen, die der Erinnerung aus dem vorirdischen Dasein entspricht. Bei primitiven Völkern sehen wir also in der Bekleidung gewisser­maßen die ungeschickte Formung, ungeschickte Gestaltung des astralischen Menschenwesens, das der Mensch an sich gehabt hat, bevor er ins irdische Dasein heruntergestiegen ist. So sehen wir gewissermaßen in der Architektur immer einen Bezug auf das, was die Menschenseele erstrebt, wenn sie den physischen Körper ver­läßt. Wir sehen in der Bekleidungskunst, so weit diese als Kunst empfunden wird, dasjenige, was die menschliche Seele erstrebt, nachdem sie aus der geistigen Welt in die physische untertaucht.

Wenn man dann so recht empfindet, was ich gestern zuletzt dar­gestellt habe, wie der Mensch in seiner Hauptesbildung ist, die eine Metamorphose seiner Leibesbildung außer dem Haupte aus dem vorigen Erdenleben ist, wenn man empfindet, wie das eigentliche Ergebnis dessen, was sozusagen in der Himmelsheimat, in der gei­stigen Heimat durch die Wesen der höheren Hierarchien aus dem Kräftezusammenhang des vorigen Erdenlebens gemacht worden ist, dann hat man die mannigfaltigste Umwandelung des menschlichen Hauptes, den oberen Teil des menschlichen Hauptes sich zum Verständnis

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gebracht. Wenn man dagegen alles das, was dem Mittel­haupte angehört, Nasenbildung, untere Augenbildung, richtig ver­steht, so hat man dasjenige, was aus der geistigen Welt in der For­mung des Hauptes herüberkommt, schon angepaßt der Brustbil­dung des Menschen. Die Form der Nase steht in Beziehung zur Atmung, also zu dem, was eigentlich dem Brustmenschen angehört. Und wenn wir den unteren Teil des Hauptes, Mundbildung, Kinn-bildung richtig verstehen, so haben wir schon auch in dem Haupte einen Hinweis auf die Anpassung ans Irdische. So kann man aber den ganzen Menschen verstehen. Man kann in jeder Wölbung des Oberhauptes, im Vorspringen oder Zurücktreten der unteren &hä­del-, das heißt der Gesichtspartien, in alledem fühlen, wie in der Formung das übersinnliche Menschenwesen sich unmittelbar für das Auge darlebt. Und man kann dann jenes intime Verhältnis fühlen, welches das menschliche Oberhaupt, die Wölbung über-haupt, zu den Hirumeln hat, dasjenige, welches die mittlere Par­tie des Gesichtes zu dem Umkreis der Erde hat, gewissermaßen zu alledem, was die Erde als Luft und als Ätherbildung umkreist, und man kann empfinden, wie in der Mund- und Kinnbildung, die einen inneren Bezug zu dem ganzen Gliedmaßensystem des Menschen haben, zum Verdauungssystem, schon das an die Erde Gefesseltsein des Menschen sich ausdrückt. Man kann so rein künstlerisch den ganzen Menschen verstehen und stellt ihn als einen Abdruck des Geistigen in die unmittelbare Gegenwart hinein.

So kann man sagen: In der Plastik, in der Bildhauerkunst schaut man den Menschen geistig an, wie er in die Gegenwart hinein­gestellt ist, während die Architektur auf das Verlassen des Leibes durch die Seele hinweist und die Bekleidungskunst auf das Hinein­ziehen der Seele in den Leib. - Es weist gewissermaßen die Beklei­dungskunst auf ein Vorzeitliches in bezug auf das Erdenleben, die Architektur auf ein Nachzeitliches in bezug auf das Erdenleben. Daher geht die Architektur, wie ich gestern ausgeführt habe, von Grabbauten aus. Dagegen die Plastik weist auf die Art und Weise, wie der Mensch in seiner Erdenform unmittelbar am Geistigen teil­nimmt, wie er das Irdisch-Naturalistische fortwährend überwindet,

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wie er in jeder seiner einzelnen Formen und in seiner ganzen Ge­staltung der Ausdruck des Geistigen ist. Damit sind aber diejenigen Künste angeschaut, welche etwas mit Raumesformen zu tun haben, welche also hinweisen müssen auf die Verteilung des Verhältnisses der menschlichen Seele zur Welt durch den physischen Raumesleib.

Steigen wir noch um eine Stufe näher in das Raumlose herab, dann kommen wir von der Plastik, von der Bildhauerei in die Malerei hinein. Die Malerei wird nur richtig empfunden, wenn man mit dem Material der Malerei rechnen kann. Heute im fünften nach-atlantischen Zeitalter hat die Malerei im gewissen Sinne gerade am klarsten, am stärksten den Charakter angenommen, der ins Natura­listische hineinführt. Das zeigt sich am allermeisten dadurch, daß ein tieferes Verständnis für das Farbige eigentlich in der Malerei verlorengegangen ist, und das malerische Verständnis in der neue­ren Zeit so geworden ist, daß es, ich möchte sagen eigentlich ein verfälschtes plastisches Verständnis ist. Wir möchten heute den pla­stisch, den bildhauerisch empfundenen Menschen auf die Leinwand malen. Dazu ist auch die Raumesperspektive gekommen, die eigent­lich erst im fünften nachatlantischen Zeitraum heraufgekommen ist, die durch die perspektive Linie ausdrückt, irgend etwas ist hin­ten, etwas anderes ist vorne, das heißt sie will auf die Leinwand das räumlich Gestaltete zaubern. Damit wird von vornherein das erste, was zum Material des Malers gehört, verleugnet, denn der Maler schafft nicht im Raume, der Maler schafft auf der Fläche, und es ist eigentlich ein Unsinn, räumlich empfinden zu wollen, wenn man als erstes in seinem Material die Fläche hat.

Nun glauben Sie durchaus nicht, daß ich in irgendeiner phan­tastischen Weise mich gegen das räumliche Empfinden wende, denn in Raumesperspektive auf die Fläche hinzaubern, das war notwen­dig in der Entwickelung der Menschheit, das ist selbstverständlich, daß das einmal heraufgekommen ist. Aber es muß auch wiederum überwunden werden. Nicht als ob wir in der Zukunft die Perspek­tive nicht verstehen sollten. Wir müssen sie verstehen, aber wir müssen auch wiederum zur Farbperspektive zurückkehren können, Farbperspektive wieder haben können. Dazu wird freilich nicht nur

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ein theoretisches Verständnis notwendig sein, denn aus keinerlei Art von theoretischem Verstehen kommt eigentlich der Impuls zum künstlerischen Schaffen, sondern da muß schon etwas Kräftigeres, etwas Elementareres wirken als nur ein theoretisches Verstehen. Das kann aber auch sein. Und dazu möchte ich Ihnen erstens nahe­legen, wiederum einmal dasjenige anzuschauen, was ich über die Farbenwelt hier einmal gesagt habe, und was dann Albert Steffen in so wunderbarer Weise in seiner Art wiedergegeben hat, so daß die Wiedergabe viel besser zu lesen ist als das, was ursprünglich hier gegeben worden ist. Das kann im «Goetheanum» nachgelesen werden. Nun, das ist das erste. Das andere ist aber, daß ich einmal folgende Fragen vor Ihnen behandeln möchte. Wir sehen draußen in der Natur Farben. An den Dingen sehen wir Farben, an den Dingen, die wir zählen, die wir abwägen mit der Waage, die wir messen, kurz, die wir physikalisch behandeln, an denen sehen wir Farben. Aber die Farbe, das müßte den Anthroposophen nach und nach ganz klar geworden sein, ist eigentlich ein Geistiges. Nun sehen wir sogar an Mineralien, das heißt an denjenigen Wesen der Natur, die zunächst nicht geistig sind, so wie sie uns entgegentre­ten, Farben. Die Physik hat sich das in der neueren Zeit immer einfacher und einfacher gemacht. Sie sagt: Nun ja, die Farben, die können nicht an dem Tot-Stofflichen sein, denn die Farben sind etwas Geistiges. Also sind sie nur in der Seele darinnen, und drau­ßen ist erst recht etwas Tot-Stoffliches, da vibrieren stoffliche Atome. Die Atome tun dann ihre Wirkungen auf das Auge, auf den Nerv oder auf noch etwas anderes, was man dann unbestimmt läßt, und dann leben in der Seele die Farben auf. - Das ist nur eine Verlegenheitserklärung.

Damit uns die Sache ganz klar wird, oder ich meine, damit sie an einem Punkt erscheint, wo sie wenigstens klar werden kann, be­trachten wir einmal die farbige tote Welt, die farbige mineralische Welt. Wir sehen, wie gesagt, die Farben an dem rein Physika­lischen, an dem rein Physischen, das wir zählen, das wir messen, das wir mit der Waage seinem Gewicht nach bestimmen können. Daran sehen wir die Farbe. Aber alles das, was wir mit der Physik

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an den Dingen wahrnehmen, das gibt keine Farbe. Sie können noch so viel herumrechnen, herumbestimmen mit Zahl, Maß und Ge­wicht, mit denen es der Physiker zu tun hat, Sie kommen nicht an die Farbe heran. Deshalb brauchte auch der Physiker das Auskunfts­mittel: Farben sind nur in der Seele.

Nun möchte ich mich durch ein Bild erklären, das ich in der folgenden Weise gestalten möchte. Denken Sie sich einmal, ich habe in meiner linken Hand ein rotes Blatt, in meiner rechten Hand ein, sagen wir grünes Blatt, und ich mache vor Ihnen mit dem roten Blatte und mit dem grünen Blatte bestimmte Bewegun­gen. Ich decke einmal das Rot mit Grün, das andere Mal das Grün mit Rot zu. Ich mache solche Bewegungen abwechselnd hin und her. Und damit die Bewegung etwas charakteristischer ist, mache ich es so, ich bewege das Grün so herauf, das Rot so herab, so daß ich außerdem die Bewegung so mache. Sagen wir, das habe ich heute vor Ihnen ausgeführt. Jetzt lassen wir drei Wochen ver­gehen, und nach drei Wochen bringe ich nun nicht ein grünes und ein rotes Blatt hierher, sondern zwei weiße Blätter, und ich mache dieselben Bewegungen damit. Nun wird Ihnen einfallen, der hat, trotzdem er jetzt weiße Blätter hat, vor drei Wochen bestimmte Wahrnehmungseindrücke hervorgerufen, die mit einem roten und mit einem grünen Blatt hervorgerufen waren. Und nehmen wir jetzt an, ich will aus Höflichkeit sagen, daß alle von Ihnen eine so lebhafte Phantasie haben, daß, trotzdem ich nun die weißen Blätter bewege, Sie durch Ihre Phantasie, durch Ihre erinnernde Phantasie dasselbe Phänomen vor sich sehen, das Sie vor drei Wochen mit dem roten und dem grünen Blatt gesehen haben. Sie denken gar nicht daran, so lebhaft ist Ihre Phantasie, daß das nur weiße Blätter sind, sondern, weil ich dieselben Bewegungen mache, sehen Sie dieselben Farbenharmonisierungen, die ich vor drei Wochen mit dem roten und mit dem grünen Blatt hervorgerufen habe. Sie haben das vor sich, was vor drei Wochen vor Ihnen war, trotzdem ich nicht wiederum ein rotes und ein grünes Blatt habe - ich habe gar keine Farben vor Ihnen zu entwickeln -, aber ich führe dieselben Gesten, dieselben Bewegungen aus, die ich vor drei Wochen ausgeführt habe.

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Sehen Sie, etwas Ähnliches liegt draußen in der Natur vor, wenn Sie, sagen wir einen grünen Edelstein sehen. Nur ist der grüne Edelstein nicht angewiesen auf Ihre seelische Phantasie, sondern er appelliert an die in Ihrem Auge konzentrierte Phantasie, denn die­ses Auge, dieses menschliche Auge ist mit seinen Blut- und Nerven-strängen aus Phantasie aufgebaut, es ist das Ergebnis wirksamer Phantasie. Und indem Sie den grünen Edelstein sehen, können Sie ihn, weil Ihr Auge ein phantasievolles Organ ist, gar nicht anders sehen als so, wie er vor unermeßlich langer Zeit geistig aus der grünen Farbe aus der geistigen Welt heraus aufgebaut ist. In dem­selben Momente, wo der grüne Edelstein Ihnen entgegentritt, ver­setzen Sie Ihr Auge zurück in weit zuruckliegende Zeiten, und das Grüne erscheint Ihnen deshalb, weil damals göttlich-geistige Wesen­heiten diese Substanz durch die Grün-Farbe im Geistigen aus der geistigen Welt heraus erschaffen haben. In dem Augenblick, wo Sie grün, rot, blau, gelb an Edelsteinen sehen, schauen Sie zurück in unendlich ferne Vergangenheiten. Wir sehen nämlich gar nicht, wenn wir Farben sehen, bloß das Gleichzeitige, wir sehen, wenn wir Farben sehen, in weite Zeitperspektiven zurück. Wir können nämlich einen gefärbten Edelstein gar nicht bloß gegenwärtig sehen, ebensowenig wie wir, wenn wir unten am Fuß eines Berges stehen, meinetwillen oben eine Ruine, die am Gipfel ist, in unserer unmittelbaren Nähe sehen können. Weil wir eben von dem ganzen Faktum entfernt sind, müssen wir sie perspektivisch sehen.

Wenn nun ein Topas uns entgegentritt, können wir ihn nicht bloß im gegenwärtigen Augenblicke sehen, wir müssen hinein­schauen in eine Zeitperspektive. Und indem wir, veranlaßt durch den Edelstein, in die Zeitperspektive hineinsehen, sehen wir auf den Urgrund des Erdenschaffens vor der lemurischen Epoche unse­rer Erdenentwickelung hin und sehen aus dem Geistigen heraus den Edelstein erschaffen, sehen ihn dadurch farbig. Da tut unsere Phy­sik etwas ungeheuerlich Absurdes. Sie setzt diese Welt vor uns hin und dahinter schwingende Atome, welche die Farben in uns bewir­ken sollen, während es die vor unendlich langen Zeiten schaffenden göttlich-geistigen Wesenheiten sind, die in den Farben der Gesteine

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aufleben, die eine lebendige Erinnerung an ihr vorzeitliches Schaf­fen erregen. Wenn wir die leblose Natur farbig sehen, so verwirk­lichen wir im Verkehr mit der leblosen Natur eine Erinnerung an ungeheuer weit zurückliegende Zeiten. Und jedesmal, wenn im Frühling vor uns der grüne Pflanzenteppich der Erde auftaucht, so schaut derjenige, der dieses Auftauchen des Grünen in der Natur verstehen kann, nicht bloß Gegenwart, er schaut zurück in jene Zeit, da während eines alten Sonnendaseins aus dem Geistigen heraus die Pflanzenwelt geschaffen worden ist und dieses Heraus-schaffen aus dem Geistigen in Grünheit geschah. Sie sehen, richtig sehen wir das Farbige in der Natur, wenn uns das Farbige anregt, vorzeitliches Götterschaffen in dieser Natur zu schauen.

Dazu brauchen wir aber zunächst künstlerisch die Möglichkeit, mit der Farbe zu leben. Also zum Beispiel, wie ich öfter angedeutet habe und wie Sie es in den betreffenden Vorträgen im «Goetheanum» nachlesen können, braucht man die Möglichkeit, die Fläche als solche zu empfinden, wenn ich die Fläche mit Blau bestreiche, das Sichentfernen nach rückwärts, wenn ich sie mit Rot oder Gelb be­streiche, das Sichnähern nach vorwärts. Denn Farbenperspektive, nicht eine Linienperspektive ist dasjenige, was wir uns wieder er­obern müssen: Empfindung der Fläche, des Fernen und des Nahen nicht bloß mit der Linienperspektive, die eigentlich immer durch eine Verfälschung das Plastische auf die Fläche zaubern will, son­dern das Farbige auf der Fläche sich intensiv, nicht extensiv, fer­nend und nahend. So daß ich in der Tat gel1>rot male, wenn ich andeuten will, etwas ist aggressiv, etwas ist auf der Fläche, was mir gewissermaßen entgegenspringen will. Ist etwas in sich ruhig, fernt es sich von mir, geht es nach rückwärts, ich male es blau-violett. Intensive Farbenperspektive! Studieren Sie die alten Maler, Sie wer­den überall finden, es war selbst bei den Malern der frühen Renaissance-Zeit noch durchaus ein Empfinden für diese Farben-perspektive vorhanden. Sie ist aber überall vorhanden in der Vor-Renaissance-Zeit, denn erst mit dem fünften nachatlantischen Zeit­raum ist die Linienperspektive an die Stelle der Farbenperspektive, der intensiven Perspektive getreten.

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Damit gewinnt die Malerei aber ihre Beziehung zum Geisti­gen. Es ist schon merkwürdig, sehen Sie, heute denken die Men­schen hauptsächlich nach, wie können wir den Raum noch räum­licher machen, wenn wir über den Raum hinauskommen wollen? Und sie verwenden in dieser materialistischen Weise eine vierte Dimension. Aber so ist diese vierte Dimension gar nicht vorhan­den, sondern sie ist so vorhanden, daß sie die dritte vernichtet, wie die Schulden das Vermögen vernichten. Sobald man aus dem drei­dimensionalen Raum herauskommt, kommt man nicht in einen vierdimensionalen Raum, oder man kommt meinetwillen in einen vierten dimensionalen Raum, aber der ist zweidimensional, weil die vierte Dimension die dritte vernichtet und nur zwei übrig bleiben als reale, und alles ist, wenn wir uns von den drei Dimensionen des Physischen zum Ätherischen erheben, nach den zwei Dimen­sionen orientiert. Wir verstehen das Ä therische nur, wenn wir es nach zwei Dimensionen orientiert denken. Sie werden sagen, aber ich gehe doch auch im Ätherischen von hier bis hierher, das heißt nach drei Dimensionen. Nur hat die dritte Dimension für das Ätherische keine Bedeutung, sondern Bedeutung haben nur immer die zwei Dimensionen. Die dritte Dimension drückt sich immer durch das nuancierte Rot, Gelb, Blau, Violett aus, wie ich es auf die Fläche bringe, ganz gleichgültig, ob ich die Fläche hier habe oder hier, da ändert sich im Ätherischen nicht die dritte Dimension, sondern die Farbe ändert sich, und es ist gleichgültig, wo ich die Fläche aufstelle, ich muß nur die Farben entsprechend ändern. Da gewinnt man die Möglichkeit, mit der Farbe zu leben, mit der Farbe in zwei Dimensionen zu leben. Damit aber steigt man auf von den räum­lichen Künsten zu den Künsten, die wie die Malerei nun zwei­dimensional sind, und überwindet das bloße Räumliche. Alles was in uns selber Gefühl ist, hat keine Beziehung zu den drei Raum-dimensionen, nur der Wille hat zu ihnen Beziehung, das Gefühl nicht, ist immer in zwei Dimensionen beschlossen. Daher finden wir, dasjenige was gefühlsmäßig in uns ist, der Möglichkeit nach wieder­zugeben in dem, was die Malerei in zwei Dimensionen darleben kann, wenn wir die zwei Dimensionen wirklich richtig verstehen.

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Sie sehen, man muß sich aus dem dreidimensionalen Materiellen herauswinden, wenn man sich von der Architektur, der Beklei­dungskunst und der Plastik zu dem Malerischen herauf entwickeln will. Damit hat man in der Malerei eine Kunst, von der man sagen kann, der Mensch kann das Malerische innerlich seelisch erleben, denn wenn er malerisch schafft oder malerisch genießt, so ist es zunächst innerlich seelisch erlebt. Aber er erlebt eigentlich das Äußerliche. Er erlebt es in Farbenperspektive. Es ist gar kein Unter­schied mehr zwischen innen und außen. Man kann nicht sagen, wie man bei der Architektur sagen muß, die Seele möchte die Formen schaffen, die sie braucht, wenn sie in den Körper hineinschaut. In der Plastik möchte die Seele Formen gestalten in dem bildhauerisch­gestalteten Menschen, wo der Mensch sich in einer ihm natur­gemäßen Weise sinnvoll in den Raum hineinstellt in der Gegen­wart. In der Malerei kommt das alles nicht in Betracht. In der Malerei hat es eigentlich gar keinen Sinn, davon zu sprechen, irgend etwas ist drinnen oder draußen, oder die Seele ist innen und außen. Die Seele ist immerfort im Geistigen, wenn sie in der Farbe lebt. Es ist sozusagen das freie Bewegen der Seele im Kosmos, was in der Malerei erlebt wird. Es kommt nicht in Betracht, ob wir das Bild innerlich erleben, ob wir es außen sehen, wenn wir es abgesehen von der Unvollkommenheit der äußeren Farbmittel farbig sehen.

Dagegen kommen wir völlig in dasjenige hinein, was die Seele als Geistiges, als Geistig-Seelisches erlebt, wenn wir ins Musika­lische kommen. Da müssen wir aus dem Raum vollständig heraus. Das Musikalische ist linienhaft, eindimensional. Es wird auch ein­dimensional in der Zeitenlinie erlebt. Aber es wird so erlebt, daß der Mensch dabei zugleich die Welt als seine Welt erlebt Die Seele will weder etwas geltend machen, was sie braucht, wenn sie unter­taucht ins Physische oder wenn sie das Physische verläßt, die Seele will dasjenige erleben im Musikalischen, was in ihr jetzt auf Erden seelisch-geistig lebt und vibriert. Studiert man die Geheimnisse der Musik, so kommt man darauf, ich habe das schon einmal hier aus­gesprochen, was eigentlich die Griechen, die sich auf solche Dinge

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wunderbar verstanden, mit der Leier des Apollo meinten. Das­jenige, was musikalisch erlebt wird, ist die verborgene, aber dem Menschen gerade eigene Anpassung an die inneren harmonisch­melodischen Verhältnisse des Weltendaseins, aus denen er heraus­gestaltet ist. Wunderbare Saiten im Grunde genommen, die nur eine metamorphosierte Wirksamkeit haben, sind seine Nerven­Stränge, die von dem Rückenmark auslaufen. Das ist die Leier des Apollo, dieses Rückenmark, oben im Gehirn endigend, die ein­zelnen Nervenstränge nach dem ganzen Körper ausdehnend. Auf diesen Nervensträngen wird der seelisch-geistige Mensch gespielt innerhalb der irdischen Welt. Das vollkommenste Instrument die­ser Welt ist der Mensch selber, und ein Musiklnstrument außen zaubert die Töne in dem Maße für den Menschen als künstlerische hervor, insofern der Mensch in dem Erklingen der Saiten eines neuen Instrumentes zum Beispiel etwas fühlt, was mit seiner eigenen, durch Nervenstränge und Blutbahnen erfolgten Konsti­tution, seinem Aufbau, zusammenhängt. Der Mensch, insofern er ein Nervenmensch ist, ist innerlich aus Musik aufgebaut, und er empfindet die Musik künstlerisch, insofern irgend etwas, was musi­kalisch auftritt, mit dem Geheimnis seines eigenen musikalischen Aufbaues zusammenstimmt.

Da also appelliert der Mensch an sein auf der Erde lebendes Seelisch-Geistiges, wenn er sich dem Musikalischen hingibt. In demselben Maße, in dem anthroposophische Anschauung die Ge­heimnisse der inneren geistig-seelischen Menschennatur entdeckt, werden sie gerade auf das Musikalische befruchtend wirken kön­nen, nicht theoretisch, sondern auf das musikalische Schaffen. Denn bedenken Sie, daß es wirklich nicht ein Theoretisieren ist, wenn ich sage: Schauen wir hinaus auf die leblose stoffliche Welt. Indem wir sie farbig sehen, ist das Farbigsehen die kosmische Erinnerung. -An vorzeitlich wirkenden Göttern lernen wir verstehen durch rich­tiges anihroposophisches Anschauen, wie in den Edelsteinen, in den farbigen äußeren Gegenständen, überhaupt durch die Farben, sich die Götter in ihrem Urschaffen in Erinnerung rufen. Werden wir gewahr, daß die Dinge deshalb farbig sind. weil Götter sich durch

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die Dinge aussprechen, dann ruft das jenen Enthusiasmus hervor, der aus dem Erleben in dem Geistigen hervorgeht. Das ist kein Theoretisieren, das ist etwas, was die Seele unmittelbar mit innerer Kraft durchziehen kann. Nicht ein Theoretisieren über die Kunst geht daraus hervor. Künstlerisches Schaffen und künstlerisches Genießen selber kann dadurch angeregt werden. So ist die wahre Kunst überall ein Beziehungsuchen des Menschen zum Geistigen, sei es zu dem Geistigen, das er erhofft, wenn er mit der Seele aus dem Leibe geht, sei es mit dem Geistigen, das er sich erinnernd bewahren möchte, wenn er in den Leib untertaucht, sei es zu dem Geistigen, mit dem er sich verwandt fühlt, da er sich nicht ver­wandt fühlt mit dem bloßen Natürlichen seiner Umgebung, sei es, daß er sich fühlt in dem Geistigen, ich möchte sagen mehr in der Welt im Farbigen, wo das Innen und Außen aufhören, wo die Seele gewissermaßen durch den Kosmos schwimmend, schwebend sich bewegt, im Farbigen ihr eigenes Leben im Kosmos fühlt, wo sie überall sein kann durch das Farbige. Oder es fühlt die Seele auch noch innerhalb des Irdischen ihre Verwandtschaft mit dem Kos­misch-Seelisch-Geistigen wie im Musikalischen.

Nun kommen wir herauf zum Dichterischen. Manches, was ich in bezug auf alte Zeiten dichterischer Empfindungen, wo das Dich­terische noch ganz künstlerisch war, gesagt habe, kann uns darauf aufmerksam machen, wie dieses Dichterische empfunden worden ist, als man noch lebendige Beziehungen zu der geistig seelischen Welt hatte. Ich habe schon gestern gesagt, darstellen, wie Hinz und Kunz sich auf dem Marktplatze von Klein-Griebersdorf bewegen, wäre für wirklich künstlerische Zeiten nicht etwas Vernünftiges gewesen, denn da geht man nach dem Marktplatz von Klein­Griebersdorf und schaut sich Hinz und Kunz an, und ihre Bewe­gungen, ihre Gespräche sind noch immer reicher als diejenigen, die man dann beschreiben kann. Bei den Griechen der eigentlichen griechischen Künstlerzeit wäre das ganz absurd erschienen, so die Leute vom Marktplatz und in ihren Häusern zu schildern. Man hat aus dem Naturalismus heraus ein merkwürdiges Streben gehabt, auf dem Theater ganz und gar. sogar in der Szenerie nur Naturalistisches

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nachzubilden. Gerade so wenig, wie es eigentlich Malerei wäre, wenn man nicht auf der Fläche malte, sondern in den Raum hinein die Farbe in irgendeiner Weise gestalten wollte, so ist es auch nicht Bühnenkunst, wenn man nicht die Bühnenmittel, die ganz bestimmte, gegebene sind, wirklich künstlerisch versteht. Denken Sie, wenn man wirklich naturalistisch sein wollte, müßte man eigentlich nicht aus der Bühne ein solches Zimmer machen und da den Zuschauer haben. Ein solches Zimmer könnte man nicht machen, denn solche Zimmer gibt es nicht, man würde doch im Winter erfrieren darinnen. Man macht Zimmer, die von allen vier Seiten abgeschlossen sind. Wollte man ganz naturalistisch spie­len, müßte man die Bühne auch zumachen und dahinter spielen. Ich weiß nicht, wie viele Leute dann Theaterbillets kaufen würden, aber das wäre mit Berücksichtigung von allem Naturalistisch-Realen die Bühnerikunst, wenn man auch die vierte Wand hätte. Das ist natürlich etwas extrem gesprochen, aber es ist durchaus richtig.

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Nun brauche ich Sie nur auf eines hinzuweisen, auf das ich oftmals hingewiesen habe. Homer beginnt seine Iliade damit, daß er sagt:

«Singe, 0 Muse, vom Zorn mir des Peleiden Achilleus. » - Das ist

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keine Phrase, das ist so, daß Homer tatsächlich das positive Erlebnis hatte, daß er sich zu überirdischer göttlich-geistiger Wesenheit zu erheben hat, die sich seines Leibes bedient, um Episches künstle­risch zu gestalten. Episches bedeutet die oberen Götter, die als weiblich empfunden wurden, weil sie die Befruchtenden waren, die eben als weiblich, als Musen empfunden wurden. Er hat die oberen Götter aufzusuchen, sich mit seiner Menschenwesenheit den oberen Göttern zur Verfügung zu stellen, um dadurch das Gedankliche des Kosmos in den Ereignissen zum Ausdruck bringen zu lassen. Sehen Sie, das ist das Epische, die oberen Götter sprechen lassen, indem man ihnen seinen eigenen Menschen zur Verfügung stellt. Homer beginnt: « Singe, 0 Muse, vom Manne, dem Vielgereisten. » - Er meint den Odysseus. Es würde ihm gar nicht einfallen, bloß den Leuten etwas vormachen zu wollen, was er selber ausgedacht hat oder sel­ber gesehen hat. Denn warum sollte er denn das? Das kann sich jeder selber machen. Homer will durchaus diesen Homer-Organis­mus den oberen göttlich-geistigen Wesenheiten zur Verfügung stel­len, daß sie ausdrücken, wie sie den Menschenzusammenhang auf der Erde sehen. Daraus entsteht die epische Dichtung.

Und die dramatische Dichtung? Nun, sie ging hervor - wir brauchen nur an die vor-äschyleische Periode zu denken - aus der Darstellung des aus den Tiefen heraufwirkenden Gottes Dionysos. Zuerst ist es die einzige Person des Dionysos, dann der Dionysos und seine Helfer, der Chor, der sich herumgruppiert, um gleich­sam ein Reflex zu sein desjenigen, was nicht Menschen tun, son­dern was eigentlich die unterirdischen Götter tun, die Willensgöt­ter, die sich der menschlichen Gestalten bedienen, um auf der Bühne nicht Menschenwillen, sondern Götterwillen agieren zu lassen. Erst allmählich mit dem Vergessen des Zusammenhanges des Menschen mit der geistigen Welt wurde auf der Bühne aus dem Götterwirken durch die Menschen reines Menschenwirken. Dieser Prozeß hat sich noch in Griechenland vollzogen zwischen Aschylos, wo wir noch überall die göttlichen Impulse durch die Menschen durch­dringen sehen, bis zu Euripides, wo schon die Menschen auftreten als Menschen, aber doch noch immer mit überirdischen Impulsen,

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möchte man sagen, denn das eigentlich Naturalistische war erst der neueren Zeit möglich.

Aber der Mensch muß den Weg zurück zum Geistigen auch in der Dichtung wiederum finden. So daß wir sagen können: Das Epische wendet sich an die oberen Götter. Das Dramatische wen­det sich an die unteren Götter, das wirkliche Drama sieht die unter der Erde liegende Götterwelt auf die Erde heraufsteigen. Der Mensch kann sich zum Werkzeug für das Agieren dieser unteren Götterwelt machen. Da haben wir, wenn wir gewissermaßen als Mensch in die Welt hinausschauen, in der Kunst durchaus das­jenige, was, ich möchte sagen unmittelbar draußen naturalistisch ist.

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Dagegen haben wir im Dramatischen aufsteigend die untere gei­stige Welt. Wir haben im Epischen sich herabsenkend eine obere geistige Welt. Die Muse, die heruntersteigt, um durch das Haupt des Menschen sich des Menschen zu bedienen und als Muse zu sagen, was die Menschen auf Erden vollbringen oder was über­haupt im Weltenall vollbracht wird, ist episch. Heraufsteigen aus

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den Tiefen der Welt, sich der menschlichen Leiber bedienen, um den Willen agieren zu lassen, der unterirdischer Götterwille ist, das ist Dramatik.

Man möchte sagen: Haben wir die Fluren des Erdendaseins, so haben wir wie aus den Wolken heruntersteigend die göttliche Muse der epischen Kunst; wie aus den Tiefen der Erde heraufsteigend, heraufqualmend, heraufrauchend, die dionysisch-unterirdischen gött­lich-geistigen Mächte, die willensmäßig durch die Menschen nach oben wirken. Aber überall müssen wir durch die Erdenflur hin­durchsehen, wie gewissermaßen vulkanisch das Dramatische her-aufsteigt, wie sich mit segnendem Regen von oben nach unten das Epische senkt. Und was auf gleichem Niveau mit uns sich vollzieht, wo wir gewissermaßen die äußersten Boten der oberen Götter emp­findend zusammenwirken sehen mit den unteren Göttern auf glei­chem Niveau mit uns, wo gewissermaßen Kosmisches - aber nicht theoretisch philiströs empfunden, sondern in aller Gestaltlichkeit empfunden - von unten sich reIzen läßt, froh machen läßt, lachen machen läßt, jauchzen machen läßt durch nymphisches Geistig-Feuriges von oben, da in der Mitte wird der Mensch lyrisch. Er emp­findet nicht das von unten nach oben steigende Dramatische, nicht das von oben nach unten sich senkende Epische, sondern das mit ihm in gleichem Niveau lebende Lyrische, das feinsinnig Geistige, das nicht zum Walde herabregnet, auch nicht von unten in dem Vulkan heraufbricht und die Bäume spaltet, sondern das, was in den Blättern säuselt, was in den Blüten erfreut, was im Winde hinweht. All das, was auf gleichem Niveau uns im Materiellen das Geistige ahnen läßt, so daß unser Herz schwellt, unser Atem freudig erregt wird, unsere ganze Seele aufgeht in dasjenige, wofür die äußeren Naturerscheinun­gen als Zeichen stehen eines Geistig-Seelischen, das mit uns auf glei­chem Niveau ist: da west und webt das Lyrische, das, man möchte sagen mit einem frohen Antlitz hinaufblickt zu den oberen Göttern, das mit einem etwas getrübten Antlitz hinunterblickt zu den unteren Göttern, das sich ausbilden kann nach der einen Seite, indem es lyrisch ist, zum Dramatisch-Lyrischen, das auf der anderen Seite sich beruhigen kann zum Episch-Lyrischen, welches aber immer

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ein Lyrisches dadurch ist, daß der Mensch den Umkreis der Erde gewissermaßen mit seinem mittleren Menschen erlebt, seinem Ge­fühlswesen, in welchem er das mit ihm im Umkreise der Erde Wesende erlebt.

Sehen Sie, man kann eigentlich nicht anders, wenn man wirk­lich in das Geistige der Welterscheinungen hineinkommt, als all­mählich die vertrakt-abstrakten Vorstellungen übergehen zu lassen in lebendiges, farbiges, gestaltiges Weben und Wesen. Ganz un­versehens, möchte ich sagen, wird die ideenmäßige Darstellung zur künstlerischen Darstellung, weil dasjenige, was um uns herum ist, im Künstlerischen lebt. Es ist deshalb durchaus immer das Bedürf­nis da, aufzuwecken diese impertinent abstrakten Begriffsbestim­mungen - physischer Leib, Ätherleib, Astralleib, all das, was da begrifflich ideell ist, dieses impertinent geradlinig, dieses imper­tinent philiströs Definierbare, dieses schauderhaft wissenschaftlich zu Bestimmende -, das abzustufen in die künstlerische Farbe und Form. Das ist ein inneres, nicht bloß ein äußeres Bedürfnis des Anthroposophischen.

Daher darf die Hoffnung ausgesprochen werden, daß die Mensch­heit wirklich aus dem Naturalismus heraus sich entphilistert, ent­pedantisiert, entbotokudisiert. Sie steckt im Philistertum, in der Pedanterie, in dem Botokudentum mit dem Abstrakten, mit dem Theoretischen, mit dem bloß Wissenschaftlichen, mit dem so­genannten Praktischen, - denn wirklich praktisch ist das ja nicht -tief darinnen und braucht Schwung. Und ehe nicht dieser Schwung da ist, kann eigentlich Anthroposophie nicht recht gedeihen, denn in einem unkünstlerischen Elemente wird sie kurzatmig. Sie kann frei nur atmen in einem künstlerischen Elemente. Wird sie richtig verstanden, wird sie auch zum Künstlerischen führen, ohne daß sie vom Erkenntnismäßigen nur irgend etwas im Geringsten weggibt.

VIERTER VORTRAG Dornach, 3. Juni 1923

#G276-1961-SE059 Das Künstlerische in seiner Weltmission

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VIERTER VORTRAG

Dornach, 3. Juni 1923

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Die letzten zwei Vorträge waren im wesentlichen den verschiede­nen Gebieten des künstlerischen Schaffens und künstlerischen Emp­findens der Menschen gewidmet. Ich habe dies aus dem Grunde so gehalten, weil ich darauf aufmerksam machen wollte, wie die be­sondere Art, die Welt anzuschauen, die dem Menschen aus an­throposophischer Vertiefung werden kann, wiederum auch zu einer innerlichen elementarischen Belebung des Künstlerischen in der Zivilisation der Gegenwart und der Zukunft führen muß. Am Schlusse gestern wollte ich besonders darauf aufmerksam machen, wie dadurch, daß durch anthroposophische Weltanschauung der Mensch dazu kommt, ein unmittelbares Verhältnis zum Geistigen zu gewinnen, auch wiederum die geistigen Kräfte gewonnen wer­den können, welche vorhanden sein müssen, wenn wirkliche Kunst entstehen soll, und welche immer vorhanden waren, wenn aus dem unmittelbar Menschlichen heraus in diesem oder jenem Zeitalter das wahrhaft Künstlerische gewirkt hat Dieses wahrhaft Künst­lerische kann nur auf der einen Seite neben der wirklichen Er­kenntnis stehen und auf der anderen Seite neben dem wirklichen religiösen Leben der Menschheit. Durch Erkenntnis und durch Re­ligion kommt der Mensch in einem gewissen Sinne an das geistig Gedanken-, Gefühls- und Willensmäßige heran, aber so, daß man gerade während derjenigen Zeit, die der Mensch zwischen Geburt und Tod auf der Erde verbringt, durch innerlich erlebte Erkennt­nis und innerlich erlebte Religion fühlt, wie das der Fall ist, was ich gewissermaßen zur Grundlage der gestrigen und vorgestrigen Betrachtung machte. Der Mensch muß sich sagen, indem er das jenige sieht, was ihn in der äußeren Natur umgibt, die gleichartig mit dem Physischen in ihm ist, wie dasjenige das Menschliche nicht erschöpft. In allen künstlerischen, wahrhaft religiösen Zeit-altern hat er sich das gesagt. Ich stehe im Erdendasein, sagte sich

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der Mensch, aber so, daß das Erdendasein dem ganzen Wesen mei­ner Menschlichkeit widerspricht Daß auf der anderen Seite das ganze Wesen meiner Menschlichkeit - so mußte der Mensch sich sagen - etwas an sich trägt, das Bild, das Ergebnis einer anderen Welt, oder anderer Welten sein muß, als diejenige ist, die ich zwi­schen Geburt und Tod durchlebe.

Betrachten wir dieses Gefühlsmoment, das ich eben charakteri­siert habe, gerade vom anthroposophischen Gesichtspunkte aus mit Bezug auf das Erkennen. Mit Bezug auf das Erkennen will der Mensch in die Geheimnisse, in die Rätsel des Weltendaseins ein­dringen. Die neuere Menschheit ist so stolz auf ihre äußeren natura­listischen Erkenntnisse. Man darf schon sagen, in bezug auf das äußere Naturalistische hat es die neuere Menschheit seit drei bis vier Jahrhunderten wirklich außerordentlich weit gebracht Wun­derbare Naturzusammenhänge liegen vor dem betrachtenden Blicke des Menschen da. Aber gerade gegenüber diesen Naturzusam­menhängen muß sich die heutige Naturwissenschaft, wenn sie sich auf ihr eigenes Wesen besinnt, mit aller Intensität sagen, im Grunde gelangt man in der Weltbetrachtung mit dem, was man durch die Sinne, was man durch den irdischen Leib erkennen kann, nur gerade bis zu demjenigen Tore der Weltzusammenhänge, das einem die eigentlichen Weltengeheimnisse und Weltenrätsel ver­schließt Und wir wissen aus anthroposophischer Vertiefung, daß, um durch dieses Tor hindurchzugehen, um wirklich in die Gebiete hineinzukommen, wo man eine Anschauung gewinnen kann von dem, was hinter der äußeren Sinneswelt liegt, daß da, wo diese Wege gegangen werden sollen, die durch dieses Tor hindurchfüh­ren, zunächst für den Menschen gewisse innerliche Gefahren lie­gen, daß der Mensch sowohl in gedanklicher wie in willensmäßi­ger und gefühlsmäßiger Weise zu einer gewissen inneren Festig­keit gekommen sein muß. Man nennt auch deshalb das Durch-schreiten dieses Tores das Vorbeigehen an dem Hüter der Schwelle. Es muß also aufmerksam darauf gemacht werden, wenn wirkliche Erkenntnis der geistig-göttlichen Grundlage der Welt erworben werden soll, daß Gefahren überwunden werden müssen, daß

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also nicht unmittelbar mit dem, was man als Mensch zwi­schen Geburt und Tod durch die natürlichen Verhältnisse ist, dieses Tor, das in die geistige Welt hineinführt, durchschritten werden kann.

Auf den ungeheuren Ernst dessen, was man in Wahrheit Er­kennen nennen darf, wird damit hingewiesen. Das steht auf der einen Seite. Und es wird dadurch auch darauf hingewiesen, daß gewissermaßen schon ein Abgrund vorhanden ist zwischen der rein naturalistischen Welt und demjenigen, was vom Menschen aufgesucht werden muß, wenn er in seine wahre Heimat kom­men will, wenn er wissen will, womit sein innerstes Wesen, mit dem er sich doch in der bloß naturalistischen Welt fremd fühlen muß, zusammenhängt. Zwischen dem also, was des Menschen innerstes Wesen ist, und dem Erkennen dessen, wo man es findet, liegt ein Abgrund. Denn auch wenn wir durch die Geburt in das physische Dasein hereinschreiten, tragen wir natürlich in das Erden-dasein unser ewig-göttliches Wesen mit uns. Aber wenn es seinem Quell nach in der Welt erkannt werden soll, dann ist zwischen dem unmittelbaren Erdenleben und den Bezirken des Erkennens, die wir beschreiten müssen, um unser eigenes Wesen zu erkennen, ein Ab-grund vorhanden. Deutlich also macht auf der einen Seite die wahre Idee des Erkennens darauf aufmerksam, welcher Ernst gegenüber der geistigen Welt und dem Suchen nach einem Verhält­nis zu ihr liegt. Auf der anderen Seite wäre der religiöse Mensch als solcher nicht da, wenn das irdische Dasein unmittelbar befrie­digend wäre, wenn die Sache wirklich so wäre, wie es vielfach der neue Naturalismus träumt, daß der Mensch nur der höchste Gipfel der Naturerscheinungen sei. Es wäre der religiöse Mensch gar nicht da, wenn das so wäre, denn der Mensch müßte dann zufrieden sein mit seinem irdischen Dasein. Aber Religion geht auf etwas ganz anderes aus als auf Befriedigtheit im irdischen Dasein. Religion geht darauf aus, entweder über dieses irdische Dasein hinwegzu­trösten oder irgend etwas vor den Menschen zu stellen, das einen Ausgleich bildet gegenüber dem irdischen Dasein. Oder Religion geht auch darauf hinaus, daß der Mensch erwacht aus dem bloßen

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irdischen Dasein, um in einer Art Wiedererweckung zu fühlen, wie er mehr als dasjenige ist, was sich ihm nur im irdischen Dasein darstellen kann.

Anthroposophische Vertiefung ist geeignet, nach beiden Seiten hin ein starkes Gefühl, eine starke Empfindung zu erwecken, so­wohl nach der Seite des Erkennens wie nach der Seite des religiö-sen Erlebens. Nach der Seite des Erkennens, indem eben darauf hingewiesen wird, daß man einen Weg durchmachen muß, der einen läutert und reinigt, bevor man das Tor in die geistige Welt durchschreiten soll. Und auch auf das religiöse Leben wird hingedeutet, indem darauf aufmerksam gemacht wird, wie dieses religiöse Leben hinwegführen muß über die bloßen durch das gewöhnliche irdische Bewußtsein verfolgbaren Tatsachen. Wird doch wiederum durch die Anthroposophie das Mysterium von Golgatha, die Erscheinung des Christus Jesus auf Erden, so aufgefaßt, daß es sich als ein übersinnlich zu begreifen­des Ereignis in die bloß sinnlich zu begreifenden anderen ge­schichtlichen Ereignisse hineinstellt, die in der Welt vorgekom­men sind.

Nun lebt der Mensch gewissermaßen vor diesem Abgrund, der sich ihm erkenntnismäßig und religiös auftut, der gewiß zu über-brücken ist, allein dem religiösen Inhalte nach nicht in der Erden-zeit, dem Erkenntnisinhalte nach nicht mit demjenigen Bewußt­sein, das dem Menschen bloß von der Erde gegeben ist. Da tritt gerade, um etwas innerhalb der Erdenentwickelung zu haben, was auch für das irdische Dasein unmittelbar diesen Abgrund über­brückt, die Kunst ein. Daher kann die wirkliche, die wahre Kunst nicht anders, als sich bewußt sein, daß sie auf der einen Seite das geistig-göttliche Leben auf die Erde zu tragen habe, auf der anderen Seite das irdisch-physische Leben hinaufzugestalten habe, so daß dieses in seinen Formen, in seinen Farben, in Worten und Tönen als eine irdische Offenbarung eines Außerirdischen erscheinen könne. Ob die Kunst mehr idealistisch, ob sie mehr realistisch ge­färbt ist, darauf kommt es nicht an. Eine Beziehung zum Geistigen, zum realen Geistigen, nicht bloß zum gedachten Geistigen, braucht

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die Kunst. Der Künstler könnte gar nicht in seinem Stoffe schaffen, wenn in ihm nicht der Impuls lebte, der aus der geistigen Welt heraus kommt. Damit ist aber zu gleicher Zeit auch auf den Ernst im Künstlerischen hingewiesen, neben dem Ernst im Erkennen, neben dem Ernst im religiösen Erleben. Von diesem Ernst im Künstlerischen, das läßt sich nicht leugnen, ist in vieler Beziehung unsere materialistisch fühlende Welt und Menschheit abgekommen. Jeder Blick in künstlerisches Schaffen, das im wahren Sinne diesen Namen verdient, zeigt uns als künstlerisches Schaffen zugleich menschliches Ringen nach einem Einklang, nach einer Harmonie zwischen Geistig-Göttlichem und Physisch-Irdischem. Und wo sich dieses Ringen im Künstler nicht zeigt, ist nicht wahrhaft künst­lerischer Impuls vorhanden. Man möchte sagen, gerade als an die Menschheit einer gewissen Kulturentwickelung die große Frage der Kunst in allem Ernste herantrat, zeigte sich dieses. Es zeigte sich zuletzt im großen Stil in der Weltentwickelung durch dasjenige, was in der Goethe-Schillerzeit lebte. Gerade dieses Ringen nach einem Ausgleich, nach einer Harmonisierung des Geistig-Gött­lichen mit dem Physisch-Sinnlichen charakterisiert die Goethe­Schillerzeit. Man braucht nur einen Blick auf Goethes Ringen sel­ber zu werfen, auf Schillers Ringen, so wird man das bestätigt finden. Wir haben aus der Fülle dessen, was da angeführt werden könnte, im Laufe unserer jahrelangen Betrachtungen manches an­geführt. Ich will heute nur auf einiges wenige hindeuten, um den Grundton anzuschlagen.

In der Goethe-Schillerzeit tauchte auf, von Goethe und Schiller selber noch angenommen, als Ideenorientierung der Unterschied zwischen romantischer und klassischer Kunst. Goethe erschien sich gewissermaßen selber ganz als der Bekenner zu einer klassischen Kunst. Er wollte ein richtiger Pfleger der klassischen Kunst werden, indem er sich einleben wollte in dasjenige, was ihm noch die eigentlichen Geheimnisse der großen griechischen Kunst zeigen konnte. Durch seine Reise nach Italien wollte er sich in die Ge­heimnisse der griechischen Kunst einleben. Seine Italienreise war etwas für ihn wie die Erfüllung einer Sehnsucht. Er hatte gewissermaßen

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in seiner nordischen Umgebung keine Möglichkeit gefühlt, das Göttlich-Geistige, das auf der einen Seite vor seiner Seele schwebte, das Physisch-Sinnliche, das auf der anderen Seite eben vor seinen Sinnen stand, künstlerisch in Einklang zu bringen. In der Anschauung dessen, was er, ich möchte sagen durch die ita­lienischen Kunstwerke hindurch von der griechischen Kunst zu ahnen vermeinte, suchte er die Harmonisierung desjenigen, was noch nicht harmonisiert war, als er von Weimar nach Italien ab­fuhr. Es ist in einem tieferen Sinne - ich muß einen paradoxen Ausdruck prägen, aber ich finde keinen anderen, wenn ich eigent­lich das bezeichnen will, was Goethe in der Verfolgung seiner ita­lienischen Reise durchinachte -, was den Eindruck des Heroisch­Rührenden macht.

Goethe ist Bekenner einer klassischen Kunstrichtung. In dem Sinne - wollen wir es mit den Worten aussprechen, die etwa seine eigene Idee ganz gut wiedergeben - ist Goethe Bekenner einer klassischen Kunstrichtung, daß sein Blick vor allen Dingen auf das Äußerliche, Sinnlich-Wirkliche gerichtet war. Aber er war ein viel zu tiefer Geist, um nicht zu fühlen: Dieses Sinnlich-Wirkliche ent­spricht nicht dem, worinnen der Mensch seinem Seelischen nach seine Heimat zu suchen hat. Das muß hinaufgeläutert, hinauf-gestaltet werden. - So suchte denn Goethe als Künstler überall in den Formen der Natur, in den Handlungen der Menschen das zu­sammen, von dem er glaubte, daß es sich, wenn es sich auch un­vollkommen im Sinnlich-Physischen darstellt, durch eine entspre­chende Behandlung, ohne daß man der sinnlich-physischen Gestal­tung untreu werde, hinaufläutern, hinaufgestalten läßt, so daß das Göttlich-Geistige durch die geläuterte sinnliche Form hindurch-scheint. Das war Goethes ganzes energisches Streben, nicht leichter Hand das Göttlich-Geistige in seine Worte aufzunehmen, nicht leichter Hand das Göttlich-Geistige in Linien oder dergleichen zum Ausdrucke zu bringen, denn er wäre immer überzeugt gewesen, wenn man von dem Göttlich-Geistigen in dieser romantischen Form spricht, so ist es verhältnismäßig leicht, andeutend, aber nicht erschöpfend, nicht rundend, das Göttlich-Geistige in das

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Erdenleben herüberzuführen. Goethe wollte nicht sagen: Die Göt­ter leben. Ich mache eine mehr oder weniger symbolische Dar-stellung im Irdischen zum Beweise davon, wie ich glaube, daß die Götter leben. - Das wollte Goethe nicht. Solch eine Empfindung hatte er nicht. Er hatte vielmehr die Empfindung: Ich schaue die Steine, ich schaue die Pflanzen, ich schaue die Tiere an, ich nehme die Handlungen der Menschen wahr. Sie sind mir wie Gestaltun­gen, die vom Göttlich-Geistigen abgefallen sind, die vielleicht weit vom Göttlich-Geistigen weggegangen sind; aber, wenn ich auch sehe, wie in der Form, die mir im Irdischen entgegentritt, wenn ich auch sehe, wie in der Farbe, die mir im Irdischen entgegentritt, überall ein Abfall vom Göttlich-Geistigen erscheint, ich muß doch diese Farbe, diese Form so behandeln können, daß ich sie hinauf-bringe, so daß sie aus ihrer eigenen Wesenheit heraus das Göttlich-Geistige darstellen können. - Ich brauche, so fühlte Goethe, nicht untreu zu werden der Natur, sondern ich brauche bloß die abgefal­lene Natur in der künstlerischen Gestaltung zu läutern, so wird sie in ihrer eigenen Wesenheit ein Ausdruck des Göttlich-Geistigen sein. Das fühlte Goethe als Klassizität. Von dem glaubte er, daß es der Hauptimpuis der griechischen Kunst gewesen ist, daß es über-haupt die wahre Kunst ist.

Eine Gestalt wie Schiller konnte nicht mit dieser Ideenorientie­rung mitgehen, denn sein Blick war idealistisch in die göttlich-geistige Welt hinaufgerichtet. Er behandelte dasjenige, was in der sinnlich-physischen Welt war, nur wie eine Gelegenheit, andeutend das Göttlich-Geistige zum Ausdruck zu bringen. Daher war Schil­ler der Veranlasser zur romantischen Dichtung, die sich dann an Goethe anschloß. Es ist außerordentlich interessant, wie die ent­gegengesetzte Art, die, ich möchte sagen, daran verzweifelt, daß man das Irdisch-Sinnliche zum Göttlichen hinaufheben kann, die zufrieden ist damit, nur das Irdisch-Physisch-Sinnliche zu benut­zen, um damit mehr oder weniger andeutend das Göttlich-Geistige auszudrücken, wie gerade diese romantische Dichtung in Mitteleuropa sich anschloß an den erstrebten Klassizismus Goethes.

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Aber sehen wir uns diesen Klassizismus Goethes selber an. Goethe, der das schöne Wort geprägt hat:

Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,

Hat auch Religion;

Wer jene beiden nicht besitzt,

Der habe Religion -

war so tief durchdrungen, daß es keinen Künstler geben kann, der nicht den religiösen Impuls in sich hat, Goethe, der von dem tri­vialen Religiösen nur deshalb so stark abgestoßen war, weil ein so tiefer religiöser Impuls in ihm selber vorhanden war, gab sich, wenn ich mich des fast pedantischen Ausdruckes bedienen darf, die allerredlichste Mühe, die sinnlich-physisch-irdische Form künst­lerisch zu läutern, so daß sie wie ein Abbild des Göttlich-Geistigen erscheint. Sehen wir einmal an, wie er sich diese redliche Mühe gegeben hat. Er greift geradezu dasjenige auf, was so recht derb irdisch ist, und fühlt sich gedrungen, es gir nicht so sehr zu verän­dern, um es künstlerisch zu gestalten. Sehen Sie sich mit diesem Bezuge einmal Goethes Arbeiten am Götz von Berlichingen an. Er nimmt die Biographie des Götz von Berlichingen, wie sie eine rein äußerliche biographische Darstellung ist, und er behandelt sie mit aller Pietät, dramatisiert sie, drückt das sogar im Titel aus, denn der Titel seiner ersten Bearbeitung heißt: Geschichte Gott­friedens von Berlichingen mit der eisernen Hand, dramatisiert. Also er nimmt etwas ganz Irdisch-Physisches, behandelt es so pietätvoll, daß er es nur leise umändert, um es ins Dramatische hinüberzuführen. Er möchte also die Erde so wenig wie möglich verlassen als Künstler, indem er diese zugleich als einen Ausdruck der geistig-göttlichen Weltordnung darstellen will. Und nehmen Sie etwas anderes. Nehmen Sie, wie Goethe herangeht an seine Iphigenie, an seinen Tasso. Er konzipiert diese Dramen, gestaltet den Stoff dichterisch. Aber was tut er dann? Er getraut sich überhaupt nicht, möchte man sagen, so wie er ist, der Goethe, der in Frankfurt geboren ist, in Leipzig, in Straßburg studiert hat, nach Weimar ge­kommen ist, dieses Iphigenie-, dieses Tasso-Drama als solcher Goethe,

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als der Weimarisch-Frankfurterische Goethe, fertig zu gestalten. Er muß nach Italien, muß im Lichte der griechischen Kunst wandeln, um die sinnlich-physisch-irdische Form so weit hinaufzubringen, daß er annehmen kann, sie spiegelt das Geistige wider. Denken Sie nur, welcher Kampf, welches Ringen in diesem Goethe ist, um den Abgrund zwischen dem Sinnlich-Physisch-Irdischen und dem Gött­lich-Geistigen zu überbrücken. Das war eine Krankheit in Goethe, als er Weimar sozusagen bei Nacht und Nebel verließ, niemandem etwas davon sagte, um nur zu einer Umgebung hinflüchten zu kön­nen, in der es ihm gelingen sollte, die Formen, die er als der nor­dische Goethe gar nicht bezwingen konnte, geistig erscheinen zu lassen, um sie weiter herauf zu vergeistigen. Diese Goethe-Psycho­logie ist etwas ungeheuer tief Ergreifendes. Das hat etwas, ich möchte sagen Heroisch-Rührendes, wenn man Goethe in diesem Zusammenhange betrachtet.

Sehen Sie dann weiter. Das Charakteristischeste für Goethe ist -so sonderbar es Ihnen erscheinen wird, wenn ich das paradoxe Wort ausspreche -, daß er nichts fertig gebracht hat. Den hat er aus einem großen Wurf heraus begonnen. Nur der phili­ströse Eckermann hat ihn im späteren Alter dazu bewegen können, in einer Weise, wie es gerade für Goethe noch ging, diesen abzuschließen. Es war da ein ungeheures Ringen, wozu sogar ein anderer mithelfen mußte, daß Goethe überhaupt diesen #SE276-068

schöpfen wollte, wie die . Fragment ist sie geblieben, er konnte sie nicht bis zur Vollendung bringen. Sein Entwurf war so ungeheuer groß, daß ihm die Rundung nicht gelang. Wir sehen es an diesem Entwurf, aber wir sehen auch, wie die Schwere und der Ernst der Aufgabe des Künstlers auf seiner Seele lasten. Und sehen Sie, wie Goethe das Menschenleben hinaufidealisieren wollte, um es im Glanze, möchte ich sagen, des Göttlich-Geistigen zu zei­gen, da brachte er notdürftig von der Trilogie das erste nur zu­stande, das erste Drama: .

Man möchte sagen: Goethe zeigte uberall sein Bekenntnis zur Klassizität, er zeigt dieses Streben so stark, aus dem Irdisch-Phy­sischen heraus so etwas zu schaffen, welches so weit hinauf geläu­tert wird, daß es den Glanz des Göttlich-Geistigen zeigt. Goethe zeigt, wie er überall strebt, ringt, wie es aber eine Aufgabe ist, die eben menschliche Kräfte, auch Goethesche Kräfte übersteigen kann, wenn sie tief genug gefaßt wird. Deshalb muß man sagen:

Es erscheint einem das Künstlerische in seiner ernsten Weltmission gerade an einer solchen Erscheinung wie Goethe so großartig und gewaltig. - Was schließlich sich dann ergeben hat, gerade inner­halb der Romantik, ist um so charakteristischer erschienen, wenn man es im Zusammenhange mit Goethe betrachtet.

Letzten Donnerstag war der 150. Geburtstag Ludwig Tiecks. Er ist am 31. Mai 1773 geboren. Sein Todestag fällt auf den 28. April 1853. Ludwig Tieck, der heute leider nur mehr wenig bekannt ist, war in gewisser Beziehung doch ein treuer Schüler Goethes. Er ist herausgewachsen aus der Romantik, aus demjenigen, was man, ich möchte sagen, wie das Goethe-Problem der neueren Zeit in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts an der Bildungs-stätte in Jena gefühlt hat. Ludwig Tieck hat als junger Mensch das Erscheinen des «Werther», das Erscheinen des ersten «Faust> er­lebt. Ludwig Tieck hat in Jena mit Novalis, mit Fichte, mit Schel­ling, mit Hegel zusammen nach den Welträtseln gestrebt. Ludwig Tieck hat den Hauch des ganzen Goethisch-klassischen Strebens aus unmittelbarster Nähe gefühlt. Ich möchte sagen: Gerade an Ludwig Tieck ist wahrzunehmen, wie geistiges Leben noch wirkte

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um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, denn Ludwig Tieck ist nicht nur derjenige, der Shakespeare in Deutschland eigentlich eingeführt hat neben Schlegel, sondern Ludwig Tieck ist eine Persönlichkeit, an der man sehen kann, wie sich das unge­heure Ringen und Streben Goethes in einem bedeutenden Zeit­genossen spiegelt, der gerade das Ernste, das Hohe, das Würdige der Kunst wie ein gewaltiges, menschlich-kulturelles Ideal emp­findet. Und Ludwig Tieck hat sich umgesehen in der Welt, hat seine Lebenserfahrungen nicht auf einem kleinen Fleck gesammelt, hat, nachdem er zuerst zu den Füßen von Fichte, Schelling, Hegel in Jena gesessen hat, Reisen durch Italien, Frankreich gemacht. Ludwig Tieck kannte die Welt. Aber Ludwig Tieck suchte, nach­dem er Philosophie und Welt kennengelernt hatte, den Abgrund zwischen irdischem Sein und himmlisch-göttlichem Sein künst­lerisch auf Goethesche Art zu überbrücken.

Natürlich war er der eigentlichen Kraft, der Stoßkraft Goethe­schen Wesens nicht gewachsen. Aber man sehe sich etwas an wie ein verhältnismäßiges Jugendwerk Ludwig Tiecks: nachgebildet ist. Ja, was sind denn diese Sternbaldwanderungen? Sie sind Wanderungen der Menschenseele nach dem Lande der Kunst hin. Die Frage lastet ungeheuer schwer auf Sternbald: Wie finde ich aus der sinnlich-physisch-irdischen Wirklichkeit heraus eine Möglichkeit, diese physisch-irdisch-sinnliche Wirklichkeit in den Glanz des Geistigen auf künstlerische Art zu erheben? - Dabei fühlte, wenn ich so sagen darf, Ludwig Tieck, dessen 150. Geburts tag man eigentlich in diesen Tagen zu feiern verpflichtet wäre, auch jenen Ernst, der auf die Kunst herunterstrahlt aus der Nach-barschaft des Erkennens und aus der Nachbarschaft des religiösen Lebens. Grandios sind da die Schlaglichter, die auf Ludwig Tiecks künstlerische Schöpfungen vom Erkenntnismäßigen und vom Reli­giösen hereinfallen. Es ist eine Romandichtung von Ludwig Tieck auch verhältnismäßig in seiner Jugend entstanden: #SE276-070

dem Ernst des Erkenntnisstrebens empfangen hat, den er mit-machte, als er zu den Füßen Schellings und Fichtes in Jena saß. Bedenken Sie nur, was da auf einen in so hohem Grade empfäng­lichen Geist wie Ludwig Tieck wirkte. Anders, wenn auch nicht weniger großartig, hat es auf Novalis gewirkt, aber für Ludwig Tieck, der in seinen früheren Jahren noch durch die rationalistisch­intellektualistisch-freigeistige, wie man es nannte, Schulung des Berliner Oberpedanten, Geheimen Oberpedanten Nikolai durch­gegangen ist, war das noch etwas anderes, was er da erleben mußte, wenn er sah, wie in Fichte, in Schelling die menschliche Seele im Grunde allen Zusammenhang mit der äußeren physischen Wirk­lichkeit aufgab und nur aus sich selbst heraus den Weg durch das Tor in die geistige Welt hinein suchen wollte. In hingedeutet, so daß man schon sagen kann: Bei Ludwig Tieck sieht man, wie in das Künstlerisch-Ernste hereinstrahlt das Erkenntnismäßig-Ernste.

Ludwig Tieck hat dann als verhältnismäßig alter Mensch ein Dichtungswerk geschaffen wie: . Ja, was stellt dieser «Aufruhr in den Cevennen> dar? Dämonische Gewalten, die an die Menschen herankommen, Naturgeister, die den Menschen ergreifen, von sich besessen machen, die ihn in den religiösen Fanatismus treiben, den Menschen so anpacken, daß der Mensch nicht mehr selber seinen Weg durch die Welt findet. Oh, dieser Ludwig Tieck hat auf der einen Seite schon gefühlt, was es

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heißt, ganz auf die Spitze der eigenen Persönlichkeit gestellt zu sein und auf der anderen Seite den geistigen Wesenheiten ausgelie­fert zu sein, die in aller Natur als Elementargeister, als Elementar­götter leben. Daher sind Töne von einer so ergreifenden Gewalt in den Werken von Ludwig Tieck, wie etwa in dem Werke: , wo er darstellt, wie Shakespeare als ganz und gar dichte­rische, künstlerische Natur in die Welt eingetreten ist, wie die Welt einer eigentlich dichterischen Natur überall Hemmnisse in den Weg legt, wie sich eine eigentlich dichterische Natur überall in den Fängen des Lebens verstrickt. Den Eintritt ins Leben, in das irdische Leben, das rein naturalistisches Leben dem Künstler ge­währt, hat Ludwig Tieck dargestellt, indem er Shakespeares Jugend dargestellt hat in seinem Werk: Camoens, den portugiesischen Dichter, dargestellt hat, wie er hinausgeht aus dem Leben. Das sind durchaus ergreifende Dinge, wie Ludwig Tieck aus dem Ernste des Goethezeitalters heraus des Künstlers Eintritt ins Leben geschil­dert hat, indem er an Shakespeare anknüpft, des Dichters Austritt aus dem Leben, indem er an Camoens anknüpft, den portugie­sischen Dichter. Dabei war, da Ludwig Tieck nicht selber eine so große Persönlichkeit, sondern das Größte an ihm eine Spiegelung Goetheschen Geistes war, es außerordentlich charakteristisch, wie Tieck sich gegenüber all dem stellte, was nur, ich möchte sagen als auf der Erde stehen wollte ohne geistigen Einschlag, wenn es künstlerisch werden wollte. 0 es gibt keine treffendere Satire in einer gewissen Beziehung als diejenige, die Ludwig Tieck in seinem gegen alle Ritter- und Räuberromane geliefert hat. Und es gibt in einem gewissen Sinne wiederum keine treffendere Satire auf all das Rührselige, Sentimen­tale, das künstlerisch sein möchte, aber nur lamentös wird und immerfort undeutlich nach dem Göttlich-Geistigen hinwispert, wie es der auch als Deklamator ausgezeichnete Ludwig Tieck empfand gegenüber solchen Rührkerlen wie Iffland oder gegenüber solchen

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Schwätzkerlen wie Kotzebue, es gibt nichts Trefflicheres, als von Ludwig Tieck, womit er diesem ganzen Ge­schmeiß die Wege weist.

Sehen Sie, gerade an dieser Erscheinung, die einem oft vor­kommt wie dasjenige, was der Goetheanismus für die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in einer aufnahmefähigen Persön­lichkeit spiegelt, gerade an dieser Erscheinung des Ludwig Tieck, dessen 150. Geburtstag, wie gesagt, wir jetzt zu begehen verpflich­tet wären, sieht man, wie in die neuere Zeit etwas wie die Erinne­rung an die großen alten Zeiten hereinspielte, in denen die Mensch­heit nach dem Göttlich-Geistigen hinaufgeschaut hat und überall im Irdisch-Künstlerischen Denkrnale für das Göttlich-Geistige schaffen wollte. Man sieht an einer solchen Erscheinung, wie der eigentliche Übergang von einer wenigstens in der Erinnerung noch im Geiste lebendigen Zeit in diejenige Zeit war, die dann ganz und gar verblendet war durch den Eindruck einer allerdings für sich glänzenden naturwissenschaftlichen Weltanschauung und einer weniger glänzenden Lebenspraxis, wie das Hereinwachsen in diese Zeit war, die aus sich heraus niemals das Geistige finden wird, wenn nicht der geistige Einschlag von unmittelbarer geistiger Er. schauung der Welt, das heißt von Imagination, Inspiration und Intuition, wie es durch Anthroposophie angestrebt wird, herkommt

Sehen wir doch nur einmal auch von diesem Gesichtspunkte aus auf den ungeheuren Ernst hin, der diese Leute beseelte. Goethe und viele andere verzweifelten daran, in dem, was ihnen der neuere Geistesinhalt geben konnte, den Weg in das Geisterland hinein zu finden. Und Goethe ruhte nicht eher, bis er in Italien eine Ahnung bekommen hatte von der Art und Weise, wie die Griechen durch ihre Kunstwerke sich in die Geheimnisse des Daseins hineinweb­ten. Ich habe den Ausspruch Goethes oftmals zitiert: . Goethe glaubt also, die Griechen haben bei der Schöpfung ihrer Kunstwerke etwas sich von den Göttern reichen lassen, um in diesen

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Kunstwerken etwas wie höhere Naturwerke und damit Ab­bilder des göttlich-geistigen Daseins zu schaffen. Die Goetheaner, die noch unmittelbar von Goethes Geist selbst beeinflußt waren, bekamen von Goethe her noch etwas von jenem Hauch, von jenem Fühlen, man müsse eigentlich zurück in alte Zeiten der Mensch­heit, mindestens ins Griechentum, um wiederum zum Geist zu kommen.

Herman Grimm, der in dieser und in mancher anderen Bezie­hung - ich habe das dargestellt in meinem letzten Aufsatze im #SE276-074

vermeinte, so ganz lebendig wenn auch antiquiert eine Kultur zu fühlen, die unmittelbar noch Geistiges im Sinnlich-Physischen enthält.

Ihm vorangegangen in dieser Stimmung war derjenige, der wirk­lich dasteht wie die personifizierte Abenddämmerung des alten Geisteslebens, Johann Joachim Winckelmann. Wie Goethe sich auf die Stimmung Winckelmanns verstanden hat, zeigt das un­geheuer, das blendend schöne Buch, das Goethe gerade über Winckelmann und sein Jahrhundert geschrieben hat. Es ist eine herrliche Darstellung des Strebens eines so nach Geistigkeit sich sehnenden Menschen wie Winckelmann, was da Goethe als sein Buch über Winckelmann zustande gebracht hat. Man fühlt diesem Buche an, wie Goethe so lebhaft empfand: wie Winckelmann zu­erst hinunter nach dem südlichen Rom ging, um den Geist, den er in der Gegenwart nicht mehr finden konnte, zu finden, um aus alter Spiritualität Spiritualität in die Gegenwart hineinzutragen. Ganz trunken von solcher Suche nach Spiritualität war Winckel­mann. Das konnte Goethe nachfühlen. Deshalb ist sein Buch über Winckelmann so großartig, weil er von derselben Sehnsucht durch­drungen war. Und beide empfanden schließlich, als sie in Rom waren, etwas von dem Hauch der alten Geistigkeit. Winckelmann, indem er geradezu die Geheimnisse der Kunst aus demjenigen her-ausgeholt hat, was er zwar nicht physisch, aber seelisch, spirituell an Resten griechisch-künstlerischen Wollens in Rom aufgenom­men hat. Goethe tat desgleichen. Goethe konnte seine nach Rom, um sie umzuschreiben, um ihr jene Formung zu geben, die er allein als die klassische ansehen konnte. Da gelang es ihm; bei den späteren Werken, nachdem er zurückgekehrt war, nicht mehr.

Damit aber zeigt Goethe diesen ganz tiefen Ernst des Ringens eines Künstlers nach Geistigkeit. Er konnte im Grunde genommen sich nicht befriedigen in seinem künstlerischen Suchen, bevor er der Farbengebung Raffaels, der Formung Michelangelos dasjenige abgelauscht zu haben glaubte, was aus echtem künstlerischem Erleben

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heraus an Farbengebung möglich ist, an Formengestaltung sein kann. Und so wuchs er hinein in diese Geistigkeit und stellte die Abendröte dar, die noch da war, noch an eine verbrauchte, eine nicht mehr für die moderne Menschheit geltende Geistigkeit erinnerte.

Wenn ich hier etwas Persönliches berühren darf, so gestatten Sie mir, daß ich das Folgende sage. Es war in einem bestimmten Augenblicke, wo ich so recht fühlen konnte, was Winckelmann einmal sagte, indem er nach dem Süden fuhr, um die Geheimnisse der Kunst zu entdecken, wo ich auch so recht ahnen konnte, wie Goethe dann auf den Spuren Winckelmanns weiterging, wo ich aber auch ahnen und empfinden mußte, mit aller Gewalt empfin­den mußte, daß die Zeit vorüber ist, wo wir uns der Abendröte hingeben dürfen, daß die Zeit herangekommen ist, wo wir mit aller Gewalt nach einer neuen Erschließung eines Geisteslebens suchen müssen, wo wir nicht mehr uns bloß in dem Suchen nach dem Alten ergehen dürfen. Das konnte ich so recht fühlen in dem Augenblicke, als es das Schicksal gebracht hat, daß ich in den Räu­men, in denen einstmals Winckelmann während seines römischen Aufenthalts gelebt hat, in denen er seine Gedanken an italienischer und griechischer Kunst geschöpft hat, in denen er diese umfassen­den Ideen ausgesprochen hat, die dann Goethe so begeistert haben, vor Jahren anthroposophische Vorträge über Menschheitsentwicke­lung und Weltenentwickelung zu halten hatte. Es war mir ein wahrhaft tiefes Gefühl, da zu empfinden, es muß etwas Neues ge­sagt werden auf dem Wege zum spirituellen Leben hin. An den­selben Orten mußte ich das sagen, in denen Winckelmann wäh­rend seines römischen Aufenthaltes seine Ideen gefaßt hat, über die dann Goethe in seinem Buche über Winckelmann geschrieben hat. Eine merkwürdige Schicksalsverkertung, daß ich gerade in jenem Pallazzo diese Vorträge halten mußte, in dem Winckelmann während seines römischen Aufenthaltes gelebt hat. Mit dieser per­sönlichen Bemerkung möchte ich diese Betrachtungen heute ab­schließen.

FÜNFTER VORTRAG Dornach, 8. Juni 1923

#G276-1961-SE076 Das Künstlerische in seiner Weltmission

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FÜNFTER VORTRAG

Dornach, 8. Juni 1923

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Ich möchte heute noch einiges zu den Betrachtungen über die Kunst, die in den Vorträgen der vorigen Woche gepflogen worden sind, hinzufügen. Öfter schon mußte ich betonen, wie die Gesamt­geistesentwickelung der Menschheit von etwas ausgegangen ist, das Wissenschaft, Kunst und Religion in einem war. So daß, wenn wir heute innerhalb unseres Geisteslebens auf der einen Seite Wissen­schaft haben, Kunst auf der anderen Seite, Religion auf der anderen Seite, wir gewissermaßen in eine Zeit zurückblicken können, in der diese drei Strömungen des menschlichen Geisteslebens eine gemein­same Mutter hatten. Es zeigt sich wohl am intensivsten, wie diese gemeinsame Mutter geartet war, wenn man zurückgeht auf das­jenige, was in uralten Zeiten der Menschheitsentwickelung, sagen wir vielleicht vor vier, fünf Jahrtausenden die Dichtung war, besser gesagt, dasjenige war, was wir heute als Dichtung bezeichnen. Wenn wir ergründen wollen, was Dichtung nicht bei den primi­tiven Völkern, bei denen man heute ganz unsinnigerweise diese Ur­kultur sucht, sondern bei den Kulturvölkern der alten Zeiten war, dann müssen wir unsere Zuflucht nehmen zu dem, was die Geistes entwickelung der Menschheit in diesen alten Zeiten durch die Mysterien geworden ist.

Betrachten wir diejenigen Zeiten, in denen die Menschen auf der Erde noch wenig das gesucht haben, was sie als den Inhalt ihres Geisteslebens ausdrücken wollten, in denen sie von der Erde hinweg nach dem Kosmos geschaut haben, wenn sie für die tiefsten Be­dürfnisse ihres Gemütes einen Inhalt haben wollten. Betrachten wir die Zeiten, in denen die Menschen aus hellseherischen Fähig­keiten heraus die Lage der Fixsterne, die Bewegung der Planeten betrachtet haben und alles das, was auf der Erde ist, wie einen Ab­glanz dessen, was in der kosmischen Umgebung der Erde vor sich geht. Wir brauchen nur zu bedenken, wie die alten Ägypter dasjenige,

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was ihnen der Nil für ihr Leben geworden ist, nach der Er­scheinung des Sirius bemessen haben, nach dem Heraufkommen eines gewissen Sternes, wie sie in dem, was ihnen der Nil aus ihrem Leben gemacht hat, das Ergebnis desjenigen gesehen haben, was sie nur ergründen konnten, wenn sie in den Kosmos hinausschau­ten und einen gewissen Stand eines Sternes im Verhältnis zum anderen Stern betrachten konnten. Was ein Stern mit dem anderen auszumachen hatte im Weltenraum draußen, spiegelte sich für sie auf der Erde in dem, was also zum Beispiel die Tätigkeit des Nil war. Das ist ein Beispiel für viele, denn so war einmal die An­schauung, daß auf der Erde sich nur das vollzieht, was an jedem einzelnen Orte ein Abbild ist von dem, was draußen im Kosmos an den Geheimnissen des Sternenhimmels beobachtet werden kann. Nur müssen wir uns natürlich darüber klar sein, daß in jenen alten Zeiten die Menschen am Sternenhimmel ganz andere Dinge gese­hen haben als diejenigen, die heute mit der sogenannten Himmels-mechanik oder Himmelschemie errechnet oder ergründet werden. Aber es soll uns heute besonders interessieren, wie die Menschen in der Zeit, in der sie auf diese Art für ihre Seele, für ihr Gemüt den geistigen Inhalt bekamen, sich dichterisch, sagen wir, ausge­drückt haben.

Wir weisen damit zugleich in eine Zeit zurück, in der andere Künste außer der Dichtung weniger entwickelt waren. Sie waren da, aber sie waren weniger entwickelt, weil der Mensch sich in jenen alten Zeiten bewußt war, daß er mit dem Worte, welches er aus dem innersten Geheimnis seiner Organisation schafft, etwas Übersinnliches zum Ausdruck bringen kann, so daß also das Wort am besten der Ausdruck für dasjenige werden konnte, was über­irdisch durch Sternkonstellation und Sternbewegung erscheint, bes ser als wenn man sich eines anderen Stoffes in der Kunst bediente, der schließlich dem unmittelbaren Stoffgebiete der Erde entnom­men sein mußte. Das Wort stammt aus dem Geistigen des Men­schen heraus, so fühlte man in jenen alten Zeiten. Deshalb paßt es sich am intensivsten demjenigen an, was aus den kosmischen Wei­ten auf die Erde herunterschaut, sich herunter offenbart. Erst an der

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Dichtung, die in alten Zeiten ein unmittelbares Kind nicht der Phantasie allein, sondern des geistigen Schauens war, an dem Worte, an der Dichtung lernte man dann dasjenige, was auch in die anderen Künste hineingegossen worden ist. Aber das Dich­terische, das durch Worte seinen Ausdruck fand, empfand man durchaus als etwas, von dem aus man sich eigentlich mit dem Außerirdischen in eine Seelengemeinschaft versetzte.

Dieses Sichversetzen in eine Seelengemeinschaft mit dem Außer-irdischen, mit dem Sternenhaften, war im wesentlichen die dich­terische Stimmung. Durch diese Seelengemeinschaft fühlte man, wie der Gedanke, den man noch nicht von den Dingen trennte, in dem menschlichen Haupte, in der Firmament-ähnlichen Wölbung des oberen Hauptes einen bildhaften Ausdruck gewinnt, selber ein geistiges Firmament, ein geistiges Himmelsgewölbe darstellt. Das­jenige, was man als Gedanke fühlte, fühlte man hineinversetzt in den ganzen Kosmos. Die einzelnen Gedanken waren durch die Art und Weise ausgedrückt, wie die Sterne zu einander standen, wie die Sterne über einander hinweg sich bewegten. Man dachte in jenen alten Zeiten nicht bloß aus der inneren Kraft des Menschen selbst heraus. Das tat erst der freie Mensch der späteren Zeit. Man fühlte in jeder Gedankenbewegung ein Nachbild einer Sternbewegung, in jeder Gedankenfigur, Gedankenform ein Nachbild eines Sternbildes am Himmel. Wenn man dachte, fühlte man sich in den Sternen-raum versetzt. Daher empfand man als das eigentlich zur Weisheit Weisende nicht das Sonnenlicht bei Tag, welches blendet gegen­über dem, was im Kosmischen draußen das eigentlich Richtende und Orientierende der Gedanken ist, als die eigentliche Leuchte zwar das Sonnenlicht, aber so, wie es vom Monde innerhalb der Sternenwelt erstrahlt wird. Man sagte sich, und das ist durchaus alte Mysterienweisheit: Bei Tag sieht man das Licht mit dem phy­sischen Leibe, bei Nacht aber sieht man nicht nur das Sonnenlicht, sondern das Sonnenlicht wird von dem silbernen Becher des Mon­des aufgefangen. Der Mond war der silberne Becher, der das Son­nenlicht zur Nacht auffing. Und dieses Licht der Sonne, das zur Nacht durch den silbernen Mondenbecher aufgefangen wurde,

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trank man als den Somatrank, das trank die Seele. Durchgeistigt mit diesem Somatrank konnte die Seele jene Gedanken fassen, die eigentlich das Ergebnis, das Abbild des bestirnten Himmels waren.

So fühlte der Mensch, indem er sich als Denkender fühlte, wie wenn die Kraft seines Denkens nicht in seinem auf der Erde wan­delnden Organismus säße, sondern wie wenn diese Kraft des Den­kens da wäre, wo die Sterne kreisen und sie Sternbilder bilden. Es fühlte sich der Mensch mit seiner Seele ausergossen in die ganze Welt. Und er würde nicht logische Gesetze gesucht haben, wenn er nach den Verbindungen oder Trennungen der Gedanken geforscht hätte, sondern er hätte die Wege der Sterne, die Bilder der Sterne am nächtlichen Firmamente gesucht, wenn er hätte wissen wollen, wie Gedanken sich verbinden, wie Gedanken sich trennen. Am Himmel suchte er die Gesetze und die Bilder für sein Denken.

Und dann, wenn er auf sein Fühlen schaute, wenn er seines Füh­lens gewahr wurde, dann war das nicht jenes abstrakte Fühlen, von dem wir heute in unserer abstrakten Zeit sprechen, sondern es war jenes konkrete Fühlen, das mit dem, was wir heute abstrakt das Fühlen nennen, das innere Erlebnis des Atmens, das innere Erleb­nis der Blutzirkulation, das ganze regsame Weben im Innern des menschlichen Leibes verband. Man empfand, wie mit der Verbin­dung von Blutzirkulation und Atem das Seelische in einem webte. Aber man fühlte sich auch da nicht bloß auf der physischen Erde, man fühlte sich da in dem Planetenraum. Man sagte nicht, Mil­lionen von Blutkügelchen kreisen im menschlichen Organismus, sondern man sagte, Merkur und Mars kreuzen sich mit Sonne und Mond. Man fühlte sich auch in seinem Gemüte ergossen in das Weltenall. Nur daß man, wenn man sich in seinen Gedanken fühlte, sich mehr bei den Fixsternen und ihren Bildern fühlte, wäh­rend man im Fühlen sich mehr innerhalb der Sphäre des Planeta­rischen, bei den sich bewegenden Planeten fühlte. Nur mit seinem Willen fühlte man sich auf der Erde. Indem man das Irdische als Abbild des Kosmischen fühlte, sagte man sich, wenn die Kräfte des Jupiter, des Mondes, der Venus, der Sonne in die Erde einschlagen, den Erdboden durchdringen in seinem festen, in seinem flüssigen,

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in seinem luftförmigen Elemente, dann dringen aus diesem festen, aus diesem flüssigen, aus diesem luftförmigen Elemente in den Menschen geradeso die Willensimpulse, wie die Gedankenimpulse von den Fixsternen, die Gefühlsimpulse von den Planetenbewegun­gen in den Menschen dringen.

Wenn man in dieser Weise fühlte, dann konnte man sich noch durch solches Gefühl in jene Zeit zurückversetzen, in der die Ur­kunst der Menschheit entstanden ist. Die Urkunst, was ist sie? Nichts anderes ist die Urkunst als die menschliche Sprache selber. Das fühlt man heute nur noch wenig, wie die Sprache die eigent­liche Urkunst ist, denn unsere Sprache ist an das Materiell-Irdische gefesselt. Unsere Sprache zeigt nicht mehr dasjenige, was sie ein­mal war, als die Menschen sich in den Tierkreis versetzt fühlten und in der Empfindung der Tierkreisbilder die zwölf Konsonanten, in dem Bewegen der Planeten an den Fixsternbildern vorbei die Vokale sich einverleibten. Und wenn sie nicht ausdrücken wollten, was sie auf der Erde erlebten, sondern wenn sie durch die Sprache dasjenige ausdrücken wollten, was die Seele erlebte, welche sich von der Erde in den Kosmos hinaus entrückt fühlte, dann wurde die Sprache zu dem, was in der alten Zeit die Dichtung war. Dann entstand im Menschen durch die Sprache das Abbild dessen, was er in Seelengemeinschaft mit dem Geistkosmos erlebte. Aus diesem Erleben der Seelengemeinschaft mit dem Geistkosmos ist eigent­lich alle alte Dichtung entstanden. Die letzten Überreste, die von solcher Dichtung da sind, sind dasjenige, was etwa in den Veden enthalten ist, dasjenige, was, aber schon sehr verabstrahiert, in der Edda enthalten ist. Das sind noch Nachbildungen von dem, was aber in viel größerer Glorie, in viel größerer Erhabenheit und Majestät in denjenigen Zeiten unmittelbar aus der Gestaltung der Sprachen heraus selbst entstanden ist, in denen die Menschen ihr eigenes Seelenleben zusammen in inniger Gemeinschaft mit dem kosmischen Bewegen und Erleben haben fühlen können.

Was ist der Dichtung in der Gegenwart noch von jenen uralten Zeiten geblieben? Die Dichtung würde nicht mehr Dichtung sein

- und in unserer Zeit ist ja viele Dichtung nicht mehr Dichtung -,

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wenn ihr nicht doch etwas von jenem gemeinsamen Leben des irdi­schen Menschen mit dem Kosmos verbliebe. Das, was ihr geblie­ben ist, ist das Hinausgehen über die Prosabedeutung des Wortes in den Rhythmus, in den Reim, in die Imagination, in die Gestal­tung des Sprachlichen, die wir immer hinter der Prosabedeutung des Wortes suchen müssen. Denn eigentlich ist nur das eine wahre Dichtung, das nicht aus dem besteht, was in Worte abgefaßt ist. Da ist das Gedicht, das wir als niedergeschriebenes oder besser als rezitiertes oder deklamiertes haben, in seinem Prosawortlaut. Da muß in den Prosawortlaut Rhythmus oder Takt oder Imagination hineintönen. Da wird auf etwas verwiesen, was in dem Prosa-wortlaut nicht enthalten ist, auf einen Hintergrund, der bei jeder wahren Dichtung geahnt, erraten werden muß, nicht verstanden werden kann, denn man versteht, was in dem Prosagehalt der Worte liegt. Daß die Dichtung etwas hat, was nicht in den Worten liegt, wozu die Worte gewissermaßen nur das Mittel sind, daß die Dichtung einen Stimmungshintergrund, einen Hintergrund hat, der gewissermaßen ein Nachklang der Weltenharmonie und der Wel­tenmelodie ist und der Weltenimagination, das macht auch heute die Dichtung noch zur Dichtung. Bei Homer kann man es noch ahnen, was es für ihn bedeutet: Singe, 0 Muse, vom Zorn mir des Peleiden Achilleus. - Nicht seine Seele singt, diejenige Seele singt in ihm, die Gemeinschaft mit den Bewegungen des Kosmos hat. In den Planeten leben die Musen. Die epische Muse lebt in einem der Planeten. Entrückt zu diesem Planeten empfindet sich Homer:

Singe, 0 Muse, ertöne mir, Himmelsmelos des Planeten, sprich das­jenige, was Menschen auf Erden verrichtet haben, Agamemnon, Achilleus, Odysseus, Idomeneus, Menelaos, singe mir so, wie es an­geschaut werden kann, wenn der Blick nicht von einem Punkt hier auf der Erde darauf gerichtet wird, sondern wenn der Blick von der Sternenwelt darauf gerichtet wird, wenn der Blick von außerhalb der Erde darauf gerichtet wird. Glaubt man denn im Ernste jemals, daß jene umfassend großartigen Bilder, die in der Iliade entworfen sind, Frosch-Perspektive haben? Nein, sie haben nicht einmal bloß Luft-Perspektive, sie haben Sternen-Perspektive. Daher kann auch

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das, was von der Sternen-Perspektive in der Iliade erzählt wird, nicht so erzählt werden, daß da der Mensch mit Menschen zu tun hat, sondern da spielen die Götter hinein, treten fortwährend unter den handelnden Personen zu gleicher Zeit die Götterhandlungen auf. Das ist nicht die Frosch-Perspektive der Erde, das ist die Sternen-Perspektive des Himmels, zu der sich hinaufschwingen wollte die Seele des dichtenden Menschen, indem er andeutete:

Singe, 0 Muse, vom Zorn mir des Peleiden Achilleus!

Damit ist aber in intensiver Weise ausgesprochen, daß das irdische Mittel, dessen man sich zur Kunst bedienen kann, in die­sem Falle zur Dichtung, nur ein Mittel ist, daß das eigentlich Künstlerische darinnen liegt, was in der Behandlung des Mittels geahnt werden kann von einem geistigen Hintergrunde, von gei­stigen Welten, in die das Wort, in die aber auch nur Farben und Ton und die Form hineinführen können. Man muß sich etwas, wenn man die eigentlich künstlerische Stimmung in der Mensch­heit wiederum erwecken will, schon zurückversetzen in jene alten Zeiten, wo Dichterstimmung, Himmelsstimmung in der mensch­lichen Seele war. Und dann, wenn man das tut, bekommt man einen gewissen Eindruck davon, wie man sich anderer Kunstmittel bedienen kann, um die Kunst so an die geistige Welt heranzutra­gen, wie sie herangetragen werden muß, wenn sie wirklich Kunst sein will. Sehen Sie, unser Empfinden ist heute so grob geworden, daß man dasjenige, was einmal vor verhältnismäßig gar nicht so langer Zeit die Kunst zur Kunst gemacht hat, gar nicht mehr recht empfindet.

Wir sehen in unserer unmittelbar physischen Umgebung eine Mutter, die ein Kind trägt, ein kleines Kind im Arm hat. Gewiß, ein ungeheuer erhebender Anblick auf der Erde. Aber wir sind gewöhnt, wenn wir die Mutter mit dem Kinde sehen, daß der un­mittelbare Formeindruck, den wir empfangen, nur eine kurze Spanne Zeit, man möchte sagen einen Augenblick festgehalten wird. Wir sind gewöhnt, wenn wir in der physischen Welt ste­hen, daß die Kopfhaltung der Mutter im nächsten Momente eine andere ist als im vorhergehenden Momente. Wir sind gewöhnt,

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daß das Kind im Arm der Mutter irgendwelche Bewegungen macht, wir sind gewöhnt, daß sich in jedem Augenblicke in dem, was wir da in der physischen Welt vor uns haben, etwas ändert. Wir richten den Blick auf Raffaels Sixtinische Madonna. Wir schauen da die Mutter mit dem Kinde. Wir schauen sie jetzt, wir schauen sie in einer Stunde, wir schauen sie in einem Jahre - nichts hat sich verändert. Der Augenblick ist festgehalten, nicht das Kind bewegt sich, nicht die Mutter bewegt sich. Dasjenige, was wir ge­wöhnt sind, in der Erdenwelt einen Augenblick festzuhalten, das scheint, aber es scheint nur erstarrt zu sein im Augenblick. Wir empfinden heute nicht mehr, was Raffael ganz gewiß empfunden hat: Darf ich denn das? Darf ich einen einzigen Augenblick mit meinem Pinsel festhalten? Ist das nicht eine Lüge in der Welt, einen einzigen Augenblick festzuhalten? Darf ich denn so unwahr sein, nach einem Tag den Eindruck noch hervorzurufen, daß die Mutter das Kind ebenso hält, wie sie es am Tage zuvor gehalten hat? Darf ich irgend jemandem zumuten, daß er sich diesen Augen­blick durch eine lange Zeit hindurch vorsetzen läßt? - Paradox, vielleicht unsinnig erscheint dem Menschen der Gegenwart diese Frage. Raffael hat sie ganz gewiß empfunden. Was entstand in Raffael gegenüber dieser Empfindung? In Raffael entstand gegen­über dieser Empfindung eine künstlerische Verpflichtung: Das, was du da sündigst gegen die Wirklichkeit, mußt du auf geistige Art sühnen. Du mußt dasjenige, was ein Augenblick hat, aus Zeit und Raum herausheben. Du darfst es nicht in Zeit und Raum lassen, denn in Zeit und Raum ist es Unwahrheit. Du mußt diesem Augenblick Ewigkeit verleihen. Du mußt durch dasjenige, was du auf die Fläche hinmalst, etwas ahnen lassen, was gar nicht auf der Fläche sein kann.

Sehen Sie, das ist es, was man heute abstrakt Raffaels idealisti­sches Malen nennt. Dieses Raffaelische idealistische Malen ist seine Rechtfertigung, daß er den Augenblick festhält. Was er durch die Tiefe seiner Farbengebung, seiner Farbenharmonik erreicht, ist da­durch erreicht, daß auf der Fläche von vorneherein für die Malerei die dritte Raumdimension ausgeschlossen, aber vergeistigt ist. So

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daß er dasjenige, was man sonst materialistisch in der dritten Dimension sieht, durch die Farbengebung ins Geistige heraufgeho­ben hat Also das, was nicht auf der Fläche ist, was hinter det Fläche ist durch die blaue Farbe, vor der Fläche ist durch die rote Farbe, was heraustritt aus der Fläche auf geistige Art, während die dritte Raumdimension sonst in der Welt auf materielle Art heraus-tritt, das ist dasjenige, was dem Augenblick Ewigkeit gibt. Und dem Augenblicke muß Ewigkeit gegeben werden. Das Ewige muß wirken aus der Kunst heraus, sonst ist die Kunst keine Kunst. Ich habe Menschen kennengelernt in meinem Leben, die Raffael ge­haßt haben, Künstler namentlich kennengelernt, die Raffael ge­haßt haben. Warum? Weil sie durchaus das nicht verstehen konn­ten, weil sie stehen bleiben wollten in dem unmittelbaren Imitieren dessen, was der Augenblick darbietet, aber im nächsten Augen­blicke nicht mehr da ist. Ich habe einen solchen Raffaelhasser kennengelernt, der den größten Fortschritt seiner eigenen Malerei darinnen gesehen hat, daß er es, wie er sagte, als der erste gewagt hat, an dem nackten Menschen alle Haarstellen auch behaart zu malen, um ja nichts gegen die Natur zu sündigen. Man kann be­greifen, wie ein Mensch, der das als den großen Fortschritt dar­stellt, ein Raffaelhasser werden konnte. Aber es bezeugt dieses, wie stark unsere Zeit von dem eigentlich geisttragenden Elemente in der Kunst verlassen ist, von demjenigen geisttragenden Elemente, das zum Beispiel in der Malerei weiß, warum man in der Fläche die Grundlage, die erste Grundlage für das Malen sehen muß. Und die Raumperspektive muß man verstehen. Das ist in unserer Frei­heit-begabten Zeit einmal notwendig gewesen, daß man in der fünf­ten nachatlantischen Zeit die Raumperspektive, die eigentlich das Plastische auf die Fläche hinzaubern möchte, nicht das Malerische, versteht. Aber das Wirkliche ist die Farbenperspektive, die nicht durch Verkürzungen und dergleichen und durch Fernpunkte die dritte Dimension überwindet, sondern durch das geistig-seelische Verhältnis zwischen Blau und Rot oder zwischen Blau und Gelb überwindet. Die Farbenperspektive, die den Raum auf geistige Weise überwindet. muß gerade in der Malerei erobert werden.

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Durch solche Dinge kommt man im Künstlerischen wiederum zu dem, was dieses Künstlerische einmal war, etwas, was die Mensch­heit unmittelbar an die geistigen Welten heranbrachte.

Damals, als das so empfunden wurde, konnte man schon jene Harmonie zwischen Wissenschaft, Religion und Kunst auch emp­finden. Diese Empfindung muß der Menschheit wiederum werden. Es war wirklich etwas von einem Nachklang dieser Empfindung in Goethe. Und das war das Große an Goethe, daß etwas von einem Nachklang dieser Empfindung in ihm war. Gewiß, der Mensch in seiner Freiheit mußte die drei Kinder getrennt erleben:

Wissenschaft, Kunst und Religion. Aber dadurch ist ihm die Tiefe aller drei verloren gegangen, vor allen Dingen ist ihm das Ge­meinschaftsleben mit dem Kosmos verloren gegangen. Man braucht sich nur einmal die heutige Beziehung zwischen Kunst und Wis­senschaft, Dichtung und Wissenschaft im Extrem anzusehen. Sie werden vielleicht sagen, ich brauchte nicht so ins Extrem zu gehen, um die heutige Beziehung, das heutige sozusagen mißverwandt­schaftliche Verhältnis von Dichtung, also Kunst und Wissen­schaft Ihnen darzustellen. Aber in diesen radikalen extremen Ausgestaltungen zeigt sich das ganze mißverwandtschaftliche Verhältnis.

Sehen Sie, da war einmal in einer Stadt eine Naturforscher­Versammlung. Bei dieser Naturforscher-Versammlung haben die Leute von den großen materialistischen Problemen der Wissen­schaft sehr seriös geredet. Sie wissen ja, mit welchem ungeheuren Ernst auf solchen Versammlungen von den wissenschaftlichen Pro­blemen gesprochen wird, mit solch einem Ernst, daß ihn der Mensch meistens so groß empfindet, daß er ihn gar nicht mit seiner Persönlichkeit erreichen kann, daß er sich gar nicht mit seiner un­mittelbaren Persönlichkeit an diesen Ernst heranwagt. Daher stellt er ein Pult vor sich hin; da legt er sich das Manuskript darauf, und da liest er dann, oder eigentlich lesen dann, wenn es sich um eine Versammlung handelt, die Leute der Reihe nach diese ernste Wissenschaft sich vor. Das Persönliche wird nicht objektiv. Der Ernst wirkt so stark, daß man ihn aus der Persönlichkeit herauswirft

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und auf die Pulte hinlegt, ungeheuer ernst. Und diesen Ernst sieht man auf allen Gesichtern in solchen Versammlungen. Nur allerdings kommen einem die Gesichter wie die Spiegelbilder der Puite vor, aber die sind recht ernst. Nun, bei dieser Naturforscher­Versammlung, von der ich spreche, wandte sich nun auch, ich weiß schon nicht wer, wahrscheinlich der amtierende Sekretär an ein Dichterkollegium der Zeitgenossenschaft. Die sollten dann aus ihrer dichterischen Kunst heraus die Dichtungen formen, die man während des Festmales dieser Naturforscher-Versammlung so zwi­schen den einzelnen Gängen loslassen wollte. Nun waren die Her­ren, vielleicht waren auch schon Damen dabei, von ihrer ernsten Naturforscher-Versammlung weggegangen, und später zwischen den einzelnen Gängen wurde nun die ganze Geschichte vorge­bracht, lauter Spottgedichte immer jedes einzelnen auf eine ein­zelne Wissenschaft! Sehen Sie, das war die mißverwandtschaftliche Beziehung zwischen Wissenschaft und Kunst. Die Herren nahmen erst erkenntnismäßig die Stellung der Zange des Maikäfers mit un­geheurer Seriosität durch oder die Chromosomen der Maikäfersamen, und dann kam zwischen Fleisch und - was weiß ich - ein Spott. gedicht auf solche Forschung. Zunächst ergingen sich die Herren in ungeheurem Ernst, nachher lachten sie. Ja, man kann nicht sagen, daß ein inneres Verhältnis da ist. Gewiß, Sie können sagen, ich sollte nicht solche Extreme aus unserer Zivilisation anführen. Aber ich kann es doch anführen, denn es ist charakteristisch. Es tritt nur in radikal extremer Weise hervor, was heute überhaupt als Beziehung zwischen dem Erkenntnismäßigen und Künstlerischen ist, nämlich gar keine. Die Herrschaften, welche die Lieder für das Tischmahl gedichtet haben, haben natürlich nichts verstanden von dem, was sich die Herren während der Naturforscher-Versammlung vorgelesen haben. Das Umgekehrte ist vielleicht nicht ganz mög­lich, zu sagen, daß auch die werten Naturforscher nichts von den Dichtungen verstanden haben. Das werden zwar die Dichter an­genommen haben. Ich glaube es ganz bestimmt, weil sie sie für sehr tief gehalten haben. Aber an solchen Dichtungen ist meistens nicht viel zu verstehen, und so kann man voraussetzen, daß selbst

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diese erlauchte Versammlung diese Dichtungen meist verstanden haben wird, wenigstens bis zu einem gewissen Grade!

Aber das ist gerade das Allerwichtigste für unsere Zeit, daß man beachtet, wie das einheitliche menschliche Geistesleben gespalten worden ist in eine Dreiheit, und wie diese Dreiheit sogar heute auseinander gefallen ist. Es ist eben die allerdringendste Notwen­digkeit vorhanden, wiederum zu der Einheit hinzuschauen. Wenn heute ein Philosoph über Einheit und Zweiheit, Monismus und Dualismus spekuliert, da wird, möchte man sagen, mit einem ziem­lich neutralen Gemüte diskutiert. Man bringt abstrakte Begriffe, mit denen man das eine behauptet, das andere behauptet. Man kann beides mit ganz gleichem Rechte beweisen. Wenn in jenen Zeiten, von denen ich Ihnen heute als so zur Kunst stehend sprach, wie ich es Ihnen skizziert habe, von Einheit und Zweiheit zum Beispiel, wie es ein Wortlaut ist in jener Zeit, oder von dem einen ohne ein zweites, und von dem einen mit einem zweiten gespro­chen worden ist, da gingen alle Seelenkräfte auf. Jener alte Streit, ob die Welt einer einheitlichen Gestaltung verdankt ist, oder ob Gutes und Böses zwei prinzipiell von einander geschiedene Mächte sind, jener Streit zwischen Monismus und Dualismus war in alten Zeiten eine künstlerisch-religiöse Angelegenheit, die alle Kräfte der Menschenseele durcheinanderwühlte, an denen der Mensch sein Heil und seine Seligkeit hängen fühlte. An dasjenige, worüber heute der Mensch ganz gleichgültig spricht, fühlte er einstmals sein Heil und seine Seligkeit geknüpft. Aber ohne daß in unsere Zeit wiederum ein Hauch von jener künstletisch-religiös-erkennt­nismäßigen Seelenstimmung hereinkommt, die einmal vorhanden war, erreichen wir nicht einen wirklichen Impuls zum Künstleri­schen hin, nicht zum wahrhaft großen Künstlerischen hin!

Aber noch etwas fühlten jene Zeiten. Sehen Sie, man sprach vom Somatrank, von demjenigen, was man als das Sonnenlicht wußte, das von dem silbernen Mondenbecher aufgefangen wird, mit dem der Mensch sich seelisch durchdringt, um die Geheimnisse des Kos mos durch den Somatrank zu verstehen. Man sprach von diesem Somatrank, und man wußte, da hat man eine unmittelbare Seelengemeinschaft

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mit dem Kosmos. Da erlebt die Seele auf der Erde, aber sie erlebt zu gleicher Zeit im Kosmos, ist zu gleicher Zeit im Kosmos darinnen, wenn sie solches erlebt. Und deshalb fühlte man: Ja, die Götter offenbaren sich durch die Sterne, durch die Fixsterne, die in Ruhe verharren, durch die Planeten, die sich be-wegen. Durch die Abbilder, die auf der Erde von Fixsterngestal­tungen und Planetenbewegungen sich bilden, erlebt die Seele ein Kosmisches. Wenn sie den Somatrank trinkt, das Opfer kultisch­künstlerisch-erkenntnismäßig verrichtet, gibt die Seele den Göttern mit dem hinaufströmenden Opferrauch, dem sie das religiös-künst­lerisch-dichterische Wort anvertraut, wieder zurück, was die Götter brauchen, um die Welt weiterzugestalten. Denn der Mensch ist von den Göttern nicht umsonst geschaffen, sondern er ist da auf der Erde, damit dasjenige, was nur in iltm fertig bereitet werden kann, wiederum von den Göttern zur weiteren Weltenbildung zurück­genommen werden kann. Ja, der Mensch ist auf der Erde, weil die Götter den Menschen brauchen, daß in ihm gedacht, gefühlt, ge­wollt werde, was im Kosmos lebt. Dann, wenn der Mensch in der richtigen Weise denkt, fühlt und will dasjenige, was im Kosmos lebt, nehmen das die Götter wiederum hinaijf und pflanzen es wei­ter der Weltengestaltung ein, so daß der Mensch an dem ganzen Kosmos mitbaut, wenn er im Opfer und in der Kunst wiederum zurückgibt, was die Götter ihm sich offenbarend durch Sternen-welten bieten. So steht der Mensch in Beziehung zum Welten-gange, indem er seelenverwandtschaftlich diesen Weltengang er­lebt.

Durchdringt man sich mit dieser Anschauung des Menschen von der Seelenverwandtschaft des Menschen mit dem göttlich-geistigen-physischen Weltengange, dann kann man allerdings diese Anschau­ung auch auf die Gegenwart anwenden. Ja, dann schauen wir uns die heutige Erkenntnis an, welche nur dasjenige ergr ünden will, was auf der Erde ist, und selbst die Himmelschemie nur nach der Erde richtet, die Berechnungen der Sterne bloß nach den Rech­nungsoperationen anstellt, die man auf der Erde erkennen gelernt hat. Diese Erkenntnis, die heute als die wahrhaft wissenschaftliche

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gilt, ist wertvoll nur für den Gang der Erde selber. Sie hört auf, eine Bedeutung zu haben in dem Maße, als sich die Erde weiter zu Jupiter, Venus und Vulkan hinüberbilden soll. Was man heute Wissenschaft nennt, hat nur eine irdische Bedeutung, ist nur da, damit der Mensch auf der Erde frei werden könne, aber die Götter können es nicht zur kosmischen Weiterbildung der Welt brauchen.

Wir sind bei der äußersten Abstraktion, bei dem Leichnam der Geisteswelt in unseren abstrakten Gedanken angekommen. Das­jenige, was wissenschaftlich ausgeführt wird, hat nur für die Erde Bedeutung, wirkt auf die Erde als Gedankenmäßiges, wird zertrüm­mert, begraben, lebt nicht weiter. Und man muß sagen, wenn die Großmutter des Dichters Adalbert Stifter, Ursula Karin, zu dem jungen Stifter etwas über die Abendröte gesagt hat, so gehörte das intensiver zu dem Kosmos, als das was heute erkenntnismäßig über die Abendröte in Büchern wissenschaftlicher Art gelesen werden kann. Nehmen Sie all das zusammen, was in wissenschaftlichen Büchern heute von den Strahlen der Sonne gesagt wird, die sich so und so in den Wolken benehmen sollen, um die Abendröte hervor­zubringen, nehmen Sie all das, was da an Naturgesetzen beschrie­ben wird, zusammen, so hat es nur eine irdische Bedeutung. Die Götter schöpfen es nicht wieder von der Erde, um es im Kosmos zu verwenden. Adalbert Stifters Großmutter sagte zu dem Knaben:

Kind, was ist die Abendröte? Kind, wenn die Abendröte erscheint, dann hängt die Gottesmutter ihre Kleider heraus, denn sie hat viele solche Kleider, um sie allabendlich auszuhängen am Himmels-gewölbe.

Die Großmutter Adalbert Stifters unterrichtete den Knaben da­von, daß die ausgehängten Kleider der Gottesmutter die Abendröte sind. Das ist eine Rede, aus der Götter für die weitere Fortbildung der Welt schöpfen können. Die heutige Wissenschaft sucht so ge­nau wie möglich dasjenige in Begriffe zu fassen, was jetzt ist. Aber das soll niemals Zukunft werden, das ist Gegenwart. Adalbert Stifters Großmutter, die noch viel von dem bewahrte, was in den alten Seelen lebte, sagte etwas, worüber selbstverständlich der Wis­senschafter der Gegenwart nur ein Lächeln hat. Er wird es vielleicht

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schön finden, aber er weiß nichts davon, daß es für den Kos­mos eine größere Bedeutung hat als alle seine Wissenschaft, wenn die Großmutter von Adalbert Stifter das Kind so unterwies, daß die Abendröte die ausgehängten Kleider der Gottesmutter sind. Denn das schöpfen die geistig-göttlichen Mächte, um damit die Gegenwart des Kosmos in die Zukunft hinein weiterzubilden. Und aus dem, was in dieser Weise brauchbar ist, was nicht aus Zeit und Raum heraus Vorstellungen schafft, sondern was ewig-tätige Vor­stellungen schafft, ist alle wirkliche Kunst entstanden. Geradeso, wie sich zur trockenen materialistischen Anschauung diese Aus-sage von Adalbert Stifters Großmutter verhält, die ihn zum Dich­ter gemacht hat, geradeso verhält sich das, was Raffael in der Sixtinischen Madonna über den Augenblick hinaus geschaffen hat, indem er den Augenblick als Ewiges erfaßt hat, zu dem, was wir sehen, wenn wir auf dem physischen Erdenrund die Mutter mit dem Kinde dasitzen sehen.

Das wollte ich Ihnen noch sagen, um zu den vorigen Betrach­tungen hinzuzufügen, was diese Betrachtung vielleicht noch ein wenig vertiefen konnte.

SECHSTER VORTRAG Dornach, 9. Juni 1923

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SECHSTER VORTRAG

Dornach, 9. Juni 1923

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Heute möchte ich noch einiges zu den Vorträgen hinzufügen, die ich in den letzten Tagen hier gehalten habe. In früheren Vorträgen habe ich des öfteren von einem Genius der Sprache gesprochen. Und Sie wissen schon aus meinem Buche «Theosophie », wie dann, wenn im anthroposophischen Zusammenhange von geistiger We­senheit gesprochen wird, wirkliche geistige Wesenheit gemeint ist, wie also auch in dem, was mit dem Genius der Sprachen bezeich­net wird, eine wirkliche geistige Wesenheit für die einzelnen Spra­chen gemeint ist, in die der Mensch sich hineinlebt, und die ihm gewissermaßen aus geistigen Welten die Kraft gibt, seine Gedan­ken, die zunächst als tote Erbschaft der geistigen Welt in ihm als Erdenwesen vorhanden sind, auszudrücken. Deshalb wird es gerade im anthroposophischen Zusammenhange ganz angemessen sein, in dem, was als Gestaltungen in der Sprache auftritt, einen Sinn zu suchen, der in einem gewissen Grade sogar vom Menschen un­abhängig aus geistigen Welten herkommt.

Nun habe ich auch darauf schon aufmerksam gemacht, in welch eigentümlicher Weise wir das eigentliche Element des Künstleri­schen, des Schönen, und sein Gegenteil bezeichnen. Wir sprechen von dem Schönen und sprechen von seinem Gegenteil in den ein­zelnen Sprachen, von dem Häßlichen. Würden wir das Schöne in ganz entsprechender Weise bezeichnen wie das Häßliche, so müß­ten wir, da das Gegenteil von Haß die Liebe ist, nicht vom Schönen sprechen, sondern etwa vom Lieblichen. Wir müßten dann sagen das Liebliche, das Häßliche. Wir sprechen aber von dem Schönen und von dem Häßlichen und machen aus dem Sprachgenius her­aus einen bedeutsamen Unterschied, indem wir das eine und sein Gegenteil in dieser Weise bezeichnen. Das Schöne, wenn wir es zunächst in der deutschen Sprache nehmen - für andere Sprachen müßte ein ähnliches aufgesucht werden -, ist als Wort verwandt

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mit dem Scheinenden. Dasjenige, was schön ist, scheint, das heißt trägt sein Inneres an die Oberfläche. Das ist ja das Wesen des Schö­nen, daß es sich nicht verbirgt, sondern daß es sein Inneres an die Oberfläche, an die äußere Gestaltung trägt. So daß schön dasjenige ist, was sein Inneres in seiner äußeren Gestaltung zur Offenbarung bringt, das Scheinende, dasjenige, was Schein ausstrahlt, so daß der Schein das in die Welt Ausstrahlende, das Wesen offenbart Wür­den wir in diesem Sinne von dem Gegenteil des Schönen sprechen wollen, so müssen wir sagen das sich Verbergende, das Nichtschei­nende, dasjenige, was sein Wesen zurückhält und in seiner äußeren Hülle nicht nach außen offenbart, was es ist. Wenn wir vom Schö­nen sprechen, bezeichnen wir also etwas objektiv. Würden wir ebenso objektiv von dem Gegenteil des Schönen sprechen, so wür­den wir es mit einem Worte bezeichnen müssen, welches das sich Verbergende, das nach außen anders Aussehende, als es ist, heißen würde. Aber da gehen wir von dem Objektiven ab, gehen an das Subjektive heran und bezeichnen dann unser Verhältnis zu dem, was sich verbirgt, und finden, das, was sich verbirgt, können wir nicht lieben, müssen es hassen. Dasjenige also, was uns ein anderes Antlitz zeigt, als es ist, ist das Gegenteil des Schönen. Aber wir bezeichnen es sozusagen nicht aus demselben Untergrund unseres Wesens heraus, wir bezeichnen es aus unserer Emotion heraus als das, was uns hassenswert ist, weil es sich verbirgt, weil es sich nicht offenbart

Wenn wir also auf die Sprache hinlauschen, dann kann uns ge­rade der Sprachgenius sich offenbaren. Und wir müssen uns fra­gen: Was streben wir denn eigentlich an, wenn wir durch die Kunst das Schöne, im weitesten Sinne natürlich, anstreben? Was streben wir da eigentlich an? Schon in der Tatsache, daß wir aus dem Sprachgenius heraus für das Schöne ein Wort wählen müssen, das aus uns herausgeht - für das Gegenteil gehen wir nicht aus uns heraus, bleiben wir in uns, bleiben bei unseren Emotionen, beim Hassen -, schon darin, daß wir aus uns herausgehen müssen, zei­gen wir an, daß im Schönen eine Beziehung zum außer uns befind­lichen Geistigen ist Denn was scheint denn? Dasjenige, was wir

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mit den Sinnen sehen, braucht uns nicht zu scheinen, das ist da. Das, was uns scheint, was also im Sinnlichen ausstrahlt, sein Wesen im Sinnlichen ankündigt, ist das Geistige. Wir fassen also, indem wir von dem Schönen als Schönem objektiv sprechen, das künst­lerisch Schöne von vornherein als ein Geistiges, das sich durch die Kunst in der Welt darlebt, offenbart Es obliegt einmal der Kunst, das Scheinende zu erfassen, die Ausstrahlung, die Offenbarung des­sen, was als Geist die Welt durchwebt und durchlebt Und alle wirkliche Kunst sucht das Geistige. Selbst wenn die Kunst, wie es auch sein kann, das Häßliche, das Widerwärtige darstellen will, so will sie nicht das Sinnlich-Widerwärtige darstellen, sondern das Geistige, das in dem Sinnlich-Widerwärtigen sein Wesen ankün­digt. Es kann das Häßliche schön werden, wenn das Geistige sich im Häßlichen scheinend offenbart Aber es muß eben so sein, es muß die Beziehung zum Geistigen immer da sein, wenn ein Künst­lerisches schön wirken soll.

Nun, sehen Sie, betrachten wir von diesem Gesichtspunkte aus­gehend einmal eine Einzelkunst, sagen wir die MalereL Wir haben sie in den letzten Tagen betrachtet, insoferne die Malerei das Geistig-Wesenhafte durch die erfaßte Farbe, also durch das Schei­nen in der Farbe offenbart. Man kann sagen, in jenen Zeiten, in denen man eine wirkliche innere Erkenntnis von dem Farbigen gehabt hat, hat man sich auch in der richtigen Art dem Sprach-genius überlassen, um das Farbige in die weltliche Beziehung zu setzen. Wenn Sie in alte Zeiten zurückgehen, in denen es ein in­stinktives Hellsehen von diesen Dingen gegeben hat, da werden Sie zum Beispiel Metalle finden, die so empfunden wurden, daß sie ihr inneres Wesen in ihrer Farbe offenbaren, aber nicht nach Irdi­schem benannt wurden. Zwischen den Benennungen der Metalle und den Planeten ist ein Zusammenhang, weil man sich, wenn ich es so ausdrücken darf, geschämt hätte, das, was sich durch die Farbe ausdrückt, nur als ein Irdisches zu bezeichnen. Die Farbe betrach­tete man in dem Sinne als ein Göttlich-Geistiges, das den irdischen Dingen nur verliehen ist in dem Sinne, in dem ich das vor einigen Tagen hier auseinandergesetzt habe. Wenn man das Gold in der

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Goldfarbe empfand, dann sah man in dem Golde nicht allein ein Irdisches, sondern man sah in der Goldfarbe die sich aus dem Kos­mos ankündende Sonne. Also ein über die Erde Hinausgehendes sah man im vorhinein, wenn man die Farbe auch an einem irdi­schen Dinge empfand. Erst indem man zu den lebendigen Dingen hinaufging, schrieb man den lebendigen Dingen ihre eigene Farbe zu, weil die lebendigen Dinge sich dem Geiste nähern, also da auch Geistiges scheinen darf. Und bei den Tieren empfand man, daß sie ihre eigenen Farben haben, weil Geistig-Seelisches in ihnen un­mittelbar erscheint.

Nun können Sie aber in ältere Zeiten zurückgehen, in denen man nicht äußerlich, sondern innerlich künstlerisch empfunden hat. Sehen Sie, man kommt da überhaupt zu keiner Malerei. Nicht wahr, einen Baum grün anzustreichen, einen Baum zu malen, - es ist fast dumm, wenn man sagt, einen Baum malen. Einen Baum malen und grün anstreichen, das ist doch keine Malerei, denn es ist schon aus dem Grunde keine Malerei, weil - was man auch im Nachahmen der Natur vollbringt - schöner, wesenhafter doch die Natur immer ist. Lebensvoller ist doch immer die Natur. Es ist gar keine Veranlassung, dasjenige nachzuahmen, was draußen in der Natur ist. Aber das tut auch der wirkliche Maler nicht. Der wirk­liche Maler benützt den Gegenstand dazu, um - sagen wir, die Sonne darauf scheinen zu lassen, oder um irgendeinen Farbenreflex aus der Umgebung zu beobachten, um das Ineinanderweben und 4eben von Hell-Dunkel über einem Gegenstande aufzufangen. Es gibt also der Gegenstand, den man malt, eigentlich immer nur die Veranlassung dazu. Man malt natürlich niemals, sagen wir, eine Blume, die vor dem Fenster steht, sondern man malt das Licht, das zum Fenster hereinscheint und das man so sieht, wie man es durch die Blume sieht. Man malt also eigentlich das gefärbte Licht der Sonne. Das fängt man auf. Und die Blume ist nur die Veranlassung zum Auffangen dieses Lichtes.

Wenn man an den Menschen herangeht, kann man das sogar noch geistiger. Die menschliche Stirne zu machen und sie anzu­streichen wie eine menschliche Stirne, wie man glaubt, daß man

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eme menschliche Stirne sieht, ist eigentlich Unsinn, ist keine Ma­lerei. Aber wie eine menschliche Stirne den so und so einfallenden Sonnenstrahlen sich aussetzt, wie da im Glanzlicht ein buntes Licht erscheint, wie da das Hell-Dunkel spielt, also alles das, wozu der Gegenstand die Veranlassung gibt, das mit Farbe und Pinsel auf­zufangen, das ist die Aufgabe des Malenden, das, was im Augen­blicke vorübergeht, und das man nun in Beziehung zu einem Gei­stigen zu setzen hat.

Wenn man malerisches Empfinden hat, so ist es einem, sagen wir, wenn man ein Interieur sieht, durchaus nicht darum zu tun, den Menschen, der etwa vor einem Altar kniet, anzuschauen. Ich habe einmal mit jemandem eine Ausstellung besucht. Da haben wir einen Menschen gesehen, der vor einem Altar kniete. Man sah ihn von hinten. Der Maler hatte sich die Aufgabe gestellt, bei einem Fenster hereindringendes Sonnenlicht gerade so aufzufangen, wie es sich auf dem Rücken des Menschen ausnimmt. Ja, der Mann, der mit mir ging, das Bild anzuschauen, sagte: Mir wäre es lieber, wenn man den Menschen von vorne sehen würde! - Ja, nicht wahr, da ist nur stoffliches, da ist nicht künstlerisches Interesse. Er wollte, dass der Maler ausdrückte, was das für ein Mensch ist und so weiter. Aber dazu hat man nur eine Berechtigung, wenn man dasjenige ausdrücken will, was sich durch die Farbe wahrnehmen läßt. Wenn ich einen Menschen auf einem Krankenbette darstellen will, in einer bestimmten Krankheit, und ich studiere die Gesichts-farbe, um nun das Scheinen der Krankheit durch das Sinnliche zu erfassen, so kann das künstlerisch sein. Wenn ich auch darstellen will, sagen wir, in Totalität, inwiefern der ganze Kosmos im menschlichen Inkarnat, in der menschlichen Fleischfarbe zur Dar­stellung, zur Offenbarung kommt, kann das auch künstlerisch sein. Wenn ich aber den Herrn Lehmann nachmache, wie er da vor mir sitzt - erstens gelingt mir das nicht, nicht wahr, und zweitens ist es keine künstlerische Aufgabe, sondern künstlerisch ist, wie ihn die Sonne bescheint, wie das Licht abgelenkt wird dadurch, daß er buschige Augenbrauen hat. Also auf das kommt es an, wie die ganze Welt auf das Wesen wirkt, das ich male. Und das Mittel,

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wodurch ich das erreiche, ist Hell-Dunkel, ist die Farbe, ist das Festhalten von einem Augenblick, der eigentlich vorübergeht, und den zu fixieren ich mir in der gestern geschilderten Weise die Be­rechtigung hole.

Solche Dinge hat man in denjenigen Zeiten, die gar nicht so weit von den unsrigen zurückliegen, durchaus empfunden, indem man sich gar nicht vorstellen konnte, daß man eine Maria, eine Gottesmutter ohne verklärtes Gesicht darstellt, das heißt ohne ein Gesicht, das durch das Licht überwältigt wird und das aus der gewöhnlichen Menschenverfassung durch die Überwältigung des Lichtes herauskommt. Man konnte sie nicht anders vorstellen als in einem roten Gewande und im blauen Mantel, weil nur dadurch die Gottesmutter in der richtigen Weise in das irdische Leben hineingestellt wird, in dem roten Gewande mit allem Emotionellen des Irdischen, im blauen Mantel das Seelische, das sie mit dem Gei­stigen umwebt, und in dem verklärten Gesichte das Durchgeistigte, das von dem Lichte als der Offenbarung des Geistes überwältigt wird. Aber das faßt man nicht richtig künstlerisch, solange man es nur noch so fühlt, wie ich es jetzt ausgesprochen habe. Ich habe es jetzt gewissermaßen in das Unkünstlerische übersetzt. Künst­lerisch fühlt man es erst in dem Augenblicke, wo man aus dem Rot heraus und aus dem Blau heraus und aus dem Lichtmäßigen heraus, indem man das Licht in seinem Verhältnis zu den Farben und zu der Dunkelheit als eine Welt für sich erlebt, schafft, so daß man eigentlich also nichts anderes mehr hat als die Farbe, und die Farbe einem so viel sagt, daß man aus der Farbe und dem Hell-Dunkel herausholen kann die Jungfrau Maria.

Dann allerdings muß man mit der Farbe zu leben wissen, muß einem die Farbe etwas sein, womit man lebt. Es muß einem die Farbe etwas sein, was sich von dem schwer Materiellen emanzipiert hat. Denn das schwer Materielle widerstrebt eigentlich der Farbe, wenn man sie künstlerisch gebrauchen will. Daher widerstrebt es der ganzen Malerei, mit Palettfarben zu malen. Die werden immer so, daß sie noch eine Schwere zeigen, wenn man sie an die Fläche gebracht hat. Auch kann man mit der Palettfarbe nicht leben. Man

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kann nur mit der flüssigen Farbe leben. Und in dem Leben, das sich zwischen dem Menschen und der Farbe entwickelt, wenn er die Farbe flüssig hat, und in jenem eigentümlichen Verhältnis, das er hat, wenn er die flüssige Farbe nun auf die Fläche bringt, da ent­wickelt sich ein Farbenleben, da erfaßt man tatsächlich aus dem Farbigen heraus, da wird die Welt aus der Farbe. Erst dann entsteht das Malerische, wenn man in der Farbe das Scheinen, das Hin-sich-Offenbaren, das Hinstrahlende als ein Lebendiges erfaßt, und aus dem hinstrahlenden Lebendigen nun eigentlich erst das auf der Fläche zu Gestaltende herausschafft. Es wird schon von selber eine Welt daraus. Denn, verstehen Sie die Farbe, dann verstehen Sie ein Ingrediens der ganzen Welt.

Sehen Sie, Kant hat einmal gesagt: Gebt mir Materie, und ich will euch eine Welt daraus schaffen. - Nun, Sie hätten sie ihm lange geben können, die Materie, Sie können ganz sicher sein, er hätte keine Welt daraus gemacht, denn aus der Materie läßt sich keine Welt schaffen. Aber mehr schon läßt sich eine Welt schaffen aus dem wogenden Werkzeuge der Farben. Da läßt sich schon eine Welt schaffen, weil jede Farbe ihr unmittelbares, ich möchte sagen persönlich-verwandtschaftliches Verhältnis zu irgendeinem Geisti­gen der Welt hat. Und heute ist uns eigentlich, mit Ausnahme der primitiven Anfänge, die im Impressionismus und so weiter und namentlich im Expressionismus gemacht werden, die aber eben An­fänge sind, überhaupt der Begriff des Malens, die Tätigkeit des Malens mehr oder weniger gegenüber dem allgemeinen Materia­lismus der Zeit verloren gegangen. Denn meistens malt man heute nicht, sondern man ahmt Gestalten durch eine Art Zeichnung nach und streicht dann die Fläche an. Aber das sind angestrichene Flä­chen, das ist nicht gemalt, das ist nicht aus dem Farbigen und aus dem Hell-Dunkel heraus geboren.

Man darf allerdings die Dinge nicht mißverstehen. Wenn einer wild wird und einfach die Farben nebeneinander bastelt und glaubt, er trifft dasjenige, was ich genannt habe, die Zeichnung überwin­den, dann trifft er ganz und gar nicht das, was ich gemeint habe. Denn ich meine nicht mit dem Überwinden der Zeichnung, keine

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Zeichnung haben, sondern die Zeichnung aus der Farbe heraus­holen, sie herausgebären aus der Farbe. Und die Farbe gibt schon die Zeichnung, man muß nur in der Farbe zu leben wissen. Dieses Leben im Farbigen führt dann den wirklichen Künstler dazu, ganz absehen zu können von der übrigen Welt und seine Kunstwerke aus dem Farbigen heraus zu gebären.

Sie können zum Beispiel zurückgehen, sagen wir, zu Tizians . Da haben Sie ein Kunstwerk, das, ich möchte sagen im Überschnappen des alten Kunstprinzips besteht. Da ist nicht mehr jenes lebendige Erleben der Farbe vorhanden, das man bei Raffael, namentlich aber bei Lionardo noch hat, da ist aber noch eine Art Tradition vorhanden, daß man nicht gar zu stark aus diesem Leben in der Farbe herauswächst. Erleben Sie ein­mal diese «Himmelfahrt Mariä» von Tizian. Wenn Sie sie sich anschauen, so können Sie sagen, da schreit das Grün, da schreit das Rot, das Blau. Ja, aber dann sehen Sie das einzelne an. Wenn Sie das Zusammensprechen, möchte ich sagen, der einzelnen Farben selbst bei Tizian nehmen, so haben Sie noch eine Empfindung da­von, wie er in dem Farbigen lebte und wie er wirklich in diesem Falle alle drei Welten aus dem Farbigen heraus bekommt. Sehen Sie sich nur die wunderbare Stufenfolge der drei Welten an. Unten die Apostel, die das Ereignis der Himmelfahrt Mariä erleben. Sehen Sie sich an, wie er sie aus der Farbe herausschafft. Man sieht in den Farben, wie sie an die Erde gefesselt sind, aber man empfindet keine Schwere der Farben, sondern man empfindet nur das Dunkle der Farben an dem unteren Teile des Tizianschen Bildes, und im Dunkel erlebt man das an die Erde Gefesseltsein der Apostel. In der ganzen Farbenbehandlung der Maria erlebt man das Zwischen-reich. Sie hängt noch nach unten mit der Erde zusammen. Sehen Sie auf dem Bilde einmal nach, wenn Sie Gelegenheit dazu haben, wie sich das dumpf Dunkle von unten hineinlebt als Farbe in die Färbung der Maria, und wie dann das Licht überwiegt, wie das oberste, das dritte Reich schon im vollen Lichte empfängt, möchte ich sagen, das Haupt der Maria, mit vollem Lichte überglänzend, hinaufhebend das Haupt, währenddem Füße und Beine noch nach

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unten durch die Farbe gefesselt sind. Sehen Sie sich an, wie unteres Reich, Zwischenreich und himmlisches Höhenreich, dieser Emp­fang der Maria durch Gott Vater, im inneren Erleben der Farbe wirklich abgestuft ist. Sie können sich sagen, um dieses Bild zu verstehen, muß man eigentlich alles andere vergessen und nur auf die Farbe hin die ganze Sache anschauen, denn aus der Farbe her­aus ist hier die Dreistufigkeit der Welt geholt, nicht gedanklich, nicht intellektualistisch, sondern ganz künstlerisch. Und man kann sagen: Es ist wirklich so, daß zum Malerischen es notwendig ist, diese Welt des strahlenden Scheines, des sich strahlenden Offen­barens in Hell-Durikel und in der Farbe zu erfassen, um auf der einen Seite dasjenige abzuheben, was irdisch-materiell ist, um das Künstlerische von diesem Irdisch-Materiellen abzuheben und doch es wiederum nicht zum Geistigen hinaufkommen zu lassen. Denn würde man es zum Geistigen hinaufkommen lassen, wäre es nicht mehr Schein, dann wäre es Weisheit. Aber die Weisheit ist nicht mehr künstlerisch, die Weisheit hebt es schon hinauf in das unge­staltete Reich des Göttlichen.

Man möchte deshalb sagen: Beim wirklichen Künstler, der so etwas darstellt wie Tizian in seiner , hat man oben, wenn man dieses Empfangen der Maria, besser noch gesagt, des Hauptes der Maria durch den Gott Vater ansieht, das Gefühl, jetzt dürfte man da nicht mehr weitergehen im Behandeln des Lichtes. Gerade hart an der Kippe ist das. In dem Augenblicke, wo man anfängt weiterzugehen, verfällt man in das Intellektuali­stische, das heißt in das Unkünstlerische. Da darf man nicht mehr irgendwie einen Strich noch, möchte ich sagen, hinaus machen über dasjenige, was nur im Lichte, nicht in der Kontur angedeutet ist. Denn im Augenblicke, wo man zu stark in die Kontur hineingeht, wird es intellektualistisch, das heißt unkünstlerisch. Nach oben wird das Bild in der Tat so, daß es in der Gefahr schwebt, unkünst­lerisch zu sein. Die Maler nach Tizian sind auch gleich dieser Ge­fahr verfallen. Sehen Sie sich noch bis zu Tizian hin die Engel an. Nicht wahr, wenn wir da in die himmlische Region hinaufkom­men, kommen wir zu den Engeln. Sehen Sie sich an, wie da sorgfältig

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verhütet ist, aus der Farbe herauszugehen. Da können Sie immer noch zu den Engeln sagen in der Vor-Tizianischen Zeit, auch in gewissem Sinne bei Tizian, wenn Sie wollen: Könnten dies nicht auch Wolken sein? - Wenn Sie das nämlich nicht können, wenn Sie nicht können zwischen diesem Sein und Schein wenig. stens noch im Unklaren sein, wenn Sie schon ganz ins Sein hinein­kommen, ins Sein des Geistigen, dann hört es auf künstlerisch zu sein.

Kommen Sie ins siebzehnte Jahrhundert herüber, so wird das gleich anders. Da wirkt schon der Materialismus selbst in die Dar­stellung des Geistigen hinein. Da sehen Sie schon alle die, ich möchte sagen, mit einer gewissen nicht künstlerischen, sondern routinierten Verve in allen möglichen Verkürzungen hingemalten Engel, zu denen Sie nicht mehr sagen können: Könnten das nicht auch Wolken sein? - Ja, da wirkt schon das Nachdenken, da hört das Künstlerische schon auf.

Und wiederum, schauen Sie sich unten die Apostel an, dann haben Sie schon das Gefühl, eigentlich künstlerisch ist auf der «Himmelfahrt Mariä» nur die Maria. Oben beginnt die Gefahr, daß es übergeht in das rein Weisheitsvolle, das Gestaltlose. Erringt man wirklich dieses, daß man das Gestaltlose noch hält, daß es auch gestaltlos ist, so wird das gerade, ich möchte sagen, nach der einen Seite, nach dem einen Pol die Vollendung des Künstlerischen, weil es ein kühn Künstlerisches ist, weil man sich vorwagt bis zum Abgrund, wo die Kunst aufhört, wo man die Farben verschwim­men läßt vom Lichte, wo man, wenn man weitergehen wollte, nur anfangen könnte zu zeichnen. Aber zeichnen ist nicht malen. Also da nach oben nähert man sich dem Weisheitsvollen. Und man ist ein um so größerer Künstler, je mehr man das Weisheitsvolle noch hereinbekommt in das Sinnliche, je mehr man, wenn ich mich wiederum konkret ausdrücken will, die Möglichkeit hat, daß die Engel, die man malt, dennoch auch als geballte Wolken angespro­chen werden können, die so und so im Lichte schimmern und der­gleichen.

Geht man aber von dem Unteren des Bildes durch das eigentlich

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Schöne, die Maria selbst, die nun wirklich hinaufschwebt ins Weis­heitsgebiet hinein, so ist Tizian in der Lage, sie schön zu gestalten, weil sie noch nicht angekommen ist, sondern eben erst hinauf­schwebt. Da erscheint all das so, daß man das Gefühl hat, wenn sie noch ein bißchen sich hinaufschwingt, dann muß sie in die Weisheit hinein. Da hat die Kunst nichts mehr zu sagen. Aber wenn wir etwas weiter hinuntergehen, kommen wir zu den Apo­steln, und bei den Aposteln sagte ich Ihnen: Der Künstler sucht durch die Farbengebung das Erdengefesselte der Apostel darzustel­len. - Aber da kommt er in die andere Gefahr hinein. Würde er seine Ma?ia noch weiter herunten haben, so könnte er sie nicht in der sich innerlich selber tragenden Schönheit darstellen. Denn wenn die Maria etwa da unten wäre - man würde den Zweck nicht einsehen -, unter den Aposteln sitzen würde, ja, da könnte sie nicht so ausschauen, wie sie in der Mitte zwischen Himmel und Erde ausschaut. So könnte sie gar nicht ausschauen. Denn sehen Sie, unten stehen die Apostel in ihrer bräunlichen Färbung, da paßt die Maria nicht hinein. Denn wir können eigentlich nicht stehen blei­ben dabei, daß unten die Apostel Erdenschwere in sich haben. Es muß etwas anderes eintreten. Da beginnt auch stark das Element des Zeichnens einzugreifen. Das können Sie gerade auf dem charak­terisierten Bilde bei Tizian sehen, es beginnt stark das Zeichnen einzugreifen. Warum denn?

Ja, man kann in dem Braun, was also schon aus der Farbe eigentlich herausgeht, das Schöne nicht mehr so darstellen wie an der Maria, da muß etwas, was nicht mehr ganz ins Schöne hinein-fällt, dargestellt werden. Und es muß schön sein dadurch, daß etwas anderes, als was eigentlich schön ist, sich offenbart. Sehen Sie, säße die Maria da unten oder stünde die Maria unter diesen Aposteln in derselben Färbung, dann würde das eigentlich belei­digend sein. Schrecklich beleidigend wäre das. Ich rede jetzt nur von diesem Bilde, ich sage nicht, daß überall die Maria, wenn sie auf der Erde steht, künstlerisch beleidigend sein muß, aber auf diesem Bilde wäre es ein Faustschlag ins Gesicht für denjenigen, der das künstlerisch anschaute, wenn da unten die Maria stünde.

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Warum? Sehen Sie, stünde sie da unten in der Färbung der Apostel, so müßte man nämlich sagen, die Maria wurde von dem Künstler dargestellt als tugendhaft. So stellt er in der Tat die Apostel dar. Wir können gar keine andere Vorstellung haben, als daß die Apo­stel in ihrer Tugendhaftigkeit hinaufschauen. Aber das dürfen wir von der Maria nicht sagen. Bei der ist das so selbstverständlich, daß wir nicht ihre Tugend ausdrücken dürfen. Es wäre gerade so, wie wenn wir Gott tugendhaft darstellen wollten. Wo etwas selbstver­ständlich ist, wo es etwas wird, was das Sein selber ist, da darf es nicht bloß im äußeren Scheine dargestellt werden. Deshalb muß die Maria entschweben, muß in einer Region sein, wo sie über das Tugendhafte erhaben ist, wo man in dem, was da in der Farbe er­scheint, von ihr nicht sagen kann, sie ist tugendhaft, so wenig man von dem Gotte selber sagen dürfte, er sei tugendhaft. Er kann höch­stens selber die Tugend sein. Aber das ist schon ein abstrakter Satz, das geht schon in die Philosophie. Das hat mit der Kunst nichts zu tun. Aber bei den Aposteln unten ist es so, daß wir sagen müs­sen: Da gelingt es dem Künstler, durch die Farbenbehandlung selbst in den Aposteln die tugendhaften Menschen darzustellen. Sie sind tugendhaft.

Suchen wir wiederum der Sache durch den Sprachgenius nahe zu kommen. Tugend, was heißt denn eigentlich tugendhaft sein? Tugendhaft sein, das heißt tauglich sein; denn Tugend hängt mit taugen zusammen. Taugend, tauglich sein, zu etwas taugen, das heißt einer Sache gewachsen zu sein, eine Sache zu vermögen, eine Sache zu können, das heißt tugendhaft sein. Aber es kommt natur­lich schließlich darauf an, was man im Zusammenhange mit tugendhaft meint, wie es zum Beispiel Goethe auch dargestellt hat, der von einer Dreiheit spricht: Weisheit, Schein und Gewalt, das heißt Tugendhaftigkeit in diesem Sinne. Schein = das Schöne, Kunst. Weisheit = dasjenige, was Erkenntnis wird, gestaltlose Er­kenntnis. Tugend, Gewalt = dasjenige, was nun wirklich tauglich ist, was etwas vermag, dessen Walten etwas bedeutet.

Sehen Sie, diese Dreiheit ist von altersher so verehrt worden. Ich konnte begreifen, als ein Mann mir vor einer ziemlich großen

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Anzahl von Jahren sagte, ihm wächst schon zum Hals heraus, wenn die Leute von dem Wahren, Schönen und Guten sprechen, denn jeder, der irgendwo eine Phrase, eine idealistische Phrase sagen will, der spricht von dem Wahren, Schönen und Guten. Aber man kann auf ältere Zeiten zurückverweisen, in denen diese Dinge mit allem menschlichen Anteil, mit allem menschlichen Seelen-Inter­esse erlebt worden sind. Und dann, möchte ich sagen, sieht man, aber in der Weise des Schönen, des Künstlerischen, auf dem Tizian­schen Bilde oben die Weisheit, aber eben noch nicht nur Weisheit, sondern so, wie sie noch scheint, so daß sie noch künstlerisch ist, daß sie gemalt ist. In der Mitte die Schönheit und unten die Tu­gend, das Taugliche. Nun darf man aber das Taugliche ein wenig nach seiner inneren Wesenheit, seiner Bedeutung fragen. Wenn man diesen Dingen nachgeht, so kommt man durch den Sprach-genius auf die Tiefe der unter den Menschen schaffenden Sprach-seele. Geht man nur äußerlich zu Werke, so könnte einem etwa einfallen, wie ein Verwachsener einmal in der Kirche war und eine Predigt angehört hat, wo der Prediger in einer äußeren phrasen­haften Weise seiner Gemeinde auseinandersetzte, wie alles in der Welt gut und schön und zweckmäßig ist. Der Verwachsene wartete an der Kirchentüre, und als der Prediger herausging, fragte er ihn:

Sie haben gesagt, alles ist auf der Welt seiner Idee nach gut, bin ich auch gut gewachsen? Da sagte der Pfarrer: Für einen Ver­wachsenen bist du sehr gut gewachsen! - Nun ja, nicht wahr, wenn man in dieser Weise äußerlich die Dinge betrachtet, dann wird man nicht in die Tiefen dringen. Unsere heutige Betrachtungs­weise nämlich geht auf unzähligen Gebieten in so äußerlicher Weise vor. Die Menschen füllen sich heute ganz an mit solchen äußerlichen Charakteristiken, namentlich mit so äußerlichen Defi­nitionen, wissen gar nicht, wie sie sich im Kreise mit ihren Ideen herumdrehen.

Bei dem Tugendlichen handelt es sich nicht darum, daß wir überhaupt zu etwas taugen, sondern daß wir zu etwas Geistigem taugen, daß wir uns in die geistige Welt als Mensch hineinstellen. Der ist im richtigen Sinne der Tugendhafte, der ein ganzer Mensch

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dadurch ist, daß er das Geistige in sich zur Verwirklichung, nicht bloß zur Offenbarung, zur Verwirklichung durch den Willen bringt. Da kommt man dann aber in eine Region hinein, die zwar im Menschlichen liegt, die auch in das Religiöse hineingeht, die aber nicht mehr in dem Gebiete des Künstlerischen liegt, am wenigsten in dem Gebiete des Schönen. Alles ist in der Welt polarisch ge­staltet. Daher kann man gerade an dem Tizianschen Bilde sagen:

Nach oben setzt er sich ohne weiteres der Gefahr aus, aus dem Schönen hinauszukommen, wo er über die Maria hinausgeht. Da ist er am Abgrund der Weisheit. Nach unten ist er am anderen Ab­grund. Denn sobald wir das Tugendliche darstellen, das, was der Mensch als durch seine eigene Wesenheit aus dem Geistigen heraus verwirklichen soll, kommen wir wiederum aus dem Schönen, aus dem Künstlerischen heraus. Versuchen wir den eigentlich tugend­haften Menschen zu malen, so dürfen wir das nur dadurch tun, daß wir irgendwie die Tugend in dem äußeren Schein charakterisieren, meinetwillen in der Kontrastierung mit dem Laster. Aber die künst­lerische Darstellung der Tugend zeigt eigentlich keine Kunst mehr, in unserer Zeit ist es schon ein Herausfallen aus dem Künstleri­schen.

Aber wo ist nicht überall in unserer Zeit ein Herausfallen aus dem Künstlerischen, wenn, ich möchte sagen, einfach Lebensver­hältnisse roh naturalistisch wiedergegeben werden, ohne daß die Beziehung zu dem Geistigen wirklich da liegt. Ohne diese Bezie­hung zu dem Geistigen gibt es kein Künstlerisches. Daher ist in unserer Zeit dieses Streben im Impressionismus und Expressionis­mus, nun wiederum zum Geistigen zurückzukehren. Wenn das auch vielfach ungeschickt ist, wenn das auch vielfach ein bloßer Anfang ist, so ist es dennoch mehr als dasjenige, was unkünstlerisch mit dem Modell in einer roh naturalistischen Weise arbeitet. Und wenn Sie den Begriff des Künstlerisch-Schönen in dieser Weise fassen, dann werden Sie zum Beispiel auch das Tragische unterbringen können, das Tragische überhaupt in seinem künstlerischen Herein-greifen in die Welt fassen können.

Der Mensch, der sich nach seinen Gedanken richtet, der intellektualistisch

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sein Leben führt, kann nie tragisch werden. Und der Mensch, der ganz tugendhaft lebt, kann auch eigentlich nie tragisch werden. Tragisch werden kann der Mensch, der in irgendeiner Weise zum Dämonischen, das heißt zum Geistigen hinneigt. Es fängt eine Persönlichkeit, ein Mensch erst an tragisch zu werden, wenn das Dämonische im Guten oder im Schlimmen in irgendeiner Weise in ihm vorhanden ist. Nun stehen wir heute im Zeitalter des freiwerdenden Menschen, wo der Mensch als dämonischer Mensch eigentlich ein Anachronismus ist. Das ist der ganze Sinn des fünf­ten nachatlantischen Zeitraumes, daß der Mensch aus dem Dämo­nischen herauswächst zum freien Menschen. Aber indem der Mensch ein freier Mensch wird, hört sozusagen die Möglichkeit des Tragischen auf. Wenn Sie die alten tragischen Gestalten, selbst noch die meisten Shakespearschen tragischen Gestalten nehmen, so haben Sie das innerlich Dämonische, welches zum Tragischen führt. Da, wo der Mensch die Erscheinung eines Dämonisch-Geistigen ist, wo das Dämonisch-Geistige durch ihn strahlt, sich offenbart, wo der Mensch gewissermaßen das Medium des Dämonischen wird, ist das Tragische möglich gewesen. In diesem Sinne wird das Tra­gische mehr oder weniger aufhören müssen, denn die freigewor­dene Menschheit muß sich von dem Dämonischen losmachen. Heute tut sie das noch nicht. Sie fällt erst recht ins Dämonische hinein.

Das ist aber einmal die große Zeitaufgabe, die Zeitmission, daß die Menschen aus dem Dämonischen herauswachsen und in das Freie hineinwachsen. Aber wenn wir die inneren Dämonen als die­jenigen Gestalten, die uns zu tragischen Persönlichkeiten machen, loswerden, werden wir das Äußerlich-Dämonische um so weniger los. Denn in dem Augenblicke, wo der Mensch mit der Außenwelt in Beziehung tritt, fängt auch für den neueren Menschen etwas Dämonenartiges an. Unsere Gedanken müssen immer freier und freier werden. Und wenn, wie ich es in meiner #SE276-106

Aber dazwischen liegt das übrige Menschliche, das mit dem Karma zusammenhängt. Und ebenso wie das Dämonische einmal zum Tra­gischen geführt hat, so wird gerade beim modernen Menschen das Erleben des Karma zur tiefen innerlichsten Tragik führen können. Die Tragödie wird aber erst blühen können, wenn die Menschen das Karma erleben werden. Solange wir bei unseren Gedanken bleiben, so lange können wir frei sein. Wenn wir die Gedanken in Worte kleiden, gehören die Worte nicht mehr uns. Was kann aus einem Worte, das ich ausgesprochen habe, alles werden! Es wird von dem andern aufgenommen. Er umgibt es mit anderen Emo­tionen, mit anderen Empfindungen. Das Wort lebt weiter. Indem das Wort durch die Menschen der Gegenwart fliegt, wird es eine Gewalt, die aber vom Menschen ausgegangen ist. Das ist sein Karma, durch das er mit der Welt zusammenhängt, das sich wie­derum zurück auf ihn entladen kann. Da kann schon durch das Wort, das sein eigenes Dasein führt, weil es nicht uns angehört, weil es dem Sprachgenius angehört, das Tragische werden. Wir sehen gerade heute die Menschheit, ich möchte sagen, überall in der Anlage zu tragischen Situationen durch die Überschätzung der Sprache, durch die Überschätzung des Wortes. Die Völker gliedern sich nach den Sprachen, wollen sich gliedern nach den Sprachen. Das gibt die Grundlage zu einer Riesen-Tragik, die noch in diesem Jahrhundert über die Erde hereinbrechen wird. Das ist die Tragik des Karma. Wenn wir sprechen können von der abgelebten Tragik als einer Tragik der Dämonologie, müssen wir von der Tragik der Zukunft sprechen als von der Tragik des Karma.

Die Kunst ist ewig, ihre Formen wandeln sich. Und wenn Sie dies nehmen, daß überall eine Beziehung zum Geistigen vom Künstlerischen aus da ist, werden Sie verstehen, daß das Künst­lerische doch etwas ist, wodurch man sich sowohl schaffend wie genießend mit in die Geisteswelt hineinstellt. Wer ein wirklicher Künstler ist, kann in einsamer Wüste sein Bild schaffen. Einerlei ist es ihm, wer das Bild von Erdenmenschen anschaut, ob es über­haupt jemand anschaut, denn er hat in einer anderen Gemeinschaft geschaffen, er hat in der geist-göttlichen Gemeinschaft geschaffen.

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Götter haben ihm über die Schultern geblickt. Er hat in der Gesell­schaft von Göttern geschaffen. Was liegt dem wahren Künstler daran, ob sein Bild irgendein Mensch bewundert oder nicht. Des­halb kann man Künstler sein in voller Einsamkeit. Aber auf der anderen Seite kann man nicht Künstler sein, ohne in die Welt, die man dann auch ihrer Geistigkeit nach betrachtet, das eigene Ge­schöpf wirklich hineinzustellen, so daß es darinnen lebt. In der Geistigkeit der Welt muß es leben, das Geschöpf, das man in sie hineinstellt. Vergißt man diesen geistigen Zusammenhang, dann wandelt sich auch die Kunst, aber sie wandelt sich mehr oder weniger in Unkunst.

Sehen Sie, es läßt sich eigentlich künstlerisch nur schaffen, wenn man das Kunstwerk im Weltenzusammenhang darinnen hat. Des­sen waren sich jene alten Künstler bewußt, die zum Beispiel ihre Bilder an die Kirchenwände gemalt haben, denn da waren diese Bilder die Führer für die Gläubigen, für die Bekenner, da wußten die Künstler, das steht darinnen in dem Erdenleben, insoweit dieses Erdenleben von dem Geistigen durchsetzt ist.

Man kann sich kaum etwas Schlimmeres denken, als wenn man, statt für so etwas, nun für Ausstellungen schafft. Im Grunde ge­nommen ist es ja das Schrecklichste, durch eine Bilderausstellung zum Beispiel oder eine Skulpturausstellung zu gehen, wo alles mögliche durcheinander hängt oder nebeneinander steht, was gar nicht zusammengehört, wo es eigentlich sinnlos ist, daß das eine neben dem andern ist. Indem das Malen den Übergang gefunden hat vom Malen für die Kirche, für das Haus zum Bilde, schon da, möchte ich sagen, verliert es den richtigen Sinn. Wenn man in den Rahmen hinein etwas malt, kann man sich wenigstens noch vor­stellen, man schaut durch ein Fenster heraus, und das, was man sieht, das ist draußen, aber es ist schon nichts mehr. Aber nun gar für Ausstellungen malen! Man kann nicht weiter darüber reden. Nicht wahr, eine Zeit, die überhaupt in Ausstellungen etwas sieht, etwas Mögliches sieht, hat eben den Zusammenhang mit der Kunst verloren. Und Sie sehen einfach an dem, was alles an geistiger Kul­tur zu geschehen hat, um wiederum den Weg zum Geistig-Künstletischen

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zurückzufinden. Die Ausstellung zum Beispiel ist durch­aus zu überwinden. Gewiß, bei einzelnen Künstlern ist der Abscheu vor der Ausstellung vorhanden, aber wir leben heute in einer Zeit, wo der einzelne nicht viel vermag, wenn nicht das Urteil des ein­zelnen in eine Weltanschauung eingetaucht wird, die wiederum die Menschen so in ihrer Freiheit, in voller Freiheit durchsetzt, wie einstmals in unfreieren Zeiten Weltanschauungen die Menschen durchsetzt haben und dazu geführt haben, daß wirkliche Kulturen entstanden, während wir heute keine wirklichen Kulturen haben.

An dem Aufbau von wirklichen Kulturen und damit auch an dem Aufbau von wirklich Künstlerischem muß aber eine geistige Weltanschauung arbeiten, daran das höchste Interesse haben.

ANTHROPOSOPHIE UND KUNST ANTHROPOSOPHIE UND DICHTUNG SIEBENTER VORTRAG Kristiania, 18. Mai 1923

#G276-1961-SE111 Das Künstlerische in seiner Weltmission

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ANTHROPOSOPHIE UND KUNST

ANTHROPOSOPHIE UND DICHTUNG

SIEBENTER VORTRAG

Kristiania, 18. Mai 1923

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Es muß innerhalb der anthroposophischen Weltanschauung immer wieder betont werden, wie durch sie das Bewußtsein entsteht von der einheitlichen Quelle der Kunst, Religion und Wissenschaft. Es wird öfter innerhalb dieser anthroposophischen Weltanschauung betont, daß in älteren Zeiten der Menschheitsentwickelung es ab­gesondert Religion, Kunst und Wissenschaft gar nicht gegeben hat, sondern eine Einheit von allen dreien. Diese Einheit von allen dreien wurde in den Mysterien gepflegt. Die Mysterien waren eigentlich eine Vereinigung dessen, was man heute Schule nennt und Kirche und Kunstanstalt. Denn dasjenige, was in den Myste­rien dargeboten wurde, wurde nicht einseitig durch das Wort ge­sagt. Das Wort, das man empfand, wenn der Initlierte es sprach als Erkenntniswort, das man dann empfand wie eine Offenbarung aus dem Geiste selber heraus, hatte neben sich das Aufzeigen von Kul­tushandlungen, Weihehandlungen, die vor den Zuhörenden und Zuschauenden in mächtigen Bildern dasjenige enthüllten, was man durch das Wort verkündigen wollte.

Und so stand neben dem, was durch die irdischen Erkenntnisse verkündet wurde, die Entwickelung der religiösen Kultushandlun­gen, durch die sich abspiegelte im Bilde vor dem Auge der Zuhö­renden und Zuschauenden dasjenige, was man ahnte und vielleicht auch schaute als die Geschehnisse, die Tatsachen der übersinnlichen Welten. Religion und Erkenntnis wirkte als Einheit. Aber man hatte auch in diese Darstellung, in diese Bilddarstellung des Über-sinnlichen das Schöne hineingebracht, das Künstlerische, so daß die Kultushandlung und das Kultusbild zugleich Kunstausdruck, Kunst-Offenbarung waren. Der Mensch fühlte in den Mysterien das Künst­lerisch-Schöne. Er wurde angeregt für seinen Willen durch die religiösen Impulse, die in den Kultushandlungen gegeben wurden, und er wurde innerlich erleuchtet durch das Wort, welches die

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schöne, die künstlerische Kultushandlung begleitete. Er wurde innerlich erleuchtet für seine Erkenntnis. Ein Bewußtsein von die­ser, ich möchte sagen geschwisterlichen Einheit von Religion, Wis­senschaft und Kunst muß in jeder wahren anthroposophischen Weltbetrachtung und Weltforschung irnrner vorhanden sein. Und das ergibt sich nicht etwa bloß auf künstliche Weise, sondern es ergibt sich auf ganz selbstverständlich natürliche Weise.

Wenn man sich im Sinne der heutigen intellektualistisch-mate­rialistischen Wissenschaft der Erkenntnis hingibt, so versucht man durch Gedanken die Welt erkennend zu erfassen. Man hat zuletzt eine Summe von Gedanken, welche einem die Naturerscheinungen, die Naturwesen gedankenmäßig, vorstellungsmäßig repräsentieren. Man spricht Naturgesetze in Gedanken aus. Nun war es gerade innerhalb des letzten, des eigentlich intellektualistisch materiali­stischen Zeitalters eine Eigentümlichkeit derer, die sich der Er­kenntnis hingaben, daß sie innerlich dem künstlerischen Empfinden mehr oder weniger entfremdet wurden. Wenn man sich der heu­tigen gebräuchlichen Wissenschaft hingibt, so gibt man sich toten Gedanken hin, und man sucht auch die toten Gedanken in den Naturerscheinungen auf. Alles das, was wir als Naturgeschichte aussprechen und was wir den Stolz unserer Wissenschaft heute nennen, sind tote Gedanken, sind Gedanken, welche die Leichname sind dessen, was unsere Seele war, bevor sie aus dem überirdischen Dasein in das sinnliche heruntergestiegen ist.

Sehen Sie, meine sehr verehrten Anwesenden, wenn wir den Leichnam eines Menschen erblicken, so wissen wir aus der Form, daß er nicht durch bloße Naturgesetze, wie wir sie kennen, in diese Form gebracht worden sein kann, sondern er ist zuerst gestorben. Er war zuerst lebendig und ist gestorben und ist dadurch ein Leich­nam geworden. Der wirklich Erkennende weiß, daß seine Gedan­ken, die in ihm sind, die Leichname jener lebendigen Seelenwesen­heit sind, in der er, bevor er auf die Erde herabgestiegen ist, gelebt hat. Unsere Erdengedanken sind Leichname unseres vorirdischen Seelenlebens. Das macht die Abstraktheit der Gedanken, daß sie eben Leichname sind. Und indem in den letzten Jahrhunderten

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immer mehr und mehr diese abstrakten Gedanken geliebt wur­den - sie haben sich auch eingenistet in das ganze praktische Le­ben -, wurden die Menschen immer ähnlicher ihren abstrakten Gedanken. Insbesondere wurden die wissenschaftlich, die gelehrt Gebildeten ihren abstrakten Gedanken ähnlich mit ihrem ganzen Seelenleben, gerade mit dem höheren Seelenleben. Das aber ent­fremdet der Kunst. Je mehr man aufgeht in rein abstrakten Ge­danken, desto fremder wird man der Kunst, denn die Kunst will das Lebendige, und die Gedanken sind tot.

Der entgegengesetzte Zustand tritt für die Seele dann ein, wenn man sich wirklich in die Erkenntnis vertieft, welche die anthropo­sophische ist. Während bei der abstrakten Verstandeserkenntnis nach einer gewissen Zeit das Bedürfnis auftritt, alles nur recht logisch zu erkennen und das Künstlerische selbst logisch zu erklä­ren, tritt beim anthroposophischen Erkennen in einem bestimmten Momente das Bedürfnis ein nach Kunst. Denn dieses anthropo­sophische Erkennen, wenn es wahrhaftig ist, führt an einem gewissen Punkte dazu, daß man sich sagt: Ja, was du mit deinen Gedanken umfassest, das ist gar nicht die ganze lebendige Wirklichkeit, du brauchst noch etwas anderes. - Und so strömt man, weil das ganze Seelenleben beim anthroposophischen Erkennen lebendig bleibt, nicht durch die toten Gedanken getötet wird, hinüber in das Be­dürfnis, künstlerisch die Welt zu empfinden und künstlerisch die Welt zu erleben. Wenn man in den abstrakten toten Gedanken lebt, wird einem die Kunst doch zu einer Art Luxus, den sich die Menschen aus ihren Illusionen und Träumen heraus als eine Beigabe zum Leben bilden. Wenn man anthroposophisch erkennt, dann sagt man sich an einem Punkt: Ach, deine Gedanken sind gar nicht irgendwelche Bilder einer lebendigen Wirklichkeit, deine Gedan­ken sind so wie Gebärden. Du deutest mit deinen Gedanken nur auf die lebendige Wirklichkeit. Deine Gedanken sind tote Gebär­den. - Und an einem bestimmten Punkte fühlt man, jetzt muß man anfangen, künstlerisch zu gestalten, sonst hat man gar nicht die Wirklichkeit. Also der Anthroposoph fühlt an einem bestimm­ten Punkte seiner Erkenntnis, er muß zur Kunst übergehen. Und

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dann entsteht bei ihm wirklich die Anschauung, daß man in Ideen die Welt gar nicht voll inhaltlich geben kann, sondern daß man das Künstlerische zur Welterkenntnis überhaupt hinzufügen müsse.

Anthroposophie ist für die Seele eine wirkliche Vorbildnerin für das künstlerische Empfinden und auch das künstlerische Schaffen. Die abstrakten Gedanken ertöten die künsilerische Phantasie. Man wird immer logischer und logischer und ertötet die künstlerische Phantasie und macht dann zu den Kunstwerken Kommentare. Das ist das Schreckliche, was im materialistischen Zeitalter aufgetreten ist, daß die Gelehrten zu den Kunstwerken Kommentare gemacht haben, gelehrte Erklärungen. Diese gelehrten Erklärungen, diese Faustkommentare, Hamletkommentare, diese gelehrten Beschrei­bungen der Kunst des Lionardo, des Raffael, des Michelangelo sind die Särge, die Totensärge für das wirkliche künstlerische Empfin­den. Da wird hineingetötet dasjenige, was lebendige Kunst ist. Und nimmt man einen Faustkommentar zur Hand, so hat man eigent­lich das Gefühl, jetzt nimmst du den Leichnam des «Faust» zur Hand, oder beim Hamletkommentar den Leichnam des «Hamlet», denn da haben die abstrakten Gedanken das Kunstwerk getötet.

Mit anthroposophischer Erkenntnis versucht man aus dem leben­digen Geiste sich zu nähern demjenigen, was Kunstwerk ist, wie ich das für Goethes «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» getan habe, wo nicht ein Kommentar geschrieben ist, sondern ein Lebendiges hineinführen soll in das unmittelbar Lebendige. In einem unkünstlerischen Zeitalter sind die vielen Ästhetiken entstanden, die gelehrten Betrachtungen der Kunst. Die Ästhetiken sind eigentlich etwas Unkünstlerisches. Aber indem das alles ausgesprochen ist - man ist sich dessen bewußt - könnten wiederum die recht gelehrten Leute dasitzen und sagen: Ja, aber die Welt künstlerisch zu erfassen, führt von der Wirklichkeit ab; das ist nicht wissenschaftlich, die Welt künstlerisch aufzufassen. Und dann wird deklamiert von der Seite der wahren Wissenschaf­ter: Man muß die Phantasie unterdrücken, man muß die Imagina­tion ausschalten, wenn man die Wirklichkeit erfassen will, und muß sich auf das bloß Logische beschränken. - Ja, das kann man

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deklamieren, das kann man fordern. Aber denken Sie nur einmal, wenn die Wirklichkeit, wenn die Natur selber eine Künstierin ist, da nützt es nichts, wenn man vom Menschen aus fordert, man soll nur immer alles logisch begreifen. Dann kann man der Natur eben nicht beikommen mit dem bloßen logischen Begreifen, wenn die Natur selber eine Künstlerin ist. Und die Natur ist eine Künstlerin. Das entdeckt man gerade durch anthroposophische Erkenntnis an einem bestimmten Punkte dieser Erkenntnis. Man muß aufhören, in Ideen zu leben. Man muß anfangen, in Bildern selbst zu denken, um die Natur begreifen zu können, insbesondere das Höchste an der Natür, den physischen Menschen in seinen Formen. Keine Anatomie, keine Physiologie kann den physischen Menschen in seinen Formen begreifen. Das kann allein die von dem künstleri­schen Empfinden beflügelte lebendige Erkenntnis.

Und so war es ganz naturgemäß, daß das Erkennen in künst­lerisches Schaffen überfloß, als zum Beispiel die Idee auftrat, ein Goetheanum zu bauen. Da mußte man dasjenige, was Anthroposo­phie sonst in Ideen hervorbrachte, in künstlerischen Formen her­vorbringen. Es war dasselbe, nur in anderer Weise geoffenbart. Aber in dieser Art entwickelte sich Kunst, wahre Kunst immer in der Welt. Und Goethe, der wirklich künstlerisch hat empfinden können, hat das schöne Wort ausgesprochen: Die Kunst ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die ohne sie niemals offenbar würden. - Er hat empfunden, was gerade Anthroposophie empfin­den muß. Wenn man sich durchgearbeitet hat bis zum erkennenden Erfassen der Welt, so tritt dieses lebendige Bedürfnis ein, jetzt nicht mehr Ideen zu bilden, sondern künstlerisch plastisch oder malerisch oder musikalisch oder dichterisch zu bilden. Da passiert allerdings dann manchmal etwas - verzeihen Sie, wenn ich das harte Wort gebrauche - recht Schlimmes. Man versucht zum Beispiel, wie ich es selber getan habe, das, was sich in Ideen über die Wesenheit des Menschen nicht aussprechen läßt, in «Mysteriendramen» zu geben, wie ich es in meinen vier Mysteriendramen getan habe. Dann finden sich gutwillige, aber nicht voll verständige Menschen, die erklären dann in Ideen diese Mysteriendramen, schreiben auch

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solch eine Art Kommentar dazu. Ja, es ist etwas Schreckliches, etwas Fürchterliches, wenn das geschieht, aber es geschieht halt eben, weil selbst in die anthroposophische Bewegung oftmals her­eingetragen wird das Tötende der abstrakten Gedanken. In Wirk­lichkeit sollte in der anthroposophischen Bewegung das fortwäh­rende Beleben der abstrakten Gedanken darinnen sein. Dann führt es dazu, das, was man nicht mehr in Gedanken erleben kann, durch lebendige Gestalten, wie sie eben auftreten im Dramenbild, zu genießen, vor sich zu haben, sie anzuschauen, und wirklich die Gestalten der Dramen auf sich wirken zu lassen, nicht sie in ab­strakter Weise zu erklären. Echte Anthroposophie führt an einem bestimmten Punkte in eine wahre Kunst hinein, weil echte Anthro­posophie nicht gedankentötend, sondern inspirierend wirkt und den künstlerischen Quell im menschlichen Gemüte zum Sprudeln bringt.

Man ist dann auch nicht versucht, Ideen symbolisch zu formen oder gar allegorisch nachzubilden, sondern man ist versucht, alle Ideen an einen bestimmten Punkt hinfließen zu lassen und rein der künstlerischen Form zu folgen. So ist das Goetheanum als Archi­tektur, wenn ich mich des harten Ausdrucks bedienen darf, ganz ideenlos entstanden, bloß indem die Formen gefühlt wörden sind, aber aus dem Geiste heraus gefühlt worden sind. Und so sollte man auch das Goetheanum anschauen, nicht erklären. Wenn ich die Ehre harte, Gäste, die in das Goetheanum kamen, zu führen, dann leitete ich in der Regel die Worte, die ich zu diesen Gästen zu spre­chen hatte, so ein, daß ich sagte: Sie sind natürlich gekommen, da­mit ich Ihnen jetzt das Goetheanum, während ich Sie begleite, erkläre, aber eigentlich ist mir dies etwas furchtbar Unsympa­thisches. Ich muß in der nächsten halben Stunde, während ich Sie führe, schon etwas recht Unsympathisches unternehmen, denn das Goetheanum ist zum Anschauen da, nicht zum Erklären. - Das ist dasjenige, was ich immer wiederum betont habe, weil im Bilde leben sollte das, was da war, nicht in abstrakten, ertötenden Ge­danken. Natürlich mußte man erklären, aber ich versuchte die Er­klärungen auch so zu geben, daß sie eigentlich keine abstrakten Erklärungen waren, sondern daß der Führung, möchte ich sagen,

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die Empfindung durch die Formen, durch die Bilder, durch die Farben nachhalL Man kann geistig nämlich nicht nur in Worten sem, man kann geistig auch in Formen, in Farben, in Tönen und so weiter sein. Dadurch wird erst das wirklich Künstlerische erlebt. Denn das Künstlerische ist immer das Erscheinen des Übersinn­lichen hier in unserer sinnlichen Welt. Und wir können solches an allen Künsten gewahr werden, wenn diese Künste in Formen uns vorliegen, in denen sie echt aus der Menschennatur heraus ent­sprungen sind.

Nehmen Sie zunächst einmal diejenige Kunst, die am meisten heute der äußeren Zweckmäßigkeit dient, nehmen Sie die Archi­tektur.

Um die Architektur in ihren Formen wirklich fühlend zu ver­stehen, muß man den Menschen selber, die Menschenform künst­lerisch fühlen. Und wenn man die Menschenform künstlerisch fühlt, dann tritt in diesem Gefühl stark auch die Empfindung auf, der Mensch hat eigentlich die Welten, denen er angehört, verlassen. Betrachte ich einen Bären in seinem Pelz, dann habe ich die Emp­findung, den hat das Weltenall reich ausgestattet, denn es hat ihn mit dem Pelz umkleidet. Und ich empfinde ein Ganzes, indem ich den Bären mit seinem Pelze oder den Hund mit seinem Fell empfinde; ich empfinde ein Ganzes. Schaue ich künstlerisch den Menschen an, so fehlt mir an diesem Menschen etwas, wenn ich ihn nur sinn­lich anschaue. Er hat dasjenige nicht von dem Universum erhalten, was der Bär oder der Hund in ihrem Pelz oder Fell haben. Der Mensch steht gewissermaßen in bezug auf seinen Sinnenschein nackt in der Welt da. Es entsteht das Bedürfnis, für das Physische, anstelle des Physischen, um ihn herum rein in der künstlerischen Empfindung ein bildhaft Geistiges zu haben, das ihn umhüllt.

Heute ist diese rein künstlerische Empfindung in der Architektur etwas zugedeckt, ist nicht klar da. Aber nehmen Sie jenen Aus­gangspunkt der Architektur, wo die Architektur vor allen Dingen ihre Höhe dadurch erreicht hat, daß sie Umhüllungen für hin-gegangene Menschen, für die Toten gebildet hat. Sehen wir ein­mal, wie die Grabmäler, die Grabwohnhäuser, die errichtet wurden

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über den Grabstätten, am Ausgangspunkt der Architektur sinnvoll stehen. Indem der Mensch gewissermaßen seinen Erdenkerker, sei­nen physischen Leib verlassen hat und die nackte Seele ist, will für ein ursprüngliches instinktives Hellsehen diese nackte Seele nicht hinausgelassen werden in den Weltenraum, ohne daß sie eingehüllt wird von denjenigen Formen, von denen sie aufgenommen sein will. Man kann doch - so sagte man - die Seele nicht hinauslassen einfach in die chaotischen Luftströmungen, in die chaotisch inein­ander wirkenden Wetterströmungen. Das wurde die Seele zerreißen. Die Seele will, wenn sie den Körper verlassen hat, durch regel­mäßige Raumesformen sich in die Welt ausdehnen. Man umkleidet sie mit der Grabesarchitektur, denn da weiß sie Bescheid. Sie weiß nicht Bescheid in den Wetterstürmen, die ihr entgegendringen, in den Windströmungen, die ihr entgegenkommen, sie weiß aber Be­scheid in den künstlerischen Formen, in denen der Architekt das Grabhaus über der Totenstätte formt. Da bilden sich die Wege für die Seele hinaus in die Weltenweiten. Das ist die aus dem Über­sinnlichen der Seele gegebene Schale, gegebene Umhüllung, wäh­rend der Mensch nicht so wie die Tiere oder wie die Pflanzen durch die sinnlich natürlichen Elemente eine Schale, eine Hülle bekommt.

Und so möchte man sagen: Die Architektur drückt ursprüng­lich die Art und Weise aus, wie der Mensch von den Weiten des Kosmos aufgenommen sein will. - Befinde ich mich in einem Haus, so sollte das künstlerische Empfinden auch so sein. Ich schaue die Flächen, ich schaue die Linien. Warum sind sie da? Um mir anzu­zeigen, so will die Seele in der Richtung dieser Linien hinaus-schauen in die Raumesweiten. So will aber auch die Seele geschützt sein vor dem heranstürmenden Lichte. Und betrachtet man das Ver­hältnis der Seele zum Universum, zum Raumesuniversum rings-herum, lernt man so recht erkennen, wie das Raumesuniversum die Seele des Menschen in der richtigen Weise empfängt, dann be­kommt man die künstlerische Form der Architektur heraus.

Die Architektur aber hat ein künstlerisches Gegenbild. Der Mensch, wenn er aus der Welt heraustritt, verläßt seinen physi­schen Leib. Als Seele verbreitert er sich in die Raumesform. Alles

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Architektonische will dieses Verhältnis des Menschen zum sicht­baren Weltenraum, zum sichtbaren Kosmos offenbaren. Wenn der Mensch durch die Geburt ins physische Dasein hereintritt, dann hat er unbewußt die Erinnerung an sein vorirdisches Dasein. Dann taucht er mit seiner Seele in den physischen Leib unter. Im Bewußt­sein namentlich des heutigen Menschen ist nichts von diesem Unter-tauchen vorhanden. Aber im Unterbewußtsein, im tiefen seelischen Empfinden, namentlich da, wo dieses Empfinden zum naiv künst­lerischen Empfinden wird, weiß die Seele, indem sie in den Leib untertaucht, vorher, bevor du in einen Leib untergetaucht bist, warst du doch anders. Und da will sie nicht so sein, wie sie im Leibe ist, da will sie so sein, wie sie war, bevor sie in den Leib unter­getaucht ist.

Diese Empfindung entdeckt man in einer merkwürdigen Weise bei primitiven Menschen. Sie fühlen in dieser Weise künstlerisch, wie sie im Leibe eigentlich sein wollen, und da beginnen sie zuerst sich zu schmücken und dann sich zu bekleiden. Die Farben der Be­kleidung sind da, weil der Mensch sein Seelisches heraussetzen will in seine Leiblichkeit. Seine Leiblichkeit, in die er untergetaucht ist, genügt ihm nicht, er will farbig sich in die Welt hineinstellen, wie er seelisch sich selber fühlt. Wer mit künstlerischem Sinn gerade die farbenprächtigen Bekleidungen primitiver Menschen anschaut, sieht das Herauswalten der Seele in den Raum, so wie man das Hineinwalten der Seele in den Raum in den Architekturformen sieht. Will die Seele sich in die Weltenweiten zerstreuen, dann folgt sie den architektonischen Formen. Will die Seele aus dem tiefsten inneren Mittelpunkte heraus sich räumlich entfalten, dann ent­wickelt sie die Bekleidungskünste.

Diese Bekleidungskünste gehen dann in das andere künstlerische Leben ein. Und es ist nicht gleichgültig, daß Sie in Zeitaltern, in denen man viel künstlerischer empfunden hat als heute, sagen wir die Bilder der italienischen Renaissancemaler so sehen, daß eine Magdalena immer ein ganz bestimmtes anderes Kleid haben wird als eine Maria. Vergleichen Sie das Gelb, das sehr häufig bei Magdalenen in der Bekleidung auftritt, mit dem aus Blau und Rot

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zusammengefügten, das hei Marien auftritt, dann haben Sie die ganzen Seelenunterschiede bei der Art und Weise, wie der noch ganz im künstlerischen Elemente lebende Maler aus der Seele her-aus auch noch in der Malerei die Bekleidung schafft.

Wir, die wir uns grau in grau am liebsten anziehen, stellen eben auch in der äußeren Welt einfach das totgewordene Abbild unserer Seele dar. Wir kleiden uns abstrakt, wir denken nicht bloß abstrakt in unserem gegenwärtigen Zeitalter. Und - ich darf das ja nur in Parenthese sagen - wenn wir uns nicht abstrakt kleiden, dann zei­gen wir oftmals erst recht in der Zusammenstellung der Farben, wie wenig wir noch übrig haben von dem lebendigen Denken, das wir durchmachen, bevor wir zur Erde herabsteigen. Wenn wir an­fangen, uns heute nicht abstrakt zu kleiden, dann fangen wir an, uns geschmacklos zu kleiden. Wir müssen schon uns klar sein dar­über, daß gerade das künstlerische Element eine Aufbesserung unserer ganzen Zivilisation braucht, daß der Mensch wiederum lebendig-künstlerisch in die Welt hineingestellt werden muß. Dann aber muß man auch alles Weltenwesen und Weltenleben wiederum künstlerisch sehen können. Man muß nicht nur herangehen in den Forschungsinstituten und den bekannten galgenähnlichen Apparat aufstellen, um den Gesichtswinkel zu probieren, möglichst abstrakt die Rasse-Eigentümlichkeiten zu messen, sondern man muß - ich möchte sagen mit qualitativer Vertiefung in das menschliche We­sen, die Form empfindend erkennen können.

Man wird dann schon am menschlichen Haupte in einer wun­derbaren Weise in der Wölbung der Stirne und in der Wölbung des Oberkopfes, nicht bloß allegorisch vergleichsweise, sondern ganz innerlich real, die Nachbildung des über uns sich wölben-den - wenn es auch nicht da ist, aber es wölbt sich dynamisch, kraftmäßig - Himmelsgewölbes wiedererkennen. Das Abbild des ganzen Weltenalls bildet Stirne und Oberkopf, und das Abbild des­jenigen, was wir durchmachen, indem wir die Sonne umkreisen, indem wir uns in horizontal kreisender Bewegung um das Gestirn mit unserem Planeten herumdrehen, dieses Mitmachen einer kos­mischen Bewegung, das empfindet man künstlerisch in der Nasen- und Augenbildung.

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Denken Sie: die Ruhe des Fixsternhimmels in der ruhenden Wölbung von Stirne und Oberkopf, die Bewegung des Umkreisens im Kosmos in dem beweglichen Blick des Auges, in alledem, was durch Nase und Riechen innerlich erlebt wird. Und verstehen wir richtig künstlerisch den Mund und das Kinn des Menschen zu studieren, dann haben wir da ein Abbild desjenigen, was tief in das menschliche Innere selbst hineinführt. Der Mund mit dem Kinn ist der ganze Mensch, wie er seelisch in seinem Leibe lebt. Die ganze Welt ist da künstlerisch. In Stirne und Wöl­bung des Oberkopfes die ruhende Rundung des Universums; in Auge und Nase und Oberlippe die Bewegung durch den Welten-raum; in Mund und Kinn das Ruhen in sich selbst.

Dies jetzt nicht in abstrakten Gedanken, sondern lebendig ge­schaut im Bilde, will gar nicht im Kopfe bleiben. Wenn man dies, was ich jetzt beschrieben habe, gegenüber dem menschlichen Kopfe wirklich empfindet, so fängt man an zu empfinden: Du warst doch sonst ein leidlich gescheiter Mensch, du hast so hübsche Ideen ge­habt. Jetzt wird dein Kopf plötzlich leer. Du kannst dir gar nichts dabei denken. Du fühlst ganz richtig Stirne, Haupteswölbung, Auge, Nase, Oberlippe, Mund, Unterlippe. Aber denken kannst du da nicht mehr. Die Gedanken verlassen dich. - Und es beginnt im übrigen Menschen sich zu regen, namentlich die Arme und die Finger fangen an, Gedankenwerkreuge zu werden, nur daß da die Gedanken in Formen leben. Und man wird zum Plastiker, zum Bildhauer.

Nur muß, wenn man zum Bildhauer werden will, der Kopf auf­hören zu denken. Es ist das Schrecklichste, wenn man als Bildhauer mit dem Kopf denkt. Das ist ein Unsinn. Das kann man nicht. Das ist ganz unmöglich. Da muß der Kopf ruhen können, leer sein, und die Arme und die Hände müssen anfangen, richtig in Bildern, in Formen gestalten, die Welt nachbilden zu können. Insbesondere wenn man das Menschenbild formen will, muß aus den eigenen Fingern ausströmen die Menschenform. Da beginnt man dann auch zu fühlen, warum die Griechen, die sehr künstlerisch gefühlt haben, der Athene so merkwürdig den oberen Teil des Kopfes gebildet

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haben, der Athene sogar den Helm aufgesetzt haben, der einen Teil des Hauptes bildet, um nachzuempfinden das Formende des ruhenden Raumes, des Weltenraumes. Das haben die Griechen noch in der Kopfbedeckung ausgedrückt. Und wenn man dieses eigentäniliche Gestalten der Nasenformen, wie sie sich anschließen an die Stirne, gerade in den griechischen Profilen sieht, so fühlt man darinnen, wie der Grieche den Umschwung, die Bewegung gefühlt hat und wie er in dem Nasenbau zum Ausdruck gebracht hat das Mitgehen mit der Weltenbewegung.

0, es ist wunderbar, in einer künstlerischen Darstellung eines Griechenkopfes zu fühlen, wie der Grieche Plastiker, Bildhauer ge­worden ist. Und, sehen Sie, so ist es das geistige Erfühlen und das geistige Anschauen der Welt - beileibe nicht das Kopfdenken -, das zur Kunst hinführt und gerade durch die anthroposophische Anschauung angeregt wird, weil man da an einem bestimmten Punkte dazu kommt und sich sagt: Da ist etwas in der Welt, dem kommst du nicht mit Gedanken bei, du mußt anfangen, Künstler zu werden, um überhaupt hineinzukommen. - Und dann erscheint einem die materialistisch intellektualistische Gelehrsamkeit so, wie ein Mensch, der äußerlich um die Dinge herumgeht und sie immer logisch beschreibt, aber trotzdem nur äußerlich herumgeht, wäh­rend das anthroposophische Erkennen überall auffordert, in die Dinge selber unterzutauchen, dasjenige nachzuschaffen, was vom Kosmos geschaffen ist, in lebendiger Gestaltungskraft.

So wird einem nach und nach klar: Bringst du dir bei als An­throposoph ein richtiges Verständnis des physischen Leibes, der her-ausfällt aus den kosmischen Raumesformen, zum Leichnam wird, bringst du dir bei ein Verständnis dafür, wie die Seele, nachdem sie den physischen Leib verlassen hat, von den Raumesformen auf-genommen werden will, dann wirst du zum Architekten. Verstehst du, was die Seele will, indem sie sich selber in den Raum hinein­stellen will mit den unbewußten Erinnerungen aus dem vor-irdischen Dasein, dann wirst du - verzeihen Sie, daß ich den Aus­druck gebrauche, er ist in unserer Zeit gar nicht mehr recht üblich, weil man überhaupt von solchen Dingen ganz abgekommen ist,

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man hat mit dem Bewußtsein des vorirdischen Daseins auch diesen Impuls verloren, auf den ich hindeutete - zum Bekleidungskünst-1er. Das ist der andere Pol des Architektonischen.

Und man wird zum Plastiker, wenn man sich nun wirklich lebendig hineinfindet in die menschliche Form, wie sie heraus­gehoben, herausgestaltet ist aus der Welt. Lernt man den physi­schen Leib nach allen Seiten verstehen, wird man künstlerisch zum Architekten. Lernt man den ätherischen - oder den Bildekräfteleib, wie ich ihn in der Anthroposophie nenne, in seiner inneren Leben­digkeit, in seinem eigentlichen Leben und Walten richtig kennen, wie dieser ätherische Leib die Stirne wölbt, die Nase formt, wie er den Mund zurücktreten läßt - denn das sind alles die Bildekräfte -, dann wird man aus einem wirklichen Erfassen des ätherischen Lei­bes heraus zum Plastiker, zum Bildhauer. Der Bildhauer tut nichts anderes, als die Form des ätherischen Leibes nachahmen.

Schaut man das Seelische in allem Weben und Leben an, dann wird einem die mannigfaltige bunte Farbenwelt zu einer ganzen Welt. Da fügt man sich allmählich in dasjenige ein, was ich ein astralisches Ergreifen, Erfassen der Welt nennen möchte. Es wird einem dasjenige, was sich farbig offenbart, überall zu einer Offen­barung des Seelischen in der Welt. Schauen wir einmal die Pflanze an, wie sie grünt. Wenn die Pflanze grünt, können wir nicht das Grün bloß als etwas Subjektives ansehen und in der Pflanze Vibra­tionen uns denken, wie der Physiker das tut. Wir haben nicht mehr die Pflanze, wenn wir auf den Bäumen uns diese Vibrationen, welche die Farben bewirken sollen, denken. Das sind Abstraktio­nen. In Wahrheit können wir uns die Pflanzen nicht ohne das Grün lebendig vorstellen, wenn wir sie lebendig vorstellen. Die Pflanze schafft das Grün aus sich selbst heraus. Ja, aber wie? Nun, in der Pflanze sind die toten Erdenstoffe eingegliedert. Aber diese toten Erdenstoffe sind durch und durch belebt. In der Pflanze ist Eisen, Kohlenstoff, ist irgendwelche Kieselsäure und so weiter, in den Pflanzen sind alle möglichen Erdenstoffe, die wir auch im minera­lischen Reich finden. Das alles aber ist in der Pflanze durchlebt und durchwebt. Und indem wir das anschauen, wie Leben sich

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durch das Tote durchringt, sich durch das Tote ein Bild, nämlich das Bild der Pflanze schafft, empfinden wir das Grün als das tote Bild des Lebens. Überall schauen wir in unsere grüne Umgebung. Wir wissen, in den Pflanzen leben die Stoffe der Erde, die toten Stoffe der Erde. Das Leben selber nehmen wir nicht wahr. Dadurch, daß die Pflanzen die toten Stoffe enthalten, nehmen wir die Pflan­zen wahr. Dadurch aber sind sie grün. Das Grün ist das tote Bild des Lebens, das auf der Erde waltet Jetzt schauen wir so auf das Grün hin, indem wir gewissermaßen in dem Grün eine Art Welten-wort haben, das uns sagt, wie Leben in der Pflanze west und webt.

Und dann schauen wir auf den Menschen. Wenn wir in die Na­tur hinausschauen, so finden wir das der gesunden Menschenfarbe ähnlichste in der frischen Pfirsichblüte im Frühling. Eine andere, der Menschenfarbe, dem Inkarnat ähnliche Farbe gibt es draußen in der Natur nicht. Aber wir fühlen auch, in diesem pfirsicharti­gen Inkarnat drückt sich das innere Gesunde des Menschen aus. Wir lernen im Inkarnat die lebendige, richtig von der Seele be­gabte Gesundheit des Menschen ergreifen. Und wir fühlen, wenn das Inkarnat zum Grün herunterkommt, dann ist der Mensch kränklich, dann weiß die Seele den richtigen Zugang zu dem phy­sischen Leib nicht zu finden. Dagegen, wenn die Seele in egoisti­scher Weise zu stark den physischen Leib in Anspruch nimmt, zum Beispiel beim Geizigen, dann wird der Mensch blaß. Oder auch in der Angst nimmt die Seele zu stark den physischen Leib in An­spruch; dann wird der Mensch blaß, weißlich. Zwischen Weiß­lichem und Grünlichem liegt die gesunde Lebensfarbe des Inkar­nates mit dem pfirsichblütartigen Anflug. Und wir fühlen dann, geradeso wie wir das Grün der Pflanze als das tote Bild des Lebens fühlen, in dem Inkarnat, in der eigenrümlichen Pfirsichblütfarbe des gesunden Menschen das lebendige Bild der Seele. Sehen Sie, jetzt belebt sich in den Farben die Welt. Das Lebendige gestaltet sich durch das Tote zum Bilde des Grünen. Das Seelische gestaltet sich die menschliche Haut zum Bilde im Pfirsichblütartigen, im Inkarnat.

Sehen wir weiter. Die Sonne erblicken wir weißlich. Das Weißliche

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fühlen wir nahe verwandt dem Lichte. Wenn wir in der Nacht in schwarzer Finsternis aufwachen, fühlen wir, das ist nicht unsere entsprechende menschliche Umgebung, wo wir unser Ich voll füh­len können. Wir brauchen Licht zwischen uns und den Gegenstän­den, um unser Ich voll fühlen zu können. Wir brauchen gewisser­maßen zwischen uns und der Wand Licht, damit die Wand aus der Entfernung auf uns wirken kann. Da entzündet sich unser Ich-Gefühl. Wenn wir im Lichte, das heißt im Weiß-Verwandten, auf­wachen, dann empfinden wir unser Ich. Wenn wir im Finstern, das heißt im Schwarz-Verwandten, aufwachen, fühlen wir uns fremd in der Welt. Ich sage: Licht. Ich könnte auch andere Sinnesemp­findungen nehmen. Und Sie werden einen scheinbaren Wider­spruch herausfinden, weil der Blindgeborene niemals Licht sieht. Aber es kommt nicht darauf an, ob man das Licht unmittelbar sieht, sondern wie man organisiert ist Der Mensch ist, auch wenn er blind geboren ist, für das Licht organisiert, und die Hemmung für die Ich-Energie, die beim Blinden vorhanden ist, ist vorhanden durch die Abwesenheit des Lichtes. Das Weiß ist dem Lichte ver­wandt. Fühlen wir das Weiß, das heißt das Lichtartige in dieser Art, daß wir eben empfinden, wie das Ich im Raume sich entzün­det an dem Weißen zu seiner inneren Stärke, dann können wir sagen, indem wir jetzt den Gedanken lebendig machen, nicht abstrakt: Das Weiß ist die seelische Erscheinung des Geistes. - Des­halb fühlen wir auch überall, wo uns auf Bildern Weiß entgegen-tritt: Ja, da ist der Geist gemeint.

Nehmen Sie dagegen das Schwarze. Wenn Sie das Schwarze sehen, wenn wir das Schwarze irgendwo anbringen, so wird es am leichtesten verwendet werden können zum geistigen Bilde des Toten, wie wir uns selbst ertötet, gelähmt fühlen, wenn wir unseren Geist aufwachend in die schwarze Finsternis hineinstellen müssen. Und so kann man das Schwarz fühlen als das geistige Bild des Toten.

Denken Sie, wie man nun in den Farben leben kann. Die Welt als Farbe und Licht erlebt man, wenn man erlebt: Das Grün als das tote Bild des Lebens; Pfirsichblüt und menschliches Inkarnat

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als das lebende Bild der Seele; Weiß als das seelische Bild des Gei­stes; Schwarz als das geistige Bild des Toten. Ich bin wirklich in eine Rundung hineingekommen, indem ich das ausgesprochen habe. Denn geben Sie acht, wie ich beschreiben mußte: Grün = totes Bild des Lebenden. Ich bin beim Lebenden stehen geblieben. Pfirsichblüt und Inkarnat = lebendes Bild der Seele. Ich bin bei der Seele stehen geblieben. Weiß = seelisches Bild des Geistes. Ich bin bei der Seele stehen geblieben und steige zum Geiste auf. Schwarz = geistiges Bild des Toten. Ich bin bei Geistigem stehen geblieben, zum Toten aufgestiegen, aber bin wiederum zurück­gekehrt, indem das Grün das tote Bild des Lebenden war. Ich bin zu dem Toten wieder zurückgekehrt. Ich habe den Kreis geschlos­sen. Würde ich Ihnen das auf einer Tafel aufzeichnen können, könnte ich Ihnen die Sache schematisch aufzeichnen, und Sie wür­den sehen, daß dadurch dieses lebendige Weben im Farbigen - wir werden im nächsten Vortrage auch von dem Blau zu sprechen haben - zu einem wirklichen künstlerischen Nacherleben des Astra­lischen in der Welt wird.

Hat man dieses künstlerische Erleben, stellt sich einem Tod, Leben, Seele, Geist wie im Rade des Lebens dar, indem man von dem Toten zu dem Toten zurückkehrt durch das Leben des Seeli­schen, Geistigen, stellt sich einem Tod, Leben, Seele, Geist durch Licht und Farbe dar, wie ich es eben beschrieben habe, dann weiß man, mit dem kann man nicht im Raume bleiben, man muß aus dem Raume heraus, vom Raume zur Ebene kommen. Da muß man in der Ebene das Rätsel des Raumes lösen, man verliert das Rau­mesvorstellen. Wie man als Plastiker das Kopfdenken verloren hat, so verliert man jetzt das Raumesvorstellen. Alles drängt sich einem in Licht und Farbe hinein, man wird zum Maler. Der Quell des Malerischen wird durch eine solche Anschauung von selbst eröff­net. Man bekommt die große, innerliche Freude, diese oder jene Farbe aufzutragen, neben sie die andere Farbe zu setzen, denn die Farben werden dann zu einer lebendigen Offenbarung des Lebendi­gen, des Toten, des Geistigen, des Seelischen. So erlangt man wirk­lich, wenn man den toten Gedanken überwindet, den Punkt, wo

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man sich unmittelbar getrieben fühlt, nicht mehr in Worten zu sprechen, nicht mehr in Ideen zu denken, auch nicht mehr in For­men zu gestalten, sondern in der Farbe und im Lichte Leben und Tod, Geist und Seele, wie sie werden und leben in der Welt, wieder­zugeben.

Sehen Sie, auf diese Weise wird tatsächlich innerlich angeregt das künstlerische Schaffen durch dasjenige, was anthroposophische Erkenntnis ist, denn die gibt einen dem Leben zurück und nimmt einen nicht dem Leben wie die abstrakte, idealistisch empiristische Erkenntnis. Aber fühlen Sie, wie wir damit ganz außerhalb des Menschen zunächst noch geblieben sind. Wir sind beim Menschen zur Oberfläche gekommen, zu seiner gesunden Farbe, zum Pfirsich­blüt, oder wenn er zu stark den Geist in den physischen Leib hin­einsendet, zum Blassen, Weißen, oder wenn er mit seiner Seele nicht erfüllen kann den physischen Leib, also ungesund ist, zum Grünlichen, aber wir sind immer an der Oberfläche des Menschen geblieben.

Gehen wir jetzt in das Innere des Menschen hinein, dann gelan­gen wir bei demjenigen an, was sich innerlich im Menschen der äußerlichen Weltengestaltung entgegenstellt. Wir gelangen an bei jenem wunderbaren Zusammenklang des Atmungsrhythmus und des Blutrhythmus. Der Atmungsrhythmus überträgt sich auf die Nervenbewegungen des Menschen. Sehen Sie, das ist etwas, was die Physiologie so wenig weiß, daß der Atmungsrhythmus, beim normalen Menschen achtzehn Atemzüge in der Minute, sich über­trägt auf das Nervensystem. Er ist fein seelisch-geistig im Nerven-system enthalten. Der Blutrhythmus kommt aus dem Stoffwechsel-system. Er ist viermal beim normalen, erwachsenen Menschen ge­steigert gegenüber dem Atmungsrhythmus. Vier Pulsschläge ent­sprechen einem Atmungsrhythmus = zweiundsiebzig Pulsschläge in der Minute. Sehen Sie, das ist so, daß dasjenige, was im Blute lebt - und im Blute lebt das Ichmäßige, das Sonnenhafte im Men­schen -, auf dem Atmungssystem und dadurch auf dem Nerven­system spielt.

Gehen Sie irgendwie in den Menschen hinein, gehen Sie zum

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Beispiel ins Auge hinein, da laufen im Auge aus die Blutgefäße, sie laufen so aus, daß sie außerordentlich fein werden. Die Blut­pulsation begegnet da den Nervenströmungen des Sehnervs, der sich im Auge ausbreitet Es ist ein wunderbar künstlerischer Vor­gang, der sich da abspielt in dem Blutkreislauf, der auf dem Seh­nerv spielt Der Sehnerv bewegt sich langsamer, viermal lang­samer, ein wunderbarer künstlerischer Vorgang zwischen Blutzir­kulation und Sehnerv.

Aber gehen Sie an den ganzen Menschen heran, sehen Sie sich seinen Rückenmarksstrang an, die Nerven nach allen Seiten aus­laufend, verfolgen Sie die Adern, die Blutadern, da ist ein inner­[iches Spielen des ganzen Blutsystems, das eigentlich dem Men­schen von der Sonne eingepflanzt ist, auf dem Nervensystem, das dem Menschen von der Erde aus gegeben ist Das haben die Grie­chen in ihrer so künstlerischen Art empfunden. Sie haben das Son­nenhafte im Menschen, das blutartige künstlerische Spielen auf dem Nervensystem, als den Gott Apoll angesehen und den Rücken­marksstrang mit seinen wunderbar auslaufenden Saiten, auf denen das Blutsystem, das Sonnenhafte spielt, als die Leier des Apollo.

So wie Architektonischem, Plastischem, Bekleidungskünstleri­schem, Malerischem begegnet wird, wenn wir von der Außenwelt heran an den Menschen kommen, so begegnen wir Musikalischem, Rhythmischem, Taktmäßigem, wenn wir an den inneren Menschen herankommen und das wunderbare künstlerische Gestalten und Treiben zwischen Blutsystem und Nervensystem verfolgen.

Gegenüber aller äußeren Musik ist die Musik, die im mensch­lichen Organismus verrichtet wird zwischen Blutsystem und Ner­vensystem, etwas viel, viel Erhabeneres. Und wenn dann das Musi­kalische heraufklingt in das Dichterische, dann fühlen wir, wie im Worte sich löst nach außen wiederum diese innerliche Musik, die zwischen Blut und Nerven sich abspielt Und dann fühlen wir zum Beispiel im Hexameter, in dem griechischen Vers, der seine drei Längen hat und dann die Zäsur, wie der Atem über den halben Hexameter hingeht bis zur Zäsur, die Zäsur aufnimmt, und wie das Blut im Atemstoß spielt, die vier Längen der Silben hineinsetzt

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Der Pulsschlag setzt die vier Silbenlängen in den Atemzug hinein; da haben Sie den halben Hexameter. Und wenn wir den halben Hexameter richtig skandieren, so geben wir gerade im Skandieren des Hexameters das Maß an, wie unser Blut heranschlägt an unser Nervensystem.

Den innerlichen, göttlichen Künstler im Menschen suchen wir nach außen zu enträtseln, wenn wir anfangen mit dem Deklamie-ren und Rezitieren. Über das möchte ich dann genauer im nächsten Vortrag sprechen. Aber Sie sehen, wenn wir von außen, von Archi­tektur, Plastik und Malerei hereindringen in das Innere des Men­schen und bis zu dem Musikalisch-Dichterisch-Künstlerischen kom­men, geht überall ein lebendiges Erfassen von Welt und Mensch in ein künstlerisches Empfinden und in die Anregung zu künstleri­schem Schaffen über.

Wenn dann der Mensch fühlt: Du bist heruntergestellt in die Welt und erfüllst innerhalb des Irdischen nicht dasjenige, was in diesem Urbilde liegt, dein Urbild ist eigentlich in den Himmeln enthalten -, wird das, wenn es künstlerisch empfunden wird, zu dem Bedürfnis, nun auch ein äußerliches Abbild dieses Urbildes zu geben. Sehen Sie, da wird dann der Mensch selber zum Instrument, der das Verhältnis des Menschen zur Welt durch sich selber zum Ausdrucke bringt. Der Mensch wird zum Eurythmiker. Der Euryth­miker sagt eigentlich: Alles dasjenige, wozu ich hier auf Erden die Bewegungen der menschlichen Glieder gebrauche, genügt nicht in vollkommener Art dem bewegten Urbilde des Menschen. Ich muß ein Ideal-Urbild des Menschen haben, aber ich muß mich erst lernen hineinfügen in die Bewegungen des idealen menschlichen Urbildes. Diese Bewegung, in welcher der Mensch gewissermaßen auch räumlich nachbilden will die Bewegung seines himmlischen Urbildes, kommt in der Eurythmie zum Ausdrucke. Deshalb kann die Eurythmie weder eine bloße Gebärdenkunst sein, noch kann sie ein bloßer Tanz sein. Sie steht in der Mitte zwischen Tanz und Gebärdenkunst, mimischer Kunst - mitten darinnen. Die mimische Kunst ist gewissermaßen nur da zur Unterstützung des gesproche­nen Wortes. Wenn der Mensch in einem Zusammenhange etwas

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auszudrücken hat, wozu ihm das Wort nicht genügt, da will er das Wort unterstützen durch die Gebärde, da kommt die mimische Kunst heran, sie drückt das Ungenügende des bloßen Wortes aus. Daher ist die mimische Kunst eine andeutende Gebärde.

Die Tanzkunst tritt dann ein, wenn überhaupt das Wort gar nicht mehr in Betracht kommen kann, wenn der Wille sich so stark auslebt, daß die Seele aus sich selber herausgeht und ihrem Körper folgt, der ihr die Bewegungen vorschreibt. Das ist die ausschwei­fende Gebärde: die Tanzkunst.

So können wir sagen: Mimik, mimische Kunst = andeutende Gebärde. Tanzkunst = ausschweifende Gebärde. Zwischendrinnen steht die wirkliche sichtbare Sprache der Eurythmie, die weder bloß andeutende noch ausschweifende Gebärde ist, sondern ausdrucks-volle Gebärde, wie das Wort selbst ausdrucksvolle Gebärde ist. Denn das Wort ist ja nur die Luftgebärde. Wenn wir das Wort for­men, so pressen wir die Luft in einer gewissen Gebärde heraus. Derjenige, der sinnlich-übersinnlich anschauen kann, was sich da aus dem menschlichen Munde heraus formt, sieht in der Luft die Gebärden, die da gemacht werden, das sind die Worte. Bildet man sie nach, bekommt man die Eurythmie, die ebenso eine ausdrucks-volle sichtbare Gebärde ist, wie die Luftgebärde im Sprechen eine unsichtbare Gebärde ist, in die der Gedanke hineinkommt, Wellen zieht in der Gebärde und dadurch das Ganze gehört werden kann. Die Eurythmie ist die Umsetzung der Luftgebärde in sichtbare Gliedgebärde, ausdrucksvolle Gebärde.

Doch über diese Dinge muß ich, ergänzend das Thema «Anthro-posophie und Kunst», in dem nächsten Vortrag über «Anthro­posophie und Dichtung» dann sprechen. Es wird alles das berührt werden können, wenn über Anthroposophie und Dichtung im Spe­ziellen gesprochen wird. Ich wollte heute hauptsächlich das zur Andeutung bringen, wie anthroposophische Erkenntnis, im Gegen­satz zur intellektualistisch-materialistischen Erkenntnis, einen nicht mit den Gedanken tot macht, so daß man zum Kommentator der Kunst wird, wodurch man die Kunst begräbt, sondern wie anthro­posophische Erkenntnis den phantasievollen künstlerischen Quell

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sprudeln macht. Sie macht den Menschen selbst entweder zum künstlerischen Genießer oder zum künstlerisch Schöpfenden, be­wahrheitet also auch heute wirklich das, was man immer wieder betonen muß, daß Kunst, Religion, Wissenschaft einstmals Schwe­stern waren, die sich nur entfremdet haben, die aber wiederum, wenn der Mensch als Vollmensch sich empfinden und fühlen will, in ihrem geschwisterlichen Verhältnis sich zusammenfinden müs­sen. So daß der Gelehrte nicht hochmütig das Kunstwerk erst dann anerkennt, wenn er es kommentieren kann, im übrigen eben trocken sich abwendet vom Kunstwerke, sondern daß der Gelehrte sich sagt: Dasjenige, was ich mit den Gedankengebärden deuten kann, führt gerade zu dem lebendigen Bedürfnis, es künstlerisch, architektonisch, plastisch, malerisch, musikalisch, dichterisch zu gestalten.

Das Goethesche Wort wird wahr: Die Kunst ist eine Art von Erkenntnis, - weil die andere Erkenntnis keine vollständige Welt-erkenntnis ist Kunst muß erst hinzutreten zu dem abstrakt Erkann­ten, wenn wirkliche Welterkenntnis eintreten soll. Es bleibt doch wahr, daß dann, wenn solche Erkenntnis eintritt, die bis zum Ge­stalten vordringt, auch das so tief in die Menschenseele hereingeht, das diese Vereinigung von Kunst und Wissenschaft auch die reli­giöse Stimmung abgibt. Deshalb, weil das im Goetheanum erstrebt wurde, haben nicht deutsche, sondern gerade außerdeutsche Freunde die Forderung aufgestellt, den Dornacher Bau

Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,

Hat auch Religion;

Wer jene beiden nicht besitzt,

Der habe Religion.

Denn aus wahrer Wissenschaft und wahrer Kunst, wenn sie in lebendiger Weise zusammenfließen, wird religiöses Leben. Wie auch religiöses Leben weder Wissenschaft noch Kunst zu verleug­nen braucht, sondern nach beiden gerade mit aller Energie und aller Lebenswirklichkeit hinstrebt.

ACHTER VORTRAG Kristiania, 20. Mai 1923

#G276-1961-SE132 Das Künstlerische in seiner Weltmission

#TI

ACHTER VORTRAG

Kristiania, 20. Mai 1923

#TX

Vorgestern bemühte ich mich zu zeigen, wie anthroposophische Er­kenntnis, die zu gleicher Zeit inneres Leben der Seele ist, nicht von der Kunst, dem künstlerischen Auffassen und dem künstlerischen Erschaffen wegführt, sondern wie derjenige, der in voller Lebendig­keit das anthroposophische Leben ergreift, in der Tat auch in sich den Quell des künstlerischen Auffassens und Schaffens eröffnet. Ich versuchte, für die verschiedenen Gebiete des Künstlerischen einiges anzudeuten, das darauf hinausging, das Leben in den ver­schiedenen Reichen der Kunst herauszulösen aus den Mitteln, deren sich die Kunst bedient.

Neben dem Architektonischen, dem, wenn ich wiederum das paradoxe Wort gebrauchen darf, Bekleidungskünstlerischen und dem Plastischen habe ich für das Malerische versucht, das wirk­liche Erleben der Farbe zu zeigen, und ich habe mich bemüht zu zeigen, wie die Farbe tatsächlich nicht bloß etwas ist, was gewisser­maßen an der Oberfläche der Dinge und Wesenheiten hinzieht, sondern was aus dem Inneren, aus dem wirklich Wesenhaften der Welt heraus leuchtet, dieses Wesen offenbart. Und da kam ich dar­auf, zu zeigen, wie das Grün das wirkliche Bild des Lebens ist, so daß die Pflanzenwelt ihr eigenes Leben offenbart in dem Grün. Das Grün bezeichnete ich als herrührend von den mineralischen, also den toten Einschlüssen, den toten stofflichen Bestandteilen des Lebendigen. Das Lebendige zeigt sich uns in der Pflanze durch das Grün in einem toten Bilde. Das ist gerade das Reizvolle, daß sich das Lebendige in dem toten Bilde zeigt. Wir brauchen nur daran zu denken, wie uns die menschliche Gestalt in dem toten Bilde der Plastik erscheint, und wie das Reizvolle gerade darinnen besteht, daß im Plastischen ein totes Bild des Lebendigen erscheinen kann, daß in toten, starren Formen das Leben zum Ausdrucke gebracht werden kann. So ist es auch im Farbigen mit dem Grün. Das Reizvolle

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des Naturgrün besteht eben darinnen, daß das Grün, ohne selbst den Anspruch an das Leben zu machen. als totes Bild des Lebens erscheint.

Ich wiederhole das aus dem letzten Vortrage, um zu zeigen, wie sich in der Tat der Weltenlauf wiederholt und dann in sich selbst zurückkehrt, indem er farbig seine verschiedenen Elemente, das Le­bendige, das Seelische, das Geistige zeigt. Und ich sagte schon das letzte Mal, ich wolle Ihnen heute diesen in sich selbst geschlosse­nen Kreis des Kosmischen in der Farbenwelt aufzeichnen. Wir können also sagen: Das Grün erscheint als das tote Bild des Lebens.

# Bild s. 133

Im Grün verbirgt sich das Leben. - Wenn wir dagegen dasjenige Farbige anschauen, welches die Inkarnatfarbe des Menschen ist, die am ähnlichsten der Farbe der frischen Pfirsichblüte im Frühling ist, so bekommen wir in diesem Farbigen das lebendige Bild des See-lischen. Wir bekommen also in der Farbe des Inkarnats das leben­dige Bild des Seelischen. In dem Weiß, dem wir uns künstlerisch hingeben, haben wir, wie ich vorgestern sagte, das seelische Bild des Geistes, der sich als solcher verbirgt. Und in dem Schwarz,

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wenn ich es künstlerisch erfasse, habe ich dann das geistige Bild des Toten. Der Kreis ist in sich geschlossen.

Ich habe die vier Farben: Grün, Inkarnatfarbe, Weiß und Schwarz, in ihrem künstlerischen Sich-Offenbaren erfaßt, und es zeigt sich darin das in sich geschlossene Leben des Kosmos innerhalb der Welt des Farbigen. Wenn wir gerade diese Farben künstlerisch ins Auge fassen, die hier gewissermaßen zu einem geschlossenen Kreis sich formen, dann können wir aus unserer Empfindung gewahr werden, wie wir das Bedürfnis haben, diese Farben eigentlich immer im Bilde zu bekommen, im geschlossenen Bilde.

Natürlich muß ich auch immer, indem ich Künstlerisches be­handle, nicht auf den abstrakten Verstand reflektieren, sondern auf die künstlerische Empfindung. Künstlerisches muß man künst­lerisch erkennen. Daher kann ich nicht durch irgendeinen Begriffs-beweis Sie hier darauf aufmerksam machen, wie man bei Grün, Pfirsichblüt, Weiß und Schwarz das Bedürfnis hat, das geschlossene Bild zu haben. Man will eine Kontur haben und innerhalb der Kontur das geschlossene Bild. Es ist in diesen vier Farben immer etwas von Schatten enthalten. Das Weiß ist gewissermaßen der hellste Schatten, denn es ist das Weiß abgeschattetes Licht. Das Schwarz ist der dunkelste Schatten. Grün und Pfirsichblüt sind Bil­der, das heißt in sich gesättigte Flächen, was der Fläche etwas Schattenhaftes gibt. So haben wir in diesen vier Farben Bildfarben oder Schattenfarben. Und wir wollen diese Farben als Bildfarben und Schattenfarben empfinden.

Ganz anders wird das, wenn wir zu anderen Farben mit unseren Empfindungen übergehen. Diese anderen Farben sind, wenn ich drei Nuancen von ihnen nehme, Rot, Gelb und Blau. Bei diesen Farben, Rot, Gelb, Blau, haben wir nicht das Bedürfnis, wenn wir auf unser unbefangenes künstlerisches Empfinden zurückgehen, sie in geschlossenen Konturen zu haben, sondern wir haben das Be­dürfnis, daß uns die Fläche erglänzt in diesen Farben, daß uns der Glanz des Roten von der Fläche entgegenleuchtet, oder daß uns das Matte des Blaus von der Fläche aus beruhigend entgegenwirkt, oder daß uns das Leuchtende des Gelben von der Fläche entgegenglänzt.

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Und so kann man die vier Farben, Inkarnat, Grün, Schwarz> Weiß, die Bildfarben oder Schattenfarben nennen; dagegen Blau, Gelb, Rot die Glanzfarben, die aus dem Bilde des Schattenhaften erglänzen. Und wir kommen wiederum, wenn wir mit unserer Empfindung verfolgen, wie die Welt in den drei Farben Rot, Gelb, Blau, glänzend wird, dazu, uns zu sagen: In dem Aufleuchten des Roten wollen wir vorzugsweise das Lebendige schauen. Das Leben­dige will sich uns offenbaren, wenn es uns rot, aktiv rot entgegen­kommt, so daß wir das Rot nennen können den Glanz des Leben­digen. Will der Geist nicht bloß in seiner abstrakten Gleichheit als Weißes sich uns offenbaren, sondern zu uns innerlich intensiv spre­chen, so will er - das heißt unsere Seele will das empfangen - gelb glänzen. Gelb ist der Glanz des Geistes. Will die Seele so recht innerlich sein und will dies zur künstlerischen Offenbarung in der Farbe kommen, dann will die Seele sich hinwegheben von den äußerlichen Erscheinungen, will in sich beschlossen sein. Das gibt den milden Schein des Blaus. Und so ist der milde Schein des Blaus der Glanz des Seelischen. Wir kommen dazu, die drei Glanzfarben so zu empfinden, daß wir das Rot als den Glanz des Lebendigen, das Blau als den Glanz des Seelischen und das Gelb als den Glanz des Geistigen empfinden.

Sehen Sie, dann leben wir in der Farbe, dann verstehen wir mit unserer Empfindung, mit unserem Gefühl die Farbe, wenn wir überall die Empfindung haben, wie sich eine Welt aus den Bild-farben Pfirsichblüt, Grün, Schwarz, Weiß zusammensetzt und aus den Glanzfarben, die wiederum den Bildfarben den entsprechenden Schein der Offenbarung geben: Rot, Gelb, Blau. Man wird, wenn man sich in dieser Weise in den Glanz und in die Bildhaftigkeit der Welt des Farbigen hineinlebt, dadurch innerlich vom Seelischen aus zum Maler, denn man lernt leben mit der Farbe. Man lernt zum Beispiel empfinden, was die einzelne Farbe uns selber sagen will. Blau ist der Glanz des Seelischen. Wenn wir eine Fläche blau bestreichen, so fühlen wir eigentlich uns nur dann befriedigt, wenn wir das Blau so auftragen, daß wir es am Rande stark auftragen und nach der Mitte zu schwächer werden lassen.

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Tragen wir dagegen das Gelb auf und wollen uns von der Farbe selber etwas sagen lassen, dann wollen wir in der Mitte das gesät­tigte Gelb und am Rande das ungesättigte helle Gelb haben. Das fordert die Farbe selber. Dadurch wird, was in Farben lebt, all­mählich sprechend. Wir kommen dazu, aus den Farben heraus die Form zu gebären, das heißt aus der Farbenwelt heraus empfindend zu malen.

Es wird uns nicht einfallen, wenn wir in dieser Weise die Welt als Farbe erleben, wenn wir zum Beispiel eine Gestalt als leuch­tende weiße Gestalt, also im Geist lebende Gestalt hingehen lassen wollen im Bilde, daß wir diese in einer anderen Farbe als in einer gelb und nach außen hellgelb verlaufenden Farbe zeigen. Es wird uns nicht einfallen, die empfindende Seele auf einem Bilde anders zu malen, wenn wir das auch vielleicht nur in der Gewandung ausdrücken können, als dadurch, daß wir das Blau verwenden, das nach innen zu sanft blau verläuft. Genießen Sie von diesem Ge­sichtspunkt aus noch die Maler der Renaissance, Raffael, Michel­angelo, selbst noch Lionardo, so werden Sie überall finden, da lebte man noch in dieser Weise künstlerisch wirklich in der Farbe.

Vor allen Dingen war da eines noch vorhanden, vorhanden voll in der fast für unsere heutige Zeit ganz verglommenen Malerei, aber noch im Nachklang auch in der Renaissancemalerei, die innere Perspektive des Bildes, die in der Farbe lebt. Wer Rot zum Beispiel, den Glanz des Roten, wirklich empfindet, der wird immer erleben, wie das Rot aus dem Bilde herauskommt, wie das Rot das­jenige, was es abbildet, im Bilde uns nahe bringt, während das Blau das, was es abbildet, in die Ferne trägt. Und wir malen auf der Fläche in Rot-Blau, indem wir zu gleicher Zeit perspektivisch malen: das Rote nahe, das Blaue ferne. Wir malen Farbenperspek­tive, innerliche Perspektive. Das ist diejenige Perspektive, die noch im Seelisch-Geistigen lebte.

Im materialistischen Zeitalter kam erst - das berücksichtigt man so wenig - die Raumperspektive auf, die Perspektive, die nun mit Raumgrößen rechnet, das Ferne nicht in Blau taucht, sondern klein macht, das Nahe nicht in Rot erglänzen läßt, sondern groß macht.

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Diese Perspektive ist erst eine Beigabe des materialistischen Zeit­alters, das im Räumlich-Materiellen lebte und auch im Räumlich­Materiellen malen wollte.

Wir sind heute wiederum in der Zeit, wo wir zurückfinden müs­sen zum Naturgemäßen des Malens. Denn zum Material des Ma­lers gehört auch die Fläche. Zuerst hat man die Fläche. Und daß man auf der Fläche arbeitet, das zählt man zum Material des Ma­lers. Der Künstler muß aber vor allen Dingen sein Materialgefühl haben. Er muß zum Beispiel ein so starkes Materialgefühl haben, daß er weiß, will er ein Plastisches aus dem Holze heraus arbeiten, dann muß er zum Beispiel die Augen des Menschen ausgraben aus dem Holz. Er muß dasjenige, was konkav ist, vor allen Dingen ins künstlerische Auge fassen und aushöhlen. Der in Holz arbeitende Bildhauer höhlt das Holz aus. Der in Marmor oder in einem ande­ren Material, in einem harten Material, arbeitende Bildhauer be­rücksichtigt nicht, wie das Auge hineingeht. Er höhlt nicht aus, sondern er berücksichtigt, wie die Stirne herausgeht aus dem Auge. Er trägt auf. Er berücksichtigt das Konvexe. Der in Marmor Arbei­tende, schon wenn er in Plastilin oder einem anderen Material, in Tonmaterial, sich vorarbeitet, muß sich in sein Material hinein-versetzen. Der für den Marmor Arbeitende trägt auf. Der für das Holz Arbeitende höhlt aus. Man muß mit seinem Materiale leben können. Das Material muß für einen, wenn man Künstler ist, eine lebendige Sprache führen.

So muß es durchaus auch sein mit dem Farbigen. Und es muß vor allen Dingen so sein mit der Tatsache, daß man als Maler die Fläche zum Material hat. Man empfindet die Fläche nur, wenn man die dritte Raumdimension ausgelöscht hat. Man hat sie ausgelöscht, wenn man das Qualitative auf der Fläche als Ausdruck der dritten Dimension empfindet, wenn man das Blau als das Zurückgehende, das Rot als das Hervortretende empfindet, wenn also in die Farbe hinein sich lebt die dritte Dimension. Dann hebt man das Ma­terielle wirklich auf, während man das Materielle nur nachahmt in der Raumperspektive. Ich rede selbstverständlich nicht gegen die Raumperspektive. Sie war dem Zeitalter, das etwa in der Mitte des

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fünfzehnten Jahrhunderts herauftauchte, selbstverständlich und natürlich und hat etwas Gewaltiges zu dem alten Künstlerischen im Malen hinzugebracht. Aber das Wesentliche ist doch, daß, nach­dem wir eine Zeitlang künstlerisch durch den Materialismus durch. gegangen sind, der sich auch in der Raumperspektive ausdrückt, wir wiederum zu einer mehr spirituellen Auffassung auch des Male. rischen zurückzukehren vermögen, so daß wir wiederum zur Farben. perspektive zurückkommen.

Sehen Sie, man kann nicht theoretisieren, wenn man über Kunst spricht. Man muß immer im Mittel der Kunst bleiben. Und das­jenige, was einem zur Verfügung stehen kann, wenn man über Kunst spricht, muß die Empfindung sein. Wenn man über Mathe­matik spricht, oder über Mechanik oder Physik, kann man nicht aus der Empfindung heraus sprechen, sondern da muß man aus dem Verstande heraus sprechen, aber man kann gar nicht aus dem Verstande heraus irgendwie die Kunst betrachten. Zwar haben dies die Ästhetiker des neunzehnten Jahrhunderts getan. Da hat mir einmal ein Künstler in München erzählt, er und seine Kollegen seien auch einmal, als sie jung waren, um es zu probieren, in das Kolleg eines Ästhetikers gegangen, sogar eines sehr berühmten Ästhetikers in der damaligen Zeit, um zu sehen, ob sie etwas von dem theoretisierenden Ästhetiker lernen können. Aber sie sind alle nicht ein zweites Mal hingegangen und haben nur den Ausdruck «ästhetischer Wonnegrunzer» dafür übrig behalten. Sie als Maler haben ihn den «ästhetischen Wonnegrunzer» genannt. Vielleicht versteht man doch das künstlerisch-ironisch Absprechende über die Theoretik in diesem Ausdruck.

Nun, dasselbe, was man so im lebendigen Leben und Weben der Farben darstellen kann, kann man auch aus dem Weben und Leben in Tönen darstellen. Nur kommt man gerade da, wie ich schon vorgestern andeutete, mit der Tonwelt, mit dem musikalischen Ele­mente in das Innere des Menschen. Indem der Mensch Plastiker wird, Maler wird, geht er hinaus in den Raum, auch wenn er als Maler den Raum zum zweidimensionalen aufhebt, stellt er in ihm doch dasjenige dar, was sich im Raume farbig ätherisch darlebt

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und offenbart. Mit dem Musikalischen kommen wir in das unmit­telbar Innere des Menschen, und es ist außerordentlich bedeutsam, wenn wir gerade das Musikalische innerhalb des Entwickelungs­ganges der Menschheit ins Auge fassen.

Diejenigen der verehrten Anwesenden und Freunde, welche öfter meine Vorträge gehört haben oder die anthroposophische Lite. ratur kennen, wissen, daß wir im Entwickelungsgang der Mensch. heit bis in diejenigen Zeiten zurückgehen, die wir die atlantische Epoche der Menschheitsentwickelung nennen, wo noch ein ganz anderes Menschengeschlecht auf Erden war, das mit einem ur­sprünglichen instinktiven Heilsehen begabt war, das im wachen Träumen das Geistige hinter dem Sinnlichen sah. In diesem Zeit­alter, wo die Menschen noch ein instinktives Hellsehen hatten, instinktiv das Geistige hinter dem Sinnlichen sahen, ging parallel diesem Schauen auch ein andersartiges Empfinden des Musika­lischen. Beim Erfassen des Musikalischen fühlte der Mensch instink­tiv in uralten Zeiten sich heraus versetzt aus seinem Leibe. Dahet gefielen diesen Leuten in uralten Zeitaltern vorzugsweise, so paradox das für den heutigen Menschen klingt, die Septimenakkorde. Sie musizierten und sangen in Septimen, etwas, was heute nicht meht in vollem Maße als musikalisch empfunden wird. Aber die Leute fühlten sich auch im Genießen der Septimenakkorde ganz aus dem Menschlichen ins Göttliche herausversetzt.

Das schwächte sich dann im Laufe der Zeit ab, indem der Über­gang gefunden wurde von dem Septimenerleben zu den Quinten­skalen. Im Wahrnehmen der Quinte, im Betonen des Quintenhaf­ten im Musikalischen war noch immer eine Empfindung davon, daß der Mensch eigentlich mit dem Musikalischen das Göttliche in ihm loslöst vom Physischen. Aber der Mensch kam, während er bei den Septimen herauskam, völlig sich entrückt fühlte zum Geistigen, mit seinem Empfinden in den Quinten gerade bis an die Grenze seines Physischen. Er empfand sein Geistiges an der Grenze seiner Haut, eine Empfindung, die der Mensch heute gar nicht mehr mit dem gewöhnlichen Bewußtsein verwirklichen kann.

Dann trat, wie Sie aus der Geschichte der Musik wissen werden,

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die Terzzeit ein, die Zeit der großen und kleinen Terzen. Diese Terzzeit bedeutet, daß das Musikalische von dem Erlebtwerden außer dem Menschen, als eine Art von menschlicher Entrücktheit, in den Menschen ganz hineingenommen wurde. Die Terz, sowohl die große Terz wie die kleine Terz, und die dadurch bedingte Dur-und Molltonart, nehmen das Musikalische in den Menschen herein. Daher tritt in der neueren Zeit, als die Quintenzeit in die Terzzeit übergeht, das Phänomen ein, daß der Mensch das Musikalische auch ganz innerlich erlebt, gewissermaßen innerhalb seiner Haut erlebt.

Wir sehen den parallelen Übergang, auf der einen Seite die Raumperspektive, welche hinausdringen will malerisch in den Raum, auf der anderen Seite die Terzentonart, die hineindringt in den ätherisch-physischen Leib des Menschen, also nach beiden Sei­ten hin zum naturalistischen Auffassen. Auf der einen Seite in der Raumperspektive äußerer Naturalismus, auf der anderen Seite im musikalischen Erfassen der Terz innerer menschlicher Naturalis­mus. Überall, wo wir das wirkliche Wesen der Dinge erfassen, drin­gen wir durchaus auch zu einer Erkenntnis der ganzen Stellung des Menschen zum Kosmos vor. Und die nächste Entwickelung wird auch im Musikalischen eine Vergeistigung, eine Verspiritualisie­rung sein. Sie wird darinnen bestehen, daß wir den einzelnen Ton in seiner besonderen Eigenart kennenlernen werden. Den einzelnen Ton, den wir heute in die Harmonie oder in die Melodie hinein-fügen, damit er mit dem anderen Ton zusammen das Geheimnis des Musikalischen enthülle, werden wir nicht mehr bloß in seinem Verhältnis zu anderen Tönen erkennen, also gewissermaßen nach der Ebenendimension erfassen, sondern wir werden ihn in seiner Tiefendimension erfassen, wir werden in den einzelnen Ton ein­dringen, dann wird im einzelnen Ton immer ein Ansatz zu verbor­genen Nachbartönen erscheinen. Man wird lernen fühlen: Vertieft man sich, versenkt man sich in den Ton, dann offenbart der Ton drei oder fünf oder noch mehr Töne, und man dringt mit dem Ton, in den man sich vertieft, indem der Ton selbst zur Melodie und zur Harmonie sich ausweitet, ins Spirituelle ein. - Bei einzelnen

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Musikern der Gegenwart sind Ansätze gemacht zu diesem Ein­dringen in die Tiefendimensionen des Tones, allein es ist heute im musikalischen Empfinden der Menschen gerade erst, man möchte sagen, die Sehnsucht vorhanden, den Ton in seiner geistigen Tiefe zu erfassen und dadurch auch auf diesem Gebiete immer mehr und mehr aus dem Naturalistischen in das Spirituelle der Kunst hinein­zudringen.

Ganz besonders merkt man diese Tatsache, daß sich im Künst­lerischen ein besonderes Verhältnis des Menschen zur Welt äußert, wenn man vordringt von den Künsten der Außenwelt, Architektur, Bekleidungskunst, Plastik, Malerei, durch die Künste des mehr Innerlichen, die musikalischen Künste, zu der dichterischen Kunst. Und da, meine sehr verehrten Anwesenden, muß ich leider be­dauern, die ursprüngliche Absicht nicht ausführen zu können, daß dasjenige, was ich als Rest dieser künstlerischen Betrachtung über Dichterisches zu sagen habe, illustriert werden könnte durch die Deklamation und Rezitation von Frau Dr. Steiner. Sie ist leider noch immer nicht von einer wochenlang andauernden Erkältung so weit hergestellt, daß sie es heute wagen kann, rezitatorisch und deklamatorisch vor Ihnen aufzutreten. Es muß also diese Illustra­tion desjenigen, was ich Ihnen zu sagen habe, zu meinem tiefen Leidwesen unterbleiben. Allein wir wagten eben doch nicht, zu dem etwas unkünstlerischen Gekrächze, zu welchem ich während dieses norwegischen Kursus durch meine eigene Erkältung genötigt bin, auch die noch nicht ganz hergestellte Stimme von Frau Dr. Steiner hinzuzufügen, denn im Künstlerischen kann man eben weniger wagen, das Reden ins Krächzen zu verwandeln, als im ge­wöhnlichen Vortrage.

Wenn wir heraufdringen in das Dichterische, fühlen wir so recht uns vor eine große Frage gestellt. Das Dichterische entspringt aus der Phantasie. Die Phantasie stellt für die Menschen gewöhn­lich nur das Unwirkliche vor, das, was man sich einbildet, was nicht da ist. Aber welche Kraft äußert sich denn eigentlich in der Phantasie?

Schauen wir, um die Kraft der Phantasie zu verstehen, dazu einmal

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das kindliche Alter an. Das kindliche Alter hat noch nicht Phantasie. Es hat höchstens Träume. Die frei schöpferische Phan­tasie lebt noch nicht im Kinde. Sie lebt nicht offenbar. Aber sie ist nicht etwas, was plötzlich aus den Menschen in einem bestimmten Lebensalter aus dem Nichts hervorkommt. Die Phantasie ist doch nämlich verborgen da im Kinde, obwohl sie sich nicht offenbart, und das Kind ist eigentlich voll von Phantasie. Aber was tut denn beim Kinde die Phantasie? Ja, dem, der mit unbefangenem Geistes-auge die Menschenentwickelung betrachten kann, zeigt sich, wie im zarten Kindesalter noch unplastisch im Verhältnis zu der späteren Gestalt namentlich das Gehirn, aber auch der übrige Organismus ausgebildet ist. Das Kind ist innerlich der unglaublichst-bedeutende Plastiker in der Ausgestaltung seines eigenen Organismus. Kein Plastiker ist imstande, so wunderbar aus dem Kosmos heraus Weltenformen zu schaffen, als das Kind sie schafft, wenn es in der Zeit zwischen der Geburt und dem Zahnwechsel plastisch das Ge­hirn ausgestaltet und den übrigen Organismus. Das Kind ist ein wunderbarer Plastiker, nur arbeitet die plastische Kraft in den Orga­nen als innerliche Wachstums- und Bildekraft. Und das Kind ist auch ein musikalischer Künstler, denn es stimmt seine Nerven-stränge in musikalischer Weise. Wiederum ist die Phantasiekraft Wachstumskraft, Kraft der Abstimmung des Organismus selber.

Sehen Sie, wenn wir nach und nach zu dem Zeitalter aufrücken, in dem der charakterisierte Zahnwechsel geschieht, um das siebente Jahr herum, und nachher aufrücken zu dem Zeitalter der Ge­schlechtsreife, da brauchen wir nicht mehr so viel plastisch-musi­kalische Kraft als Wachstumskraft, als Bildekraft in uns wie früher. Da bleibt etwas übrig. Da kann die Seele gewissermaßen etwas herausziehen aus der Wachstums- und Bildekraft. Was die Seele dann nicht mehr braucht nach und nach, indem das Kind heran­wächst, um den eigenen Körper als Wachstumskraft zu versorgen, das bleibt übrig als Phantasiekraft. Die Phantasiekraft ist nur die ins Seelische metamorphosierte natürliche Wachstumskraft. Wollen Sie kennenlernen, was die Phantasie ist, studieren Sie zunächst die lebendige Kraft im Formen der Pflanzengebilde, studieren Sie die

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lebendige Kraft im Formen der wunderbaren Innengebilde des Organismus, die das Ich zustande bringt, studieren Sie alles das­jenige, was im weiten Weltenall gestaltend ist, was in den unter­bewußten Regionen des Kosmos gestaltend und bildend und wach­send wirkt, dann haben Sie auch einen Begriff von dem, was dann übrig bleibt, wenn der Mensch so weit in der Bildung seines eige­nen Organismus vorgerückt ist, daß er nicht mehr das volle Maß seiner Wachstums- und Bildekraft braucht Dann rückt ein Teil in die Seele herauf und wird Phantasiekraft. Und erst ganz zuletzt, das Letzte, was übrig bleibt, ich kann nicht sagen der Bodensatz, weil der Bodensatz unten ist, und das, was da übrig bleibt, geht nach oben, ist dann die Verstandeskraft. Das ist die ganz durch­gesiebte Phantasiekraft, das Letzte, was übrig bleibt, ich kann nicht sagen der Bodensatz, sondern der Niveausatz, der oben heraus­kommt: der Verstand.

Der Verstand ist die durchgesiebte Phantasie. Das beachten die Leute nicht, deshalb halten sie den Verstand für ein so viel größe­res Wirklichkeitselement, als die Phantasie es ist. Aber die Phan­tasie ist das erste Kind der natürlichen Wachstums- und Bildekräfte selbst. Daher drückt die Phantasie etwas unmittelbar Wirkliches nicht aus, denn solange die Wachstumskraft im Wirklichen arbeitet, kann sie nicht zur Phantasie werden. Es bleibt erst etwas übrig für die Seele als Phantasie, wenn das Wirkliche versorgt ist. Aber innerlich, der Qualität, der Wesenheit nach ist die Phantasie durch­aus dasselbe wie die Wachstumskraft. Dasjenige, was unseren Arm von der Kleinheit größer werden läßt, ist dieselbe Kraft wie das­jenige, was in uns dichterisch in der Phantasie, überhaupt künst­lerisch in der Phantasie tätig ist in der seelischen Umgestaltung. Das muß man wiederum nicht theoretisch verstehen, sondern man muß es innerlich gefühls- und willensmäßig verstehen. Dann be-kommt man vor dem Walten der Phantasie auch die nötige Ehr­furcht, unter Umständen auch gegenüber diesem Walten der Phan­tasie den nötigen Humor. Kurz, es wird die Anregung für den Menschen geschaffen, in der Phantasie eine in der Welt waltende göttliche Kraft zu empfinden. Diese in der Welt waltende göttliche

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Kraft, die sich durch den Menschen ausdrückt, empfanden vor allen Dingen die Menschen in jenen alten Zeiten, auf die ich im vor­hergehenden Vortrag hingedeutet habe, wo Kunst und Erkenntnis noch eins waren, wo in den alten Mysterien dasjenige, was man erkennen sollte, noch durch die schön, das heißt künstlerisch ge­faßten Kultushandlungen vorgestellt wurde, nicht durch die Ab­straktionen des Laboratoriums und der Klinik, wo der Arzt noch nicht in den Anatomiesaal ging, um den Menschen kennenzu­lernen, sondern wo er in die Mysterien ging und die Geheimnisse des menschlichen gesunden und kranken Lebens in dem Mysterien-zeremoniell ihm enthüllt wurden und er auch dadurch innerlich den Einlaß in die menschliche Wesenheit erlangte.

In dieser Zeit fühlte man, der Gott, der in einem. webte und [ebte, als man vom kleinen Kinde plastisch und musikalisch sich formend und bildend aufwuchs, lebte auch noch in der Phantasie fort. Daher war man sich in alten Zeiten klar, in denen die tiefe innerliche Verwandtschaft zwischen Religion, Kunst und Wissen­schaft empfunden worden ist, daß man eigentlich die Phantasie nur dann nicht entheiligt, nicht profaniert, wenn man sich bewußt bleibt, daß man sich zum Göttlichen in irgendeiner Weise hinfin­den müsse, oder dem Göttlichen Einlaß geben müsse in den Men­schen, wenn man dichterisch sich offenbaren will. Wenn in den ältesten Zeiten in dramatischen Gestaltungen niemals der äußere Mensch dargestellt worden ist, so ist es daher - das klingt wie­derum paradox für die Menschen der Gegenwart, der anthroposo­phische Forscher weiß das natürlich, er muß das sagen, trotzdem es paradox klingt, er weiß die Einwände, die gemacht werden kön­nen, ebenso wie die Gegner sie wissen, aber es muß doch dieses Paradoxe gesagt werden -, weil die älteste dramatische Phantasie der Menschheit es als absurd empfunden hätte, gewöhnliche Men­schen auf die Bühne zu stellen, die allerlei sich sagen, allerlei Ge­sten gegeneinander machen. Warum soll man denn das tun?, so würde noch ein Grieche der Vor-Sophokleischen, namentlich der Zeit vor dem Äschylos sich gesagt haben. Warum denn? Das ist ja im Leben ohnedies vorhanden. Da brauchen wir nur in die

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Straßen und Zimmer zu gehen, da sehen wir, wie die Menschen miteinander reden, wie die Menschen Gebärden gegeneinander machen. Wozu das? Das haben wir immer vor uns. Warum sollen wir das noch extra auf die Bühne hinstellen? - Närrisch wäre das noch den ältesten Griechen vorgekommen, gewöhnliche Menschen, die man in ihren Handlungen alltäglich sieht, noch extra auf die Bühne hinzustellen. Dasjenige, was man wollte, war, den Gott im Menschen zu ergreifen. Wenn man den Menschen auf die Bühne stellte, da sollte der Mensch den Gott im Menschen darstellen, namentlich den aus den Erdentiefen heraufsteigenden Gott, der den Menschen den Willen gibt. Die Willensbegabung sahen mit einem gewissen Recht unsere alten Vorfahren, noch die alten Griechen, als von dem Irdischen heraufkommend in die menschliche Natur. Die Götter der Tiefe, die in den Menschen hineinsteigen, um ihm den Willen zu geben, die dionysischen Götter wollten die Menschen der alten Zeiten auf der Bühne sehen. Der Mensch war gewisser­maßen nur die Umhüllung der dionysischen Gottheit. Es war durch­aus der den Gott in sich aufnehmende, der vom Gotte sich begeistern lassende Mensch, der in den ältesten dramatischen Darstellungen des Mysterienwesens auftrat. Der Mensch, der den Gott aufnahm, war derjenige, der als dramatische Person auftrat.

Der Mensch, der sich zum Gott der Höhe erhob, besser gesagt zur Göttin der Höhe, weil man unten die männlichen Gottheiten in der alten Zeit erkannte, in den Höhen die weiblichen Gott­heiten, derjenige, der sich zu den Höhen erhob, um das Göttliche zu erreichen, so daß es sich zu ihm herniedersenkte, wurde zum Epiker, der nicht selbst sprechen, sondern die Gottheit in sich spre­chen lassen wollte. Der Mensch gab sich her, eine Hülle zu sein den Göttinnen der Höhe, damit sie durch ihn auf die Ereignisse der Welt schauen können, auf dasjenige, was Achill und Agamemnon und Odysseus und Ajax getan haben. Was Menschen darüber zu sagen haben, das wollten die alten Epiker nicht zum Ausdrucke bringen. Das hört man täglich auf dem Marktplatz, was Menschen über die Helden zu sagen haben. Was aber die Göttin zu sagen hat. wenn der Mensch sich ihr hingibt. über das Irdisch-Menschliche,

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das war epische Dichtkunst. «Singe, o Muse, vom Zorn mir des Peleiden Achilleus», so beginnt Homer die Ilias. «Singe, 0 Muse» - das heißt: o Göttin - «vom Manne, dem vielgereisten Odysseus», so beginnt Homer in der Odyssee. Das ist keine Phrase, das ist tief innerliches Bekenntnis des wahren Epikers, der die Göt­tin in sich sprechen läßt, der nicht selber sprechen will, der in seine Phantasie, die das Kind der kosmischen Wachstumskräfte ist, das Göttliche aufnimmt, damit das Göttliche in ihm spricht über die Ereignisse der Welt. Als dann die Zeit immer naturalistischer und materialistischer wurde, aber, ich möchte sagen mit einem gewissen wirklichen künstlerischen Gefühl noch Klopstock seine «Messiade» dichtete, da getraute er sich nicht mehr, weil man nicht mehr so zu den Göttern hinsah wie in alten Zeiten, etwa zu sagen: Singe, o Muse, der sündigen Menschen Erlösung, die der Messias auf Erden in seiner Menschheit vollendet. - Das getraute sich Klop­stock im achtzehnten Jahrhundert nicht mehr zu sagen. Und so sagte er: «Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlö-sung.» Er wollte aber auch noch im Anfange etwas über den Men­schen Herausgehobenes haben. Das ist noch eine, wenn auch schamhafte Empfindung für dasjenige, was in alten Zeiten vollgül­tig war: Singe, 0 Muse, vom Zorn mir des Peleiden Achilleus.

So fühlte sich der Dramatiker, wie wenn der Gott aus den Tie­fen zu ihm heraufgestiegen wäre und er die Hülle des Gottes sein sollte. So fühlte sich der Epiker, wie wenn die Muse, die Göttin, zu ihm heruntergestiegen wäre und über die irdischen Verhältnisse urteilen würde. Daher wollte der Grieche in den alten Zeiten es auch vermeiden, als Schauspieler, als Verkörperer des Dramati­schen, das individuell Menschliche unmittelbar hervortreten zu las­sen. Er stand auf Erhöhungen seiner Beine, seiner Füße. Er hatte etwas wie eine Art leichten Musikinstrumentes, durch das sein Ton erklang. Denn er wollte dasjenige, was dramatisch dargestellt wurde, hinausheben über das individuell persönlich Menschliche. Ich spreche wiederum nicht etwa gegen den Naturalismus, der für ein gewisses Zeitalter selbstverständlich und natürlich war. Denn in der Zeit, als Shakespeare seine dramatischen Gestalten in ihrer

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übergroßen Vollkommenheit hinstellte, war man dazu gelangt, das Menschliche menschlich erfassen zu wollen, da war durchaus ein anderer Trieb, etwas anderes als künstlerische Empfindung da. Aber jetzt müssen wir wieder den Weg finden auch im Dichteri­schen zurück ins Spirituelle hinein, müssen wiederum den Weg finden, Gestalten darzustellen, in denen der Mensch selbst, der ein geistiges Wesen auch ist neben dem leiblichen, sich innerhalb der geistigen Ereignisse der Welt, die überall die Welt durchsetzen, zu bewegen vermag.

Ich habe das - ein erster, schwacher Versuch - in meinen Myste­riendramen versucht. Da treten Menschen auf, aber sie sagen sich nicht dasjenige, was gehört werden kann, wenn man auf den Markt­platz oder auf die Straße geht, sie sagen sich dasjenige, was zwi­schen Mensch und Mensch erlebt wird, wenn die höheren geistigen Impulse zwischen ihnen spielen, wenn das zwischen ihnen spielt, was nicht Instinkte, Triebe, Leidenschaften allein sind, sondern was in den Trieben und Leidenschaften als die Wege des Schicksals, die Wege des Karma, wie sie durch Jahrhunderte und Jahrtausende in den wiederholten Menschenleben spielen, hindurchgeht.

So handelt es sich darum, daß wir auf allen Gebieten wiederum zurückkommen zum Spirituellen. Wir müssen das, was uns der Naturalismus gebracht hat, gut verwerten können, wir müssen das, was wir uns angeeignet haben, dadurch daß wir in der Nach­ahmung des Natürlichen auch einmal durch Jahrhunderte ein Kunst-ideal gesucht haben, nicht verlieren. Das sind schlechte Künstler, geradeso wie schlechte Wissenschafter, die mit Spott und Hohn auf den Materialismus herabsehen. Der Materialismus mußte da sein. Es kommt nicht darauf an, daß wir die Mundwinkel verziehen über den niederen, bloß irdischen materiellen Menschen, die ganze materielle Welt. Es kommt darauf an, daß wir den Willen besitzen, in diese materielle Welt auch geistig wirklich einzudringen. Also wir müssen nicht dasjenige verachten, was uns wissenschaftlich der Materialismus, was uns künstlerisch der Naturalismus gebracht hat. Aber wir müssen den Weg wiederum zum Spirituellen zurück­finden, nicht indem wir einen trockenen Symbolismus ausbilden

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oder einen strohernen Allegorismus. Symbolismus wie Allegoris­mus sind unkünstlerisch. Einzig und allein die unmittelbare An­regung der künstlerischen Empfindung aus dem Quell heraus, aus dem die Ideen der Anthroposophie kommen, kann den Ausgangs­punkt für ein neues Künstlerisches liefern. Künstler müssen wir werden, nicht Symboliker und Allegoriker, indem wir gerade durch eine geistige Erkenntnis immer mehr und mehr in die geistigen, in die spirituellen Welten auch aufsteigen. Das kann sich aber ganz besonders entwickeln, wenn wir auch in der Rezitations- und De­klamationskunst hinauskommen aus dem bloßen Naturalismus, wiederum zu einer Art von Geistigkeit kommen. Sehen Sie, da muß immer wieder und wiederum betont werden, daß solche echten Künstler, wie zum Beispiel Schiller, zuerst eine unbestimmte Melo­die in der Seele hatten, oder wie Goethe ein unbestimmtes Bild, ein plastisches, bevor sie das Wortwörtliche ausgestalteten. Heute legt man im Rezitieren und Deklamieren oftmals den Hauptwert auf die prosaische Pointierung. Aber daß wir uns der Prosa bedienen müssen, um das dichterische Wort auszudrücken, das ist nur ein Surrogat. Auf den Prosa4nhalt kommt es bei der Dichtung gar nicht an. Es kommt nicht auf dasjenige an, was in der Dichtung in den Worten liegt, sondern es kommt in der Dichtung darauf an, wie es von dem wirklichen dichterischen Künstler gestaltet wird. Es ist nicht ein Prozent von denen, die dichten, wirklich Künstler, mehr als neunundneunzig Prozent sind gar keine Künstler von den Leuten, die dichten. Es kommt auf dasjenige an, was der Dichter durch das Musikalische erreicht, durch das Rhythmische, durch das Melodiöse, durch das Thematische, durch das Imaginative, durch das Lautgestaltende, nicht durch das Wortwörtliche. Durch das Wortwörtliche geben wir den Prosagehalt. Bei dem Prosagehalt handelt es sich erst darum, wie wir ihn behandeln, ob wir zum Beispiel einen Rhythmus, der schnell geht, wählen. Wenn wir einen schnellgehenden Rhythmus haben und etwas ausdrücken, so kön­nen wir freudige Erregung ausdrücken. Für die Dichtung ist es ganz gleichgültig, ob einer sagt: Der Held war in freudiger Erre­gung. - Das ist Prosa, auch wenn es in der Dichtung auftritt. Aber

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das Wesentliche ist in der Dichtung, daß man dann den Rhythmus wählt, der schnell dahingleitet. Wenn ich sage: Die Frau war tief in der Seele betrübt, - es ist Prosa, auch wenn es in der Dichtung vorkommt. Wenn ich einen Rhythmus wähle, der in sanften, lang­samen Wellen dahinfließt, drücke ich das Betrübtsein aus. Auf die Formgestaltung, auf den Rhythmus kommt es an. Oder wenn ich sage: Der Held führte einen kräftigen Stoß, - es ist Prosa. Wenn ich, während ich vorher die gewöhnliche Tonlage gehabt habe, dann den Ton voller nehme, hinaufgehe, wenn der Dichter das schon so veranlagt, daß er einen volleren u-Ton, einen volleren o-Ton nimmt, statt e-Tönen und i-Tönen, dann drückt er in der Sprachgestaltung, in der Sprachbehandlung dasjenige aus, was eigentlich ausgedrückt werden soll. Und auf diese Sprachgestaltung, auf diese Sprachbehandlung kommt es bei der wirklich dichteri­schen Kunst an.

Beim Deklamieren und Rezitieren kommt es auch darauf an, daß man lernt die Sprache zu gestalten, das Melodiöse, das Rhyth­mische, das Taktmäßige herauszugestalten, nicht die prosaischen Pointierungen, oder auch daß man lernt, imaginativ die Wirkung des dumpfen Lautes auf den vorhergehenden hellen zu ermessen des hellen Lautes auf den nachfolgenden dunklen zu ermessen und dadurch das innere Erleben der Seele in der Lautbehandlung zum Ausdrucke zu bringen. Die Worte sind nur die Leiter, an denen das Rezitatorische und Deklamatorische sich eigentlich entwickeln soll. Das ist die Rezitations- und Deklamationskunst, die wir versucht haben, auszubilden. Frau Dr. Steiner hat sich jahrelang bemüht, gerade diese Rezitationskunst auszubilden. Sie wird heute noch wenig verstanden. Aber wenn man wiederum zu einem künstleri­schen Empfinden auf einer höheren Stufe zurückkehren wird, dann wird man auch auf diesem Gebiete gegenüber dem heutigen prosa­ischen Pointieren, auf das kein Stein geworfen werden soll, gegen das nichts gesagt ist, das müssen wir beibehalten, wir haben es uns durch den Naturalismus errungen, wir sind dadurch menschlich geworden, aber wir müssen wiederum seelisch und geistig werden, indem wir durch den Inhalt der Worte, wodurch wir niemals Seelisches

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und Geistiges zum Ausdrucke bringen können, wiederum zu der Sprachbehandlung zurückkommen. Mit Recht sagt der Dich­ter: Spricht die Seele, so spricht, ach, die Seele nicht mehr. - Er meint, wenn die Seelenwelt übergeht, die Worte der Prosa zu prä­gen, wenn die Seele in Prosa spricht, ist es nicht mehr die Seele. Die Seele ist da, solange sie in Takt, in Rhythmus, in melodiösem Thema, im Bilde, das in der Lautgestaltung liegt, sich ausdrückt, ihre inneren Bewegungen ausdrückt, ihr inneres Auf- und Abstei­gen ausdrückt.

Ich sage immer: Deklamieren und Rezitieren, weil das zwei ver­schiedene Künste sind. Der Deklamator ist immer mehr im Norden zuhause gewesen. Bei ihm handelt es sich darum, vorzugsweise durch das Gewicht der Silben zu wirken - Hochton, Tiefton - und darinnen die Sprachgestaltung zu suchen. Der rezitierende Künstler ist mehr im Süden immer zuhause gewesen. Er drückt in seiner Rezitation das Maß aus, nicht so sehr das Gewicht, als das Maß der Silben, lange, kurze Silben. Die scharf sich ausdrückenden griechi­schen Rezitatoren erlebten den Hexameter, den Pentameter, indem sie genau wußten, sie stellen sich mit ihrem Rezitieren in das Ver­hältnis zwischen Atmung und Blutzirkulation. Die Atmung ver­läuft so: achtzehn Atemzüge in der Minute; zweiundsiebzig Puls-schläge durchschnittlich, apptoximativ, in der Minute. Atem, Puls­schlag klingen ineinander, daher der Hexameter: drei lange Silben, als vierte die Zäsur, da mißt ein Atemzug vier Pulsschläge. Dieses Verhältnis eins zu vier, das messend-skandierend im Hexameter zu­tage tritt: Das Innerste des Menschen wird an die Oberfläche ge­bracht im Skandieren, das Geheimnis, das besteht zwischen Atem und Blutzirkulation.

Das kann natürlich nicht verstandesmäßig theoretisch erlangt werden, das muß ganz instinktiv intuitiv künstlerisch errungen werden. Aber man kann solche Sachen zum Beispiel schön an­schaulich machen, wenn man - wie wir es öfter gemacht haben, wie es auch schon geschehen wäre, wenn Frau Dr. Steiner heute deklamieren und rezitieren könnte - die zwei Gestalten, in denen uns die Goethesche «Iphigenie» vorliegt, hintereinander künstlerisch

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spricht. Goethe hat, bevor er nach Italien gekommen ist, als nordi­scher Künstler, wie ihn Schiller später genannt hat, die «Iphigenie» hingeschrieben, so daß das Hingeschriebene nur durch Deklama­tionskunst wiedergegeben werden kann, Hochton, Tiefton, wo ge­wissermaßen überwiegt das Blutleben, denn das liegt im Hochton und Tiefton. So hat Goethe zuerst seine «Iphigenie» hingeschrieben. Als er nach Italien gekommen ist, hat er sie umgeschrieben. Man merkt es oftmals nicht, aber wenn man eine feinere künstlerische Empfindung hat, kann man genau die deutsche «Iphigenie» und die römische « Iphigenie» unterscheiden. Goethe suchte überall das Rezi­tative in seine nordische deklamatorische «Iphigenie» hineinzubrin­gen. Und da ist die italienische «Iphigenie », die römische «Iphi­genie » so geworden, daß man sie nun rezitatorisch lesen muß. Wenn man das hintereinander macht, so findet man diesen wunderbaren Unterschied zwischen Deklamation und Rezitation. In Griechenland war die Rezitation zuhause, da maß der Atem die schnellere Blutzirku­lation. Im Norden war mehr das Deklamatorische zuhause, da lebte der Mensch in seinem tiefsten Inneren. Blut ist ein ganz besonderer Saft, denn es ist der Saft, der das innerste Menschliche enthält. Da lebte der menschliche Charakter im Blute, in der Persönlichkeit. Da wurde der dichterische Künstler zum deklamatorischen Künstler.

Solange Goethe nur das Nordische kannte, war er deklamato­rischer Künstler, schrieb die deklamatorische deutsche «Iphigenie». Er formte sie um, als er zum Maß besänftigt wurde im Anblicke der von ihm als griechisch empfundenen italienischen Renaissance-kunst. Ich will nicht Theorien entwickeln, ich will Ihnen nur Emp­findungen schildern, aber diejenigen Empfindungen, die für das Künstlerische eben angeregt werden, wenn man Anthroposoph wird. Und so kommen wir überhaupt wieder hinein in ein richtiges künstlerisches Empfinden von allem.

Ich will nur noch zum Schlusse eines erwähnen. Wie verhalten wir uns denn heute auf der Bühne? Wir denken darüber nach, wenn wir heute im Fond, im Hintergrunde, in den hinteren Par­tien der Bühne stehen, wie man's machen würde, wenn man drau­ßen auf der Straße gehen würde und dasselbe tun würde. Man benimmt

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sich auf der Bühne geradeso, wie man sich auf der Straße oder im Salon benehmen würde. Aber das ist etwas, was ganz gut ist, wenn man's kann, wenn man dieses Persönliche wieder hinein­bringen kann. Aber das führt von der wirklichen Stilkunst ab, die nur im Erfassen des Geistes auch der Bühnenform, der Regieform bestehen kann. Sie müssen bedenken, auf der Bühne können Sie nicht eigentlich naturalistisch sein, denn vor der Bühne sitzt der Zuschauer. Das künstlerische Genießen ist im wesentlichen in das Unbewußte der Instinkte hinuntergetaucht. Es ist etwas ganz an­deres, ob ich anfange mit dem linken Auge etwas ins Auge zu fas­sen und das an mir vorübergeht, so daß es selbst von rechts nach links, das heißt für mich von links nach rechts geht, oder ob es die entgegengesetzte Richtung hat. Ich empfinde das ganz anders. Das sagt mir etwas ganz anderes. Ich wuß wiederum lernen, welche innere geistige Bedeutung es hat, ob sich eine Person auf der Bühne von links nach rechts, oder von rechts nach links, oder vom Fond nach vorne oder nach dem Fond der Bühne bewegt. Ich werde mir eine Empfindung aneignen über das schlechterdings Untunliche, wenn ich mich zu einer längeren Rede auf der Bühne rüste, von vorn­herein ganz vorne beim Souffleurkasten zu stehen. Wenn ich mich zu einer Rede rüste, so sage ich die ersten Worte möglichst weit zurück auf der Bühne, schreite auf der Bühne vor, mache die Geste des Auseinandergehens der Zuhörer, zu denen ich nach links und rechts spreche. Jede einzelne Bewegung kann geistig erfaßt wer­den aus dem Gesamtbilde heraus, nicht bloß als naturalistische Nachahmung desjenigen, was man auch im Salon oder auf der Straße tun würde. Aber das heißt, daß man wiederum künstlerisch wird studieren müssen, was es bedeutet, auf der Bühne von rück­wärts nach vorne, von rechts nach links, von links nach rechts zu gehen, was überhaupt jede einzelne Bewegung des Schauspielers für das Gesamtbild geistig bedeutet. Das will man heute nicht studie­ren. Man ist heute bequem geworden. Der Materialismus gestartet Bequemlichkeit. Ich habe mich nur immer gewundert, daß die Leute nicht darauf gekommen sind, wenn sie den vollen Naturalis­mus verlangt haben - solche Künstler gab es auch -, daß sie auch

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die vierte Wand gemacht hätten, denn beim vollen Naturalismus müßte man die vierte Wand machen; drei Wände hat kein Zim­mer, man mußte die vierte Wand machen. Ich weiß nicht, wie viele Theaterbillette verkauft würden, wenn man die Schauspieler in vier Wänden spielen ließe und dann den Zuschauerraum davor hätte. Aber jedenfalls, ganz naturalistisch werden würde heißen, überhaupt wegschaffen auch diese offene Seite der vierten Wand.

Nun, das klingt paradox, aber durch solche Paradoxa muß man auf dasjenige aufmerksam machen, was heute wieder als wahrhaft Künstlerisches gewonnen werden muß gegenüber den bloßen Imi­tationen, gegenüber dem bloßen Nachahmungsprinzip. Wir müs­sen schon, nachdem uns der Naturalismus - denn ich bin wahr­haftig kein Philister und nicht ein Pedant in dieser Beziehung, und kann auch dasjenige schätzen, was mir nicht gerade sympathisch ist, aber ich kann es schätzen - den grandiosen Weg gezeigt hat vom naturalistischen Bühnenbild zum Film, wiederum den Weg zurückfinden vom Film in die Darstellung des Geistigen, das im Grunde genommen die Darstellung des Echten, Wirklichen ist. Wir müssen in der Kunst das Göttlich-Menschliche wiederum finden. Das können wir aber nur finden, wenn wir auch erkenntnismäßig, das heißt anschaubar, wiederum den Weg zum Göttlich-Geistigen zurückfinden.

In dieser Beziehung möchte Anthroposophie - sie hat das durch das leider uns genommene Kunstwerk des Goetheanum in Dornach gewollt - auf dem Felde der bildenden Künste den Weg ins Gei­stige finden. Sie will ihn auch auf dem Wege der eurythmischen Kunst finden, wie ich schon vorgestern erwähnt habe. Sie möchte aber auch zum Beispiel auf dem Gebiete des Deklamatorischen und Rezitatorischen diesen Weg gehen. Heute geht man natura­listisch vor, man stellt den Atem, man hantiert am menschlichen Organismus herum. Das wirklich Richtige ist, am gesprochenen Satze, der rhythmisch wirklich verläuft, indem man sich selber sprechen hört, auch den eigenen Organismus einzustellen, das heißt am Sprechenlernen das Atmenlernen zu üben. Diese Dinge bedür­fen einer Neugestaltung. Aber sie können nicht aus theoretischen,

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proklamatorischen, agitatorischen Untergründen kommen, sondern einzig und allein aus wirklicher spirituell praktischer Einsicht in die wahren Tatsachen des Lebens, und zu diesen gehören nicht nur die materiellen, gehören durchaus auch die geistigen.

Kunst ist immer eine Tochter des Göttlichen gewesen. Wenn sie wieder den Weg zurückfindet, nachdem sie sich einigermaßen ent­fremdet hat dem Göttlichen, daß sie wieder an Kindesstatt von dem Göttlichen angenommen werde, dann wird die Kunst wiederum für die ganze Menschheit dasjenige werden können, was sie in der Gesamtzivilisation und in der Gesamtkultur nicht nur sein soll, sondern sein muß.

Nur einige skizzenhafte Andeutungen konnte ich geben über dasjenige, was man aus Anthroposophie heraus für die Kunst will. Aber ich möchte gerade durch diese Andeutungen gezeigt haben, wie Anthroposophie auf jedem Boden das richtige Element entfal­ten will, wie sie nicht theoretisieren will auf dem Boden des Künst­lerischen, weil Kunst nicht Theorie ist, sondern wie sie durchaus im Elemente des künstlerischen Empfindens leben will, auch wenn sie über die Kunst sich orientieren will. Und eine solche Orientie­rung kann nicht bloß zum Reden über die Kunst, sondern eben zum wirklich künstlerischen Genießen und zum künstlerischen Schaffen führen. Auf das kommt es an, wenn die Kunst eine Neu-befruchtung von irgendeiner Weltanschauung heraus erleben soll. Aus Weltanschauung ist das Künstlerische immer hervorgegangen. Wenn die Leute etwa sagen: Ja, wir konnten nicht verstehen, was in den Dornacher Formen uns entgegentrat, - da kann man ihnen erwidern: Können denn diejenigen, die niemals vom Christentum gehört haben, die Raffaelische Sixtinische Madonna verstehen? Aus dem inneren Welterleben ist immer die Kunst hervorgegan­gen. Wahre Kunst wird zu aller Zeit aus dem inneren Welterleben hervorgehen. Zu ehrlichem, aber geistigem Welterleben möchte Anthroposophie die menschliche Zivilisation und menschliche Kul­tur führen.

HINWEISE

#G276-1961-SE156 Das Künstlerische in seiner Weltmission

#TI

HINWEISE

#TX

Zu Beginn der in Dornach gehaltenen Vorträge über «Das Künstlerische in seiner Weltrnission. gibt Rudolf Steiner einen kurzen Reisebericht von seinem Aufenthalt in Kristiania (Oslo) vom 14. bis 21. Mai 1923 und dort stattgefundenen Veranstal­tungen. Siehe: «Das literarische und künstlerische Werk Rudolf Steiners, eine bibliographische Übersicht», Dornach 1961, Nr.259. - Die beiden in Kristiania ge­haltenen Vorträge «Anthroposophie und Kunst« und «Anthroposophie und Dichtung« wurden in den vorliegenden Band der Gesamtausgabe aufgenommen. Sie enthalten in konzentriertet Form, was Rudolf Steiner in den sechs Dornachet Vorträgen be­handelt. Marie Steiner bezeichnete in »Rudolf Steiner und die Zivilisationsaufgaben der Anthroposophie» in der Einleitung «Ein Rückblick auf das Jahr 1923» diese Vorträge als «das Tiefste, das Umfassendste, was je über Kunst gesagt worden ist».

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9 anschließend an mancherlei. »Die Impulsietung des weltgeschichtlichen Ge­schehens durch geistige Mächte«, Dornach, 11. bis 23. März 1923. Dornach 1942. «Der Jahreskreislauf als Atmungsvorgang der Erde und die vier großen Festeszeiten«, Dornach, 31. März bis 8. April 1923. Dornach 1957. «Das Rät­sel des inneren Menschen«, Berlin, 23. Mal 1923. Dornach 1953.

Herman Grimm, Kassel 1828-1901 Berlin.

46 im «Goetheanum» nachgelesen werden: IL Jahrgang, Nr.7-9, 1922. «Vor­träge Rudolf Steiners über das Wesen der Farbe«. - Diese Vorträge wut­den in Dornach am 6., 7. und 8. Mai 1921 gehalten. Neuauflage, erweitert durch Eintragungen aus Notizbüchern Rudolf Steiners, Stuttgart 1959.

51/52 was eigentlich die Griechen mit der Leier des Apollo meinten: «Die Grund-impulse des weltgeschichtlichen Werdens«, III. Vortrag, Dornach, 22. Sep­tember 1922. Dornach 1948.

71 «wirklich praktische Leute». S. Christian Morgenstern, «Die wirklich prak­tischen Leute« in «Der Gingganz».

72 den Ausspruch Goethes: Italienische Reise, Rom, den 28. Januar 1787.

73 Herman Grimm... sagte wiederholt: Goethe, Vorlesungen, gehalten an der Kgl. Universität zu Berlin, Stuttgart und Berlin 1877. XVI. Vorlesung: Rom.

in meinem letzten Aufsatze: S. «Der Goetheanum-Gedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1921-1925.« «Eine viel­leicht zeitgemäße persönliche Erinnerung«. Gesamtausgabe Dornach 1961.

74 was Goethe so lebhaft... empfand. S. Winckelmann, 1804-1805. Rom.

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Zu Seite:

75 daß ich in dem Räumen: In Rom im Palazzo del Dtago sprach Rudolf Steiner im März 1909 und April 1910. S. «Aus dem Leben von Marie Steiner-von Sivess, Biographische Beiträge und eine Bibliographie», «Aufenthalte in Italien». Dorr'ach 1956.

76 wir brauche,» nur zu bedemkem: S. «Ant'»zorten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins», XII. Vortrag «Hermes», Berlin, 16. Februar 1911. Gesamtausgabe Dornach 1959.

89 Adalbert Stiftet, Dichter. Oberplan am Böhmetwald 1806-1868 Linz.

114 wie ich das .. getan habe: S. «Goethes Geistesart in ihrer Offenbarung durch seinen Faust und durch das Märchen

115 das schöne Wort ausgesprochen: «Das Schöne ist eine Manifestation gehei­met Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung e'»'ig wären verborgen geblieben.» Sprüche in Prosa, 11. Abteilung »Kunst». Naturwissenschaftliche Schriften, herausgegeben von Rudolf Steiner, Kürschners National-Literatur, IV. Band, 2. Abteilung. - Rudolf Steiner bemerkt dazu: «Die Kunst und das Schöne sind nichts willkürlich vom Menschen Hervorgebrachtes. Sie sind höhere Formen des allgemeinen Weltprozesses, der sich ebensogut in den künstlerischen Produktionen wie in dem Fall des Steines ankündigt. Der Künstler liefert Werke, die im höchsten Sinne Naturwerke sind. Er Itann nur Würdiges schaffen, wenn sich ihm Naturgeheimnisse enthüllen. Diese verkörpert er in seinen Werken.«

123 dann wird einem die mannigfaltige bunte Farbenwelt: S. Hinweis zu Seite 46.

126 würde ich Ihnen das auf einer Tafel aufzeichnen können: S. Zeichnung Seite 133.

131 Das Goethesche Wort wird wahr: »Wie die einfache Nachahmung auf dem ruhigen Dasein und einer liebevollen Gegenwart beruht, die Manier eine Erscheinung mit einem leichten, fähigen Gemüt ergreift, so ruht der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, inso-fern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.» 1788 »Ferneres über Kunst«. S. Rudolf Steiner, Einleitung zu Goethes Natur-wissenschaftlichen Schriften, II. Band, Kürschnett National-Literatur.

138 eines sehr berühmten Ästhetikers: Moriz Carriére (Griedel, Hessen 1817 bis

1895 München), ordentlicher Professor der Asthetik und Sekretär der Aka­demie der Künste in München.

147 was uns künstlerisch der Naturalismus gebracht hat: S. »Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie», 1889-1900, Gesamtausgabe Dornach 1960.