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Aktuelle Version vom 29. Oktober 2023, 13:53 Uhr

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

ÖFFENTLICHE VORTRÄGE

Die Welträtsel
und die Anthroposophie

Zweiundzwanzig Öffentliche Vorträge,
gehalten zwischen dem 5. Oktober 1905
und dem 3. Mai 1906
im Architektenhaus zu Berlin


GA 54

1983

Inhaltsverzeichnis


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ZU DIESER AUSGABE

Die Vorträge dieses Bandes gehören dem Teil von Rudolf Steiners Vortragswerk an, mit dem er sich an die Öffentlichkeit wandte. «Berlin war der Ausgangspunkt für diese öffentliche Vortragstätigkeit gewesen. Was in anderen Städten mehr in einzelnen Vorträgen behandelt wurde, konnte hier in einer zusammenhängenden Vortragsreihe zum Ausdruck gebracht werden, deren Themen ineinander übergriffen. Sie erhielten dadurch den Charakter einer sorgfältig fundierten methodischen Einführung in die Geisteswissenschaft und konnten auf ein regelmäßig wiederkehrendes Publikum rechnen, dem es darauf ankam, immer tiefer in die neu sich erschließenden Wissensgebiete einzudringen, während den neu Hinzukommenden die Grundlagen für das Verständnis des Gebotenen immer wieder gegeben wurden.» (Marie Steiner)

Da Rudolf Steiner aus Zeitmangel nur in ganz wenigen Fällen die Nachschriften selbst korrigieren konnte, muß gegenüber allen Vortragsveröffentlichungen sein Vorbehalt berücksichtigt werden: «Es wird eben nur hingenommen werden müssen, daß in den von mir nicht nachgesehenen Vorlagen sich Fehierhaftes findet.»

Die vorliegende, während des Winterhalbjahres 1905/06 gehaltene Vortragsreihe ist die dritte der öffentlichen Vortragsreihen, welche Rudolf Steiner in Berlin seit 1903 regelmäßig durchführte. In ihr wird zunächst der materialistischen Weltanschauung Ernst Haeckels die spiritualistische Weltanschauung der Geisteswissenschaft gegenübergestellt. Von hier aus ergeben sich Lösungen der brennenden Fragen der Zeit, der Friedensfrage, der sozialen Frage, der Frauenfrage wird gezeigt, wie Geisteswissenschaft ein neues Menschenbild, einen neuen Erkenntnisweg, eine neue Gesamtschau vermittelt, die zu einer Erneuerung von Wissenschaft, Kunst und Religion führen kann. Die Wahrheiten des Christentums, der Sinn des Mythos und der Sage werden in neuer Weise aufgezeigt. Dies alles gipfelt in einem neuen Verständnis der christlichen Feste: Weihnacht als Fest des Sonnensieges, Ostern als Fest von Tod und Auferstehung, der inneren Auferstehung zu neuem Menschentum.

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HAECKEL, DIE WELTRÄTSEL UND DIE THEOSOPHIE Berlin, 5. Oktober 1905

Wenn ich heute über das Thema spreche: «Haeckel, die Welträtsel und die Theosophie», so weiß ich, daß dieses Thema dem Erforscher des geistigen Lebens außerordentliche Schwierigkeiten bereitet und daß ich vielleicht mit meinen Ausführungen nach links und nach rechts schwer Anstoß erregen werde. Dennoch aber scheint es mir eine Notwendigkeit zu sein, einmal vom theosophischen Standpunkte aus darüber zu sprechen, denn einerseits hat ja das Evangelium, das Haeckel aus seinen Forschungen gewonnen hat, durch sein Buch «Die Welträtsel», den Zugang zu Tausenden und aber Tausenden von Menschen gefunden. Zehntausend Exemplare der «Welträtsel» waren nach kurzer Zeit abgesetzt, und in viele Sprachen ist das Buch übersetzt worden. Selten hat ein so ernstes Buch eine so große Verbreitung gefunden.

Wenn die Theosophie oder Geisteswissenschaft klarmachen soll, welches ihre Ziele sind, dann muß sic sich mit einer so wichtigen Erscheinung, die sich auch mit den tiefsten Fragen des Daseins beschäftigt, auseinandersetzen und ihre Stellung dazu zum Ausdruck bringen. An sich ist ja die theosophische oder geisteswissenschaftliche Lebensbetrachtung nicht da zum Kampfe, sondern zur Versöhnung, zum Ausgleich der Gegensätze. Dann bin ich auch selbst in einer besonderen Lage gegenüber der Weltanschauung Ernst Haeckels. Denn ich kenne die Empfindungen und Gefühle, die heute den Menschen teilweise aus seinem wissenschaftlichen

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Gewissen, teilweise aus der allgemeinen Weitlage und Weltanschauung heraus, wie durch eine faszinierende Kraft hineinführen können in die einfachen, großen Gedankengänge, aus denen sich diese Weltanschauung Haeckeis zusammensetzt. Ich würde wohl nicht wagen, heute so unbefangen zu sprechen, wenn ich in bezug auf Haeckel das wäre, was man einen Gegner nennt; wenn ich nicht genau bekannt wäre mit dem, was man durchmachen kann, wenn man sich hineinlebt in dieses wunderbare Gebäude seiner Ideen.

Vor allem aber wird derjenige, der mit offenem Sinn die Entwickelung des Geisteslebens betrachtet, in Haeckels Wirken die moralische Kraft anerkennen müssen. Mit ungeheuerem Mut hat dieser Mann seit Jahrzehnten seine Weltanschauung durchgekämpft, schwer durchgekämpft und sich sehr gegen mannigfache Widerwärtigkeiten, die ihm entgegentraten, zu wehren gehabt. Auf der andern Seite dürfen wir nicht verkennen, daß in Haeckel eine große Kraft der zusammenfassenden Darstellung und des zusammenfassenden Denkens lebt. Was in dieser Beziehung so vielen Naturforschern fehlt, das hat er in hohem Maße. Er hat es gewagt, trotzdem in den letzten Jahrzehnten die eigentlich wissenschaftlichen Strömungen gegen ein solches Unternehmen gerichtet waren, die Resultate seiner Forschungen in einer Weltanschauung zusammenzufassen. Das muß als eine Tat besonderer Art anerkannt werden. Auch der theosophischen Weltanschauung gegenüber bin ich in einer eigentümlichen Lage, wenn ich über Haeckel spreche. Wer sich mit dem Entwickelungsgang der theosophischen Bewegung befaßt hat, der weiß, welche scharfen Worte und Kämpfe von seiten der Theosophen und auch gerade von seiten der Begründerin der theosophischen Bewegung, von seiten der Frau Helena Petrowna Blavatsky, gegen die Konsequenzen

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geführt worden sind, die Ernst Haeckel aus seinen Forschungen gezogen hat. Gegen wenige Erscheinungen auf dem Gebiete der Weltanschauungen wird in der «Geheimlehre» mit solcher Leidenschaftlichkeit gekämpft, wie gerade gegen die Haeckelschen Auseinandersetzungen. Ich darf wohl behaupten, unbefangen zu sprechen, weil ich glaube, zum Teil in meiner Schrift «Haeckel und seine Gegner», wie auch in meinem Buch über die «Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert», dem wirklichen Wahrheitsgehalt der Haeckelschen Weltanschauung in vollem Sinne gerecht geworden zu sein. Ich glaube das aus seinen Werken herausgesucht zu haben, was unvergänglich, was fruchtbar ist.

Sehen Sie die ganze Lage der Weltanschauung an, insofern sie sich auf wissenschaftliche Gründe stützt. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Geistesrichtung eine ganz andere als in der zweiten. Und Haeckels Auftreten fiel in eine Zeit, in welcher es sehr nahe lag, dem jungen sogenannten Darwinismus e1ne materialistische Konsequenz zu geben. Wenn man versteht, wie nahe es damals lag, als Haeckel in die Naturwissenschaft hineinkam als junger enthusiastischer Forscher, alle naturwissenschaftlichen Entdeckungen materialistisch zu deuten, dann wird man die materialistische Tendenz begreifen und den Weg der Friedensstiftung einschlagen und weniger den des Kampfes. Wenn Sie diejenigen betrachten, welche in der Mitte des 19. Jahrhunderts den Blick frei nach den großen Menschheitsrätseln gerichtet haben, so werden Sie zweierlei finden. Auf der einen Seite eine völlige Resignation gegenüber den höchsten Fragen des Daseins, ein Eingeständnis, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus nicht durchdringen zu können zu den Fragen nach der göttlichen Weltordnung, nach der Unsterblichkeit, der Freiheit des Willens, dem Ursprung

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des Lebens, kurz zu den eigentlichen Welträtseln. Auf der andern Seite werden Sie außer dieser resignierenden Stimmung noch Überreste einer alten religiösen Tradition auch bei den Naturforschern finden. Kühn es Vordringen bei der Untersuchung dieser Fragen, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus, finden Sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur bei den deutschen Philosophen, zum Beispiel bei Schelling, Fichte oder auch bei Oken, einem Freiheitsmann sondergleichen auch auf andern Gebieten des Lebens. Was heute bei den Naturforschern spukt, die Weltanschauungen begründen wollen, können Sie schon in größeren Zügen bei Oken finden. Aber es weht noch ein eigentümlicher Windhauch darüber hin, es lebt noch darin die Empfindung des alten Spiritualismus, der sich klar ist, daß hinter allem, was man durch die Sinne wahrnehmen und durch Instrumente erforschen kann, etwas Geistiges zu suchen ist.

Haeckel hat selbst immer wieder und wieder erzählt, wie durch das Gemüt seines großen Lehrers, des unvergeßlichen Naturforschers Johannes Müller, dieser eigentümliche Hauch wehte. Sie können es bei Haeckel nachlesen, wie ihm, als er auf der Berliner Universität bei Johannes Müller beschäftigt war und die Anatomie der Tiere und Menschen studierte, die große Ähnlichkeit, nicht nur in der äußeren Form, sondern in dem, was sich in der Form erst durchringt, in der Tendenz der Form, auffiel. Wie er dann dem Lehrer gegenüber äußerte, daß dies auf eine geheimnisvolle Verwandtschaft der Tiere und Menschen hindeute, worauf Johannes Müller, der so tief in die Natur hineingesehen hatte, erwiderte: Ja, wer einmal das Geheimnis der Arten ergründet, der wird das Höchste erreichen. - Man muß sich eben hineindenken in das Gemüt eines solchen Forschers, der sicher nicht Halt gemacht hätte, wenn für ihn eine Aussicht gewesen wäre, in das Geheimnis einzudringen. Ein anderes

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Mal, als Lehrer und Schüler auf einer Forschungsreise waren, da äußerte Haeckel wieder, welche große Verwandtschaft unter denTieren bestehe; da sagte abermals Johannes Müller etwas ganz Ähnliches. Hiermit wollte ich nur eine Stimmung kennzeichnen. Lesen Sie bei irgendeinem bedeutenden Naturforscher der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach, zum Beispiel bei Burdach, so werden Sie, trotz sorgfältiger Herausarbeitung aller naturwissenschaftlichen Einzelheiten, da, wo vom Reiche des Lebens gesprochen wird, stets einen Hinweis darauf finden, daß da nicht bloß physische und chemische Kräfte wirken, sondern daß etwas Höheres in Betracht komme.

Als dann aber die Ausbildung des Mikroskopes dem Menschen ermöglichte, hineinzuschauen in die eigentümliche Zusammensetzung des lebendigen Wesens und man beobachten konnte, daß man es mit einem feinen Gewebe kleinster Lebewesen zu tun hat, aus welchen sich der physische Leib der Wesen zusammensetzt, da wurde es anders. Dieser physische Körper, welcher Pflanzen und Tieren als Kleid dient, löst sich für den Naturforscher in Zellen auf. Die Entdeckungen über das Leben der Zellen wurden von den Naturforschern am Ende der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts gemacht. Und weil man so viel von dem Leben der kleinsten Lebewesen in sinnlicher Weise durch das Mikroskop erforschen konnte, war es naheliegend, daß man das, was als organisierendes Prinzip in dem Lebewesen wirkt, vergaß und übersah, weil es durch keinen physischen Sinn, überhaupt durch nichts Äußeres erkannt werden kann.

Damals gab es noch keinen Darwinismus, aber unter den Eindrücken dieser großen Erfolge, die auf dem Gebiete der Erforschung des Sinnenfälligen gemacht wurden, bildete sich in den vierziger, fünfziger Jahren eine materialistische Naturwissenschaft heraus. Da dachte man, daß man aus

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dem, was man sinnenfällig wahrnimmt und erklären kann, auch die ganze Weit begreifen könne. Was heute sehr vielen geradezu kindlich vorkommt, das machte damals ungeheures Aufsehen und bildete sozusagen ein Evangelium für die Menschheit. Kraft und Stoff, Büchner, Moleschott, das waren die Schlagworte und die tonangebenden Größen. Als ein Ausdruck kindlicher Phantasie früherer Menschheitsepochen galt es, wenn man bei dem, was man ins kleinste mit den Augen untersuchen kann, noch etwas vermutet, das über das Augenfällige, das sinnlich Wahrnehmbare hinausgeht.

Nun müssen Sie bedenken, daß neben aller Urteilskraft, neben aller Forschung, in der Entwickelung des Geisteslebens die Gefühle und Empfindungen eine große Rolle spielen. Derjenige, der da glaubt, daß Weltanschauungen nur nach den kühlen Erwägungen der Urteilskraft gebildet werden, der irrt sich sehr. Da spricht, wenn ich mich radikal aussprechen darf, immer auch das Herz mit. Da wirken auch geheime Erziehungsgründe mit. Die Menschheit hat in ihrer letzten Entwickelungsphase eine materialistische Erziehung durchgemacht. Diese reicht zwar in ihren Anfängen weit zurück, ist aber erst zu der Zeit, von der wir sprechen, an ihrem Höhepunkt angelangt. Wir nennen diese Epoche der materialistischen Erziehung das Zeitalter der Aufklärung. Der Mensch mußte sich - das war auch die letzte Konsequenz gerade der christlichen Weltanschauung - hier auf diesem festen Boden der Wirklichkeit zurechtfinden lernen. Den Gott, den er so lange jenseits der Wolken gesucht hatte, sollte er nun in seinem eigenen Innern suchen. Das wirkte tief auf die ganze Entwickelung des 19.Jahrhunderts ein; und der, welcher als Zeitpsychologe die Entwickelung der Menschheit im 19. Jahrhundert studieren will, der wird alle Erscheinungen, die darin auftreten, wie zum Beispiel die Freiheitsbewegung in den dreißiger und vierziger Jahren,

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nur als einzelne, gesetzmäßig verlaufende Stürme des sich herausentwickelnden Gefühls von der Bedeutung physischer Wirklichkeit erfassen. Man hat es mit einer Erziebungsrichtung der Menschheit zu tun, die zunächst mit Gewalt allen Ausblick nach einem spirituellen, nach einem geistigen Leben aus dem menschlichen Herzen herausriß. Und nicht aus der Naturwissenschaft heraus ist die Konsequenz gezogen, daß die Welt aus sinnenfälligen Erscheinungen bestehe, sondern man zog, infolge der Menschheitserziehung jener Zeit, in die Erklärung naturwissenschaftlicher Tatsachen den Materialismus hinein. Wer wirklich die Dinge unbefangen studiert, wie sie sind, der wird finden, daß es so ist, wie ich sagen werde, obgleich ich in einer kurzen Stunde mich nicht darüber ausführlich aussprechen kann.

Die ganz gewaltigen Fortschritte auf dem Gebiete der Naturerkenntnis, der Astronomie, der Physik und Chemie, durch die Spektralanalyse, durch die erweiterte theoretische Kenntnis der Wärme und durch die Lehre von der Entwickelung der Lebewesen, die man die Darwinsche Theorie nennt, fallen in diese Periode des Materialismus. Wenn diese Entdeckungen in eine Zeit gefallen wären, in der man noch so gedacht hätte wie um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, als man noch eine mehr spirituelle Empfindung hatte, dann hätte man in denselben noch ebenso viele Beweise für das Walten und Wirken des Geistes in der Natur gesehen. Gerade zum Beweise des Primats des Geistes würden die wunderbaren Entdeckungen der Naturwissenschaft geführt haben. Man sieht hieraus, daß die naturwissenschaftlichen Entdeckungen an sich nicht notwendig und unter allen Umständen zum Materialismus hinführen mußten; sondern nur, weil viele Träger des Geisteslebens in dieser Zeit materialistisch gesinnt waren, wurden diese Entdeckungen materialistisch gedeutet. Der Materialismus wurde in

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die Naturwissenschaft hineingetragen, und unbewußt haben Naturforscher, wie Ernst Haeckel, denselben angenommen. Darwins Entdeckung selbst hätte nicht zum Materialismus drängen müssen. In seinem ersten Werke finden Sie den Satz: «Ich halte dafür, daß alle Lebewesen, die je auf der Erde gewesen sind, von einer Urform abstammen, welcher das Leben vom Schöpfer eingehaucht wurde.» Diese Worte stehen in Darwins Buch «Über die Entstehung der Arten», jenem Werke, das der Materialismus zu seiner Stütze macht.

Es ist klar, wer als materialistischer Denker an diese Entdeckungen herantrat, der mußte dem Darwinismus eine materialistische Färbung geben. Durch Haeckels materialistisch kühne Art des Denkens erhielt der Darwinismus seine jetzige materialistische Tendenz. Es war von großer Wirkung, als im Jahre i868 Haeckel den Zusammenhang der Menschen mit den Herrentieren (Affen) verkündete. In jener Zeit konnte dies nichts anderes heißen, als der Mensch stamme von den Herrentieren ab. Bis heute hat aber das Denken einen eigentümlichen Entwickelungsgang durchgemacht. Haeckel ist dabei stehengeblieben, daß der Mensch von den Herrentieren abstamme, diese wieder von den niederen und diese niederen wieder von den allereinfachsten Lebewesen. So entwickelt er den ganzen Stammbaum des Menschen. Dadurch war für ihn aller Geist aus der Welt ausgeschaltet und nur als Erscheinungsform des Materiellen vorhanden. Haechel sucht sich noch zu helfen, da er in seinem Innersten, neben seiner materialistischen Denkerseele, eine eigentümlich geartete, spiritualistische Gefühlsseele hat. Diese beiden haben sich in ihm nie so recht ausgleichen, nie so recht eine brüderliche Einigung finden können. Er kommt deshalb dazu, daß er dem kleinsten Lebewesen auch eine Art Bewußtsein zuschreibt; dabei bleibt aber unerklärt, wie sich das komplizierte menschliche Bewußtsein aus dem Bewußt-

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sein der kleinsten Lebewesen entwickelt. Haeckel sagte einst bei Gelegenheit eines Gespräches: Da stoßen sich die Leute an meinem Materialismus; aber ich leugne ja gar nicht den Geist, ich leugne ja gar nicht das Leben; ich möchte doch nur, daß die Leute bedenken, daß, wenn sie Stoffe in eine Retorte hineinbringen, darinnen bald alles lebt und webt. - Das zeigt so recht deutlich, wie Haeckel neben der wissenschaftlichen Denkerseele eine spiritualistische Gefühlsseele hat.

Einer derjenigen, die damals, als Darwin auftrat, die Abstammung der Menschen vom höheren Tier ebenfalls behaupteten, war der englische Forscher Huxley. Er hat es ausgesprochen, daß eine so große Ähnlichkeit im äußeren Bau zwischen dem Menschen und den höheren Tieren besteht, daß diese Ähnlichkeit größer sei, als die Ähnlichkeit zwischen den höheren und niederen Affenarten. Man könne daraus nur schließen, daß eine Abstammung des Menschen von den höheren Tieren bestehe. In neuerer Zeit haben die Forscher neue Tatsachen gefunden; auch jene Empfindungen, die in jahrhundertelanger Erziehung des Menschen Herz und Seele herangebildet haben, formten sich um; und so kam es, daß Huxley in den neunziger Jahren kurz vor seinem Tode, die für ihn merkwürdige Ansicht ausgesprochen hat: So sehen wir denn, daß wir in der Natur draußen eine Stufenfolge des Lebendigen finden, vom Einfachsten und Unvollkommensten bis zum Zusammengesetzten und Vollkommensten. Diese Reihenfolge können wir übersehen. Warum aber sollte sich diese Reihenfolge nicht fortsetzen in ein Gebiet, das wir nicht übersehen können? - In diesen Worten ist der Weg angedeutet, auf dem der Mensch aus der Naturforschung heraus sich emporschwingen kann zur Idee eines göttlichen Wesens, das hoch über dem Menschen steht, eines Wesens, das höher

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über diesem steht, als er selbst über einem einfachen Zellenwesen. Huxley sagte einst: Ich will lieber von solchen Vorfahren abstammen, die tierähnlich sind, als von solchen, welche die menschliche Vernunft leugnen.

So haben sich die Begriffe und Empfindungen, das, was die Seele denkt und fühlt, verändert. Haeckel hat in seiner Art seine Forschungen fortgesetzt. Schon im Jahre 1868 hat er sein populäres Buch «Natürliche Schöpfungsgeschichte» veröffentlicht. Aus dieser kann man vieles lernen; man kann lernen, wie die Reiche des Lebendigen in der Natur gesetzmäßig zusammenhängen. Man kann hineinschauen in die grauen Zeiten der Vergangenheit und das Lebende in Zusammenhang mit dem Ausgestorbenen bringen, von dem nur noch die letzten Überreste auf der Erde vorhanden sind. Das hatte Haeckel genau eingesehen. Das Welthistorische, das sich im weiteren abspielt, kann ich nur durch einen Vergleich klarmachen. Derjenige, welcher den Willen hat, auf solche Dinge einzugehen, wird finden, daß dieser Vergleich nicht mehr hinkt, als alle Vergleiche hinken, die aber trotz alledem treffend sein können. Nehmen Sie an, es käme ein Kunsthistoriker und beschriebe das große Reich der Malere1 von Leonardo da Vinci bis heute in einer schönen kunstgeschichtlichen Abhandlung. Alles was in dieser Zeit nach solcher Richtung hin geschaffen worden ist, träte vor Ihre Seele hin und Sie würden glauben, hineinzuschauen iön dieses frei sich entwickelnde Weben und Wirken des Menschengeistes. Nehmen Sie ferner an, es käme jemand und sagte bezüglich dieser Beschreibung: Aber alles, was der Kunsthistoriker hier darstellt, ist ja nichts Wirkliches, das ist ja etwas, was gar nicht da ist, das ist ja nur eine Beschreibung von Phantasiegebilden, die es gar nicht gibt, und was gehen mich diese Phantasien an; man muß das Wirkliche untersuchen, um zu einer richtigen kunstgeschichtlichen Darstellung zu kommen.

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Ich will daher einmal die Gebeine des Leonardo da Vinci einer Prüfung unterziehen und versuchen, den Körper desselben wieder zusammenzustellen, untersuchen, was er für ein Gehirn gehabt und wie dieses gearbeitet hat. - Dieselben Dinge werden also sowohl von dem Kunsthistoriker, als auch von dem anatomischen Naturhistoriker beschrieben. Kein Fehler braucht zu unterlaufen, all es könnte richtig sein. Dann meinte der anatomische Historiker, wir müssen auf Tod und Leben bekämpfen, was die idealistischen Kwisthistoriker uns erzählen, wir müssen es als eine Phantasie bekämpfen, denn das sei ja fast so, als wäre über die menschen ein Aberglaube gekommen, der uns glauben machen will, daß neben der Gestalt von Leonardo da Vinci noch so ein gasförmiger Wirbel als Seele bestanden habe.

Dieser Vergleich ist treffend, obgleich er albern erscheinen mag. In solcher Lage befindet sich derjenige, welcher auf die alleinige Richtigkeit der «Natürlichen Schöpfungsgeschichte» schwört. Auch er kann nicht so bekämpft werden, daß man ihm Fehler nachweist. Die mögen zwar vorhanden sein, aber darauf kommt es hier gar nicht an. Wichtig ist es, daß das Sinnenfällige einmal seinem inneren Zusammenhange nach dargestellt wurde. Das ist im Grunde genommen durch Haeckel in einer großen und umfassenden Weise geschehen. Es ist so geschehen, daß derjenige, der sehen will, auch sehen kann, wie gerade das Geistige bei der Bildung der Formen wirksam ist, wo scheinbar nur die Materie waltet und webt. Daraus kann man viel lernen; man kann ersehen, wie man geistig den materiellen Zusammenhang in der Welt mit Ernst, Würde und Ausdauer erfaßt. Derjenige, welcher die «Anthropogenie» Haeckels durchnimmt, der sieht, wie die Gestalt sich aufbaut von den einfachsten Lebewesen bis zu den kompliziertesten, von den einfachsten Organismen bis hinauf zum Menschen. Wer zu dem, was der Materialist

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sagt, noch den Geist hinzuzufügen versteht, der studiert in diesem Haeckelismus die schönste elementare Theosophie.

Die Haeckelschen Forschungsresultate bilden sozusagen das erste Kapitel der Theosophie oder Geisteswissenschaft. Viel besser als durch irgend etwas anderes kann man sich in das Werden und Umgestalten der organischen Formen hineinfinden, wenn man seine Werke studiert. Allen Grund haben wir, zu zeigen, was durch den Fortschritt dieser vertieften Naturerkenntnis Großes geleistet wurde.

In den Zeiten, da Haeckel diesen Wunderbau aufgeführt hat, stand man den tieferen Rätseln der Menschheit als unlösbaren Problemen gegenüber. In einer rhetorisch glänzenden Rede hat Du Bois-Reymond im Jahre 1872 über die Grenzen der Naturforschung und des Naturerkennens gesprochen. Über weniges ist in den letzten Jahrzehnten mehr gesprochen worden als über diese Rede mit dem berühmten «Ignorabimus». Sie war eine wichtige Tat und stellt einen wichtigen Gegensatz zu Haeckels eigener Entwickelung und seiner Lehre von der Abstammung des Menschen dar. In einer andern Rede hat Du Bois-Reymond als die großen Rätsel fragen des Daseins, die der Naturforscher nur teilweise oder gar nicht beantworten kann, «Sieben Welträtsel» aufgestellt, nämlich:

1. Den Ursprung von Kraft und Materie.
2. Wie ist in diese ruhende Materie die erste Bewegung hineingekommen?
3. Wie ist innerhalb der bewegten Materie Leben entstanden?
4. Wie erklärt es sich, daß in der Natur so vieles ist, das den Stempel der Zweckmäßigkeit an sich trägt, wie sie nur bei den von der menschlichen Vernunft ausgeführten Taten vorhanden zu sein pflegt?
5. Wie erklärt es sich, da, wenn wir unser Gehirn unter-

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suchen könnten, wir doch nur durcheinanderwirbelnde kleine Kügelchen finden würden, daß diese Kügelchen es zustande bringen, daß ich «rot» sehe, Orgelton höre, Schmerz empfinde und so weiter? - Denken Sie sich wirbelnde Atome und es wird Ihnen sofort klar sein, daß nie die Empfindung daraus entstehen kann, die sich ausdrückt in den Worten, «ich sehe rot, ich rieche Rosenduft und so weiter».
6. Wie entwickelt sich innerhalb der Lebewesen Verstand, Vernunft, das Denken und die Sprache?
7. Wie kann ein freier Wille entstehen in einem Wesen, das so gebunden ist, daß jede Handlung hervorgerufen werden muß durch das Wirbeln der Atome?

In Anknüpfung an diese «Welträtsel» von Du BoisReymond hat Haeckel eben sein Buch «Die Welträtsel» genannt. Er wollte die Antwort auf die Ausführungen Du Bois-Reymonds geben. Eine besonders wichtige Stelle ist in jener Rede Du Bois-Reymonds, die er über die Grenzen des Naturerkennens gehalten hat. Auf diese wichtige Stelle werden wir hingeführt und können durch sie zur Theosophie hinübergeleitet werden.

Als Du Bois-Reymond in Leipzig vor den Naturforschern und Ärzten sprach, da schaute der Geist der Naturforschung aus nach einer reinen, freieren und höheren Luft, nach der Luft, welche in die theosophische Weltanschauung führte. Du Bois-Reymond sagte damals folgendes: Wenn wir den Menschen naturwissenschaftlich betrachten, so ist er für uns ein Zusammenwirken unbewußter Atome. Den Menschen naturwissenschaftlich erklären, heißt diese Atombewegungen bis ins letzte hinein verstehen. - Er meint, wenn man in der Lage ist, anzugeben, wie die Bewegung der Atome an irgendeiner Stelle des Gehirns ist, wenn man sagt, «ich denke», oder «gib mir einen Apfel», so hat man dieses Problem naturwissenschaftlich gelöst. Du Bois-Reymond

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nennt dieses die «astronomische» Erkenntnis des Menschen. Wie ein Sternenhimmel im kleinen würden sich die bewegten Gruppen von menschlichen Atomen ausnehmen. Was man da nicht begriffen hat, ist der Umstand, wie es kommt, daß in dem Bewußtsein des Menschen, von dem ich, sagen wir, ganz genau weiß, so und so bewegen sich seine Atome - Empfindung, Gefühl und Gedanke entstehen. Das kann keine Naturwissenschaft feststellen. Wie das Bewußtsein entsteht, kann keine Naturwissenschaft sagen. Du Bois-Reymond schloß nun wie folgt: Beim schlafenden Menschen, der sich der Empfindung nicht bewußt ist, die sich ausdrückt in den Worten: «ich sehe rot», haben wir die physische Gruppe der bewegten Körperteile vor uns. Bezüglich dieses schlafenden Körpers brauchen wir nicht zu sagen: «Wir werden nicht wissen», «Ignorabimus». Den schlafenden Menschen können wir verstehen. Der wache Mensch ist dagegen für keinen Naturforscher verständlich. Im schlafenden Menschen ist das nicht vorhanden, was beim wachenden vorhanden ist, nämlich das Bewußtsein, durdi das er uns als Geisteswesen entgegentritt.

Damals war bei der Mutlosigkeit der Naturwissenschaft ein weiteres Vordringen nicht möglich; man konnte damals noch nicht an Theosophie oder Geisteswissenschaft denken, weil die Naturwissenschaft scharf die Grenze bezeichnet, den Punkt hingesetzt hatte, bis wohin sie in ihrer Weise gehen will. Wegen dieser Selbstbeschränkung, die sich die Naturforschung hiermit auferlegt hat, hat die theosophische Weltanschauung in derselben Zeit ihren Anfang genommen. Niemand wird behaupten, daß der Mensch, wenn er abends einschläft und des Morgens wieder aufwacht, am Abend aufhöre zu sein und am nächsten Morgen von neuem entstehe. Dennoch sagt Du Bois-Reymond, daß in der Nacht beim Menschen dasjenige nicht da ist, was bei Tag in ihm

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vorhanden ist.Hier liegt für die theosophischeWeitanschauUng die Möglichkeit einzusetzen. Das Sinnesbewußtsein spricht nicht bei dem schlafenden Menschen. Indem aber der Naturforscher sich darauf stützt, was dieses Sinnesbewußtsein vermittelt, so kann er nichts über das, was darüber hinausgeht, über das Geistige, sagen, weil ihm dadurch gerade dasjenige fehlt, was den Menschen zum geistigen Wesen macht Mit den Mitteln der Naturforschung können wir also in das Geistige nicht hineindringen. Die Naturforschung stützt sich darauf, was sinnlich wahrnehmbar ist. Was nicht mehr wahrnehmbar ist, wenn der Mensch schläft, das kann nicht Objekt ihrer Forschung sein. In diesem, bei dem schlafenden Menschen nicht mehr wahrnehmbaren Etwas haben wir aber gerade die Wesenheit zu suchen, die den Menschen zum Geisteswesen macht. Nicht früher kann man über das- jenige etwas aussagen, was über das rein Materielle, das Sinnliche, hinausgeht, als bis - wovon der Naturforscher als solcher, wenn er nur auf das Sinnenfällige ausgeht, nichts wissen kann - Organe, geistige Augen geschaffen sind, die auch das sehen, was über das Sinnliche hinausgeht. Deshalb darf man nicht sagen, hier sind die Grenzen der Erkenntnis, sondern nur, hier sind die Grenzen der sinnlichen Erkenntnis. Der Naturforscher nimmt sinnlich wahr, ist aber nicht geistiger Seher. Seher muß er aber werden, um das schauen zu können, was der Mensch Geistiges in sich hat. Das ist es auch- was alle tiefere Weisheit in der Welt anstrebt, nicht eine bloße Erweiterung der sinnlichen Erkenntnis, dem Umkreise nach, sondern eine Erhöhung der menschlichen Fähigkeiten. Das ist auch der große Unterschied zwischen der heutigen Naturwissenschaft und dem, was die Theosophie lehrt. Der Naturforscher sagt sich: Der Mensch hat Sinne, mit denen er wahrnimmt, und einen Verstand, mit dem er die Sinneswahrnehmungen kombiniert. Was man damit

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nicht erreichen kann, das liegt außerhalb der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. - Die Theosophie hat eine andere Anschauung. Sie sagt: Du hast recht, Naturforscher, wenn du von deinem Standpunkte aus urteilst, du hast damit genau so recht, wie der Blinde von seinem Standpunkte aus recht hat zu sagen, die Welt sei licht- und farbenlos.

Ich mache keine Einwendungen gegen den naturwissenschaftlichen Standpunkt; ich möchte ihm nur die Anschauung der Theosophie oder Geisteswissenschaft gegenüberstellen, welche sagt: Es ist möglich, nein, es ist sicher, daß der Mensch nicht stehenzubleiben braucht auf dem Standpunkte, auf welchem er heute steht. Es ist möglich, daß sich Organe, Geistesaugen entwickeln, in ähnlicher Weise, wie sich in diesem physischen Leibe Sinnesorgane, Augen und Ohren, entwickelt haben. Sind diese Organe entwickelt, dann treten höhere Fähigkeiten auf. Das muß man zunächst glauben - nein, man braucht es nicht einmal zu glauben, man nehme es nur unbefangen als eine Erzählung hin. So wahr aber, wie nicht alle Gläubigen der «Natürlichen Schöpfungsgeschichte» gesehen haben, was in ihr an Tatsachen angeführt ist - denn wie viele sind es, die diese Tatsachen wirklich gesehen haben -, ebensowenig kann man die Tatsache der Erkenntnis des Übersinnlichen hier jedermann vorweisen. Es gibt für den gewöhnlichen Sinnenmenschen keine Möglichkeit, in dieses Gebiet hineinzukommen. Wir können nur mit Hilfe der okkulten Forschungsmethoden in die geistigen Gebiete hineingelangen. Wenn der Mensch sich zu einem Werkzeug umwandelt für die höheren Kräfte, um hineinzuschauen in die dem Sinnenmenschen verborgenen Welten, dann treten in ihm - ich werde im neunten Vortrage über «Innere Entwickelung» noch ausführlich darüber sprechen - ganz besondere Erscheinungen auf. Der gewöhnliche Mensch ist nicht imstande, sich selbst zu schauen oder die

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Gegenstände in seiner Umgebung bewußt in sich aufzunehmen, wenn seine Sinne schlafen. Wenn aber der Mensch die okkulte Forschungsmethode anwendet, dann hört diese Unfähigkeit auf, und er fängt dann an, in einer bewußten Weise die Eindrücke in der astralen Welt wahrzunehmen.

Zunächst gibt es einen Übergang, den jeder kennt, zwischen dem äußerlichen Leben der Sinneswahrnehmung und jenem Leben, das selbst im tiefsten Schlafe nicht erstirbt. Dieser Übergang ist das Chaos der Träume. Jeder kennt es, meist nur als Nachklang dessen, was er am Tage erlebt hat. Wie sollte er auch im Schlafe etwas Neues aufnehmen können? Der innere Mensch hat ja noch keine Wahrnehmungsorgane. Aber etwas ist doch vorhanden. Leben ist da. Was aus dem Körper beim Schlafe herausgetreten ist, das erinnert sich, und diese Erinnerung steigt in mehr oder weniger verworrenen Bildern in dem Schlafenden auf. Wenn Sie sich weiter über diese Dinge informieren wollen, so nehmen Sie die Aufsätze «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» zur Hand. An Stelle des Chaos beginnt dann nach und nach Ordnung und Harmonie in das Reich der Träume zu kommen. Dies ist ein Zeichen dafür, daß der Mensch anfängt, sich geistig zu entwickeln; und dann sieht er im Traume nicht bioß die Nachklänge der Wirklichkeit in chaotischer Weise, sondern auch Dinge, die es für das gewöhnliche Leben gar nicht gibt. Gewiß werden die Leute sagen, welche auf dem Gebiete des Tastbaren, auf dem Gebiete des Sinnlichen bleiben wollen: Das sind ja nur Träume.- Wenn Sie aber dabei Einsicht in die höchsten Weltgeheimnisse erlangen, so kann es Ihnen eigentlich ganz gleichgültig sein, ob Sie sie im Traume oder auf sinnliche Weise erhalten haben. Denken Sie, Graham Bell hätte das Telephon im Traume erfunden. Darauf käme es doch heute gar nicht an, wenn das Telephon auf jeden Fall zu einer bedeutsamen

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und nützlichen Einrichtung geworden wäre. Das klare und geordnete Träumen ist also der Anfang.

Wenn der Mensch in der Stille des Nachtlebens in die Träume sich einlebt, wenn er eine Weile sich gewöhnt hat, ganz andere Welten wahrzunehmen, dann kommt auch bald die Zeit, da er auch mit diesen neuen Wahrnehmungen in die Wirklichkeit hinauszutreten lernt. Dann bekommt diese ganze Welt ein neues Aussehen für ihn, und er ist sich dieses Neuen so bewußt, wie wir des Sinnlichen uns bewußt sind, wenn wir durch diese Stuhlreihen, durch alles, was Sie hier sehen, hindurchschreiten. Dann ist er in einem neuen Bewußtseinszustand; es eröffnet sich etwas Neues,Wesenhaftes in ihm. Der Mensch kommt dann dadurch auch weiter in der Entwickelung, zuletzt zu dem Standpunkte, wo er nicht nur die eigentümlichen Erscheinungen der höheren Welten wie Lichterscheinungen mit geistigem Auge wahrnimmt, sondern auch Töne der höheren Welten erklingen hört, so daß Ihm die Dinge ihre geistigen Namen sagen und in neuer Bedeutung ihm entgegentreten. In der Sprache der Mysterien wird das ausgedrückt mit den Worten: Der Mensch sieht die Sonne um Mitternacht, das heißt, für ihn sind keine räumlichen Hindernisse mehr da, um die Sonne auf der andern Seite der Erde zu sehen. Dann wird ihm auch das, was die Sonne im Weltenraume tut, offenbar, dann wird er auch das, was die Pythagoräer als eine Wahrheit vertreten haben, die Sphärenharmonie, wahrnehmen. Dieses Klingen und Tönen, diese Sphärenharmonie> wird für ihn etwas Wirkliches. Dichter, die zugleich Seher waren, wußten, daß es so etwas wie Sphärenharmonie gibt. Nur der, welcher Goethe von diesem Standpunkt aus faßt, kann ihn verstehen. Die Worte im «Prolog im Himmel» zum Beispiel kann man entweder nur als Phrase hinnehmen oder als höhere Wahrheit. Da, wo Faust im zweiten Teile in die Geisterwelt eingeführt

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wird, spricht er wieder von diesem Tönen: «Tönend wird für Geistesohren schon der neue Tag geboren.»

Da haben wir den Zusammenhang zwischen der Naturforschung und der Theosophie oder Geisteswissenschaft. Du Bois-Reymond hat darauf hingewiesen, daß nur der schlafende Mensch Gegenstand für die Naturforschung sein kann. Wenn nun aber der Mensch anfängt, seine inneren Sinne zu eröffnen, wenn er anfängt, zu hören und zu schauen, daß es auch eine geistige Wirklichkeit gibt, dann beginnt das ganze Gebäude elementarer Theosophie, das Haeckel so wunderbar aufgebaut hat, und das keiner mehr bewundern kann als ich, einen ganz neuen Glanz, eine ganz neue Bedeutung zu bekommen. Nach diesem Wunderbau sehen wir als Urwesen ein einfaches Lebewesen, aber ebenso können wir Unser Wesen geistig zurückverfolgen bis zu einem früheren Zustand des Bewußtseins.

Ich werde nun die theosophisch oder geisteswissenschaftlich gehaltene Abstammungslehre auseinandersetzen. Von «Beweisen» für dieselbe muß natürlich in einem einzeln`en Vortrage ganz abgesehen werden. Es ist natürlich, daß für alle diejenigen, welche nur die heute üblichen Vorstellungen über die Abstammung des Menschen kennen, alles unwahrscheinlich und phantastisch klingen wird, was ich werde sagen müssen. Aber alle diese Vorstellungen sind ja den henschenden materialistischen Gedankenkreisen entsprungen. Und viele, welche vielleicht gegenwärtig den Vorwurf des Materialismus weit von sich weisen wollen, sind doch nur in einer - allerdings begreiflichen - Selbsttäuschung befangen. Die wahre theosophische oder geisteswissenschaftliche Entwickelungslehre ist heute kaum bekannt. Und wenn Gegner von ihr sprechen, so sieht derjenige, der sie kennt, aus den Einwürfen sofort, daß sie von einer Karikatur dieser Entwickelungslehre sprechen. Für alle diejenigen, welche

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eine Seele oder einen Geist nur anerkennen, die innerhalb der menschlichen oder tierischen Organisation zum Ausdruck kommen, ist die theosophische Vorstellungsart ganz unverständlich. Mit solchen Personen ist jede Diskussion über diesen Gegenstand unfruchtbar. Sie müßten sich erst frei machen von den materialistischen Suggestionen, in denen sie leben, und müßten sich mit der Grundlage geisteswissenschaftlicher Denkrichtung bekanntmachen.

Wie die sinnlich-naturwissenschaftliche Forschungsmethode die physisch-körperliche Organisation zurückverfolgt bis in ferne unbestimmte Urzeiten, so tut es die geisteswissenschaftliche Denkweise in bezug auf Seele und Geist. Die letztere kommt dabei mit den bekannten naturwissenschaftlichen Tatsachen nicht in den geringsten Widerspruch; nur mit der materialistischen Ausdeutung dieser Tatsachen kann sie nichts zu tun haben. Die Naturwissenschaft verfolgt die physischen Lebewesen ihrer Abstammung nach rückwärts. Sie wird auf immer einfachere Organismen geführt. Nun sagt sie, die vollkommenen Lebewesen stammen von diesen einfachen, unvollkommenen ab. Das ist, soweit die physische Körperlichkeit in Betracht kommt, eine Wahrheit, obgleich die hypothetischen Formen der Urzeit, von denen die materialistische Wissenschaft spricht, nicht ganz mit jenen übereinstimmen, von denen die theosophische oder geistesvissenschaftliche Forschung weiß. Doch das mag uns für unseren jetzigen Zweck nicht weiter berühren.

In sinnlich-physischer Beziehung erkennt auch die Geisteswissenschaft die Verwandtschaft des Menschen mit den höheren Säugetieren, also mit den menschenähnlichen Affen, an. Von einer Abstammung aber des heutigen Menschen von einem an seelischem Wert dem heutigen Affen gleichen Wesen kann nicht die Rede sein. Die Sache verhält sich ganz anders. Alles, was der Materialismus in dieser Beziehung vorbringt,

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beruht auf einem einfachen Denkfehler. Dieser Fehler möge durch einen trivialen Vergleich klar gemacht werden, der aber trotzdem nicht unzutreffend ist, obgleich er trivial ist.

Man nehme zwei Personen. Die eine sittlich minderwertig, intellektuell unbedeutend; die andere sittlich hochstehend, intellektuell bedeutend. Man könne, sagen wir, durch irgendeine Tatsache die Verwandtschaft der beiden feststellen. Wird man nun schließen dürfen, daß die höherstehende von einer solchen abstammt, die der niedrigstehenden gleichwertig ist? Nimmermehr. Man könnte durch die andere Tatsache überrascht werden, welche da besagt: die beiden Personen sind verwandt; sie sind Brüder. Aber der gemeinsame Vater war weder dem einen noch dem andern Bruder ganz gleichwertig. Der eine der Brüder ist herabgekommen; der andere hat sich emporgearbeitet.

Den in diesem Vergleich angedeuteten Fehler macht die materialistische Naturwissenschaft. Sie muß, nach den ihr bekannten Tatsachen, eine Verwandtschaft annehmen zwischen Affe und Mensch. Aber sie dürfte nun nicht folgern: der Mensch stammt von einem affengleichen Tiere ab. Sie müßte vielmehr ein Urwesen - einen gemeinsamen physischen Stammvater - annehmen; aber der Affe ist der herabgekommene, der Mensch der höher hinaufgestiegene Bruder.

Was hat nun jenes Urwesen auf der einen Seite zum Menschen emporgehoben, auf der andern ins Affentum hinab- gestoßen? Die Theosophie oder Geisteswissenschaft sagt: Das hat die Menschenseele selbst getan. Diese Menschenseele war auch schon zu jener Zeit vorhanden, als da auf dem physisch-sichtbaren Erdboden als höchste sinnliche Wesen nur jene gemeinsamen Urväter des Menschen und des Affen herumwandelten. Aus der Schar dieser Urväter waren die besten imstande, sich dem Höherbildungsprozeß der Seele zu unterwerfen; die minderwertigen waren es nicht. So hat

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die heutige Menschenseele einen Seelenvorfahren, wie der Körper einen körperlichen Vorfahren hat. Für die sinnliche Wahrnehmung wäre zur Zeit jener «Urväter» die Seele allerdings nicht im heutigen Sinne innerhalb des Körpers nachweisbar gewesen. Sie gehörte in einer gewissen Beziehung noch den «höheren Welten» an. Sie hatte auch andere Fähigkeiten und Kräfte als die gegenwärtige Menschenseele. Die heutige Verstandestätigkeit und Moralgesinnung fehlte ihr. Sie baute sich nicht aus den Dingen der Außenwelt Werkzeuge und errichtete nicht Staaten. Ihre Tätigkeit war noch in erheblichem Maße auf die Umarbeitung, die Umbildung der «Urväter-Leiber» selbst gerichtet. Sie gestaltete das unvollkommene Gehirn um, so daß dieses später Träger der Gedankentätigkeit werden konnte. Wie die heute nach außen gerichtete Seele Maschinen baut, so baute die Vorfahrenseele noch an dem menschlichen Vorfahrenkörper selbst. Man kann natürlich einwerfen: Ja, warum kann denn die Seele heute nicht mehr in dem Maße am eigenen Körper bauen? - Das kommt eben daher, daß die Kraft, die früher aufgebracht worden ist zur Organumbildung, später sich nach außen auf die Beherrschung und Regelung der Naturkräfte richtete.

So kommt man in der Urzeit auf einen zweifachen Ursprung des Menschen. Dieser ist geistig-seelisch nicht erst durch die Vervollkommnung der sinnlichen Organe entstanden. Sondern die «Seele» des Menschen war schon da, als die «Urväter» noch auf Erden wandelten. Sie hat sich - dies natürlich nur vergleichsweise gesprochen - selbst einen Teil aus der «Urväter-Schar» ausgewählt, dem sie einen äußerlich körperlichen Ausdruck verliehen hat, der ihn zum heutigen Menschen machte. Der andere Teil aus dieser Schar ist verkümmert, herabgekommen, und bildet die heutigen menschenähnlichen Affen. Diese haben sich also - im wahren

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Sinne des Wortes - aus dem Menschenvorfahren als dessen Abzweigung gebildet. Jene «Urväter» sind die physischen Menschenvorfahren; aber sie konnten es nur dadurch sein, daß sie die Fähigkeit der Umbildung durch die Menschenseelen in sich trugen. So stammt der Mensch physisch von diesem «Urvater» ab; seelisch aber von seinem «Seelenvorfahren». Nun kann man wieder weiter in bezug auf den Stammbaum der Wesen zurückgehen. Da kommt man zu einem physisch noch unvollkommeneren «Urvater». Aber auch zu dessen Zeit war der «Seelenvorfahr» des Menschen schon vorhanden. Dieser hat selbst diesen «Urvater» zum Affendasein emporgehoben, wieder die nicht entwickelungsfähigen Brüder auf der betreffenden Stufe zurücklassend. Aus diesen sind dann Wesen geworden, deren Nachkommen heute noch Unter den Affen in der Säugetierreihe stehen. Und so kann man hinaufgehen in jene urferne Vergangenheit, in der auf der damals ganz anders als Leute aussehenden Erde nur jene einfachsten Lebewesen vorhanden waren, aus denen Haeckel alle höheren entstehen läßt. Auch ihr Zeitgenosse war schon der «Seelenvorfahr» des Menschen. Er hat die brauchbaren umgestaltet und die unbrauchbaren auf jeder besonderen Stufe zurückgelassen. Die ganze Summe der irdischen Lebewesen stammt also in Wahrheit vom Menschen ab. Was heute als «Seele» in ihm denkt und baiidelt, hat die Entwickelung der Lebewesen bewirkt. Als unsere Erde im Anfang war, war er selbst noch ein ganz seehsdies Wesen. Er begann seine Laufbahn, indem er einen einfadisten Körper sich bildete. Und die ganze Reihe der Lebewesen bedeutet nichts anderes als die zurückgebliebenen Stufen, durch die er seinen Körperbau heraufentwickelt hat bis zur heutigen Vollkommenheit. Die heutigen Lebewesen geben natürlich nicht mehr diejenige Gestalt wieder, welche ihre Vorfahren auf einer bestimmten Stufe hatten, als sie

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sich vom Menschenstammbaum abzweigten. Sie sind nicht stehengeblieben, sondern nach einem bestimmten Gesetze, das hier wegen der notwendigen Kürze der Darstellung nicht weiter berücksichtigt werden kann, verkümmert. Das Interessante ist nun, daß man äußerlich auch durch die Geisteswissenschaft auf einen Stammbaum des Menschen kommt, der dem von Haeckel konstruierten gar nicht so unähnlich ist. Doch macht Haeckeil aus den physischen «Urvätern» des Menschen überall - hypothetische - Tiere. In Wahrheit sind aber an alle die Stellen, an die Haeckel Tiernamen setzt, die noch unvollkommenen Vorfahren des Menschen zu setzen, und die Tiere - ja sogar alle Wesen - sind nur die verkümmerten, herabgekommenen Formen, welche jene Stufen beibehalten haben, durch die hindurch sich die Menschenseele gebildet hat. Äußerlich besteht also eine Ähnlichkeit zwischen den Haeckelschen und den theosophischen oder geisteswissenschaftlichen Stammbäumen; innerlich - dem Sinne nach - sind sie himmelweit verschieden.

Daher kommt es, daß man aus Haeckels Ausführungen so gut elementare Geisteswissenschaft lernen kann. Man braucht nur die von ihm bearbeiteten Tatsachen theosophisch oder geisteswissenschaftlich zu durchdringen und seine eigene naive Philosophie zu einer höheren zu erheben. Wenn Haeckel solche «höhere» Philosophie abkanzelt und kritisiert, so ist er eben selbst naiv; wie etwa, wenn jemand, der es nur bis zum Einmaleins gebracht hat, sagen wollte: Was ich weiß, ist wahr, und die ganze höhere Mathematik ist nur ein phantastisches Zeug. - Die Sache liegt doch gar nicht so, daß jemand, der Theosoph ist, das widerlegen will, was elementare Tatsache der Naturwissenschaft ist; sondern nur so, daß der von materialistischen Suggestionen e1ngenommene Forscher gar nicht weiß, wovon die Theosophie

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Es hängt von dem Menschen ab, was er für eine Philosophie hat. Das hat Fichte gesagt mit den Worten: Wer kein wahrnehmendes Auge hat, kann die Farben nicht sehen, wer keine aufnahmefähige Seele besitzt, der kann den Geist nicht sehen. - Auch Goethe hat denselben Gedanken in dem bekannten Spruche zum Ausdruck gebracht: «Wär` nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt` es nie erblicken; läg` nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt` uns Göttliches entzücken?» Und einen Ausspruch Feuerbachs ins rechte Licht setzend, kann man sagen: Jeder sieht das Bild von Gott so, wie er selbst ist. Der Sinnliche macht sich einen sinnlichen Gott, derjenige, welcher das Seelische wahrnimmt> weiß auch das Seelische in seinem Gott zu enden. - Wenn Löwen, Stiere und Ochsen sich Götter machen könnten, so würden sie Löwen, Stieren und Ochsen ähnlich sein> bemerkte schon ein Philosoph im alten Griechenland. In dem Fetischanbeter lebt auch etwas als höchstes geistiges Prinzip, er hat es aber noch nicht in sich gefunden; er ist daher auch noch nicht dazu gekommen, in seinem Gott mehr zu sehen als den Holzklotz. Der Fetischanbeter kann nicht mehr anbeten, als er in sich selbst fühlt. Er erachtet sich selbst noch gleich dem Holzklotz. Wer nicht mehr sieht als wirbelnde Atome, wer das Höchste nur in den kleinen, bloß materiellen Pünktchen sieht, der hat eben in sich selber nichts von dem Höheren erkannt.

Haeckel hat sich zwar das, was er uns in seinen Schriften darbietet, ehrlich erworben, und ihm mußte es daher gestattet sein, auch die Fehler seiner Tugenden zu haben. Das Positive seiner Arbeit wird wirken, das Negative wird verschwinden. Von einem höheren Gesichtspunkte aus gesehen, kann man sagen: Der Fetischanbeter betet den Fetisch, ein lebloses Wesen an, und der materialistische Atomist betet nicht nur ein kleines Götzchen an, sondern eine Menge kleiner

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Götzchen, die er Atome nennt. Das Wort «anbeten» ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen, denn der «materialistische» Denker hat sich zwar nicht den Fetischismus, wohl aber das «Beten» abgewöhnt. So groß der Aberglaube des Fetischanbeters ist, so groß ist der des Materialisten. Das materialistische Atom ist nichts anderes als ein Fetisch. In dem Holzklotz sind nämlich auch nur Atome. Haeckel sagt nun an einer Stelle: «Gott sehen wir im Stein, in der Pflanze, im Tier, im Menschen. Überall ist Gott.» Er sieht aber nur den Gott, den er begreift. Goethe läßt doch so bezeichnend den Erdgeist zu Faust sprechen: «Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir.» So sieht der Materialist die wirbelnden Atome im Stein, in der Pflanze, im Tier und in dem Menschen und vielleicht auch im Kunstwerk, und beruft sich darauf, daß er eine einheitliche Weltanschauung besitze und den alten Aberglauben überwunden habe. Eine einheitliche Weltanschauung haben aber auch die Theosophen, und wir können dieselben Worte gebrauchen wie Haeckel: Wir sehen Gott im Stein, in der Pflanze und im Menschen, aber wir sehen nicht einen Wirbel von Atomen, sondern den lebendigen Gott, den geistigen Gott, den wir in der Natur draußen zu finden trachten, weil wir ihn in uns selbst auch suchen.

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UNSERE WELTLAGE. KRIEG, FRIEDEN UND DIE WISSENSCHAFT DES GEISTES Berlin, 12. Oktober 1905

Die Geistesforschung kann sich nicht in die unmittelbaren Angelegenheiten des Tages mischen. Dabei darf auch nicht der Glaube etwa aufkommen, daß die Geist-Erkenntnis etwas sein soll, das über aller Wirklichkeit in den Wolken schwebt und nichts zu tun hätte mit der Praxis des Lebens. Wir wollen weder die Ereignisse, die heute unmittelbar die Welt aufwühlen, in der Art etwa, wie man die Tagesereignisse behandelt, vortragen, noch wollen wir zu denen gehören, welche blind und taub sein möchten gegen dasjenige, was unmittelbar das menschliche Herz bewegt, was uns unmittelbar angeht. Zwischen diesen zwei Klippen muß ja der Geistesforscher stets den Weg hindurchfinden, so daß er niemals aufgeht in den Meinungen und den Anschauungen des Alltags; auf der andern Seite darf er sich niemals in bloße leere Abstraktionen verwickeln oder Autoritäten verfallen. Öfter durfte ich es von dieser Stelle aus sagen: Praktisch, unmittelbar praktisch, viel praktischer, als gewöhnlich die Tagespraktiker meinen, soll uns die Geisteswissenschaft machen. Aber sie soll uns dadurch praktisch machen, daß sie Uns hineinführt in die tieferliegenden Kräfte des Lebens und uns über die Sachen aufklärt von diesen tieferliegenden Kräften aus, daß sie unser Handeln im Einklang mit den großen Weltgesetzen lenkt. Denn allein dann kann man in der Welt etwas erreichen, kann man in das Getriebe der Welt eingreifen, wenn man das im Sinne der großen Weltgesetze macht.

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Nach dieser Voraussetzung lassen Sie mich zunächst auf ein paar Tatsachen hinweisen, die uns einzig und allein die Wichtigkeit unserer heutigen Fragen und, ich möchte sagen, die Aktualität derselben ins Gedächtnis rufen sollen.

Die eine Tatsache, die jedem vielleicht in Erinnerung ist, ist die, daß am 24. August 1898 der Bevollmächtigte des Zaren den in Petersburg akkreditierten auswärtigen Vertretern ein Rundschreiben übersandte, in dem unter anderem die folgenden Worte sich finden: «Die Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens und eine mögliche Herabsetzung der übermäßigen Rüstungen, welche auf allen Nationen lasten, stellen sich in der gegenwärtigen Lage der ganzen Welt als ein Ideal dar, auf das die Bemühungen aller Regierungen gerichtet sein müßten.

Das humane und hochherzige Streben Sr. Majestät des Kaisers, meines erhabenen Herrn, ist ganz dieser Aufgabe gewidmet. In der Überzeugung, daß dieses erhabene Endziel den wesentlichsten Interessen und den berechtigten Wünschen aller Mächte entspricht, glaubt die kaiserliche Regierung, daß der gegenwärtige Augenblick äußerst günstig dazu sei, auf dem Wege internationaler Beratung die wirksamsten Mittel zu suchen, um allen Völkern die Wohltaten wahren und dauernden Friedens zu sichern und vor allem der fortschreitenden Entwickelung der gegenwärtigen Rüstungen ein Ziel zu setzen.»

In diesem Schriftstück finden sich ferner die folgenden Worte: «Da die finanziellen Lasten eine steigende Richtung verfolgen und die Volkswohlfahrt an ihrer Wurzel treffen, so werden die Arbeit und das Kapital zum großen Teile von ihrer natürlichen Bestimmung abgelenkt und in unproduktiver Weise aufgezehrt. Hunderte von Millionen werden aufgewendet, um furchtbare Zerstörungsmaschinen zu beschaffen, die heute als das letzte Wort der Wissenschaft be-

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trachtet werden und schon morgen dazu verurteilt sind, jeden Wert zu verlieren infolge irgendeiner neuen Entdeckung auf diesem Gebiete... Daher entsprechen in dem Maße, wie die Rüstungen einer jeden Macht anwachsen, diese immer weniger und weniger dem Zweck, den sich die betreffende Regierung gesetzt hat.» Das Schriftstück schließt damit, daß eine Konferenz mit Gottes Hilfe ein günstiges Vorzeichen des kommenden Jahrhunderts sein soll. - Zweifellos entspringt dieses Manifest einem Vorsatz. Wie dieser Vorsatz hat in Erfüllung gehen können, das lehren uns die neuesten Ereignisse. Dieser Vorsatz ist nicht gerade neu, denn wir können sogar Jahrhunderte weit zurü&gehen, und da treffen wir im 16., 17. Jahrhundert einen Fürsten, Heinrich IV. von Frankreich, der dazumal die Idee zu einer solchen allgemeinen Friedenskonferenz anregte. Sieben von den damaligen sechzehn Ländern waren gewonnen, als Heinrich IV. ermordet wurde. Sein Werk hat niemand fortgesetzt. Wahrscheinlich könnten wir wohl, wenn es darum zu tun wäre, die Vorsätze zu diesem Zweck, die von diesen Stellen aus- fließen, noch viel weiter zurückverfolgen.

Dies ist die eine Tatsachenreihe. Die andere ist diese: Die Haager Friedenskonferenz fand statt. Sie alle kennen den Namen der verdienstvollen Persönlichkeit, welche ihr Ideal mit einer seltenen Hingebung und auch mit einer seltenen Sachkenntnis verfolgt, den Namen Bertha von Suttner. Ein Jahr nach der Haager Friedenskonferenz suchte sie die Akten zu sammeln zu einem Buche, in dem sie die zum Teil schönen und herrlichen Reden verzeichnete. Dem Buche schickte sie eine Vorrede voraus. Ich bitte zu berücksichtigen, es war ein Jahr vergangen, nachdem Bertha von Suttner auf dieses Werk der Friedenskonferenz hat sehen können. Die Folgen ahnte sie schon, nachdem ein Jahr vergangen war. Im diametralen Gegensatz dazu hatten wir inzwischen den

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blutigen Transvaalkrieg mit abgelehnter Vermittlung, und heute haben wir wieder Krieg. Wenn wir uns heute ein wenig umsehen in der Welt, sehen wir den Kampf sehr vieler edler Menschen um den Friedensgedanken, schon in den Herzen hochsinniger Idealisten die Liebe zu einem allgemeinen Weltfrieden, und doch ist auf der andern Seite in andern Zeiten auf unserem Erdenkreis kauin so viel Blut geflossen wie jetzt. Es ist dies eine ernste, sehr ernste Angelegenheit für jeden, der sich auch mit den großen seelischen Fragen beschäftigt.

Einerseits haben wir die hin gebenden Friedensapostel in ihrer regsamen Tätigkeit. Wir haben die ausgezeichneten Leistungen der Bertha von Suttner, weiche mit seltener Größe alle Furchtbarkeiten des Kampfes und des Krieges hinzustellen verstand; aber vergessen wir nicht, daß wir auch die Kehrseite haben. Vergessen wir nicht, daß auch sehr viele unter unseren nrteilsfähigen Menschen sind, die auf der andern Seite uns immer und immer wieder versichern, daß sie den Kampf für nötig halten gerade zum Fortschritt, als etwas, was die Kräfte stählt. Nur im Kampf gegen den Widerstand wüchsen die Kräfte. Der Forscher, der so viele Denker an sich herangezogen hat, wie oft hat er es ausgesprochen, daß er den starken Krieg wünscht und daß nur der starke Krieg die Kräfte in der Natur vorwärtsbringen kann. Vielleicht hat er das nicht in so radikalen Worten ausgesprochen, aber so denken dennoch viele. Selbst innerhalb unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung sind Stimmen laut geworden, daß es eine Schwäche, geradezu eine Versündigung wäre am Geist der nationalen Stärke, wenn man etwas gegen den Krieg, der zur nationalen Ehre, zur nationalen Macht geführt hat, einwende. Jedenfalls stehen sich heute die Ansichten auf diesem Gebiete noch immer schroff, sehr schroff gegenüber. Aber die Haager Friedenskonferenz

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hat eines gebracht. Sie hat die Stimmen gebracht einer Reihe von Leuten, welche an der Spitze der Führung der öffentlichen Angelegenheiten stehen. Eine große Reihe der Repräsentanten der Staaten hat dazumal ihre Zustimmung dazu gegeben> daß die Haager Konferenz stattfinden konnte. Man sollte glauben, daß eine Sache, die eine solche Zustimmung von solchen Stellen gefunden hat, im eminentesten Sinne aussichtsvoll sein müßte.

Nun, um wirklich Stellung nehmen zu können in der Weise, wie eine spirituelle Welt- und Lebensanschauung Stellung nehmen läßt, müssen wir etwas tiefer in die ganzen Dinge hinein sehen. Wenn wir die Frage des Friedens als eine ideale Frage verfolgen, wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelt hat, und daneben die Tatsachen des Kampfes und Streites verfolgen, so müssen wir doch wohl sagen, daß vielleicht die Art und Weise, wie dieses Ideal eines allgemeinen Friedens verfolgt wird, die Aufmerksamkeit und eine Untersuchung herausfordert. Viele von denen, die das Kriegshandwerk geführt haben, sind es selbst, in deren Herzen Schmerz und vielleicht sogar Abscheu vor den Folgen und Wirkungen des Krieges vorhanden ist. Solche Dinge legen uns wohl die Frage in den Mund: Kommen denn die Kriege überhaupt von irgend etwas, das sich durch Grundsätze und Ansichten aus der Welt schaffen läßt? Wer tiefer in die Seelen der Menschen hineinsieht, der weiß, daß zwei getrennte, ganz verschiedene Wege dasjenige hervorrufen, was zum Kriege führt. Das eine ist das, was wir Urteilskraft und Verstand, was wir Idealismus nennen, das andere ist die menschliche Begierde, die menschlichen Neigungen, die menschlichen Sympathien und Antipathien. Manches wäre anders in der Welt, wenn es ohne weiteres möglich wäre, die Begierden, Wünsche und Leidenschaften nach den Grundsätzen des Herzens und Verstandes zu regeln. Das ist nämlich

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nicht möglich, sondern das Umgekehrte ist bis jetzt in der Menschheit immer dagewesen. Was die Leidenschaft will, was die Begierde verlangt, dazu schafft der Verstand, dazu schafft selbst das Herz eine Maske mit seinem Idealismus. Und wenn Sie die Geschichte der menschlichen Entwickelung verfolgen, dann können Sie immer und immer wieder die Frage stellen, wenn Sie da und dort Grundsätze, da oder dort Idealismus aufleuchten sehen: Welche Begierden und Leidenschaften lauern im Hintergrunde? Wenn wir dieses bedenken, dann könnte es gar wohl sein, daß man mit den schönsten Grundsätzen gerade heute noch nichts anfangen könnte in dieser Frage, dann könnte es sein, daß etwas anderes notwendig ist, weil einfach die menschlichen Leidenschaften, Triebe und Begierden noch nicht weit genug sind, um dem Idealismus des Einzelnen zu folgen. Sie sehen, die Frage liegt tiefer, und wir müssen sie auch tiefer erfassen. Wir müssen wirklich einenBlick in die menschliche Seele und ihre Grundkräfte hinein tun, wenn wir die ganze Sache richtig beurteilen wollen. Der Mensch sieht nicht immer genug von seinem Entwickelungsgang, der Mensch sieht oft nur eine kleine Spanne Zeit, und da muß eine weitgehende Weltanschauung uns den Blick eröffnen, der auf der einen Seite tief hineinführt und uns auf der andern Seite die größeren Zeiträume überblicken läßt, damit wir über die Kräfte ein Urteil bekommen, die uns in die Zukunft hineinführen sollen.

Sehen wir uns einmal die menschliche Seele an, da, wo wir sie vielleicht in einem Punkte tief und gründlich studieren können. Da haben wir heute etwas, was wir vor acht Tagen berühren konnten, von einer andern Seite her. Da haben wir eine naturwissenschaftliche Theorie, den sogenannten Darwinismus. Innerhalb dieser naturwissenschaftlichen Ansicht spielt ein Begriff eine große Rolle. Und dieser

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Begriff heißt: Kampf ums Dasein. Unter dem Zeichen des Kampfes ums Dasein stand jahrzehntelang unsere gesamte Naturwissenschaft, unsere ganze Anschauung. Da sagten ja die Naturforscher so: Diejenigen Wesenheiten in der Welt, welche im Kampfe ums Dasein am besten sich erhalten, die am meisten Vorsprung gewinnen über ihre Mitgeschöpfe, die bleiben, die andern vergehen. So daß wir uns nicht zu wundern brauchen, wenn diejenigen Wesenheiten, die wir um uns herum haben, die am besten angepaßten sind, denn sie haben sich durch Jahrmillionen hindurch herausgebildet. Die Tüchtigsten sind übriggeblieben, die Untüchtigen sind untergegangen.

Der Kampf ums Dasein ist die Losung der Forschung geworden. Und woraus ist dieser Kampf da hineingekommen? Nicht aus der Natur ist er gekommen. Darwin selbst, obgleich er ihn in größerem Stile betrachtet als seine Nachfolger, hat ihn von einer über die Menschengeschichte sich verbreitenden Anschauung des Malthus genommen, jener Anschauung, daß die Erde in einer solchen Progression Nahrungsmittel hervorbringt, daß diese Zunahme in viel geringerem Maße steigt als die Zunahme der Bevölkerung. Diejenigen, welche sich mit diesen Dingen beschäftigt haben, werden wissen, daß man sagt: Die Zunahme der Nahrungsmittel steigt im arithmetischen, die Zunahme der Bevölkerung im geometrischen Verhältnis. Das bedingt einen Kampf ums Dasein, einen Krieg aller gegen alle. - Davon ausgehend, hat Darwin auch am Ausgange der Natur den Kampf ums Dasein angenommen. Und diese Anschauung entspricht nicht einer bloßen Idee, sondern den modernen Lebensgestaltungen. Bis in die Verhältnisse des Einzelnen ist in der Form der allgemeinen wirtschaftlichen Konkurrenz dieser Kampf ums Dasein zur tatsächlichen Wirklichkeit geworden. Man hat diesen Daseinskampf in nächster Nähe gesehen,

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man hat ihn für etwas Natürliches im Menschenreich gehalten Und dann in die Naturwissenschaft aufgenommen.

Von solchen Anschauungen geht Ernst Haeckel aus, der in der kriegerischen Betätigung, im Krieg geradezu einen Kulturhebel gesehen hat. Der Kampf sei das, was stark macht, das Schwache soll untergehen, die Kultur fordere, daß das Schwache untergeht. - Die Nationalökonomie hat dann diesen Kampf wieder auf die Menschenwelt zurück angewendet. So haben wir große Theorien innerhalb unserer Nationalökonomie, innerhalb unserer sozialen Theorien, welche den Kampf ums Dasein wie etwas ganz Berechtigtes und von der menschlichen Entwickelung nicht zu Trennendes ansehen. Man ist in diesen Sachen - nicht vorurteilslos, sondern mit diesen Prinzipien - weiter zurückgegangen in die ältesten Zeiten, und da versuchte man das Leben barbarischer wilder Völkerschaften zu studieren. Man glaubte, den Menschen in seiner Kulturentwickelung belauschen zu können und glaubte, da das wildeste Kriegsprinzip zu finden. Huxley hat gesagt: Sehen wir hinaus in die Natur der Tiere, so gleicht der Kampf ums Dasein einem Gladiatorenkampf, und das ist Naturgesetz. Und sehen wir von den höheren Tieren auf die niederen und stellen wir uns ein auf den bisherigen Gang der Weltentwickelung, so belehrt uns die Tatsachenwelt überall, daß wir in einem allgemeinen Kampf ums Dasein leben.

Sie sehen, das konnte ausgesprochen werden, das konnte als allgemeines Weltgesetz vertreten werden. Wer sich klar darüber ist, daß nicht Worte auf die Lippen kommen, die nicht tief in der Menschenseele begründet sind, der wird sich sagen, daß die Gefühle, die Empfindungen, die ganze Seelenverfassung unserer Besten heute noch immer von der Anschauung ausgeht, daß Krieg, Kampf im Menschengeschlecht,

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ja in der ganzen Natur etwas Gesetzmäßiges ist, etwas, dem man nicht entrinnen kann. - Sie können nun sagen: Aber die Forscher sind ja vielleicht ganz humane Menschen gewesen, die in ihrem tiefsten Idealismus den Frieden, den Ausgleich ersehnten und herbeiwünschten. Doch ihr Stand, ihre Wissenschaft hat sie überzeugt, daß dem nicht so ist, und vielleicht haben sie mit blutendem Herzen ihre Theorie hingeschrieben. - Dies wäre ein Einwand, wenn nicht zunächst etwas ganz anderes eingetreten wäre. Wir dürfen sagen, daß unter allen denen, die glaubten wissenschaftlich und nationalökonomisch zu denken, im ganzen West- und Mitteleuropa in den sechziger und siebziger Jahren die gekennzeichnete Theorie gang und gäbe war. Gang und gäbe war die Stimme, daß Krieg und Kampf ein Naturgesetz sei, dem man nicht entrinnen könne. Gründlich hatte man aufgeräumt, so glaubte man, mit der alten Auffassung von Rousseau, daß nur die menschliche Unnatur in den allgemeinen Frieden der Natur Kampf und Krieg, Gegensatz und Disharmonie hineingebracht hat. Es war ja noch am Ende des 18. Jahrhunderts diese Rousseausche Stimmung verbreitet, daß, wenn man hineinsieht in das Leben und Treiben der Natur, die noch unbeeinflußt ist von der Überkultur des Menschen, man dann überall Einklang und Friede sieht. Nur der Mensch mit seiner Willkür und seiner Kultur hat den Kampf und Streit in die Welt gebracht. - Das war noch Rousseausche Anschauung, und die Forscher versicherten uns im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts: Ja, schön wäre es, wenn es so wäre, aber es ist nicht der Fall. Die Tatsachen belehren uns in anderer Weise.

Und doch fragen wir uns einmal ernstlich: Hat das Gefühl gesprochen oder haben die Tatsachen gesprochen? Schwer könnten wir etwas einwenden, wenn die Tatsachen in dieser Weise sprächen. Da trat im Jahre 1880 ein merk-

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würdiger Mann auf, ein Mann, der einen Vortrag hielt in der Naturforscherversammlung vomJahre 1880 in St. Petersburg in Rußland, einen Vortrag, der für alle diejenigen, die sich für diese Frage gründlich interessieren, von einer großen und tiefgehenden Bedeutung ist. Dieser Mann ist der Zoologe Keßler. Er ist bald danach gestorben. Sein Vortrag handelte über das Prinzip der gegenseitigen Hilfe in der Natur. Für alle diejenigen, welche solche Dinge ernsthaft anfassen, geht von der Forschung und wissenschaftlichen Reife, welche damit angeregt wird, ein ganz neuer Zug aus. Hier wurden zum erstenmal in der neueren Zeit Tatsachen aus der ganzen Natur zusammengestellt, die beweisen, daß alle früheren Theorien über den Kampf ums Dasein mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen.

In diesem Vortrag finden Sie auseinandergesetzt und durch die Tatsachen bewiesen, daß die tierischen Arten, die tierischen Gruppen sich nicht entwickeln durch den Kampf ums Dasein, daß es in Wahrheit einen Kampf ums Dasein nur ausnahmsweise zwischen zwei Arten gibt, nicht aber in der Art selbst, deren Individuen sich im Gegenteil Hilfe leisten, und daß die Arten am dauerhaftesten sind, deren Individuen am meisten veranlagt sind zu solcher gegenseitigen Hilfe. Nicht Kampf, sondern gegenseitige Hilfe gewährt lange Existenz. Dadurch war ein neuer Gesichtspunkt erreicht. Nur hat es die moderne Forschung zuwege gebracht, daß durch eine merkwürdige Verkettung von Umständen eine Persönlichkeit, die für die Gegenwart auf dem unglaublichsten Standpunkt steht, Fürst Kropotkin, die Sache weitergeführt hat. Er hat bei Tieren und Stämmen an einer Unsumme von festgelegten Tatsachen zeigen können, welche Bedeutung in der Natur und im Menschenleben dieses Prinzip der gegenseitigen Hilfe hat. Ich kann jedem empfehlen, dieses auch in deutscher Übersetzung vorliegende

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Buch, übersetzt von Gustav Landauer, zu studieren. Dieses Buch bringt eine Summe von Begriffen und Vorstellungen in den Menschen hinein, die eine Schule sind für den Aufstieg zu einer spirituellen Gesinnung. Nun verstehen wir aber diese Tatsachen erst dann richtig, wenn wir sie im Sinne der sogenannten esoterischen Anschauung beleuchten, wenn wir diese Tatsachen mit den Grundlagen der Geisteswissenschaft durchdringen. Ich könnte ja schon deutlich sprechende Beispiele vorführen, allein Sie können sie in dem angeführten Buche lesen. Das Prinzip der gegenseitigen Hilfeleistung in der Natur ist: Diejenigen kommen am weitesten, die dieses Prinzip am meisten ausgeprägt haben. - Die Tatsachen sprechen also deutlich und werden immer deutlicher für uns sprechen. In der geisteswissenschaftlichen Anschauung sprechen wir, wenn wir von einer einzelnen Tierart sprechen, genau so, wie wir von einem einzelnen Menschen, von der einzelnen Individualität eines Menschen sprechen. Eine Tierart ist uns dasselbe auf niederem Gebiete, was auf höherem Gebiete das einzelne menschliche Individuum ist. Ich habe es schon einmal hier gesagt: Eine Tatsache muß man sich so recht klar vor Augen führen, um zu verstehen, in welchem Gegensatz der Mensch gegenüber dem ganzen Tierreich ist. Dieser Gegensatz drückt sich in dem Ausspruche aus: Der Mensch hat eine Biographie, das Tier hat keine Biographie. Beim Tiere sind wir zufrieden, wenn wir die Gattung beschrieben haben. Beim Menschen sagen wir: Vater, Großvater, Enkel, Sohn; beim Löwen unterscheidet sich das nicht so, daß wir jeden einzelnen besonders beschreiben sollten. Gewiß, ich weiß, daß da viel eingewendet werden kann; ich weiß, daß der, welcher einen Hund oder einen Affen liebt, glaubt, eine Biographie des Hundes oder des Affen schreiben zu können. Eine Biographie soll aber nicht enthalten, was der andere von dem Wesen wissen kann, son-

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dern das, was das Wesen selbst gewußt hat. Selbstbewußtsein gehört zu einer Biographie, und in diesem Sinne hat nur der Mensch eine Biographie. Diese entspricht dem, was beim Tiere eine Beschreibung der ganzen Gattung oder Art ist. Daß jede Tiergruppe eine Gruppenseele hat, ist der äußere Ausdruck für die Tatsache, daß jeder individuelle Mensch eine Seele in sich trägt.

Ich habe es auch hier schon auseinandersetzen dürfen, daß unmittelbar mit unserer physischen Welt eine verborgene Welt verbunden ist, die astrale Welt, die nicht aus solchen Gegenständen und Wesenheiten besteht, die man mit den Sinnen wahrnehmen kann, sondern die aus dem Stoff gewoben ist, aus dem unsere Leidenschaften und Begierden gewoben sind. Wenn Sie den Menschen prüfen, so können Sie sehen: er hat seine Seele bis herunter auf den physischen Plan oder auf die physische Welt geführt. Auf dieser physischen Welt gibt es keine individuelle Seele für das Tier. Sie finden aber für das Tier eine individuelle Seele, die auf de`m sogenannten Astralplan ist, auf der hinter unserer physischen Welt verborgenen astralen Welt. Die Tiergruppen haben individuelle Seelen in der astralen Welt. Da haben wir den Unterschied zwischen dem Menschen und dem Tierreiche. Wenn wir uns nun fragen: Was kämpft denn in Wahrheit, wenn wir im Tierreiche den Kampf ums Dasein verfolgen? - dann müssen wir sagen: Die Wahrheit ist, daß hinter diesem Kampf, der zwischen den Arten im Tierreich ausgefochten wird, der astrale Kampf der seelischen Leidenschaften und Begierden steht, der in den Gattungs- oder Gruppenseelen wurzelt.- Würde aber innerhalb der Gattung im Tierreich von einem Daseinskampf die Rede sein, dann wäre das so, als wenn sich im Menschen die eigene Seele in ihren verschiedenen Teilen bekämpfen würde. Dies ist eine wichtige Wahrheit. Es kann die Regel nicht sein, daß inner-

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halb einer tierischen Art der Kampf ist, sondern es kann nur zwischen den Arten der Daseinskampf stattfinden. Denn die Seele der ganzen Art ist eine einheitliche, und weil sie einheitlich ist, muß sie die Teile beherrschen. Es ist die gegenseitige Hilfeleistung innerhalb der Tierwelt, die wir bei den Arten verfolgen können, einfach der Ausdruck der einheitlichen Tätigkeit der Art oder der Gruppenseele. Und wenn Sie hinblicken auf alle diese Beispiele, die Sie in dem erwähnten interessanten Buche angeführt finden, dann bekommen Sie eine schöne Einsicht in die Art und Weise, wie die Gruppenseelen wirken. Zum Beispiel, wenn ein Individuum einer gewissen Krebsart durch Zufall auf den Rücken geworfen wird, so daß es nicht selbst wieder aufstehen kann, daß dann eine größere Anzahl von in der Nähe befindlichen Tieren herbeikommt und dem Tiere aufhilft. Diese gegenseitige Unterstützung kommt aus einem gemeinschaftlichen Seelenorgan der Tiere heraus. Und verfolgen Sie einmal die Art und Weise, wie Käfer sich unterstützen, um eine gemeinschaftliche Brut zu pflegen oder zu schützen, um eine tote Maus zu bewältigen und so weiter, wie sie sich da verbinden, sich unterstützen, gemeinschaftliche Arbeit ausführen, dann sehen Sie die Gruppenseele an der Arbeit. Das können Sie bis herein in die höchsten Tierarten verfolgen. Es ist wahr, wer einen Sinn hat für dieses Treiben in der gegenseitigen Hilfeleistung bei den Tieren, der bekommt nach und nach auch einen Einblick, einen Begriff, eine Ahnung von dem Treiben der Gruppenseelen. Und gerade da kann er sich das Sehen mit den Augen des Geistes aneignen. Da wird das Auge sonnenhaft.

Beim Menschen nun haben wir es zu tun mit einer individuell gewordenen Gruppenseele. In jedem einzelnen Menschen wohnt eine solche Gruppenseele. Und so ist es für den Menschen, wie es für die verschiedenen Tiergattungen ist,

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in der Tat möglich, daß er als einzelner in einen Kampf eintritt gegen jeden einzelnen andern. Nun aber sehen wir uns einmal den Zweck des Kampfes an, ob der Kampf um des Kampfes willen in der Weltenentwickelung da ist. Was ist denn geworden aus dem Kampf der Arten? Es sind diejenigen Arten übrig, welche sich am meisten gegenseitig unterstützen, und diejenigen, welche unter sich am kriegerischsten sind, die sind zugrunde gegangen. So lautet das Naturgesetz. Daher müssen wir sagen, daß in der äußeren Natur der Fortschritt in der Entwickelung darin besteht, daß an die Stelle des Kampfes der Friede tritt. Da wo die Natur an einem bestimmten Punkte, an dem großen Wendepunkte angelangt ist, da herrscht in der Tat der Ausgleich; der Friede, zu dem sich der ganze Kampf durchgebildet hat, ist vorhanden. Bedenken Sie doch einmal, daß Pflanzen untereinander als Arten einen Daseinskampf führen. Aber bedenken Sie, wie schön und großartig sich das Pflanzen- und das Tierreich in ihrem gemeinschaftlichen Entwickelungsprozeß gegenseitig unterstützen: Das Tier atmet Sauerstoff ein und Stickstoff aus, die Pflanze atmet Sauerstoff aus und Stickstoff ein. So ist ein Friede des Universums möglich.

Was die Natur auf diese Weise durch ihre Kraft hervorbringt, es ist für den Menschen bestimmt, daß er es bewußt aus seiner individuellen Natur hervorbringe. Stufenweise ist der Mensch fortgeschritten und stufenweise hat sich bei ihm dasjenige gebildet, was wir als das Selbstbewußtsein unserer individuellen Seele erkennen. Unsere Weltlage müssen wir so betrachten, daß wir sie herausentwickelt denken und dann ihre Tendenz nach der Zukunft hin verfolgen. Gehen Sie zurück in frühere Zeiten, dann sehen Sie im Menschenreiche bei seinem Aufgange noch Gruppenseelen walten, die in kleinen Stämmen und Familien vorhanden sind; da haben wir es also auch beim Menschen mit Gruppenseelen

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zu tun. Je weiter Sie in der Welt zurückblicken, desto kompakter, desto einheitlicher erscheinen Ihnen die Menschen, die so zusammengefaßt sind. Wie ein Geist ist es, der die alte Dorfgemeinde durchdrang, die dann zum primitiven Staate wurde. Sie könnten studieren, wie es noch etwas anderes war, als Alexander der Große seine Massen in den Krieg führte, als wenn heute Menschenmassen mit ihren viel ausgebildeteren individuellen Willen in einen Krieg geführt werden. Das muß man richtig beleuchten. Denn das ist der Gang der fortschreitenden Kultur, daß die Menschen immer individueller, selbständiger und bewußter werden, selbstbewußter. Aus Gruppen, aus Gemeinsamkeiten hat sich das Menschengeschlecht herausgebildet. Und geradeso wie wir Gruppenseelen haben, welche die einzelnen Tierarten leiten und lenken, so waren die Völker geleitet und gelenkt von den großen Gruppenseelen. Immer mehr und mehr entwächst der Mensch durch seine fortschreitende Erziehung der Lenkung der Gruppenseele und wird immer selbständiger und selbständiger. Diese Selbständigkeit brachte ihn dahin, daß er, während er früher doch in den Gruppen nur mehr oder weniger feindlich seinem Nebenmenschen entgegengetreten ist, er heute tatsächlich in einem die ganze Menschheit durchdringenden Daseinskampf mitten drinnensteht. Das ist unsere Weltlage, und diese ist das Schicksal insbesondere unserer Rasse, das heißt unserer unmittelbaren Gegenwart.

In der Geisteswissenschaft unterscheiden wir in der gegenwärtigen Weltenentwickelung zunächst fünf aufeinanderfolgende große Rassen, dann sogenannte Unterrassen. Die erste Unterrasse wurde entwickelt in uralten Zeiten, im fernen Indien. Zunächst war diese Unterrasse durchsetzt von einer Priesterkultur. Diese Priesterkultur gab ja unserer jetzigen Rasse die ersten Impulse. Sie war herübergekommen

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aus der atlantischen Kultur, die auf einem Boden war, der heute den Grund des Atlantischen Ozeans bildet. Diese Rasse gab den Ton an; dann wurde sie gefolgt von andern Unterrassen, und wir sind jetzt die fünfte. Das ist nicht eine Einteilung, die der Anthropologie oder einer Rassentheorie entlehnt ist, sondern eine solche, wie sie im sechsten Vortrage dieser Reihe näher ausgeführt werden wird. Die fünfte Rasse ist die, welche den Menschen am weitesten gebracht hat in seinem Sondersein, in seinem individuellen Bewußtsein. Das Christentum hat den Menschen geradezu dazu vorbereitet, ein solches Sonderbewußtsein zu erlangen: der Mensch mußte dieses Selbstbewußtsein erringen. Wenn wir zurückblicken auf die Zeit vor Christus, wo im alten Ägypten die gigantischen Pyramiden gebaut worden sind, da hat ein Heer von Sklaven Arbeiten verrichtet, von deren Schwierigkeiten und Mühen heute sich kein Mensch mehr eine richtige Vorstellung macht. Aber mit Selbstverständlichkeit und einem ungeheuren Frieden haben zu der weitaus größten Zeit diese Arbeiter gerade gebaut. Sie haben gebaut, weil in jener Zeit die Lehre von Reinkarnation und Karma eine Selbstverständlichkeit war. Das sagt Ihnen kein Buch, aber das wird Ihnen, wenn Sie in die Geisteswissenschaft eindringen, allmählich ganz klar. Jeder Sklave, der da seine Hände wundarbeitete und in Not und Elend war, der wußte für sich genau: Das ist ein Leben unter vielen, und ich habe das, was ich jetzt erleide, als Folge dessen zu tragen, was ich in den früheren Leben mir vorbereitet habe! Wenn das aber nicht der Fall ist, so werde ich in einem künftigen Leben die Wirkung dieses meines jetzigen Lebens erfahren; der, welcher mir heute befiehlt, ist auf demselben Standpunkte gewesen, wie ich es heute bin, oder er wird es noch sein.

Unter dieser Gesinnung aber wäre niemals das ganze

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selbstbewußte Erdenleben zur Entfaltung gekommen, und die hohen Mächte, welche das Schicksal des Menschengeschlechts im Großen leiten, wußten, was sie taten, als sie eine Zeitlang, durch Jahrtausende hindurch, das Bewußtsein von Reinkarnation und Karma schwinden ließen. Das war die große bisherige Entwickelung des Christentums, daß es verschwinden gemacht hat das Hinaufsehen, das Hinaufblicken zu einem Jenseits, das ausgleichend wirken soll, und aufmerksam gemacht hat auf die ungeheure Wichtigkeit des Diesseits.

Mag es ja in seiner radikalen Ausführung zu weit gegangen sein, aber das mußte geschehen, denn die Dinge der Welt entwickeln sich nicht nach der Logik, sondern nach andern Gesetzen. Man hat von diesem Erdenleben eine Ewigkeit von Strafen abgeleitet; die Entwickelungstendenz hat dazu geführt, wenn es auch ungereimt ist. So hat die Menschheit gelernt, sich bewußt zu sein dieser einen Erdenexistenz. Dadurch wurde die Erde, dieser physische Plan, dem Menschen unendlich wichtig. Und es mußte so werden, es mußte so kommen. Alles, was heute geschieht, was den Erdkreis in materieller Beziehung erobert hat, alles das konnte sich nur entwickeln aus einer Gesinnung heraus, welche auf einer Erziehung fußt für diese Erde, abgesehen von dem Gedanken von Reinkarnation und Karma. So sehen wir die Folge dieser Erziehung: das vollständige Herableben des Menschen auf den physischen Plan. Denn da nur konnte sich die individuelle Seele entwickeln, da ist sie abgesondert, eingeschlossen in diesen Leib und kann nur herausschauen als ein abgeschlossenes Sonderdasein durch seine Sinne. Damit haben wir immer mehr und mehr von menschlicher Konkurrenz, immer mehr und mehr von der Wirkung des Sonderdaseins hineingebracht in das Menschengeschlecht. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn das Menschengeschlecht

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heute noch lange nicht reif sein kann, um das, was heranerzogen werden mußte, wiederum auszuschalten.Wir haben ja gesehen, daß die gegenwärtigen Arten der Tiere durch ihre gegenseitige Hilfe zu ihrer Vollkommenheit sich entwickelt haben, und daß der Kampf nur von Art zu Art gewaltet hat. Wenn aber die menschliche Individualität dasselbe ist wie die Gruppenseele der Tiere, dann wird die menschliche Seele zu einem Selbstbewußtsein nur kommen können, indem sie denselben Kampf durchmacht wie die Tiere draußen in der Natur. Solange der Mensch noch nicht die Selbständigkeit ganz herausentfaltet hat, so- lange wird der Kampf noch dauern. Aber der Mensch ist dazu berufen, in bewußter Weise das zu erreichen, was draußen auf dem physischen Plane da ist. Daher wird es ihn führen auf den Bewußtseinsstufen seines Reiches zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung, weil das Menschengeschlecht eine einzige Art ist. Und die Kampflosigkeit, wie sie im Tierreich zu finden ist, muß in bezug auf das ganze Menschengeschlecht erst erreicht werden: ein vollständiger, allumfassender Friede. Nicht der Kampf hat die einzelne Tierart groß gemacht, sondern die gegenseitige Hilfe und Unterstützung. Dasjenige, was als Gruppenseele in der Tierart als einzelne Seele lebt, das ist friedlich mit sich selbst, das ist die einheitliche Seele. Nur die menschliche individuelle Seele ist in diesem physischen Sondersein eine besondere.

Das ist die große Errungenschaft für unsere Seele, die wir aus der spirituellen Entwickelung uns aneignen, daß wir in Wahrheit erkennen die gemeinschaftliche Seele, welche das ganze Menschengeschlecht durchzieht, die Einheit in der ganzen Menschheit, die wir nicht als unbewußtes Geschenk empfangen, sondern die wir uns bewußt erringen müssen. Diese einheitliche Seele im ganzen Menschengeschlecht wahrhaft

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und wirklich zu entwickeln, das ist die Aufgabe der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung. Das spricht sich in unserem ersten Grundsatz aus: einen Bruderbund zu gründen über die ganze Erde hin, ohne Rücksicht auf Rasse, Geschlecht, Farbe und so weiter. Das ist die Anerkennung der Seele, die der ganzen Menschheit gemeinsam ist. Bis in die Leidenschaften hinein muß die Läuterung stattfinden, es dem Menschen selbstverständlich macht, daß in seinem Bruder die gleiche Seele lebt. Im Physischen sind wir getrennt, im Seelischen sind wir eine Einheit als Ich des Menschengeschlechtes. Aber nur im wahren wirklichen Leben können wir das erfassen und uns da hineinfinden. Daher kann es nur die Pflege spirituellen Lebens sein, welche uns durchdringt mit dem gemeinschaftlichen Hauch dieser einheitlichen Seele. Nicht die gegenwärtigen Menschen mit ihren Grundsätzen, sondern die Zukunftsmenschen, welche Immer mehr und mehr das Bewußtsein für diese Einheitsseele entwickeln, die werden es sein, die den Grund zu einem neuen Geschlecht, zu einer neuen Rasse legen, die in gegenseitiger Hilfe ganz aufgeht. Daher besagt unser erster Grundsatz etwas ganz anderes, als was sonst gewöhnlich gesagt wurde. Wir kämpfen nicht, wir bekämpfen auch nicht den Krieg oder etwas anderes, weil der Kampf überhaupt nicht zur höheren Entwickelung führt. Aus dem Kainpf heraus hat sich jede Tierart als eine besondere Rasse entwi&elt. überlassen Sie allen Kampf um uns herum den Bissigen, die noch nicht reif genug sind, das aufzusuchen, was die gemeinscbaftliche Seele im Menschengeschlecht im spirituellen Leben aufsucht.

Eine wirkliche Friedensgesellschaft ist eine solche, die nach Geist-Erkenntnis strebt, und die wirkliche Friedensbewegung ist die geisteswissenschaftliche Strömung. Sie ist die Friedensbewegung, so wie in der Praxis einzig und allein

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eine Friedensbewegung sein kann, weil Sie ausgeht auf das, was im Menschen lebt und der Zukunft entgegengeht.

Wie ein Zug von Osten her hat sich immer das spirituelle Leben entwickelt. Der Osten war das Gebiet, in dem das spirituelle Leben gepflegt worden ist. Und hier im Westen war das Gebiet, in dem die äußere materielle Kultur entfaltet worden ist. Daher wird auch nach dem Osten gesehen als nach einem Gebiete, wo die Menschen träumen und schlafen. Wer aber weiß, was in den Seelen jener vorgeht, die von uns Träumende oder Schlafende genannt werden, wenn sie in Welten aufsteigen, welche die westlichen Völker nicht kennen? - Nun müssen wir heraus aus unserer materiellen Kultur mit Berücksichtigung alles dessen, was in der physischen Welt um uns herum ist. Mit dem, was wir auf dem physischen Plan erobert haben, müssen wir hinauf in das Geistige, in das Spirituelle. Es ist in gewissem Maße mehr als symbolisch bedeutend, daß in England der Darwinismus noch in Huxley einen Vertreter gefunden hat, der aus seiner westlichen Anschauung heraus nötig hatte zu sagen: Die Natur zeigt uns, daß die Menschenaffen gegeneinander kämpften, und der Stärkste war es, der auf dem Plane blieb -, während vom Osten die Parole ausging: Stützung, gegenseitige Hilfe, das ist es, was die Zukunft sichert! Wir haben eine ganz besondere Aufgabe hier in Mitteleuropa. Nichts würde es uns helfen, einseitig morgenländisch oder einseitig englisch zu sein. Wir müssen das Morgenrot des Ostens und die physische Wissenschaft des Westens zu einer großen Harmonie vereinigen. Dann werden wir verstehen, wie vereinigt wird die Idee der Zukunft mit der Idee des Kampfes um das Sonderdasein.

Es ist mehr als zufällig, daß in jenem Grundbuch der Theosophie, demjenigen Buch, aus dem der, welcher sich tiefer einlassen will auf das spirituelle Leben, Licht auf dem

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Wege finden kann, das zweite Kapitel bedeutsam mit einem Satz schließt, der mit dieser Idee zusammenfällt. Nicht wie eine Phrase steht es hier in «Licht auf den Weg», sondern weil die Entwickelung zum Geist den Menschen dahin führen wird, wo die Menschen erkennen werden, daß mit der gemeinsamen Seele, die sich hineinlebt in die einzelne Menschenseele, die in ihr auflebt und aufleuchtet, zu gleicher Zeit die schönen Worte zusammenstimmen, womit die beiden Kapitel in «Licht auf den Weg» schließen. Derjenige, der sich ganz hineinvertieft in dieses herrliche Büchelchen, das die Seele nicht nur mit dem Inhalt erfüllt, der uns innerlich fromm und gut macht und auch nach und nach dem Menschen durch die Kraft der Worte wirkliches Hellsehen gibt, er sieht den Ausgleich im einzelnen, wenn er das durchlebt hat, was in jedem Kapitel steht. Und dann senken sich auf und in die Seele die letzten Worte: «Der Friede sei mit dir.» Das wird sich am Schlusse der ganzen Menschheit mitteilen durch dasjenige, was wir als Geisteskraft hegen und pflegen. Dann senkt sich spirituell der Menschengenius über das Menschengeschlecht, dessen hauptsächliche Worte sein werden: Der Friede sei mit dir. - Das eröffnet uns die richtige Perspektive. Da müssen wir nicht nur von Friede sprechen, uns den Frieden als Ideal hinstellen, Verträge schließen, Schiedsgerichtssprüche herbeisehnen, da müssen wir das geistige Leben, das Spirituelle pflegen, dann rufen wir in uns die Kraft hervor, die als Kraft der gegenseitigen Hilfeleiswng sich über das ganze Menschengeschlecht ausgießt. Wir bekämpfen nicht, wir tun etwas anderes: Wir pflegen die Liebe, und wir wissen, daß mit diesem Pflegen der Liebe der Kampf verschwinden muß. Wir stellen nicht Kampf gegen Kampf. Wir stellen die Liebe, indem wir sie hegen und pflegen, gegen den Kampf. Das ist etwas Positives. Wir arbeiten an uns in der Ausgießung der Liebe und begründen

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eine Gesellschaft, die auf Liebe gebaut ist. Das ist unser Ideal. Dann werden wir, wenn wir das seelisch lebendig durchdringen, in einer neuen Weise, in der Weise, wie es das Christentum will, einen uralten Spruch wahrmachen. Und ein neues Christentum oder vielmehr das alte Christentum wird für die neue Menschheit erwachen. Seinem Volke hat Buddha einen Spruch gegeben, der eine solche Pflege in Aussicht nimmt. Aber eine solche Pflege der Liebe hat auch das Christentum in vielleicht noch schöneren Worten, wenn man sie richtig versteht: Nicht durch Kampf überwindet man den Kampf, nicht durch Haß überwindet man den Haß, sondern den Kampf und den Haß überwindet man in Wahrheit allein durch die Liebe.

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GRUNDBEGRIFFE DER THEOSOPHIE SEELE UND GEIST DES MENSCHEN Berlin, 19. Oktober 1905

Es ist noch nicht lange her, da galt es in gewissen Kreisen im eminentesten Sinne als unwissenschaftlich, von einer Seele des Menschen als einer besonderen Wesenheit zu sprechen. Und gar noch neben der Seele von einem Geiste zu sprechen, das findet heute das allergeringste Verständnis. Nun ist das Thema, das wir uns heute gestellt haben, reichlich groß in seinem Umfange. Einige Hauptlinien zu zeigen, wird mir wohl nur möglich sein. Innerhalb der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung werden wir nämlich zu jener älteren Einteilung des Menschen geführt, die eine Dreiteilung ist gegenüber dem, was im Bewußtsein des gegenwärtigen Menschen fast einzig und allein noch irgendwelche Geltung hat, gegenüber der Zweiteilung von Körper und Seele. Die Dreiteilung, zu welcher die theosophische oder geisteswissenschaftliche Weltanschauung wieder zurückgreifen muß, ist die von Körper, Seele und Geist. Nun lassen Sie zunächst einmal uns ein wenig verständigen darüber, was wir eigentlich unter Körper, Seele und Geist verstehen. Der Körper des Menschen ist etwas, worüber es nicht vieler Vorstellungen zu einer Verständigung bedürfen wird. Aber auf der andern Seite ist die Vorstellung des Körperlichen, die Vorstellung des äußerlichen Physischen heute so sehr das einzige, was unsere gegenwärtige Menschheit beschäftigt, daß die Verständigung über den Unterschied von Seele und Geist und schon über das Wesen der Seele selbst recht schwierig ist. Wir müssen nun heute, im Gegensatz zu manchem

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andern Vortrag, den ich hier gehalten habe, auf eine recht intime Genauigkeit unserer Begriffe und Ideen, die wir hier entwickeln wollen, sehen und ich muß Sie daher bitten, heute Ihre Aufmerksamkeit zunächst einmal für feinere Unterschiede in den menschlichen Vorstellungen in Anspruch nehmen zu dürfen.

Wenn ein Mensch vor Ihnen steht, so werden Sie ohne weiteres zugeben, daß in dem Raume, den der betreffende Mensch ausfüllt, des Menschen Leib vorhanden ist. Denn von diesem Menschenleib liefern Ihnen Ihre Sinne ein Zeugnis. Nun aber kann der Mensch selbst sich durch seine Sinne wenigstens teilweise betrachten, und wir können daher sagen, der Mensch ist für einen andern sinnbegabten Menschen und für sich selbst ein leibliches, ein körperhaftes Wesen. Aber in dem Raume, den der Mensch ausfüllt, ist zweifellos noch viel mehr vorhanden als dasjenige, was Ihre Sinne sehen können. Es ist vielleicht für das menschliche Leben in seiner Ganzheit begriffen das, was der andere mit seinen Augen sehen und mit seinen Händen betasten kann, das Allergeringfügigste. Dein wenn der Mensch von seinem Leben spricht, so spricht er sehr selten von seinem körperlichen, sinnenfälligen Äußeren. Er spricht dann von seinem Schi&sal, von Lust und Leid, von Schmerz und allem, was im Inneren lebt und zunächst nicht für die Sinne wahrnehmbar ist Ein Mensch kann vor Ihnen stehen und ein anderer neben ihm. Das, was Ihre Sinne wahrnehmen an den beiden Menschen, ist zunächst nicht das ganz Wesentliche, sondern es kommt dazu, daß vielleicht in dem einen Menschen ein trauriges inneres Seelendasein lebt und in dem andern Menschen ein durchaus lusterfülltes, freudiges Seelenleben. In beiden Fällen füllt also, wie Sie sehen, des Menschen innere Wesenheit den Raum noch etwas anders aus als das körperliche Dasein. Wenn Sie einen Blinden vor

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einen Menschen hinstellen, so nimmt dieser Blinde das körperliche Dasein desselben zunächst nicht wahr. Er wird unter Umständen, wenn er nicht besonders durch seinen Tastsinn oder auf andere Weise aufmerksam gemacht wird, zu der Behauptung verleitet werden können, daß im Raume niemand ist, weil sein Auge ihm nichts eröffnet. Um von einem äußeren sinnenfälligen Dasein überzeugt zu sein, dazu gehören eben Sinne, Sinne, die fähig sind, dieses äußere körperliche Dasein wahrzunehmen. Nun müssen wir uns fragen: Wäre denn dieses äußerliche körperliche Dasein nicht auch dann da, wenn es nicht wahrgenommen würde? Stünde ich nicht auch an diesem Orte, wenn ringsherum lauter Blinde und Taube wären, die mich nicht sehen und hören können? Für mich wäre ich da, in mir wäre ich da. Und ebenso wie ich meinem körperlichen Dasein nach in mir da bin und dieses unterschieden werden muß von der Wahrnehmung von seiten der andern, so müssen wir uns jetzt auch heraufschwingen zu einer Möglichkeit, diesen selben Unterschied für das zu machen, was ich als eine zweite Art des Daseins aufgezählt habe, für die Lust und den Schmerz, für das Leben, das den Raum ausfüllt, ohne daß die Sinne das Raumerfüllende wahrnehmen. Wenn ein Mensch vor einem Blinden steht und dieser Blinde plötzlich sehend wird, so wird das äußere Dasein für den Blinden ein wahrnehmbares Dasein und die Frage entsteht: Könnte nun iiid1t auch das zunächst fiir die körperlichen Sinne nicht wahrnehmbare Dasein von Lust und Leid, von Schmerz und Freude, von Zorn und Leidenschaft, das im Menschen ebenso lebt wie sein rotes Blut, seine Nerven und Knochen, da sein als ein für den andern Menschen bestehendes Wahrnehmbares?

Der Mensch weiß von dem, was er wahrnehmen kann. Der Mensch ist ein Wesen, welches in Entwickelung begrif-

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fen ist, ein Wesen, welches von unvollkommenen Stufen in einer fernen Vergangenheit sich heraufentwickelt hat zu seinem gegenwärtigen Dasein. Alle Organe, die am und im Menschen sind, haben sich nach und nach entwickelt. Nach und nach ist am äußeren Dasein heranentwickelt worden die Seh- und Hörfähigkeit, nach und nach ist erst die äußere physische Welt zu einer wahrnehmbaren Welt für den Menschen geworden, zu einer Welt, von der er weiß, die er beobachten kann. Wenn der Mensch so in der Entwickelung ist, könnten wir da nicht fragen, ob er sich nicht auch weiterentwickeln könne? Kann ihm nicht wahrnehmbar werden, was ihm heute noch nicht wahrnehmbar ist? - Ebenso wie der Raum, in dem ein Mensch steht, zunächst für den Blinden finster und dunkel ist und dann, wenn er sehend wird, der Blinde anfängt Farben wahrzunehmen und die physische Gestalt, so könnte es doch auch sein, daß das, was noch im Raume lebt, was die Seele durchzuckt, auch sichtbar, wahrnehmbar gemacht würde.Zu seiner äußeren, sinnlichen Sichtbarkeit ist der Mensch durch die äußeren Kräfte der Welt geführt worden. Da hat er nichts dazu getan. Er ist von der Naturordnung hereingestellt worden auf den physischen Plan, mit sinnlichen Organen bewaffnet, um die sinnliche Welt wahrzunehmen. Aber der Mensch kann seine Weiterentwickelung selbst in die Hand nehmen, der Mensch kann sich fähig machen, außer der sinnlichen Welt um ihn herum, weiteres zu erleben.

Diese Entwickelung zu einem höheren Leben wurde seit urdenklichen Zeiten immerdar gepflegt und gehegt in gewissen menschlichen Gemeinschaften. Ebenso wie die Menschen zunächst sinnliche Augen und sinnliche Ohren haben, so wurde durch die eigene Tätigkeit des Menschen das Vermögen, durch seelische Augen, wenn ich mich so ausdrücken darf, und durch seelische Ohren wahrzunehmen, immer-

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dar in einzelnen Menschen ausgebildet. So wahr es ist, daß, wenn das Auge sich aufschließt, es eine farbige Welt um sich herum wahrnimmt, wo sonst Finsternis und Dunkelheit war, so wahr ist es auch, daß durch eine entsprechende Schulung das seelische Auge aufgeschlossen wird, so daß das, was in den Affekten, in Lust und Leid lebt, wahrnehmbar wird. Anders als der gewöhnliche Unterricht ist die Unterweisung, die zu einer solchen höheren Entwickelung des Menschen führt. Im einzelnen wird unser neunter Vortrag dasjenige besprechen, was von dieser inneren Entwickelung öffentlich überhaupt besprochen werden kann. Derjenige, der mehr wissen will über diese innere Entwickelung, wird noch Weiteres darüber erfahren können. Heute kann ich nur auf den neunten Vortrag verweisen. Das Notwendigste soll aber angedeutet werden.

Von jenem Unterrichte, den der Mensch erhalten muß, um seelische Augen und Ohren zu erhalten, weiß die äußere Kultur von heute sehr wenig. Und von dem, was man erfahren kann, ist nur Geringfügiges bekannt. Aber gerade die geisteswissenschaftliche Weltanschauung ist dazu berufen, ein Verständnis für das Übersinnliche wachzurufen, weil es ein notwendiges Erfordernis für die Kultur ist. Heute geht aller Unterricht darauf hinaus, möglichst viel an Inhalt für den Verstand, an Inhalt für die Vernunft aufzunehmen. Dies bedeutet aber nichts anderes, als daß in uns eine Vorstellungswelt erweckt wird, die auf die äußere sinnliche Welt Bezug hat. Immer weitere Kreise zieht unser äußeres sinnliches Erkennen. Aber das ist nicht so notwendig; es ist für unsere gegenwärtige Kultur, so großartig es ist in seinen Errungenschaften, nicht dasjenige, was den Menschen vertieft. Es gab zu allen Zeiten eine andere Unterweisung, eine Unterweisung, welche nicht nach der äußeren Breite der Sinnenwelt geht, sondern nach der Tiefe des

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Weltenseins hinzielt. Von ihr können Sie sich einen Begriff machen, wenn ich sie Ihnen nur mit ein paar Worten schildere.

Alles, was Sie gegenwärtig in den wissenschaftlichen Schriften lesen, ist durch äußere sinnliche Beobachtung zustande gekommen. Es wird von der Wissenschaft mehr oder weniger als etwas betrachtet, in das nichts hineingehört, was nicht durch die äußere Beobachtung zustande gekommen ist. Man setzt voraus, daß der Mensch, so wie er ist, bleiben soll, daß er schon die Fähigkeit hat, das, was ihm diese Wissenschaft bieten kann, aufzunehmen. Im wesentlichen ist es aber ganz und gar anders, wenn es sich um die Unterweisung handelt, welche zu seelischer Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen führen soll. In solchen Schulen wird anderes gelehrt. Da wird zunächst nicht dem Menschen ein Lehrmaterial übergeben, welches möglichst viele Begriffe übermittelt, sondern da ist es so gewesen, daß ein Schüler zu einem, sagen wir, Meister kam und vermöge seiner ganzen Charakteranlage für reif befunden worden ist, die inneren Sinne zu entwickeln. Dann mußte er nicht viel neuen Inhalt in sich aufnehmen, sondern er mußte zunächst ein ganz anderer Mensch werden. Er bekam nicht ein Buch, nicht einen besonderen Inhalt, sondern zunächst einen sogenannten ewigen Gedankeninhalt, etwas Ewiges, das herrührte von denjenigen Menschen, welche weiter waren in ihrer Entwickelung als die übiigen Kulturmenschen.

Wir müssen uns einmal verständigen darüber, was wir unter einem solchen ewigen Gedankeninhalt verstehen. Versuchen Sie einmal, in Ihrer Seele Umschau zu halten und sich zu fragen: Wieviel gehört von den Vorstellungen und Gedanken, die in mir leben, von den Gefühlen und dem, was sonst in meiner Seele ist, der Zeit und dem Orte an, in welchen ich lebe? - Versuchen Sie einmal darüber nachzudenken,

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was Ihre Seele durchzieht vom Morgen bis zum Abend, und was anders, ganz anders sein würde, wenn Sie statt in Berlin in Moskau wären, und dann, wenn Sie nicht am Anfange des 20. Jahrhunderts, sondern am Ende des 18. Jahrhunderts leben würden. Ziehen Sie alles dasjenige, was Sie auf diese Weise aus Raum und Zeit, in denen Sie leben, heraus genommen haben, von Ihrem Seeleninhalt ab. Versuchen Sie sich klarzuwerden, wieviel von dem, was Sie sich vorstellen, auch für einen Menschen an einem andern Ort und in einer andern Zeit gelten würde. Es ist nicht viel. Aber es gibt Dinge, die nicht bloß für heute und für Berlin gelten, sondern auch für andere Orte und andere Zeiten. Wenn wir in diesem Sinne aufsteigen, finden wir immer mehr und mehr, daß wir, wie von einem großen geistigen Führer der Menschheit, den Sinn vor allen Dingen auf solche ewigen Gedankeninhalte hingelenkt. Die religiösen Schriften aller Zeiten sind voll von solchen Dingen, die unabhängig sind von Raum und Zeit. Und um das Trivialste zu nennen, kann ich sagen, Mathematik ist etwas, was unabhängig ist von Raum und Zeit. Was sich mit Zeitlichem und Räumlichem beschäftigt, ist selbst zeitlich und vergänglich. Beschäftigt sich aber die Seele mit Unvergänglichem, dann wird sie ewig und unvergänglich und nimmt auf, was unsterblich ist. Daher wird der Seele zunächst von dem Meister ein ewiger Gedankeninhalt gegeben, der jedem gegeben wer den kann, gleichgültig, ob er in Amerika, in Japan oder an der Südspitze Afrikas lebt, ein Gedankeninhalt, der nur mit dem Innersten der Seele verwandt ist.

Dann hatte der Schüler von sich abzulösen die sinnliche Außenwelt und mit dem zu leben, was in seinem Inneren als Kraft lebt. Mit ungeheurer Geduld mußte die Vertiefung in das menschliche Innere der Seele geschehen. Des Menschen Inneres ist ein Lebendiges, und wie aus der bloßen

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Zellenmasse der Wunderbau des physischen Auges entstanden ist, so entsteht in der Seele das geistige Auge durch den ewigen Geistesinhalt, wenn sie sich so vertieft und in der Meditation lebt. Das physische Auge war nicht immer da. Es ist entstanden durch den Zusammenfluß der äußeren physischen Kräfte. In der Seele ist der Mensch imstande, das seelische Auge zu erwecken, wenn er von dem seelischen Inhalte sich weiterentwickeln läßt. In Geduld harrten und harrten solche Schüler, die einen großen Teil des Tages zu ihren Übungen verwenden mußten. Es gab Zeiten in der Kultur, in denen das möglich war. So harrten sie, bis die durch die seelische Vertiefung erweckten inneren Kräfte ihnen die Wahrnehmung gaben für das, was als Lust und Leid, als Instinkte, Leidenschaften und Trieb den Raum ausfüllte.

Ein physisches Auge sieht dadurch, daß die äußere Lichtquelle Strahlen auf einen Gegenstand wirft. Ohne Licht wird nicht gesehen. Auge und Licht gehören zusammen. In der sinnlichen Außenwelt sind Auge und Licht zwei getrennte Dinge. In der Seele wird das seelische Auge erweckt, und das ist zugleich die Quelle eines neuen seelischen Lichtes. Wir selbst müssen dieses Licht von uns ausstrahlen, welches das Seelische, das vor uns steht, sichtbar macht. Wenn Sie auf diese Weise, durch Versenkung in Ihr Inneres und die damit verbundene Erweckung des inneren Lebens, das innere Licht erhalten haben, dann fängt Ihr eigener Astralkörper von innen heraus zu leuchten an und beleuchtet alles in Wahrheit und Wirklichkeit wie die Sonne die Gegenstände. Aber Sie beleuchten nicht die äußere Welt, sondern das, was seelisch ist, was im Menschen lebt als Affekt; das wird dann durch die Strahlen, die Sie selbst aussenden, für Sie sichtbar. So kann der Mensch dasjenige, was ist, aber was äußerlich nicht wahrnehmbar ist, für sich wahrnehmbar machen.

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Alle die großen Führer der Menschheit, die uns da von der Seele gesprochen haben: glauben Sie nicht, daß sie nur leere Phrasen und Worte im Sinne hatten. Man weiß, wenn man bloß an die sinnliche Welt glaubt, nichts von den Tiefen, welche die Menschenkultur bewegt und bewirkt haben. Aus der unmittelbaren Anschauung wird gewöhnlich gesprochen. Fassen Sie zum Beispiel das Verhältnis von Seele und Körper ins Auge, wie ich es eben besprochen habe, dann müssen Sie sich sagen, dieses Verhältnis von Seele und Körper ist ein solches, daß das Körperliche, das vor uns steht, durchströmt und durchsetzt wird von einem Seelischen. Und so wahr es ist, daß dieser Körper, den Sie Ihr eigen nennen, von außen durch Nahrungsmittel genährt wird und dadurch von außen sich belebt und ergänzt, ebenso wahr ist es, daß dieser Körper durch das Seelische belebt, durchhellt und durchströmt wird. Wenn dieser Körper schläft, ist das Seelische zunächst nicht in ihm, dann ist es von ihm getrennt, es ist außer ihm. Dann können wir nicht davon sprechen, daß das Seelische in den Körper einströmt. Ein deutscher Theosoph, ein tiefer Geist, hat sich über dieses Verhältnis von Seele und Leib in einer wunderbar reizvollen Art ausgesprochen, die man nur dann richtig versteht, wenn man solche Voraussetzungen macht, wie wir sie eben gemacht haben. Dieser Theosoph - so dürfen wir ihn nennen - spricht von dem Schlafe, wenn die Seele nicht in dem Körper ist, in einer eigentümlichen Art. Er sagt «Schlaf ist Seelenverdauung; der Körper verdaut die Seele. Wachen ist Einwirkungszustand des Seelenreizes - der Körper genießt die Seele.» Es ist dies ein wunderbarer Vergleich. Wie man bei der Nahrungsaufnahme die Nahrung genießt, so genießt - meint dieser Theosoph - der Körper die Seele, die in ihm lebt. Und so wie der Körper, nachdem er die Nahrung genossen hat, sie verdaut, so verdaut der Körper

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im Schlafzustand das, was die Seele in ihn hineingesenkt hat. Sehr schön ist dieser Ausspruch unseres deutschen Dichter-Theosophen Novalis. Bei ihm können Sie einen Quell der schönsten geisteswissenschaftlichen Weisheit finden. Er kann nur von der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung aus verstanden werden. Unzähliges aus der deutschen Geisteswelt könnte ich anführen, was Ihnen zeigen würde, wie die großen Seher der Menschheit von Seele und Leib und ihrem Verhältnis zueinander mit Sachkenntnis sprachen.

Das dritte, wovon wir sprechen müssen, ist der Geist. Lust und Leid, Schmerz und Freude, Leidenschaft, Instinkt und Begierde und was wir sonst noch ähnlich benennen können, fassen wir unter dem Namen Seele zusammen. Und frägt man, was die Seele ist, dann sagen wir: Was im Inneren zunächst zum lebendigen Dasein kommt, das ist die Seele. Die Wahrnehmung dieser Seele kann derjenige erlangen, der eine Ausbildung erhalten hat, wie ich sie eben geschildert habe. Geist ist nicht nur im Inneren des Menschen vorhanden, sondern im Grunde genommen, durch eine sehr banale Vernunfttätigkeit kann man sich überzeugen, überall in der Welt. Alle Menschen in der Welt denken, denken In dem, was um sie herum ist. Sie verschaffen sich durch ihre Gedanken Kenntnis von der Welt um sie herum. Diese Gedanken sind nicht nur ein Ausdruck dessen, was in der Außenwelt lebt, sondern auch von etwas, was in der Außenwelt nicht lebt. Wenn Sie das Weltenall überblicken, dann erblickt Ihr Sinn eine Unsumme von Sternen und Vorgängen, eine ganze Sternenwelt, und dann kommt Ihr Nachdenken und verschafft sich einen Begriff von dieser Sternenwelt. Wenn Ihr Sinn einen Wassertropfen sieht, dann verschafft sich Ihr Nachdenken einen Begriff von diesem Wassertropfen. Kürzer gesagt, Sie sind nicht zufrieden, die Sachen wahrzunehmen, Sie wollen sie auch begreifen. Das ist etwas

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anderes als das bloße sinnliche Wahrnehmen. Wenn Sie ein Glas haben ohne Wasser darin, so können Sie auch kein Wasser herausschöpfen. Wenn kein Gedanke und kein Begriff im Raume draußen wäre, dann könnte man auch keine herausholen. Es wäre illusionär, über die Welt nachzudenken, wenn die Welt nicht nach Gedanken aufgebaut wäre. Der Stein, über den Sie nachdenken und den Sie begreifen, muß durch einen Gedanken entstanden sein, sonst könnte der Gedanke nicht herausgeholt werden. Wenn Sie sich nicht in groteske Widersprüche verwickeln wollen, so müssen Sie zugeben, daß die Gedanken in der Welt draußen ebenso wahr sind wie die Gedanken in Ihrem Kopfe drinnen. Sie denken, und die Gedanken, die in Ihnen leben, sind keine andern als die, welche die Welt aufgebaut haben.

So finden wir in unserer Seele noch etwas, was zwar auch nicht sinnlich wahrnehmbar ist, was aber nicht bloß Innenleben ist, sondern uns zum Begreifen des ganzen Universums herausführt. Daß uns unsere Ideen und Begriffe nicht durch die Sinne wahrnehmbar werden, das müssen Sie zugeben, denn sonst hätte der Mensch ja auch die Begriffe der Sternenwelt, die er aber erst in seiner Seele bilden muß. So lebt der Begriff im Inneren und er lebt auch in der Außenwelt. Seele nennen wir dasjenige, was im Inneren beschlossen ist. Der Schmerz gehört in unser eigenes Innere. Er hat seine Grenzen in den Grenzen unserer Seele. Was ich fühle, was ich als Leid und Freude habe, das ist etwas, was mich innerlich durchwebt und durchlebt, was aber den Sternenraum zunächst wenig angeht. Was in meinem Kopfe als Gedanke aufleuchtet, das hat mit der ganzen Außenwelt etwas zu tun. Das ist zunächst Geist draußen in der Welt, und dann die Wiederholung des Geistes in der eigenen Seele.

So haben wir ein Dreifaches: Das Sinnliche in der Welt, das stoffliche, materielle Dasein, wahrgenommen durch die

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äußeren Sinne; die Seele, die wir erleben und welche diejenige Seele, die auf jene Weise unterrichtet ist, von der ich gesprochen habe, ebenfalls wahrnehmen kann, und den Geist, den wir voraussetzen in der ganzen Welt, als das sie durchflutende Fluidum und als das, was uns die Wesenheit der Dinge zunächst verkündet. Wahrnehmen kann der Mensch diesen Geist zunächst da, wo er als solcher auftritt. Was er da wahrnehmen kann, ist seine äußere Physiognomie, das, wie sich der Geist in der äußeren sinnlichen Wirklichkeit zum Ausdruck bringt. Nicht den Geist sieht man in der Welt, sondern dasjenige, wodurch sich der Geist zum sinnlichen Ausdruck verhilft.

Im Geiste denkt der Mensch. Der Gedanke lebt zwar in der Welt, aber sehen kann ihn der Mensch nicht. Er kann ihn nur denken. So wahr Sie selbst denken über die Welt und so wahr sich in Ihnen ein geistiges Spiegelbild von der Welt bildet, so wahr bildet es sich auch in jedem andern Menschen. Und dieser andere Mensch ist nicht nur Trieb und Leidenschaft, sondern in ihm lebt auch dieses geistige Spiegelbild der Welt. Das kann nun wiederum für eine höhere Anschauung durch die Augen und Ohren des Geistes wahrgenommen werden. Wahr ist es, daß jene innere Schulung, von der ich gesprochen habe, nicht nur die Fähigkeit erzeugt, die Seele des Menschen wahrzunehmen, sondern es kann der Mensch auch die Fähigkeit in sich ausbilden, den Gedanken des andern zu sehen, das Weltbild, die ganze Umwelt zu begreifen und wahrzunehmen. Dann, wenn der Mensch nicht nur das äußere Abbild dieses Gedankens wahrnimmt, sondern den Gedanken selbst, wenn er imstande ist, seine geistigen Ohren dem Weltenall zu eröffnen, so daß er nicht nur durch seine Sinne den Sternenhimmel wahrnehmen kann, sondern dasjenige, wodurch alles Sinnliche geworden ist, für das alles Sinnliche die äußere Physiognomie ist, dann

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wird er wahrhaft und wirklich die Gedanken, den Geist der Welt wahrnehmen. Der Stern erscheint ihm dann nicht nur als Stern, sondern der Stern sagt ihm etwas. Die Steine, zum Beispiel der Bergkristall erscheint ihm nicht nur wasserhell, sondern er sagt ihm auch seine Wesenheit an, und es ist möglich, daß der Mensch durch eine solche Vertiefung, wie sie angedeutet worden ist, einem jeglichen Ding in ganz neuer Art entgegentritt, so daß die Dinge rings um ihn herum tönend sprechen, ihm ihren innersten Namen sagen, uns selbst ihr Wesen ankündigen. Das meinten die alten Pythagoräer, die eine solche Schulung hatten, und die in ein solches Hören der Welt einweihten, wenn sie von der Sphärenmusik sprachen. Nicht ein bloßer Vergleich war es, es war das unmittelbare Wahrnehmen und Bewußtwerden dessen, was sonst hinter den Dingen sich verbirgt. Dieser Schleier der Natur zerstiebt vor den geistigen Ohren, und die Harmonie, die hinter diesem Schleier verborgen ist, tönt heraus. Das meint auch Goethe mit seinen Worten im «Prolog im Himmel». Nicht eine Phrase ist es, die da steht. Es wäre eine Phrase, wenn Goethe von einer tönenden Sonne sprechen würde. Aber nein, er spricht: «Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang, und ihre vorgeschriebne Reise vollendet sie mit Donnergang.» Das sind die aus der Weltenmusik herausklingenden Worte des Weltgeistes. Goethe setzt dies später noch einmal fort, da wo er sagt «Tönend wird für Geistesohren schon der neue Tag geboren.» Wenn der Mensch diese Fähigkeit entwickelt, wird für ihn das Geistige bewußt. Dann liegt ihm der Gedanke so wahrnehmbar vor seiner Seele, wie dem gewöhnlichen Menschen der Körper.

Körper, Seele und Geist sind die drei Glieder der menschlichen Wesenheit. Der Mensch ist zunächst ein leibliches, körperliches Wesen. In seinem Inneren lebt und

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entwickelt sich das seelische Dasein. Und in diesem wiederum spiegelt sich und lebt auf als ein Drittes der Geist der ganzen Welt, soweit ihn der Mensch erfassen kann. Von außen in das Innere und von innen wieder hinaus, das ist der Weg, den der Mensch vom Körper durch die Seele zum Geist macht. Was gibt uns nun überhaupt die Möglichkeit, ein solches seelisches Dasein zu haben? Diese Möglichkeit verdanken wir der Tatsache, daß wir in der Seele leben können. Wir leben in Lust und Leid, in Schmerz und Freude, wenn wir es zunächst auch noch nicht äußerlich wahrnehmen. Wir leben auch in unserem Körper, aber den nehmen wir auch von außen wahr. Es ist ein Unterschied zwischen diesen zwei Gebieten des Daseins. In der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung nennt man dasjenige, was man so um sich herum hat, wie man zunächst das äußere Körperliche um sich herum hat: Dasein völliger Bewußtheit. Unser Bewußtsein verbindet sich zunächst mit dem körperlichen Dasein. Dieses Bewußtsein lebt so nur auf dem physischen Plan und den physischen Plan nennen wir das, was sich um uns herum für die Sinne ausbreitet. Etwas anderes ist das, was in unserer Seele lebt. Das nennt man Leben, und dieses Leben nennt man ein Dasein auf dem sogenannten astralen Plan. Der physische Plan und der astrale Plan sind die beiden Gebiete, in denen der Mensch lebt. Auf dem physischen Plan ist sich der Mensch bewußt, auf dem astralen Plane lebt er nur. Da bildet er sich die Dinge, die außer ihm sind, noch nicht bewußt. Aber er lebt im Seelischen oder Astralen.

Die dritte Art des Daseins ist das geistige Dasein. In ihm leben wir im allgemeinen als gegenwärtige Menschen noch nicht oder höchstens nur teilweise. Indem wir uns aber in den Geist hineinleben, verbindet sich dieser Geist selbst allmählich mit unserer Seele und wir könnten sagen, diese

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Seele breitet sich über die ganze Umwelt aus, sie wird immer größer und größer. Wenn der Mensch die Außenwelt ergreift, den Sinn und den Geist der Außenwelt erfaßt, dann ist er nicht mehr bloß in seinem Inneren beschlossen, sondern dann schreitet er kühn aus sich selbst heraus und verbindet sich mit den Dingen um ihn her. Vergleichen Sie in dieser Beziehung das Tier mit dem Menschen. Das Tier lebt sozusagen ganz in der Seele. Es schaift sich nicht Begriffe von der Umwelt. Es erweitert seine Seele nicht über das Geistige der Welt. Dies ist auch der Unterschied des Menschen vom Tier. Das Tier lebt und webt sozusagen in seinem Inneren. Der Mensch aber tritt wieder aus seinem Inneren heraus. Wir könnten das auch mit den Worten benennen: Der Mensch entselbstet sich. Seele, Innenleben hat der Mensch immer. Dieses Innenleben ist da. Aber die Entwickelung des Menschen besteht darinnen, daß er dieses Innenleben ausdehnt über seine Umwelt, über dasjenige, was um ihn her ist, über den Geist, daß es ausfließt und ausströmt über die ganze Welt. Wenn das geschieht, dann verbindet sich des Menschen Seele mit dem Ewigen. Dann tritt diese Ehe der Menschenseele mit dem Ewigen, dem Weltengeiste ein. Dann, wenn diese Verbindung des Menschen mit dem ewigen Weltengeist eintritt, verwandelt sich diese ganze Summe von Lust und Leid, diese ganze Welt von Trieben und Begierden und Leidenschaften in unserem Inneren, der ganze Astralkörper des Menschen wird ein anderer. Diejenige Lust, diejenigen Instinkte des Menschen, die ihm gegeben sind, so wie er aus der Hand der Natur hervorgegangen ist, die er mit dem Tiere gemein hat, alles dieses seelische Leben verschwindet und vergeht und gehört als solches dem Vergänglichen an. Versuchen Sie sich einmal zu vergegenwärtigen, was an solchen Instinkten,Leiden und Freuden im Menschen lebt und wie sich dieses Leben abspielt

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im Menschen. Sie hängen zusammen mit dem Vergänglichen.

Nun beginnt der Mensch herauszutreten aus dem Kreise dieses Vergänglichen. Er veredelt seine Triebe und Begierden, seine Leidenschaften, er hört auf, bloß an dem, was an Ort und Zeit gebunden ist, Gefallen und Mißfallen zu finden. Er erhebt sich zu dem, was hinter den Dingen liegt und durch den Schleier des Sinnlichen eben verborgen ist. Das ist etwas Wichtiges, wenn der Mensch anfängt, Freude haben zu können an dem, was nicht bloß sein Auge ihm gibt, sondern auch an dem, was durch die Eindrücke seiner Augen aus der geistigen Welt in seine Seele sich senkt. Das ist ein großer Moment in der menschlichen Entwickelung, wenn der Mensch nicht mehr bloß seinen sinnlichen Instinkten folgt, sondern von übersinnlichen Motiven, von sittlichen Ideen und Begriffen geleitet wird, die nicht von außen, sondern vom Geiste her eindringen. Ebenso wie der Körper von Seele durchsetzt ist, so durchsetzt sich die Seele mit dem Geist. Nehmen Sie den Menschen auf gewissen früheren Entwickelungsstufen, da finden Sie ihn als körperliches Wesen und dieses durchsetzt von der Seele. Während der Mensch als Körper vor Ihnen steht, lebt er in seinen Trieben und Leidenschaften sein Dasein aus. Immer mehr und mehr kommt von dem Übersinnlichen in die Seele hinein. Sie wird durchsetzt mit dem Geistigen. Dieses letztere, also wenn die Seele allmählich durchsetzt wird mit dem Geistigen, hebt die Seele heraus aus Zeit und Raum, und so viel in der Seele über Zeit und Raum Erhabenes ist, so viel ist in ihr Unvergängliches, so viel bleibt von ihr als eine unvergänglicheWirkung ihrer selbst.So sehen Sie, daß ebenso wie die Seele eingebettet ist in einen Körper, der Geist eingebettet ist in die Seele. Und wie die Einbettung der Seele in den Körper uns auf eine urferne Vergangenheit

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hinweist, in der sie nach und nach miteinander verbunden wurden, so weist die Verbindung der Seele mit dem Geist in die Zukunft der Menschheit hinein. Ganz stufenweise geschieht diese Entwickelung. Sie geschieht zunächst so, daß immer mehr und mehr der Geist die Seele durchsetzt.

Bedenken Sie, wie der Anfang des geistigen Inhalts in der Seele zunächst ist. Denken Sie, Sie haben einen Gegenstand vor sich. Sie sehen ihn an als sinnlichen Gegenstand. Sie drehen sich um: der sinnliche Gegenstand ist nicht mehr vor Ihnen. Aber ein Bild dieses sinnlichen Gegenstandes ist vor Ihnen. Wir nennen das die Vorstellung von dem Gegenstand, in einer gewissen Beziehung die Erinnerung an ihn. Das bleibt in der Seele. Das ist das erste Element, wie der Geist in der Seele Platz greift. Es geschieht in der Form der Erinnerung. Wir könnten nicht irgend etwas von dem Geiste unserer Umwelt in uns aufnehmen, wenn wir nicht imstande wären, auch dann von den Gegenständen noch etwas zu wissen, wenn sie nicht mehr vor uns stehen. In der Erinnerung lebt das erste Element des Geistes in dem Menschen. Und wie es den GegenstänJen der Umwelt gegenüber ist, so ist es auch der eigenen Seele gegenüber. Machen wir uns nur einmal klar, welche Rolle die Erinnerung in unserem Seelenleben spielt. Das Tier lebt ganz in der Gegenwart. Natürlich sind die Stufen, die ich angebe, die Grade, die ich mache, extremer ausgesprochen, als sie in Wirklichkeit sind. Auch die Tiere haben eine gewisse geistige Entwickelung durchzumachen, aber man muß im Ausdruck in ein gewisses Extrem verfallen, um die Sache klarzumachen. Was das Tier heute empfindet und erlebt, ist für dasselbe die Hauptsache. Was für die Menschen zunächst die Vergeistigung des ganzen Wesens ausmacht, das ist, daß er über die Gegenwart hinaus zu leben vermag. Indem wir von unserem

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Geistigen die Erinnerung mit in unsere Gegenwart, in unser Heute heraufnehmen, vergeistigen wir uns immer mehr und mehr; dadurch ergreifen wir den Geist im ersten Element. Ich habe das Geistige vor mir, wenn ich mich an die Erlebnisse von gestern erinnere. Die Erinnerung ist eines der wichtigsten Momente für die Vergeistigung des seelischen Lebens. Nun knüpft die Erinnerung den Faden an das mit dem Außeren zusammenhängende geistig-seelische Dasein an, das sich von der Geburt bis in die Gegenwart zieht. Könnten wir uns nicht an vergangene Tage erinnern, dann hätten wir nur wenig geistigen Inhalt. Es gibt heute noch Völkerschaften, welche eine solche Erinnerung nicht haben. Es gibt noch Völker, welche vergessen, welche Erlebnisse sie in der Kälte machen und daher jeden Abend von neuem sich eine schützende Hülle suchen müssen. Diese Erinnerung aufgenommen und immer mehr und mehr ausgebildet, das ist das, was derjenige sucht, der nach höherer Entwickelung strebt. Hier beginnt die Möglichkeit, über unser vergängliches Dasein, das zwischen Geburt und Tod eingeschlossen ist, hinauszublicken.

Denken Sie sich, daß Sie es sich zum Prinzip gemacht haben, Sinn und Vernunft in das Leben hineinzubringen durch die Erinnerung, und nicht bloß in der Gegenwart zu leben, sondern immer mehr zu lernen, das ganze Leben wie ein Tableau vor sich zu haben, mit dem Bewußtsein, daß nur aus diesem Ihrem ganzen zeitlichen Wesen herausfließen kann, was Sie vollbringen wollen. Wenn das der Fall ist und wenn das wieder ebenso zur Weckung innerer Kräfte verwendet wird, wie ich das vorhin angedeutet habe, als ich von dem Auflebenlassen der seelischen Inhalte durch die Versenkung sprach, dann können wir den Rückblick immer weitertreiben, ihn gegenständlicher und gegenständlicher zu machen versuchen und bis zu der Geburt zurück

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führen. Man kann das machen. Es gehört aber unendliche Geduld dazu; wir werden ja von diesen Methoden noch sprechen. Dann erblickt man von der Seele auch dasjenige, was nicht zwischen Geburt und Tod eingeschlossen ist. Dann lernt man das, was innerhalb dieses Lebens zwischen Geburt und Tod vorgeht, anzuknüpfen an anderes. Da lerne ich, durch die ureigenste Betrachtung in der Erinnerung, mein Heute an das Gestern anzuknüpfen und sinnvoll die Wirkung von heute mit der Ursache von gestern zusammenzufügen; da lerne ich, den inneren Faden von Ursache und Wirkung in meiner Seele zu verfolgen. Dann leitet mich dieselbe Kraft, die mich in mein jetziges Leben zuriickleitet, über die Geburt hinaus. Weil ich gelernt habe, Ursache und Wirkung in der Seele selbst anzuschauen, dadurch wird zum Erlebnis, was vor der Geburt war, wie der Mensch vor der Geburt gelebt hat. Durch die allmähliche Ausbildung dieses Sinnes erlangt der Mensch Kunde von den vorhergehenden Lebensläufen, und es wird für ihn das Gesetz der Wiederverkörperung oder Reinkarnation eine wahre Tatsache. Durch die Schärfung des Blickes für das Zeitliche in der Innenwelt erlangen wir die seelische Fähigkeit, die Reinkarnation oder Wiederverkörperung für uns zu einer Tatsache zu machen. Was tun wir in diesem Fall? In diesem Falle durchsetzen wir die Seele mit dem, was uns in Zusammenhang bringt mit dem Seelischen. Und da erweitert sich unser Blick im Inneren. Während wir durch das Begreifen der Außenwelt den Geist der Außenwelt erfassen und unsere Seele über die Außenwelt ergießen und verbreiten, verbreiten wir das Bewußtsein über das Seelische selbst, indem wir dann über die Geburt hinauskommen. So erweitert sich unser Blick immer mehr und mehr, und so blicken wir auf von dem, was an Ort und Zeit gebunden ist, zu dem, was in der Zeitenfolge aufeinander folgt. Von da aus bemächtigen

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wir uns dann des Wesenkernes des Menschen, der unvergänglich und ewig ist.

Immer mehr und mehr vergeistigt sich der Mensch. Die erste Stufe ist die, wenn er aus des Daseins Lust und Leid herausgeht und für das Übersinnliche Gefühle, so etwas wie Lust und Leid hat. Je weiter er dieses ausbildet, desto mehr bewahrheitet sich für ihn der schöne Satz Platos: Der Körper ist vergänglich, weil er von Vergänglichem sich nährt, der Geist aber ist unvergänglich, weil er von ewiger Nahrung sich nährt. - So ist das Verhältnis von Leib, Seele und Geist. Der Leib vergeht. Was man von dem Menschen sehen kann, wird mit dem Tode der Erde übergeben. Was aber als Lust und Leid im Menschen lebt, das Seelische, ist nicht mit der Geburt entstanden, sondern ist mit etwas verknüpft, was über die Geburt hin ausreicht. Es erweitert sich damit das Seelendasein über die Grenzen von Geburt und Tod. Dasjenige aber, was der Mensch in sich aufnimmt, indem er aus seiner Seele wieder herausgeht und mit dem Geiste sich verbindet, das verbindet diese Seele selbst mit den ewigen Quellen des Daseins. Das vergöttlicht die Seele So wird des Menschen Seele sichtbar außer dem Leib. Soweit sie an den Leib gebunden und mit ihm eins ist, ist sie etwas Vergängliches. Verbindet sich die Seele mit dem Geistigen, so wird sie dadurch mehr und mehr ein Ewiges und Unvergängliches. Damit kommen wir zu dem Punkt, wo wir begreifen, was menschliche Selbsterkenntnis ist, was wahres Erkennen des menschlichen Inneren ist.

Zunächst erlebt der Mensch seine Seele in seinem Inneren, indem er Lust und Leid, Freude und Schmerz erlebt. Dann aber gehen dieser Seele die Vorstellungen auf, welche wieder verschwinden. Es lebt da etwas auf, was den bloßen Sinnen verborgen ist. Was da in der Seele auflebt, hat der Mensch zunächst als den bloßen Gedanken in sich. Aber er verbindet

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im Laufe des Lebens diesen Gedanken mit seiner Seele. Er lernt fühlen und mitempfinden mit dem Geistigen und hat zuletzt das Geistige gern und liebt es, wie er vorher nur das Sinnliche gern und lieb gehabt hat. Die Begierde erstreckt sich schließlich über alles Geistige. Die Selbstsucht wird zu einer selbstlosen Liebe zum Unvergänglichen. In der Selbstsucht wird des Menschen Liebe in der Seele erfaßt. Aber indem wir sie tief im Inneren als Geist erfassen, wird uns klar, daß wir dieses Selbst in der ganzen übrigen Welt finden, daß wir verbunden sind mit der ganzen übrigen Welt und daß, wie wir aus dem Physischen geboren sind, es ebenso wahr ist, daß wir als Geist stündlich aus dem geistigen Universum, der geistig-göttlichen Welt heraus geboren werden. Suchen wir daher unser höheres Selbst, das wie ein Funke in uns vorhanden ist, dann werden wir das Geistige in der ganzen Umwelt sehen. Das ist die große Weisheitserkenntnis, welche die Vedantaphilosophie zusammengefaßt hat in dem Spruch: Tat tvam asi - Das bist du. - Wenn der Mensch seines Geistes sich bewußt ist und seine Entwickelung beginnt im Hinausschreiten in die Welt, dann erweitert sich sein Selbst zu dem Geiste des Universums, zu einem Geistselbst-Dasein, und wir sind dann unserer ureigenen Wesenheit nach überall. Dann wird für uns das, was bloßes Begreifen war, seelisch verwandter Inhalt, und das ist wirkliche Erhebung der Seele zum Geist, Erhebung in wirkliches geistiges Leben.

Es gibt einen Anfang des geistigen Lebens, der ist aber dürr und kalt. Da gibt es nun Menschen, welche nur warm werden, wenn es sich um Seelisches handelt, Menschen, die sich freuen und die leiden, nur wenn es sich um Seelisches, um Schmerz und Lust handelt. Sie sagen, es bleibe das Geistige etwas Ödes und Kaltes. Schauen sie hinauf in die Sternenwelt, dann finden sie die Gedanken darüber abstrakt;

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aber sie sind dürr und kalt in ihrem Verstande. Wenn aber die Seele den Geist ergreift, dann fühlen wir, dann denken wir nicht bloß mit dem Universum, denn dann verwandelt sich die Anschauung durch Vernunft und Verstand in ein seelisches Erfassen des ganzen Universums. Was früher bloß Lust war, wird jetzt Lust am Geistigen, was Liebe war im Seelischen, wird jetzt Liebe zum Geistig-Göttlichen in der Welt. Unser Gefühl, das wir im Inneren verschlossen haben, breitet sich aus über die ganze Welt. Unser Selbst fließt aus, und wir werden Eins mit dem Allgeist. Entselbstet werden wir, und wir finden uns wiederum im Allgeist. Das ist etwas Höheres als das bloße Denken. Im Seelischen hat es der Mensch zur Empfindung gebracht. Im Geistigen fängt er an, den Verstand betätigen zu können. Aber er wird auch dahin kommen, wo er mit der Empfindung den Geist erreichen wird. Dann befindet er sich auf der Stufe zum Göttlichen. Das ist die Leiter, die er zu gehen hat mit eigener Kraft, die Seele mit dem Geist zu verbinden, daß sie eins werden. Das ist wahre Selbstbetrachtung. Wenn wir, wie wir einem Freunde begegnen und Wärme im Herzen empfinden, den göttlichen Geist, der die Welt durchflutet, nicht nur mit dem Verstande begreifen, sondern mit dem Herzen ergreifen, erfühlen und empfinden, dann dringen wir durch den Kopf und seine Weisheit zu dem Herzen und seiner Weisheitsliebe für die ganze Welt vor. So erheben wir uns, indem wir unsere Seele erheben, und so lernen wir nicht bloß unser engherziges Innere kennen, sondern wir erweitern unser Selbst und finden uns draußen in der Welt. Oft und oft wird es betont: Schau nur hinein in dein Inneres, da wirst du den Gottmenschen finden. - Nein, in sich selbst kann man nur das finden, was man in sich hat. Will man mehr in sich finden, so muß man dieses höhere Selbst erst entwickeln, und man entwickelt es, indem man das höhere Selbst ausbreitet

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über die ganze Welt. Nicht ein müßiges Beschauen seines Inneren meinten diejenigen, welche dem Menschen Selbsterkenntnis angeraten haben. Diese Selbsterkenntnis ist so gemeint, wie wir sie jetzt erfaßt haben, als einen Hin auf- stieg von der Seele zum Geist. Dann fühlt der Mensch keinen Unterschied mehr zwischen sich und dem Tier, der Pflanze und dem Stein. Eine allgemeine Weltbruderschaftsempfindung durchzieht sein Herz. Und dann, und nur dann, wenn der Mensch solches im Auge hat, versteht er als letztes Ziel der Entwickelung vom Leiblich-Seelischen zum GeistigSeelischen das schöne Wort des Dichters, der zugleich ein Seher war: «Einem gelang es; er hob den Schleier der Göttin zu Sais. - Aber was sah er? Er sah - Wunder des Wunders - sich selbst!» Und der Geisteswissenschafter fügt hinzu: In diesem Selbst findet er das Göttliche, und das ist eben Theosophie, göttliche Weisheit, das Herz, die Seele so hinaufzuheben zum Geist, daß es gelingt, die Weisheit mit dem Göttlichen zu verbinden und nicht nur Verständnis, sondern Allgemeingefühl für die göttliche Welt zu haben.

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GEISTESWISSENSCHAFT UND SOZIALE FRAGE Hamburg, 2. März 1908

Wer heute das Wort «soziale Frage» hört, bei dem regen sich, je nach seiner Lebenslage und Erfahrung und nach dem Ernste, mit dem er das Leben zu nehmen in der Lage ist, die verschiedensten Empfindungen. Und so muß es sein gegenüber einer Frage, welche die heutige Zeit eigentlich tiefer beschäftigen sollte, als sie sie beschäftigt. Zwar scheint das paradox ausgesprochen. Diejenigen, welche unmittelbar berührt werden von dem, was das Wort soziale Frage einschließt, beschäftigen sich gewiß genug mit derselben. Jene aber, die heute noch davor bewahrt sind, in unmittelbare Berührung zu kommen mit dem, was der sozialen Frage als Ursache zugrunde liegt, sind noch immer nicht gründlich genug davon überzeugt, daß diese Frage in unserer Zeit etwas bedeutet, womit sich zu beschäftigen eines jeden denkenden Menschen unbedingte Pflicht ist. Und diejenigen, die in den Tag hineinleben, die Augen wohl auch zumachen vor den Anforderungen des Tages, könnten es erleben, daß entweder sie selbst oder ihre Nachkommen, gerade durch ihre Unkenntnis, üble Erfahrungen machen könnten. Man hört heute noch immer, wenn von sozialer Frage in dem Sinne gesprochen wird, daß unsere Zeit einen Ausweg finden muß aus der Lage, in die viele Menschen durch die Gestaltung unseres sozialen Zusammenlebens geraten sind, man hört oftmals die Worte: Reiche und Arme habe es immer gegeben, eine soziale Frage habe es immer gegeben, so lange die Menschheit lebt und strebt. Es sei daher nicht zu verwundern, wenn auch in unserer Zeit die, welche nicht mit

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Glücksgütern gesegnet sind, in einer mehr oder weniger deutlichen Weise dies zum Ausdruck bringen und im Kampfe sich das erobern wollen, was ihnen durch das Geschick nicht zukommt. Reiche und Arme, solche, die bedrückt sind und solche, die mehr oder weniger mit Glücksgütern gesegnet sind, habe es immer gegeben. - Mit diesen Worten will man wohl das ganz Eigenartige und Eigentümliche der sozialen Frage hinwegwischen, unklar machen. Man weist hin auf die Sklavenaufstände des Altertums, auf die Revolten im Mittelalter und auf andere Ereignisse, wo sich die Bedrückten ihr Recht zu verschaffen suchten und tröstet sich mit solchen Erscheinungen.

Ein jeder sollte heute eigentlich wissen, daß das, was man gegenwärtig soziale Frage nennt, wirklich etwas Neues ist im Menschenleben, daß sie etwas ganz anderes ist als ähnliche Bewegungen in andern Zeiten des geschichtlichen Lebens. Denn jene, die heute eine Lösung der sozialen Frage suchen, sind vor allen Dingen Menschen innerhalb unserer gesellschaftlichen Ordnung, die es mit diesem Charakter, so wie sie heute vor uns stehen, erst seit einer kurzen Zeit gibt. Das Bedrückende ist ein Ergebnis höchstens der letzten hundertzwanzig bis hundertdreißig Jahre; das ist geschaffen durch die gegenwärtigen, unendlich bedeutungsvollen Fortschritte der Mensclienkultur. Wir sehen diesen Fortschritt heraufkommen mit dem Ende des 18.Jahrhunderts, als jene Maschinen und so weiter den Köpfen unserer Erfinder entsprangen. Seit jenen Zeiten, seit welchen das Leben immer mehr in den Industriezentren und Städten zusammenfließt, entsteht erst der Lohnarbeiter, der Proletarier im heutigen Sinne des Wortes. Was man heute soziale Frage nennt, ist nicht zu trennen von dieser eigentlich erst durch die gewaltigen Fortschritte der Menschenkultur geschaffenen Menschenklasse. Der Sklave des Altertums kämpfte eigentlich

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nur dann, wenn er sich besonders bedrückt fühlte, und er hatte nicht das Bewußtsein, daß durch irgendeine andere soziale Ordnung seinem Leben, seiner Bedrückung Abhilfe geschaffen werden konnte. Ähnlich war es auch im Mittelalter. Der moderne Proletarier kommt aber immer mehr mit der Forderung, daß nicht dieses oder jenes einzelne zu bekämpfen sei, sondern daß nur eine gründliche Reform, vielleicht auch Umwälzung der Verhältnisse überhaupt, seine Lage ändern könne. Und eine gewaltige Ausbreitung, eine viel größere Ausbreitung als diejenigen glauben, die sich die Augen verschließen, hat diese Überzeugung innerhalb der arbeitenden Menschheit gefunden. Es ist manchmal für den, der die Dinge durchschaut, ganz staunenswert, daß es immer doch noch Menschen gibt, die nicht den Ernst haben, auf alle diese Dinge einzugehen.

Nun könnte es recht sonderbar erscheinen, wenn gegenüber einer so praktischen Anforderung des Tages, gegenüber einer solchen Lebens frage jemand kommt, um sie vom Standpunkte der Geisteswissenschaft zu beleuchten. Haben doch die meisten Menschen von ihr die Vorstellung, daß sie etwas Unpraktisches, das unpraktischste Zeug der Welt sei, daß sie den Köpfen einiger Träumer entsprungen sei und sich mit allerlei Dingen befaßt, die nichts zu tun haben mit dem Wirklichen. Es hören wohl die Leute, daß es eine Weltenströmung gibt, die sich die geisteswissenschaftliche nennt, die von dem lehrt, was in der Welt als Übersinnliches vorhanden ist und den verschiedenen Wesen, die um uns herum sind, was dem Menschen selbst als seinÜbersinnliches zugrunde liegt. Man hört wohl auch, daß diese Geistesforschung von vielen Tatsachen spricht, so zum Beispiel von den wiederholten Erdenleben und von dein großen Gesetz über die geistige Verursachung unserer Handlungen und Schicksale. Man hört davon, daß sie hinaufführt in allerlei

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höhere Welten und so weiter. Man kann nun leicht glauben: Was kann jemand, der sich mit solchen Dingen befaßt,Praktisches und Wissenswertes über eine Lebensfrage wie die soziale ausmachen!

Aber mit der Lebenspraxis hat es eine eigene Bewandtnis. Wir wollen heute einmal über dieses Thema sprechen, gerade um zu zeigen, wie Geisteswissenschaft nur dann eine wirkliche Bedeutung hat, wenn sie fähig ist, in die praktischen Lebensfragen einzugreifen. Wir fragen uns dabei: Worauf haben wir unser Augenmerk zu richten, wenn von der sozialen Frage die Rede ist? - Nicht wahr, daß die soziale Frage vorhanden ist, davon kann uns der Augenschein überzeugen, und dieser Augenschein iiberzeugt den, der sich mit dem Leben befaßt, aufs eindringlichste. Wir könnten hinweisen, daß mit der Blüte unserer Industrie - gerade in England - soziale Verhältnisse furchtbarster Art eingetreten sind. Es war für diejenigen, welche die Industrie fruchtbar machen wollten für das, was sie ihre Welt nannten, einzig und allein die Frage: Wie ist am billigsten die Arbeitskraft herzustellen? - Und da sehen wir denn jene Ausschreitungen, die oft geschildert worden sind, wie die Industrie neben starkem Licht auch starken Schatten erzeugt und wie sich die Segnungen unserer Maschinen, Eisenbahn und Dampfschiffe durch das 19. Jahrhundert entwickeln. Wir sehen aber auch, wie im Gefolge davon der Mensch arbeiten muß, zuweilen eine Arbeitszeit hindurch, die zweifellos alles Menschenmögliche übersteigt. Wir wissen, daß nicht bloß Erwachsene im Laufe des 19.Jahrhunderts in den Industrien Englands gehalten worden sind in zwölf-, sechzehn-, achtzehn- und zwanzigstündiger Arbeitszeit, ja zuweilen noch länger. Die Menschen, die nicht unmittelbar berührt werden, wissen nur nichts von diesen Dingen. Wir wissen auch, daß Kinder im zartesten Alter in

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einer schier unglaublichen Weise in Fabriken beschäftigt worden sind. Wir wissen, wie die Menschen blind geworden sind gegen das Unmögliche einer solchen Sache.

Wir brauchen nur auf eine Tatsache hinzudeuten, auf die Tatsache, daß einmal in einem Parlament die Rede davon war, ob es nicht unerhört sei, daß Kinder achtzehn bis neunzehn Stunden, wie es der Fall war, in der Industrie beschäftigt werden und ein Arzt sich dagegen wandte damit, daß das unter Umständen eben nicht anders möglich sei! Und als man den Herrn fragte, ob er denn eine Arbeitszeit von vierundzwanzig Stunden nicht für etwas Unmögliches ansehen würde, da sagte der Mann: Ich habe mich durch tiefe Gründe überzeugt, daß die Gemeinplätze, die in solchen Dingen geredet werden, durchaus nicht immer ernst genommen werden dürfen, und ich bin nicht in der Lage, irgendeine Arbeitszeit anzugeben unterhalb vierundzwanzig Stunden, die irgendwie als der Gesundheit unzuträglich bezeichnet werden könnte. - Eine solche Sache charakterisiert viel mehr als die Tatsache selbst die Lage, in welche die Menschheit gebracht worden ist durch das, was für sie zu gleicher Zeit ein solcher Segen ist. Und wer hätte denn im Leben nicht selbst erfahren, wenn er die Augen aufzumachen versteht, wie zuweilen tatsächlich Menschen im zartesten Kindesalter, wenn sie zur Schule geschickt werden, nichts lernen können, wie alles von den Bestrebungen und Idealen, sie zu Menschen zu machen, nichts fruchtet, weil sie infolge der sozialen Not nicht ausgerüstet sind mit jenen Kräften, die einigermaßen hinreichend wirken zu einem menschenwürdigen Dasein.

Es ist nicht möglich, die soziale Not zu schildern, in die vielfach die Menschheit gebracht worden ist; das würde eine zu große Zahl von Bildern aufzurollen nötig machen. Wir brauchen aber nur das, was gesagt ist, zu benutzen für anderes,

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nur das, was Sie gesehen haben, als Empfindungsgehalt in uns aufsteigen zu lassen, und wir werden nicht mehr leugnen können, daß eines sicher ist: Die großen Fortschritte des menschlichen Geistes, jene gewaltigen Fortschritte, welche die Maschinen und so weiter konstruiert haben, welche unsere ganze Erde umsponnen haben mit einem Verkehrsnetz sondergleichen, diese Entwickelung des menschlichen Geistes hat nicht, gar nicht Schritt gehalten mit einem andern Nachdenken, mit dem Nachdenken daruöber, welches die bestmöglichste Art des menschlichen Zusammenlebens ist. Niemand würde heute glauben, daß eine Maschine sich von selber konstruiere, daß keine Verstandeskraft, keine Geisteskraft angewendet werden muß, um die Maschine ins Leben zu rufen und ein Verkehrssystem zu schaffen. Aber wie viele sind heute, die, wenn sie es auch nicht zugeben, in ihrem innersten Gefühle der Anschauung, daß das menschliche Zusammenleben sich ganz von selber machen müßte, daß nicht Geisteskraft dazu gehört, um in dieses Getriebe ebenso einzugreifen, wie man in das Getriebe einer Fabrik eingreift.

Zwar braucht man nicht so weit zu gehen, wie ein großer Naturforscher des 19.Jahrhunderts, der da gesagt hat: Oh, die Menschheit hat im Wissen und Verstehen der Welt Fortschritte ungeheuerlichster Art gemacht, aber in bezug auf Moral ist die Menschheit nicht einen Schritt weitergekommen! - Man braucht nicht so weit zu gehen, aber das, was eben gesagt worden ist, daß die wenigsten Menschen, die nicht unmittelbar vom sozialen Elend berührt werden, heute die Notwendigkeit empfinden, sich mit der sozialen Frage zu befassen, ist eine nicht wegzuleugnende Tatsache.

Wenn wir aber zu denjenigen hin schauen, die sich entweder mit der sozialen Frage befassen oder sich mit ihr befassen sollten, wie sieht es denn da aus? Da gibt es zum

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Beispiel ein vor nicht langer Zeit erschienenes Buch vom Regierungsrat Kolb: «Als Arbeiter in Amerika». Der Mann hat mit ungeheurer Selbstlosigkeit, mit einer wirklichen Hingabe eine Zeitlang sich herausgeschält aus seinem Bürokratenamt und ist nach Amerika gegangen. Um das soziale Leben kennenzulernen, hat er in einer Fahrradfabrik schwer gearbeitet. Ich muß vorausschicken - damit ich nicht etwa der Gefahr ausgesetzt werden könnte, daß man mir in die Schuhe schiebt, ich werde ungerecht in der Beurteilung -, daß diese Tat des Mannes eine außerordentlich anerkennenswerte ist, daß sie nicht hoch genug geschätzt werden kann. Aber schauen wir uns jetzt eine einzige Äußerung dieses Buches an. Da steht ein Satz in diesem Buche, charakteristisch genug, der heißt: «Wie oft hatte ich früher, wenn ich einen gesunden Mann betteln sah, mit moralischer Entrüstung gefragt: warum arbeitet der Lump nicht? - Jetzt wußte ich`s.» So sagt der betreffende Regierungsrat. «In der Theorie», fügt er hinzu, «sieht sich`s eben anders an als in der Praxis, und selbst mit den unerfreulichsten Kategorien der Nationalökonomie hantiert sich`s am Studiertisch noch ganz erträglich.»

Nun, man möchte sagen, eine ganze Welt von Menschenempfindungen und Menschenwirken spricht aus solchem Satze. Wir haben einen Mann vor uns, der es zu einer solchen Stellung gebracht hat, die man äußerlich als Regierungsrat bezeichnet. Der verrät, daß er das Leben so wenig gekannt hat, daß er jeden, der nicht arbeitete, als Lump bezeichnete, daß er sich erst hat aus seinem Amt herausschälen müssen und weit weg nach Amerika gehen, um das Leben, für das er Rat erteilen sollte, auf das sich seine Handlungen bezogen, kennenzulernen. Man kann also studieren, es zu einem hervorragenden Platz bringen und kann solches nötig haben! Man hat nicht Augen, um nach

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links und rechts zu sehen, man weiß nichts vom Leben. Das ist möglich!

Wenn wir solches gewahr werden, dann dürfen wir die Frage aufwerfen, ob es denn nicht sein könnte, daß es in gewissen Dingen aus dem Grunde so arg steht, weil mancher, auf den es ankommt, es verschmäht, mit dem Leben bekanntzuwerden. Es wird viel geredet heute von allerlei Verbesserungen, Vorschlägen und Dingen, die eingerichtet werden sollen. Sie müssen von Menschen eingerichtet werden. Sollte nicht ein wenig Unterschied sein zwischen Dingen, die von Menschen eingerichtet sind, die vom Leben etwas verstehen, und von Menschen, die in einer solch grandiosen Weise zugeben, daß sie nichts verstehen? Was nützt alles Reden, wenn man nicht ein sieht, daß es darauf ankommt, wer darüber redet und ob der, der darüber redet, etwas weiß. Wieviel könnte dann von dem, was durch das Leben schwirrt, vielleicht ganz leeres Geschwätz sein und wieviel könnte von dem, was leeres Geschwätz ist, gar in Wirklichkeit umgesetzt werden und Leben gewinnen? - Die Frage ist wohi berechtigt. Derjenigen aber, welche heute nachdenken über die soziale Frage, gibt es viele; viel zu viele, wenn wir die Frage ernster ins Auge fassen, wenn wir ins Auge fassen, was notwendig ist, um etwas von dieser Frage wirklich Nützliches zu verstehen. Es gibt heute eine ganze Reihe von Leuten, die sagen: In dem Augenblick, wo die Verhältnisse besser werden, wo die Verhältnisse geändert werden, da wird auch das Leben der Menschen und ihre Lage besser sein. - Wir wissen, daß vor allen Dingen die vielleicht verbreitetste, umfassendste soziale Theorie in der Gegenwart, der Sozialismus selber, sich auch auf diesen Standpunkt stellt. Wir wissen, daß er immer betont: Ach, kommt uns nicht mit allerlei Vorschlägen, wie die Menschen besser werden sollen, wie die Menschen sich verhalten sollen!

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Kommt uns nicht mit allerlei sittlichen Forderungen! Worauf es ankommt, ist lediglich - das betonen sie - die Zustände zu verbessern.

Symptomatisch kann einem das entgegentreten an einem solchen Weltverbesserer, der an verschiedenen Orten Deutschlands mit seinen sozialen Theorien auftritt, der immer erzählt: Ja, da behaupten die Leute, daß die Menschen erst besser werden müßten, wenn die Zustände besser werden sollen. Aber, sagt er, alles hängt davon ab, daß die Menschheit in die richtigen Zustände hineinversetzt werde. - Und er erzählt auch, wie man da und dort einmal die Wirtshäuser eingeschränkt hat und wie dann tatsächlich in einem solchen Orte weniger Betrunkene waren, und es dadurch einer Anzahl von Leuten besser gegangen sei. Er predigt dann dem Arbeiter, daß Menschenliebe, gegenseitige Brüderlichkeit leere Phrase sei. Alles käme darauf an, solche Arbeits- und Lebensbedingungen herbeizuführen, daß ein jeglicher seine auskömmliche Existenz habe, dann würde auch der moralische Zustand über die Erde schon von selber kommen.

Nun, Sie wissen ja, daß der Sozialismus in der Ausgestaltung einer solchen Anschauung weitgehend ist. Das ist nichts anderes als eine Folge des Materialismus in unserer Zeit, des Materialismus, der nicht, wie die Geisteswissenschaft, in das Innere des Menschen zu blicken vermag und zu erkennen vermag, daß alles, was an Zuständen, insofern es für die soziale Ordnung in Betracht kommt, von Menschen geschaffen ist, die Folge ist von Menschengedanken und Menschenempfindungen, sondern der glaubt, daß der Mensch ein Produkt der äußeren Verhältnisse sei. Dieser Glaube ist im höchsten Grade lähmend für die gedeihliche Betrachtung des sozialen Lebens. Er ist lähmend, und wir wollen nicht irgendeinen theoretischen Beweis heute dafür

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anführen, sondern wir wollen einen geschichtlichen Beleg beibringen.

Wenn zu einem sozialen Reformer irgend jemand geeignet war, so war es um die wende des 18. zum 19.Jahr- hundert Robert Owen. Er hatte zweierlei Tugenden, die ihn befähigten, von seinem Gesichtspunkte aus in das soziale Leben einzugreifen: einen offenen Blick für den industriellen Fortschritt und für die Schäden, für Menschenwohl und Menschenglück, die dieser Fortschritt bringt. Einen offenen Blick und ein offenes Herz hatte er für menschliches Leid, und auf der andern Seite hatte er einen guten Willen und Initiative, um wenigstens einer Anzahl von Menschen ein würdiges Dasein zu verschaffen. Er lebte zunächst in einer materialistischen Zeit und war deshalb zunächst, wie so viele, abhängig von der Theorie, daß man nur entsprechende Zustände herbeizuführen brauchte, um darinnen eine gründlich moralische Menschheit zu entwickeln. Und so begründete er eine kleine Kolonie in Amerika, die in jeder Beziehung musterhaft genannt werden dürfte, wenn die Voraussetzung richtig gewesen wäre. Er hatte den Leuten ein menschenwürdiges Dasein durch äußere Einrichtungen garantiert. Er hatte unter arbeitsamen und strebsamen Leuten Verkommene, die durch das Beispiel der ersteren angeregt werden sollten, ordentliche Menschen zu werden. Dadurch gestaltete sich eine Musterwirtschaft heraus, die wiederum ihrem Urheber den Gedanken eingab, dasselbe in größerem Maßstabe zu versuchen. Es kam dann die zweite Kolonie, die ebenso praktisch und menschenfreundlich gestaltet war. Aber er, der nicht nur die Theorie aufgestellt hatte, daß die Änderung der Zustände die Verbesserung des Menschenloses herbeiführen müsse, er mußte die Enttäuschung erleben, die wir durch seine eigenen Worte charakterisieren. Dadurch, daß die Menschen nicht reif waren für

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die Zustände, schrieb er nieder: Was hilft alle Verbesserung der Zustände, wenn nicht vorher die allgemeine Sitte, das allgemeine Wissen gehoben wird? Zuerst kommt es darauf an, dem Menschen in seinem Inneren Aufklärung zu geben, vor allem über seine Seelenkräfte; dann ist erst daran zu denken, daß die soziale Frage einigermaßen würdig ihrer Lösung entgegengehen wird.

So urteilt ein Praktiker, kein Theoretiker, und es ist in gewisser Beziehung charakteristisch dafür, wie wenig die Menschheit aus Tatsachen lernt, daß trotz dieser Enttäuschung immer wieder dieselben Theorien behauptet werden. Aber wer ein klein wenig tiefer in die Seelen der Menschen unserer Zeit zu sehen vermag, der wird wissen, daß eine solche Einzelerscheinung zusammenhängt mit der Entwickelung der Menschenseelen in der Gegenwart überhaupt. Ob es der eine oder andere zugesteht, es ist die Grundüberzeugung, daß heute alles gemacht werden kann, wenn man die äußeren Verhältnisse ändert, und bei Schäden, die die Menschheit bedrohen, schnell durch ein Gesetz Abhilfe schafft. Das sind so die Grundüberzeugungen in unserer Zeit. Und wenn wir zum Beispiel immer wieder sehen, daß Gesetze damit motiviert werden, daß man sagt: Die unerfahrene Menschheit darf nicht ausgeliefert werden diesen oder jenen Leuten -, dann merkt man gar nicht, daß man eine ganz andere Aufgabe hätte, als Gesetze zu machen, daß man die unerfahrene Menschheit belehren sollte, so daß sie selbstbestimmend sein könnte für ihre Taten.

Man lenkt nicht leicht den Blick von den Zuständen auf die Menschen. Dies ist aber die Aufgabe der Geisteswissenschaft. Sie lenkt ganz ab von den Zuständen und ganz und gar hin auf die Menschen. Fragen wir uns in bezug auf alle Dinge, die als Zustände und Verhältnisse um uns herum sind: Woher kommen diese Verhältnisse und diese Zustände?

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- Insofern sie nicht von der Natur verhängt sind, sind sie Ergebnisse des menschlichen Empfindens und Denkens. Das, was heute Zustände sind, waren Gedanken und Willensimpulse von Menschen, die vorher gelebt haben. Und die Verhältnisse sind so, weil Menschen sie so gemacht haben. Wollen wir bessere Zustände machen, dann müssen wir vor allen Dingen mehr lernen, müssen bessere Gedanken und Empfindungen und Willensimpulse entwickeln. Wenn wir aber Umschau halten im Umkreise der Sozialtheoretiker, selbst der radikalsten, meinetwegen der Sozialdemokratie, dann sind diese Theorien zumeist gar nicht irgendwie hinausgehend über dasjenige, was die Menschen schon immer gedacht haben. Sie sind denselben Gedanken und Impulsen entsprungen, denen unsere Verhältnisse entsprungen sind und die zu unserer Lage geführt haben. Wir müssen imstande sein, Menschen zu haben, die das Leben kennen und wissen, um was es sich bei den Kräften, die hinter dem Leben stehen, handelt. Was hat Robert Owen gefehlt? Er mußte es selbst zugeben: Menschenkenntnis! - Man lernt niemals den Menschen kennen, wenn man eine Weltanschauung, die nur auf das Äußere sich richtet, aufstellt. Sobald der materialistisch getrübte Blick, der sich nur auf den äußeren Menschen richtet, sobald der Mensch nicht weiß, was hinter dieser physischen Körperlichkeit sich verbirgt, und er dadurch nicht die Fähigkeit erlangt, sozusagen hinter die Kulissen zu schauen, ist er gar nicht imstande, wirklich nicht imstande, irgend etwas über die Kräfte zu verstehen, die das Leben lenken und leiten. Das ist aber gerade die Aufgabe der Geist-Erkenntnis. Zugegeben mag werden, daß sie ihre Aufgabe heute nicht überall im richtigen Maße erfüllt; zugegeben muß werden, daß innerhalb der sie suchenden Kreise mit den höchsten Fragen des Daseins vielfach gespielt wird. Darauf kommt es nicht an, sondern darauf,

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was die Geist-Erforschung uns sein kann. Und sie kann nicht nur etwas sein, was uns lehrt, was uns Dogmen gibt, sondern sie kann sein eine mächtige Erziehung unserer innersten Seelenkräfte. Das ist das Beste, was man aus der Geist-Erkenntnis gewinnen kann, wenn wir die geisteswissenschaftliche Weltanschauung von dem Gesichtspunkt aus betrachten, zu was sie die Menschen machen kann. Dann stellt sich das Bild so dar.

Wir haben hier sprechen können von Anschauungen, welche die Geistesforschung über die mannigfachsten Gebiete des Lebens hat. Wir haben von ihren Lehren über dieses und jenes sprechen können. Davon soll aber nicht die Rede sein. Derjenige, der sich bekanntmacht mit der Geisteswissenschaft, wird aber eines merken: in bezug auf einen wichtigen Punkt unterscheidet sie sich von allem, was sonst heute Theorie ist. Und das ist wichtig. Heute wird der Mensch nämlich in den meisten Fällen recht bald fertig, wenn er sich eine Weltanschauung bilden soll, und am liebsten ist es ihm, wenn er möglichst bald ein abgerundetes Weltenbild haben kann. Für Kenner der Verhältnisse ist es klar, daß manch einer Material ist oft nur aus dem einzigen Grunde ist, weil er mit seinen Gedanken gar nicht weit geht, weil er kurz denkt. Und der Materialismus macht es seinen Anhängern leicht, sehr leicht. Man kann den Aufbau der Welt aus rein materiellen Tatsachen leicht überschauen und einsehen, besonders wenn noch mit Lichtbildern illustriert wird, wie sich der Mensch entwickelt hat. Man braucht nur hinzustarren und kann aus den im gewöhnlichen Leben gewohnten Vorstellungen den ganzen Gang der Weltenentwickiung verfolgen. Es ist leicht, alldem zu folgen, was die Materialisten sagen über die Weltenrätsel, weil die Gedanken sich nicht verstricken, weil keine besonderen Anforderungen gestellt werden.

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So leicht ist bei der Geisteswissenschaft die Sache nicht. Sie macht es den Menschen nicht leicht, denn sie geht von der wirklichen und wahren Voraussetzung aus, daß die Welt in ihren Geheimnissen tief ist und daß man sich anstrengen muß, tief hineinschürfen muß in den Grund der Dinge, wenn man die Welt verstehen will. Und so ist dasjenige, was die Geistesforschung über Menschenwerden und -wesen, über Weltenwerden und -wesen zu sagen hat, etwas, was die Gedanken in die mannigfaltigsten Verschlingungen bringt, was manchmal in Kleinigkeiten zu vertiefen zwingt, manchmal zu den größten Ausblicken den Menschen führt. Aber es hat dies eine gewisse Folge, und über diese Folge darf man einmal offen sprechen. Es schult das Denken und es bereitet vor, da wo dieses komplizierte Menschenleben uns im einzelnen Fall entgegentritt, dieses Leben auch da zu verstehen. Manch einer wird sagen: Die Welten, die uns die Geisteswissenschaft beschreibt, haben mich ganz schwindlig gemacht. - Ja, ist das denn ein schlechtes Zeichen für die Geisteswissenschaft? Es wäre besser, wenn diese Betrachtungsweise den Menschen nicht schwindlig machte, sondern ihn kräftigte und stärkte, dann wäre er bereit, das Leben mit starken Seelenkräften aufzufassen. So sind aber die praktischen Vorstellungen über Welt und Leben: Wenn ein Mensch über die Weltenrätsel in kurzen Gedanken denkt, dann denkt er auch über die soziale Ordnung in kurzen Gedanken. Und so sehen wir, daß das, was heute von den berühmten Leuten über soziale Fragen gedacht wird, ein recht genaues Bild ist von dem, was uns als material istisches Weltenbild geboten wird, unvermögend, in die Tiefen des Lebens einzudringen. Dabei hat ein jeder das unbestimmte Gefühl, daß das, was ihm Schwierigkeiten macht, irgendein phantastisches, traumhaftes Zeug ist, und daß die Geist-Erkenntnis etwas Phantastisches, Traumhaftes,

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mindestens recht idealistisches Zeug sein müßte, jedenfalls ungeeignet für wirklich echt praktische Lebenszwecke. Zwar hat Fichte vor mehr als hundert Jahren vor seinen Jenenser Studenten gesagt: Jene praktischen Leute, denen umfassende Ideen immer unpraktisch erscheinen, weil Ideen und Ideale im Leben nicht immer anwendbar sind, beweisen nur, daß im Schöpfungsplane nicht auf sie gerechnet worden ist. Möge eine gütige Vorsehung ihnen Sonnenschein, Nahrungsmittel und kluge Gedanken geben. - Fichte hat auch über das Unvermögen mancher Leute, die Geistigkeit des Ich vorzustellen, gesprochen: «Die meisten Menschen würden leichter dazu zu bringen sein, sich für ein Stück Lava im Monde als für ein Ich zu halten.» Aber es ist Lebensnotwendigkeit, sich das Ich vorzustellen.

Wenn wir das Leben und die soziale Frage von diesem Gesichtspunkt aus betrachten, dann müssen wir sagen, wir betrachten die Geisteswissenschaft als die große Schule des Lebens, die es unmöglich macht, daß man durch das Leben geht, eine gewisse Stellung erhält, sogar Rat, Berater im Leben wird, und nachher weit, weit fortgehen muß, um einmal auf Urlaub das Leben kennenzulernen, um nicht mehr davon überzeugt zu sein, daß jeder, der nicht arbeitet, ein Lump ist. So etwas wird durch die Geisteswissenschaft unmöglich.

Daher reden wir nicht bloß von einem spirituellen Standpunkt aus, von irgendwelchen Anschauungen im Verhältnis der Geisteswissenschaft zum Sozialismus, sondern wir reden von etwas anderem. Wir betrachten die Geisteswissenschaft als eine reale Sache, nicht nur als eine Summe von Dogmen, sondern als etwas, was Erkenntnis, Weisheit gibt, und zwar solche, die in jedem Augenblick einfließt in das unmittelbare Leben und uns die Augen öffnet, so daß wir diesem Leben gewachsen sind. So ist die Geist-Erkenntnis die allgemeine

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Grundlage für jegliches Urteil, ob wir auf dem Gebiet des sozialen Lebens oder dem der Pädagogik urteilen. Unser Urteil wird gesünder, weil es aus der wahren Menschennatur entspringt, wenn wir von geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkten ausgehen. Wir sagen, erst sei man durchdrungen von dem, was Geistesforschung zu geben vermag, dann kommt man selber zu einem richtigen Urteil. Es könnte jemand fragen: Wie denkt ein Anhänger der Geisteswissenschaft, in welcher Weise der oder jener Parlamentarier über eine Frage urteilen solle, wenn er se1ner Ansicht nach falsch geurteilt hat? - Dies ist vom spirituellen Gesichtspunkte nicht richtig gefragt, sondern es muß gesagt werden: Es handelt sich gar nicht darum, zu sagen, wie der oder jener denken soll, sondern man ist überzeugt, daß er, wenn er durchdrungen ist von den Grundwahrheiten, ein klares Urteil haben wird auf jedem Posten. Wir schreiben ihm sein Urteil nicht vor, sondern er wird das richtige Urteil finden. In dieser Beziehung ist Geisteswissenschaft das freiheitlichste Lebensprinzip, das es geben kann. Sie dogmatisiert nicht, sondern sie stellt den Menschen vor die Möglichkeit, überall immer das eigene, gesunde freie Urteil zu haben.

Verhältnisse - davon sind wir ausgegangen - werden vielfach als dasjenige angesehen, was den Menschen anders machen könnte, und man denkt abstrakt nach, wie Verhältnisse geändert werden können. Die Geisteswissenschaft hat es einzig und allein zu tun mit der realen Menschenseele, mit Verhältnissen von Mensch zu Mensch. Nun würde es heute ganz unmöglich sein, auf einzelne konkrete Dinge in bezug auf die soziale Frage einzugehen. Es darf aber doch auf dies oder jenes hingewiesen werden, wollen wir die Bausteine finden, die uns den Weg weisen, da wo wir im Leben stehen, in richtiger Art einzugreifen. Denn an jedem von uns liegt

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es, einzugreifen. Wollen wir die Bausteine finden, dann fragen wir uns: Was ist denn eigentlich die Grundtatsache, gleichsam das Grundphänomen, von dem alles Elend, alles soziale Leid überhaupt in der Welt abhängen kann? - Diese Grundtatsache kann uns die Geist-Erkenntnis zeigen, indem sie uns vor eine, heute von der größten Zahl der Menschen gar nicht verstandene und gar nicht anerkannte Tatsache stellt. Diese Tatsache hängt zusammen mit einer Grunderscheinung aller Entwickelung. Man möchte sagen, trocken ausgesprochen, sie zeigt uns durch eine tiefere Lebensbetrachtung, daß Not, Leid und Elend nicht allein - und am allerwenigsten, wenn man auf den Grund geht - abhängt von äußeren Verhältnissen, sondern von einer gewissen Seelenverfassung und im Zusammenhang damit mit deren äußeren Wirkungen.

Der Praktiker, der sich viel gescheiter dünkt, wird das lächerlich finden. Aber es ist das Praktischste im Leben, was man nur betonen kann. Es ist der Satz, von dem Sie sich mehr und mehr überzeugen werden, daß Not, Elend und Leid nichts anderes sind als eine Folge des Egoismus. Wie ein Naturgesetz haben wir diesen Satz aufzufassen, nicht so, daß etwa bei einem einzelnen Menschen, wenn er egoistisch ist, immer Not und Leid eintreten müssen, sondern daß das Leid - vielleicht an einem ganz andern Orte - doch mit diesem Egoismus zusammenhängt. Wie Ursache und Wirkung, hängt der Egoismus mit Not und Leid zusammen. Der Egoismus führt im Menschenleben, in der sozialen Menschenordnung, zum Kampf ums Dasein. Der Kampf ums Dasein ist der eigentliche Ausgangspunkt für Not und Leid, sofern sie sozial sind. Nun gibt es auf Grund unserer heutigen Denkweise eine Überzeugung, gegenüber welcher das, was jetzt behauptet ist, geradezu absurd erscheint. Warum? Weil man heute überzeugt ist, daß ein großer Teil, der

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weitaus größte Teil des menschlichen Lebens, auf Egoismus gebaut sein muß. Zwar mit Worten und Theorien will man es nicht zugeben, aber in der Praxis wird man es bald zugeben. Man gibt es in folgender Weise zu. Man sagt: Es ist ganz natürlich, daß der Mensch für seine Arbeit entlohnt wird, daß der Mensch den Ertrag seiner Arbeit persönlich erhält - und doch ist das nichts anderes als die Umsetzung des Egoismus in das nationalökonomische Leben. Wir leben unter Egoismus sobald wir dem Prinzip leben: Wir müßten persönlich entlohnt werden, was ich arbeite, muß mir bezahlt werden. - Die Wahrheit liegt von diesem Gedanken so weit ab, daß sie ganz unsinnig erscheint. Wer sich über- zeugen will von der Wahrheit über den Egoismus, der müßte einmal intimer eingehen auf allerlei Weltengesetze. Er müßte sich einmal nachdenklich der Frage hingeben, ob denn die Arbeit, die als solche persönlich entlohnt wird, wirklich das Lebenerhaltende ist, ob es auf diese Arbeit ankommt? - Es ist sonderbar, diese Frage aufzuwerfen. Aber nicht eher, als man darüber nachdenken wird, wird man über die soziale Frage aufklären können.

Denken Sie sich - es ist dies ein paradoxer Vergleich - einen Menschen auf eine Insel versetzt. Der sollte dort allein sich versorgen. Sie werden sagen: Er muß arbeiten! - Er muß aber nicht bloß arbeiten, das ist nicht das, worauf es ankommt, sondern es muß zu seiner Arbeit etwas hinzutreten. Und wenn die Arbeit bloß Arbeit ist, dann kann sie unter Umständen für sein Leben absolut nutzlos sein. Denken Sie einmal, der Mensch auf der Insel täte gar nichts, als vierzehn Tage lang Steine werfen. Das wäre eine anstrengende Arbeit, und nach gewöhnlichen menschlichen Begriffen könnte er damit recht viel Lohn verdienen. Dennoch steht diese Arbeit mit dem Leben nicht im geringsten Zusammenhang. Arbeit ist nur dann lebenfördernd und hat

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Wert, wenn etwas anderes hinzukommt. Wenn diese Arbeit auf das Bearbeiten der Erde geht und die Erde das Produkt gibt, dann hat Arbeit mit dem Leben etwas zu tun. Wir sehen sogar bei niedrigen Wesen, daß Arbeit getrennt ist von der Produktion. So sehen wir eine Möglichkeit, zu dem ungeheuer wichtigen Satze zu kommen, daß Arbeit als solche gar keine Bedeutung hat für das Leben, sondern nur diejenige, die weise geleitet ist. Durch von Menschen hineingelegte Weisheit ist dasjenige hervorzubringen und zu schaffen, was dem Menschen dient. Im Kleinsten nicht verstanden, sündigt das heutige soziale Denken gegen diesen Satz. Und es kommt nicht darauf an, daß irgend jemand schöne abstrakte Theorien ausdenkt, sondern der wirkliche Fortschritt hängt davon ab, daß jeder einzelne Mensch im sozialen Sinne denken lernt. Das heutige Denken ist vielfach unsozial. Unsozial ist es zum Beispiel, wenn jemand am Sonntagnachmittag draußen ist und sagt, angeregt durch Gelegenheit: Ich werde zwanzig Ansichtskarten schreiben. - Richtig ist es und sozial gedacht, zu wissen und zu empfinden, daß diese zwanzig Karten so und so viele Briefträger veranlassen, so und so viele Treppen zu steigen. Sozial gedacht ist es, zu wissen, daß jede Handlung, die man tut, im Leben eine Wirkung hat. Nun kommt aber jemand und sagt, er denke sozial insofern, als ihm klar sei, daß durch das Karten schreiben mehr Briefträger angestellt werden müssen und Brot bekommen. - Das ist ebenso, wie wenn man bei einer Arbeitslosigkeit aussinnt, was man bauen will, um Arbeit zu schaffen. Aber es kommt nicht darauf an, Arbeit zu schaffen, sondern darauf, daß die Arbeit der Menschen einzig und allein verwendet wird, wertvolles Gut zu schaffen.

Wenn man dies bis in die letzten Konsequenzen durchgeht, dann kommt es einem nicht mehr so absonderlich vor,

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wenn der uralte Satz der Geisteswissenschaft ausgesprochen wird, der heute so unverständlich wie möglich klingt: In einem sozialen Zusammenleben muß der Antrieb zur Arbeit niemals in der eigenen Persönlichkeit des Menschen liegen, sondern einzig und allein in der Hingabe für das Ganze. - Das wird auch öfter betont, aber niemals so verstanden, daß man sich klar ist, daß Elend und Not davon kommen, daß der einzelne das, was er erarbeitet, für sich entlohnt haben will. Wahr ist es aber, daß wirklicher sozialer Fortschritt nur möglich ist, wenn ich dasjenige, was ich erarbeite, im Dienste der Gesamtheit tue, und wenn die Gesamtheit mir selbst dasjenige gibt, was ich nötig habe, wenn, mit andern Worten, das, was ich arbeite, nicht für mich selber dient. Von der Anerkennung dieses Satzes, daß einer das Erträgnis seiner Arbeit nicht in Form einer persönlichen Entlohnung haben will, hängt allein der soziale Fortschritt ab. Zu ganz andern Zielen führt jemand eine Unternehmung, der da weiß, daß er nichts für sich haben soll von dem, was er erarbeitet, sondern daß er der sozialen Gemeinschaft Arbeit schuldet, und daß, umgekehrt, er nichts für sich beanspruchen soll, sondern seine Existenz einzig auf das beschränkt, was ihm die soziale Gemeinschaft schenkt. So absurd dies heute für viele ist, so wahr ist es. Unser Leben steht heute unter dem entgegengesetzten Zeichen: in dem Zeichen, daß der Mensch immer mehr beanspruchen will, wie man sagt, den vollen Ertrag seiner Arbeit. Solange das Denken sich in dieser Richtung bewegen wird, so lange wird man in immer üblere Lagen hineinkommen.

Dieses unsoziale Denken verleitet dazu, alle Begriffe zu verschieben. Denken Sie einmal, wie innerhalb des weitverbreiteten Sozialismus von Ausbeutern und Ausgebeuteten die Rede ist. Wer ist vor dem klaren Denken Ausbeuter und wer ist der Ausgebeutete? Sehen wir den Menschen an, der

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für einen Hungerlohn ein Kleidungsstück arbeitet. Wer ist sein Ausbeuter? Es könnte von jenem die Rede sein, der das Kleidungsstück kauft und dafür einen ganz geringen Preis bezahlt. Kauft etwa nur der Reiche dieses Kleidungsstück? Kauft nicht derselbe Arbeiter, der über Ausbeutung klagt, dieses selbe billige Kleidungsstück? Und verlangt er nicht heute, innerhalb der sozialen Ordnung, daß es so billig wie möglich sein soll? Sehen Sie, wie die Handarbeiterin, die mit blutigen Fingern die Woche arbeitet, am Sonntag das Kleid für einen billigen Preis deshalb tragen kann, weil die Arbeitskraft eines andern Menschen ausgebeutet wird! Nichts hat das vor dem klaren Denken mit Reichtum oder Armut zu tun, sondern einzig und allein mit dem, was in unserer Welt unsere Vorstellung von Mensch zum Menschen ist. Nun könnte leicht jemand sagen: Wenn du forderst, daß des Menschen Existenz unabhängig sein soll von seiner Leistung, dann ist das Ideal am schönsten erfüllt beim Beamten. Der heutige Beamte ist unabhängig. Das Maß seiner Existenz ist nicht abhängig von dem Produkte, das er hervorbringt, sondern von dem, was man für seine Existenz für notwendig hält. - Gewiß, nur hat ein solcher Einwand wirklich seinen sehr großen Fehler. Es kommt darauf an, daß jeder einzelne in voller Freiheit imstande ist, dieses Prinzip zu respektieren und in das Leben umzusetzen. Nicht kommt es darauf an, daß dieses Prinzip durch allgemeine Gewalt durchgeführt wird. Es muß sich dieses Prinzip, das persönlich Erworbene und zu Erwerbende unabhängig zu machen von dem, was man für die Gesamtheit arbeitet, bis ins einzelne Menschenleben durchsetzen. Und wie setzt es sich durch?

Es gibt nur eines, wie es sich durchsetzen kann, eines, was dem sogenannten Praktiker recht unpraktisch erscheinen wird. Es muß Gründe geben, warum der Mensch doch arbeitet,

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und zwar recht fleißig arbeitet und hingebungsvoll, wenn nicht mehr der Eigennutz der Antrieb zu seiner Arbeit ist. Derjenige schafft in Wahrheit nichts Wirkliches in bezug auf das soziale Leben, der sich irgendeine Leistung patentieren läßt und damit zeigt, daß er den Eigennutz für das Bedeutsame im Leben hält. Jener aber schafft wirklich für das Leben, der durch seine Kräfte zu richtigen Leistungen lediglich durch Liebe geführt wird, durch Liebe zur ganzen Menschheit, der er gern und willig seine Arbeit gibt. So muß der Impuls zur Arbeit in etwas ganz anderem liegen als in der Entlohnung. Und das ist die Lösung der sozialen Frage: Trennung der Entlohnung von der Arbeit. Denn das ist eine Weltanschauung, die auf den Geist geht, um im Menschen solche Impulse zu erwecken, daß er nicht mehr sagt: Wenn nur meine Existenz gesichert ist, dann kann ich auch faul sein. - Daß er das nicht sagt, das kann nur durch eine auf den Geist gehende Weltanschauung erzielt werden. Aller Materialismus wird auf die Dauer einzig und allein zu dem Entgegengesetzten führen.

Nun könnte jemand sagen: Das ist ein schönes Pröbchen auf die soziale Frage; das ist recht niedlich! Haben wir das nicht immer gepredigt, könnte der eine sagen, daß die Menschen einmal egoistisch sind, und daß man auf ihren Egoismus rechnen müsse? Und da kommt jetzt die spirituelle Weltanschauung und sagt, das könne anders werden. - Nun, gewiß ist das immer gepredigt worden, daß das nicht anders sein konnte und man hat sich darauf etwas zugute getan und gesagt: Der ist wahrer Praktiker, der auf den menschlichen Egoismus rechnet. - Gewiß, aber hier kehrt sich leider im Denken der Menschen der Spieß nicht um. Denn diejenigen, die alles auf Verhältnisse schieben, die alles auf Einrichtungen schieben, die müssen doch wenigstens zugeben, daß, weil eben die Verhältnisse so waren, wie sie sich bis

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jetzt gestaltet haben, auch dieser Trieb und Impuls in den Menschen hineingekommen ist. Da aber wird das Denken zu kurz. Denn sonst müßten sie sagen: Ja, es wird unter allen Umständen dadurch eine ganz andere Umgebung geschaffen, wenn sich die Vorstellung einbürgert, daß es unan ständig ist, alles auf persönlichen Eigennutz zu bauen. - Da wird der Materialismus inkonsequent selbst seinen eigenen Voraussetzungen gegenüber.

Wir müssen uns klarwerden, daß diejenigen Impulse, die durch die Geisteswissenschaft gegeben werden können, bisher niemals in der Menschheitsentwickelung zu geben versucht worden sind. Insofern ist sie eine neue Geistesbewegung, und sie wird die Kraft haben, bis ins Innerste der Seele zu wirken, weil sie bis ins Innerste der Welt geht. Nur eine Weltanschauung, die bis ins Innerste geht und dort die Wahrheit herholt, kann uns das wahre Antlitz der Welt zeigen. Es ist nimmer richtig, daß wir durch wahre Erkenntnis, wenn wir das wahre Antlitz der Welt sehen, schlecht werden können. Wahr ist es doch, daß das Schlechte im Menschen nur vom Irrtum, nur vom Irren kommen kann. Daher baut die Geisteswissenschaft aus der Erkenntnis der Menschennatnr heraus darauf, daß durch sie erreicht werden wird dasjenige, worüber sich gerade der edle Owen so getäuscht hat. Er sagt: Es ist notwendig, daß die Menschen zuerst aufgeklärt werden, daß die Sitten verbessert werden. - Die Geist-Erkenntnis aber sagt: Die Betonung dieses Grundsatzes tut es nicht allein, sondern die Mittel müssen herbei geschafft werden, wodurch die Seele veredelt werden kann. Denn wenn durch eine ins Geistige gehende Weltanschauung die Seelen veredelt und geschärft sind, dann werden die Zustände und äußeren Verhältnisse, die immerdar ein Spiegelbild sind dessen, was der Mensch denkt, nachfolgen. Nicht durch Verhältnisse werden die Menschen bestimmt,

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sondern, insofern die Verhältnisse soziale sind, werden diese Verhältnisse durch Menschen gemacht. Leidet der Mensch unter Verhältnissen, so leidet er in Wahrheit unter dem, was ihm seine Mitmenschen zufügen. Und alles Elend, das durch die industrielle Entwickelung gekommen ist - das muß der, der die Wahrheit sucht, zugeben -, das kam lediglich davon her, daß die Menschen dieselbe Kraft des Geistes, die sie angewendet haben auf den segensreichen äußeren Fortschritt, nicht für nötig befunden haben anzuwenden auf die Verbesserung des Loses derjenigen Menschen, die gebraucht werden zur Umgestaltung dieses Fortschrittes.

Was Sie auch studiert haben im äußeren Leben, studieren Sie ebenso emsig die Gesetze des menschlichen Zusammenlebens! Wenn aber Menschen zusammenleben, leben nicht bloß Körper, sondern auch Seelen, Geister zusammen. Daher kann nur die Geisteswissenschaft die Grundlage für irgendeine soziale Weltanschauung sein. Und so sehen wir, daß in der Tat dasjenige, was die Vertiefung des Geistes uns bietet, für jeden von uns das bringen kann, was uns befähigt, von unserem geringen Posten aus innerhalb unserer Sphäre mitzuwirken an dem großen sozialen Fortschritt. Denn dieser Fortschritt wird nicht durch eine abstrakte Maßregel erreicht werden, sondern ist eine Summe dessen, was die einzelne Seele macht. Und an die einzelne Seele geht einzig und allein eine Weltanschauung wie die der Geisteswissenschaft so heran, daß sie wirklich diese Seele über sich erhebt. Hat unser soziales Elend seinen Grund im persönlichen Eigennutz, in der Stellung in unseren sozialen Ordnungen, so kann nur eine Weltanschauung, die das Ich hinaushebt über den persönlichen Eigennutz, helfen. So sonderbar es erscheint, Nahrung kommt nicht allein von unserer Arbeit, Nahrung, statt Not, Leid und Elend, kommt

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von der geisteswissenschaftlichen Vertiefung. Geisteswissenschaft ist ein Mittel, dem Menschen Nahrung und Wohlstand zu geben, im wahren Sinne des Wortes.

Und so bleibt es, selbst für unsere geänderten Verhältnisse, wirklich berechtigt, was Goethe gesagt hat über das wahre Befreien von allen Hemmnissen und Unglücken des Lebens. Goethe sagt im Gedichte «Die Geheimnisse»:

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.

Und dieser Satz, den Goethe vom einzelnen Menschen gesagt hat, gilt auch für die Menschheit insofern, als dieser Mensch ein soziales Wesen ist: Und von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreien diejenigen Menschen die Welt, die sich überwinden.

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DIE FRAUENFRAGE Hamburg, 17. November 1906

Es könnte vielleicht sonderbar erscheinen, daß aus der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung, also aus einer nach den höchsten Rätseln des Menschendaseins ausschauenden Welt- und Lebensanschauung, eine so fest an die Tagesfragen heranstreifende Sache, wie unser heutiges Thema, behandelt wird. Man hat ja in vielen Kreisen, die sich mit Geisteswissenschaft beschäftigen, oder in solchen, die etwas von dem Geiste dieser Weltanschauung gehört haben, die Ansicht, daß die Geisteswissenschaft etwas sein soll, das sich um die Fragen des Tages, um die Interessen des unmittelbaren Lebens ganz und gar nicht kümmert. Man glaubt - und zwar der eine, indem er das der theosophischen Bewegung zum Vorwurf macht, der andere, indem er es ihr zum Vorteil anrechnet -, daß die Geisteswissenschaft sich nur mit den großen Ewigkeitsfragen beschäftigen solle, daß sie über den alltäglichen Ereignissen schweben solle. Man hält sie im guten wie im schlechten Sinne für etwas Unpraktisches. Aber wenn die Geisteswissenschaft in unserer Zeit eine Aufgabe und Mission erfüllen soll, dann muß sie eingreifen in dasjenige, was das Herz bewegt, dann muß sie Stellung nehmen können zu denjenigen Fragen, die hineinspielen in unser alltägliches Denken und in unser alltägliches Streben und Hoffen. Sie muß etwas zu sagen haben zu dem, was die Zeit erfüllt. Denn wie sollte es nicht sein, daß Fragen, die so nahe an die menschliche Seele heranrücken wie die Frauenfrage, die uns heute beschäftigen soll, wie sollte es nicht sein, daß sie gerade durch eine nach den großen Problemen des

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Daseins ausschauende Weltansicht eine Beurteilung erfahre? Das ja gerade ist es, was man mit Recht vielfach der Geisteswissenschaft zum Vorwurf macht, daß sie nicht den Weg gefunden hat zu der wirklichen Lebenspraxis. Nichts wäre falscher, als wenn die Geisteswissenschaft hineingeleitet werden würde immer mehr und mehr in eine asketische Richtung, in eine lebensfeindliche Richtung. Vielmehr wird sie sich dadurch bewähren, daß sie eine wirkliche Grundlage für die Lebenspraxis bildet. Sie darf nicht im Wolkenkuckucksheim schweben, sich nicht in bloße Abstraktionen verlieren, sie muß den Menschen der Gegenwart etwas zu sagen haben.

Ebenso wie wir hier gesprochen haben über die soziale Frage, ebenso wollen wir heute vom großen Kulturstandpunkte, vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus über die Frauenfrage sprechen. Natürlich darf sich niemand vorstellen, daß die Geisteswissenschaft über die Frauenfrage in derselben Weise sprechen müßte wie die Tagespolitik oder die Tagesschriftstellerei. Aber man darf auch nicht glauben, daß just nur dasjenige praktisch ist, was eine Art Kirchturmpolitik bedeutet. Derjenige hat sich ja von jeher als der eigentliche Praktiker erwiesen, der über die unmittelbare Gegenwart hinauszuschauen vermag. Wer war der Praktiker damals, als im vorigen Jahrhundert die Postmarke gefunden und ins Leben eingeführt werden sollte, die seit jener Zeit unser ganzes öffentliches Verkehrsleben> unser ganzes gesellschaftliches Leben umgestaltet hat? Es ist etwas über fünfzig Jahre her. Damals kam der Gedanke an diese Einrichtung, an deren Praxis heute niemand zweifelt, von einem Unpraktiker. Der Engländer Hill war kein Postpraktiker. Derjenige, der ein Praktiker war, äußerte die geistreiche Redensart: Daran könne man nicht glauben, daß diese Einrichtung einen so großen Umschwung im Verkehrsleben

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hervorrufen könne; wenn es aber schon der Fall wäre, dann würden die Postgebäude nicht mehr ausreichen zur Beförderung der Briefe.

Ein anderes Beispiel. Als die erste Eisenbahn von Berlin nach Potsdam gebaut werden sollte, sagte der Generalpostmeister Nagler: Wenn die Leute durchaus ihr Geld zum Fenster hinauswerfen wollen, dann sollen sie es doch lieber direkt tun. Ich lasse täglich zwei Postkutschen abfahren und es sitzt niemand darinnen. - Und die andere Sache kennen Sie ja, die im Bayerischen Ärztekollegium passiert ist: Da fragte man die gelehrten Herren rein von der hygienischen Praxis her, ob es denn dem Nervensystem zuträglich sei, wenn man Eisenbahnen baue. Die gelehrten Herren sagten, es wäre im höchsten Grade unpraktisch, denn das würde schwere Schädigungen des Nervensystems verursachen.

Dies zur Illustration des Verhältnisses der Praktiker, wenn es sich um Fragen des Tages handelt, zu denjenigen, die mit etwas weitsichtigerem Blicke in die Zukunft hinaus- schauen. Die letzteren, die verschrieenen Idealisten, die nicht haften bleiben an dem, was seit Urväterzeiten üblich ist, sie sind die eigentlichen Praktiker. Und von diesem Gesichtspunkte aus erscheint heute auch die geisteswissenschaftliche Weltanschauung als ein Motor für die Praxis vieler Fragen und für die unsrige. Daher darf derjenige, der die Fragen von einem höheren Gesichtspunkte aus behandelt, ruhig einen solchen Vorwurf hinnehmen und sich an die andern Beispiele erinnern, wo Leute, die glauben, die Praxis gepachtet zu haben, in einer solchen Weise geurteilt haben.

Daß die Frauenfrage eine der größten Kulturfragen der Gegenwart ist, leugnen wenige, denn das ist heute Tatsache geworden. Es gibt Gegner gewisser Anschauungen in der Frauenfrage, aber daß sie da ist, wird niemand leugnen. Blicken wir jedoch zurück auf Zeiten, die gar nicht lange

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hinter uns liegen, so haben selbst tonangebende Wissenschafts und andere Größen in der Frauen frage eine Phantasterei gesehen, etwas, was man mit allen möglichen Mitteln unterdrücken müsse. Ein Beispiel: Es sei erinnert an die Ausführungen eines wahrhaft bedeutenden Mannes, des Anatomen Albert, der vor fünfundzwanzig Jahren mit aller Energie sich gegen die Zulassung der Frauen zu den gelehrten Berufen wendete, der von dem Standpunkte seiner anatomisch-physiologischen Wissenschaft den Beweis führen wollte, daß es unmöglich sei, daß die Frauen einröcken könnten in die gelehrten Berufe, daß sie jemals den ärztlichen Beruf auszufüllen vermöchten. Bei der großen Autorität der Naturwissenschaft kann es gar nicht wundernehmen, daß man denen ein Urteil zutraut, die in bezug auf naturwissenschaftliche Anschauungen hinsichtlich des Menschen Bescheid wußten. Noch vor kurzem ist hier in Deutschland die geistreiche Broschüre erschienen: «Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes.» Diese Broschüre rührt von einem Manne her, der ja allerdings keineswegs ein ganz unbedeutender Physiologe ist, Möbius, der manches Gute gesagt hat, der allerdings auf der andern Seite nicht so sehr sich selbst als die physiologische Wissenschaft blamiert hat, indem er nach und nach all die verschiedenen Größen der weltgeschichtlichen Entwickelung der letzten Zeit Goethe, Schopenhauer, Nietzsche, als pathologische Erscheinungen hingestellt hat und das so grotesk und radikal, daß man bei jedem Genie des Geisteslebens fragen miißte: Wo sitzt eigentlich der Wahnsinn? - Goethe, Schopenhauer, Nietzsche, sie alle werden vom Standpunkte der Psychiatrie, der psychologischen Pathologie aus behandelt.

Wenn man tiefer eingeht auf diese Dinge, dann fallen sie alle nur unter eine Kategorie, die sich charakterisiert durch das Beispiel eines berühmten Naturforschers, der vor längerer

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Zeit aus dem geringen Gewichte des Frauenhirns die mindere Begabung der Frau ableiten wollte. Es ist keine Fabel: Der Mann hat behauptet, daß die Größe des Geistes von der Größe des Gehirns abhängt, und daß die Frauen durchschnittlich ein kleineres Gehirn haben als die Männer. Und wahrhaftig, es ist passiert, es konnte passieren, daß man die Methode dieses Gelehrten auf ihn selbst angewendet hat. Man hat nach seinem Tode sein Gehirn gewogen und da hat sich herausgestellt, daß er gerade ein abnorm kleines Gehirn, ein viel kleineres Gehirn hatte als diejenigen Frauen, die man eben wegen ihres geringen Gehirngewichtes für minderwertigen Geistes gehalten hat. Es würde etwas boshaft sein, wenn man versuchen würde, einmal vom psychopathologischen Standpunkte aus eine solche Broschüre zu untersuchen, wie diese über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, und wenn man versuchen würde, aus gewissen Gedankensprüngen heraus dem betreffenden Verfasser ebenso einen Strick zu drehen wie dem Professor Bischoff.

So also sehen Sie, daß die Frauenfrage nicht gerade dafür zeugt, daß diejenigen sehr urteilskräftig waren, die sich gegen sie gewendet haben. Die Frauenfrage ist viel umfassender als die Frage nach der Zulassung der Frauen zu den gelehrten Berufen, als die Bildungsfrage der Frau; die Frauenfrage umfaßt eine ökonomische, soziale und psychologische Seite und noch manche andere Dinge. Aber gerade die Bildungsfrage der Frau hat ja in den Tatsachen wunderbare Früchte gezeigt. Fast alle Urteile, die von der Theorie gefällt worden sind, sind durch die Praxis auf diesem Gebiete widerlegt worden. Nach und nach haben sich gegen die Meinungen der Männerwelt die Frauen den Zugang zu den meisten männlichen Berufen erzwungen, zu denen der Juristen, Mediziner, Phiiologen und so weiter. Die Frauen

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haben diese Berufe ergriffen unter wesentlich ungünstigeren Verhältnissen als die Männer. Man muß nur berücksichtigen, unter welch ungünstigen Verhältnissen die Frauen vor kurzem an die Universität herangekommen sind. Nach dem normalen Vorbildungsgange ist dies keine große Kunst; die Frauen kamen aber mit höchst ungenügender Vorbildung. Nicht nur durch riesigen Fleiß, sondern auch durch umfassende Fähigkeiten haben sie zum großen Teil alle Schwierigkeiten überwunden. Im Ernst, im Fleiß, auch in den geistigen Fähigkeiten haben sie den Männern nichts nachgegeben, so daß die Praxis diese Sache vollständig anders gelöst hat, als mancher sich in der Theorie vor zwanzig bis dreißig Jahren eingebildet hat. Verschiedene Professoren, geführt von ihren Vorurteilen, haben den Frauen den Zutritt zur Universität verweigert. Eine ganze Menge von absolvierten Frauen steht heute im Leben und keineswegs urteilsloser und weniger einsichtsvoll als die Männer.

Aber das beleuchtet nur die äußere Situation, und es zeigt uns gerade, daß wir tiefer hineinschauen müssen in das Wesen des Menschen, in das Wesen der Frau, wenn wir die ganze Sache verstehen wollen. Denn es gibt heute niemanden, der nicht irgendwie von der Bedeutung dieser Frage berührt würde. Wenn nun auch die Frau sich den Zutritt zu den gelehrten Berufen erzwungen hat, auch zu zahlreichen andern Berufen heute Zugang gewonnen hat, wenn auch in der Praxis ein großer Teil der Frauenfrage gelöst ist: wollen wir bewußt und klar, einsichtsvoll vorwärtsschreiten, wollen wir diese Frage nach allen Richtungen erörtern, dann müssen wir tiefer in das Wesen des Menschen hinein schauen.

Was ist nicht alles vom Unterschied zwischen Mann und Frau gesprochen worden! Sie können es heute schon überall in kurzen Übersichten lesen, was für verschiedene Urteile

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über den Unterschied zwischen Mann und Frau gefällt worden sind und wie man aus diesen Urteilen sich eine Ansicht bilden wollte über die Frauenfrage. Viel ist geschrieben worden über die psychologische Seite der Frauenfrage. Über diese Seite gibt es kein besseres Buch, soweit solche von Nichttheosophen verfaßt sind, als dasjenige einer geistvollen Frau, die überhaupt in der gegenwärtigen Literatur sich betätigt: «Zur Kritik der Weiblichkeit» von Rosa Mayreder. Sie können die Urteile anderswo verzeichnet finden, nurö ein paar lassen Sie einmal Revue passieren. Da haben wir einen Mann Lombroso. Er charakterisiert die Frau dadurch, daß er sagt: Bei ihr steht hauptsächlich das Ergebenheitsgefühl, das Abhängigkeitsgefühl im Mittelpunkt ihres seelischen Charakters. George Egerton sagt, daß jede Frau, die unbefangen einen Mann betrachtet, ihn als großes Kind ansieht und daß gerade daraus die der Frau ganz eigene Herrschsucht komme, so daß die Herrschsucht in den Mittelpunkt der Frauenseele immer mehr und mehr einrücke. Ein großer Naturforscher, Virchow, spricht davon, wenn man die Frau in äußerlich-physiologischer Hinsicht studiere, so werde man auf dem Grunde ihres Wesens die Sanftmut finden, die Milde, die Gelassenheit. Havelock Ellis, ein ebenso guter Kenner der Sache sagt, daß der Grundzug der Frauenseele Zornmütigkeit, Initiative, Draufgängertum sei. Möbius findet den Grundzug des Frauengemüts im Konservativismus. Konservativ sein, das sei das eigentliche Lebenselement der Frauenseele. Stellen wir das Urteil eines alten, guten Seelenkenners, Hippel, dagegen. Der sagt, der eigentliche Revolutionär in der Menschheit sei die Frau. Gehen Sie zu der großen Menge, da werden Sie über das Verhältnis zwischen Verstand, Leidenschaft und Gemüt bei Mann und Frau ein ganz eigentümliches, aber ziemlich landläufiges Urteil finden. Sehen Sie sich dagegen Nietzsches

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Urteil an. Er sagt, der Frau sei vorzugsweise Verstand, dem Mann Gemüt und Leidenschaft eigen. Vergleichen Sie dies mit dem landläufigen Urteil: es ist das gerade Gegenteil.

So könnten wir viel reden und auf der einen Seite diejenigen Urteile verzeichnen, die der Frau alle passiven, alle schwachen Eigenschaften zuschreiben, auf der andern Seite jene, die das gerade Gegenteil sagen. Es hapert doch etwas mit der Sicherheit, wenn so verschiedene Urteile möglich sind.

Auch die Naturwissenschaft hat sich viel mit der Frage beschäftigt und sie genießt hohe Autorität. Aber auch die Aussagen der Naturforscher widersprechen sich schnurstracks über den eigentlichen Grundcharakter der Frau. Und wenn wir von Naturforschern und Psychologen zu der Kulturgeschichte übergehen und uns an dasjenige halten, was immer gesagt wird: der Mann ist der eigentlich Schaffende, die Frau ist mehr die Gefährtin, die Nachschaffende -, dann würde ein solches Urteil auch davon beeinträchtigt, daß man eine viel zu kurze Spanne Zeit in Betracht zieht. Man braucht sich nur ein bißchen bei jenen Völkern umzusehen, die alte Kulturreste darstellen, oder bei primitiven Völkern, und man braucht nur die Entwickelungsgeschichte der Menschheit zu verfolgen, so wird man sehen, daß es Zeiten gegeben hat und daß es heute noch solche Völker gibt, wo die Frau im eminenten Sinne beteiligt ist an den männlichen Arbeiten.

Kurz, die Urteile schwanken nach jeder Richtung hin. Und noch zuffälliger muß uns das erscheinen, daß die Frau eines Volkes sich von dem Manne desselben Volkes viel weniger unterscheidet, als die Frau dieses Volkes von der Frau eines andern Volkes. Daraus können wir den Schluß ziehen, daß wir überhaupt nicht so sprechen sollten: Mann und Frau, Mann und Weib, sondern daß es neben der Geschlechtscharakteristik

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möglicherweise etwas geben kann, was viel wichtiger ist in der menschlichen Gesellschaft als die Geschlechtscharaktere und was von diesem Geschlechtscharakter unabhängig ist. Gerade wenn man unbefangen das menschliche Wesen ansieht, dann wird sich gewöhnlich auseinanderlegen lassen, was notwendigerweise mit den Beziehungen der Geschlechter zusammenhängt und was über diese Beziehungen der Geschlechter hinausgehend in ganz andere Regionen hineinweist. Allerdings, eine materialistische Anschauung der Welt und des Menschen, die zunächst ja nur das Handgreifliche und Augenfällige sieht, sieht natürlich bei Mann und Frau nur die großen physiologischen Unterschiede, und wer hängen bleibt an dieser materialistischen Anschauung, der wird einfach übersehen, was viel größer und einschneidender ist als die Geschlechtsunterschiede, der wird übersehen die Individualität, die über das Geschlecht hinausgeht, gegenüber dem, was vom Geschlecht abhängig ist. Da aber hineinzuleuchten, da den Menschen in der richtigen Weise zu sehen, das muß Aufgabe einer auf den Geist gerichteten Weltanschauung sein.

Bevor wir die Frauenfrage von diesem Gesichtspunkte aus betrachten, wollen wir uns nur einmal etwas vorlegen von dem, was die Frauenfrage heute darstellt. Man spricht von einer Frauenfrage im allgemeinen, aber auch dies ist, wie der Begriff der Frau, eine unmögliche Generalisation. Man sollte eigentlich gar nicht von der Frauenfrage im allgemeinen sprechen, denn diese Frage modifiziert sich nach den verschiedenen Gesellschaftsklassen der Menschheit. Besteht etwa in den unteren Ständen, in den Ständen der Handarbeiter, dieselbe Frauenfrage wie in den gebildeten? Die untersten Stände, die eigentlichen Handarbeiter, streben mit allen Mitteln dahin, die Frau herauszukriegen aus der Fabrik und aus dem Gewerbe, um sie der Familie zugeben.

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Die höheren Stände erstreben genau das Gegenteil. Sie erstreben für die Frau in der Familie die Möglichkeit, im öffentlichen Leben zu wirken. Das ist etwas von der sozialen Seite der Frauenfrage.

Daneben steht natürlich die allgemeine soziale Frauenfrage, die für die Frauen in politischer und kultureller Beziehung dieselben Rechte fordert, wie sie die Männer haben. Da hat man heute die Anschauung, daß man eigentlich von Dingen spreche, die im Grunde genommen aus der Natur der Menschheit selbst folgen müßten. Man bedenkt aber nicht, daß sich das Leben der Menschheit viel schneller ändert, als man eigentlich so oberflächlich hinsieht. Ein Mann, der sich von seinem politischen Standpunkt aus auch mit der Frauenfrage befaßt hat, Naumann, hat sich die Mühe gemacht, einmal die Verhandlungen der Paulskirche von 1848 auf diese Sache hin durchzustudieren, in denen viel von Menschenrechten die Rede war. Man debattierte hin und her über die selbstverständlichen Rechte der Menschen. Davon aber ist nirgends die Rede gewesen, daß diese Rechte für Mann und Frau in gleicher Weise gelten sollten. Das fiel niemandem ein. In diese Richtung ist die Frauenfrage erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gekommen. Und da scheint es wohl berechtigt, die andere Frage aufzuwerfen: Woher kommt es denn, daß diese Seite der Frauenfrage in unserer Zeit erst aufgerollt worden ist? - Machen wir uns das ganz klar.

Vielfach stellt man heute von männlicher und weiblicher Seite die Frauenfrage so dar, als ob erst jetzt die Frau einen gewissen bedeutsamen Einfluß auf alle Lebensgebiete erringen müsse. In mancher Beziehung ist den Erörterungen eine große Kurzsichtigkeit eigen, denn man muß sich fragen: Haben denn zu andern Zeiten, in allen früheren Zeiten die Frauen gar keinen Einfinß gehabt? Waren sie denn immer

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nur geknechtete Wesenheiten? Es wäre Unkenntnis, wenn man das behaupten wollte. Betrachten wir einmal das Renaissancezeitalter und nehmen eines der gebräuchlichsten Bücher, Burckhardts Buch über die Renaissance, zur Hand. Da sehen wir, welchen tiefgehenden Einfluß die Frau zum Beispiel auf das ganze Geistesleben Italiens gewonnen hatte, wie die Frauen im Vordergrunde dieses Geisteslebens standen, wie sie den Männern ebenbürtig waren und große Rollen gespielt haben. Und endlich, würde man von der Einflußlosigkeit der Frau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer solchen Persönlichkeit gegenüber gesprochen haben, wie Rahel Varnhagen war, so würde sie höchst erstaunt gewesen sein, daß überhaupt ein solches Thema aufgeworfen wird. Sie würde gar nicht verstanden haben, wie man dazu kommt, in solcher Weise zu denken. Aber es ist so mancher, der heute sein allgemeines Stimmrecht ausübt, oder sogar im Parlamente debattiert und lange Reden hält, der wahrhaftig eine Null ist, wenn man den gesamten Kulturprozeß bedenkt, der durch die Frau, die eben genannt worden ist, hervorgerufen wurde. Wer das Geistesleben der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts studiert und sieht, was diese Frau für einen Einfluß auf die Männer des 19. Jahrhunderts gehabt hat, der wird nicht mehr versucht sein zu sagen, daß die Frau ein einflußloses Wesen in der damaligen Zeit war. Die Sache beruht einfach darauf, daß sich die Ansichten geändert haben. Man glaubte damals nicht, daß man ein einfaches Wahlrecht brauche, daß man in den Parlamenten debattieren müsse, daß man auf der Universität studieren müsse, um auf den Kulturprozeß großen Einfluß zu haben. Man hatte nach jeder Richtung hin andere Anschauungen. Das ist nicht in einer konservativen Absicht gesagt, sondern als Beleg dafür, daß die ganze Frage ein Produkt unserer gegenwärtigen Kultur ist und erst heute so gestellt

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werden kann, wie sie gestellt wird, und erst heute gestellt werden kann auf allen Gebieten des Lebens, nicht nur etwa auf dem Gebiete der Bildung, der höheren Geistesbildung.

Sehen Sie sich einmal in früheren Zeiten, als noch andere wirtschaftliche Verhältnisse vorhanden waren, das Verhältnis von Mann und Frau an. Sehen Sie sich die Bäuerin, die Handwerkerin in früheren Jahrhunderten an. Man kann nicht davon sprechen, daß die Bäuerin geringere Rechte hatte als der Bauer, oder einen geringeren Wirkungskreis. Sie hatte ein gewisses Departement zu versorgen und er ein anderes. Und ebenso war es im Handwerk. Dasjenige, was heute in den arbeitenden Ständen eigentlich die Frauenfrage geworden ist, das ist sie dadurch geworden, daß in den letzten Jahrhunderten, und namentlich im letzten Jahrhundert unsere Kultur im eminenten Sinne eine Männerkultur geworden ist. Das Maschinenzeitalter ist ein Produkt der Männerkultur, und einfach die Art und Weise dieser Kultur macht die Betätigungsweise für die Frau in einem höheren Maße zur Unmöglichkeit als die Betätigungsweise des früheren Wirtschaftslebens. In die Fabrik paßt die Frau nicht hinein, und es ergeben sich ganz andere Kalamitäten, als wenn sie im Wirtschaftshofe, im Hause oder im alten Gewerbe als Leiterin, Übernehmerin oder als mittätige Person beschäftigt ist. Auch in bezug auf die gelehrten Berufe hat sich alles in unserem ganzen Leben, in unserer Auffassung geändert. Die ganze Wertschätzung der gelehrten Berufe ist eine andere geworden. Es ist noch nicht lange her, da war dasjenige, was man heute als gelehrten Beruf auffaßt, alles mehr oder weniger nur höheres Handwerk. Es war eine Art und Weise, beruflich tätig zu sein in der Juristerei, Medizin, und niemandem wäre es vor verhältnismäßig kurzer Zeit eingefallen, aus dem, was Medizin, Juristerei, was die Naturwissenschaft geboten hat, eine Art religiöse Weltanschauung

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abzuleiten. Heute ist es die Spezialwissenschaft desjenigen, was im Laboratorium erforscht wird, was nach und nach zur Domäne der Männer geworden ist, woraus eine höhere Weltanschauung gewonnen wird, während früher gleichsam wie ein Geist über allen diesen Dingen, die in Fakultäten getrieben worden sind, die Religion und die Philosophie schwebten und höhere Bildung erst innerhalb derselben zu suchen waren. Das eigentlich Menschliche, das, was zum Herzen, was zur Seele sprach, das, was dem Menschen davon sprach, welches seine Ewigkeitssehnsuchten und Ewigkeitshoffnungen waren, das, was ihm Kraft und Sicherheit im Leben gab, das war für Mann und Frau gemeinschaftlich. Das stammte aus einer andern Quelle, als aus dem Laboratorium oder aus der physiologischen Untersuchung. Man konnte ohne irgendwelche Universitätsbildung zu den höchsten Höhen philosophischer und religiöser Feinbildung kommen. Man konnte das jederzeit, auch als Frau. Erst dadurch, daß das materialistische Zeitalter die sogenannten positiven Wissenschaften mit ihren sogenannten Tatsachen zur Grundlage der höheren Probleme gemacht hat, mußte neben dem allgemeinen, aus dem praktischen Leben hervorgehenden Zug, ein Zug des Herzens, eine Sehnsucht der Seele die Frau antreiben, um selbst hineinzuschauen in die Geheimnisse, die uns das Mikroskop, das Teleskop, die Untersuchungen der Physiologie und Biologie bieten. Solange man nicht gedacht hat, daß durch das Mikroskop irgend etwas entschieden werden kann über Leben und Unsterblichkeit des Menschen, solange man gewußt hat, daß aus ganz andern Quellen diese Wahrheiten geschöpft werden müssen, so lange konnte auch nicht ein solcher Drang nach den wissenschaftlichen Studien sein, wie er heute ist. Das müssen wir uns vorhalten, daß die Richtung unserer Zeit dieses Drängen nach der gelehrten Bildung erzeugt hat,

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und daß überhaupt die Frauenfrage durch die ganze Art und Weise der Kultur in unserer Zeit aufgeworfen ist.

Nun tritt aber alldem, was uns diese neue Zeit gebracht hat, alldem, was auf einer bloß materiellen Basis beruht, in der geisteswissenschaftlichen Anschauung eine noch wenig beachtete Bewegung entgegen. Die geisteswissenschaftliche Weltanschauung ist das, was die Lebensfrage wird lösen müssen und wird mitarbeiten müssen an allen Kulturströmungen und -bestrebungen der Zukunft. Man kann diese Weltanschauung nicht mehr verkennen, als wenn man glaubt, daß sie nichts anderes ist als das Hirngespinst einiger Phantasten. Sie ist das Ergebnis der geistigen Forschung derjenigen, welche die Bedürfnisse und die Sehnsucht unserer Zeit am besten kennen und es am ernstesten damit nehmen, und nur diejenigen, die nichts wissen wollen von den Bedürfnissen unserer Zeit, können sich heute noch fernhalten von dieser eminent praktischen und eminent in alle Fragen ein greifenden Weltströmung. Geisteswissenschaft ist nichts, was in einer unfruchtbaren Kritik sich ergeht, nichts Konservatives. Sie betrachtet es als etwas Berechtigtes und rechnet damit, daß im letzten Jahrhundert der Materialismus heraufgerückt ist. Es war eine Notwendigkeit, daß die alten religiösen Gefühle und Traditionen ihre Geltung verloren haben gegenüber den Ansprüchen der Naturwissenschaften. Sie sieht ein, wie es gekommen ist, daß der Physiologe und der Biologe, wenn er es auch nicht zugesteht, zum Unsterblichkeitsleugner geworden ist. Das mußte so kommen. Aber die Menschheit wird niemals leben können ohne einen Aufblick, ohne ein Wissen von den wirklich übersinnlichen geistigen Dingen. Eine kurze Zeit nur wird so fortgewirtschaftet werden können, wie es sich heute mit der spezialisierten Wissenschaft und mit dem, was vielfach aus dieser Richtung als religiöses Ergebnis oder Unergebnis

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stammt, ergibt. Aber es wird die Zeit kommen, wo man fühlt, daß die Quellen des Geistes im Leben erschlossen werden müssen. Und die Geisteswissenschaft ist der Vorposten für diesen Kampf um Erschließung der wirklichen Geistesquellen der Menschheit. Auf einer viel breiteren Basis wird die Geisteswissenschaft der Menschheit wieder sagen können, wie es sich verhält mit dem Wesen der Seele, mit dem, was hinausragt über das Vergängliche und Vorübergehende; auf einer breiteren Basis, als jemals in der populären Welt der Fall war, wird die Geisteswissenschaft verkünden, was Sicherheit, Kraft, Mut und Ausdauer im Leben gibt, was hineinleuchten kann in diejenigen Fragen> die den Alltag beschäftigen und die nicht allein von der materiellen Seite her zu lösen sind.

Es ist eine eigentümliche Fügung - manche werden es einsehen -, daß am Ausgangspunkte der theosophischen Bewegung eine Frau stand, Helena Petrowna Blavatsky, daß man gerade hier das unerhörte Beispiel erlebt hat, daß eine Frau mit dem umfassendsten Sinn, mit eindringlichster Gewalt und mit Energie des Geistes Schriften verfaßt hat, gegen die wahröhaftig alles, was die Geisteskultur sonst hervorgebracht hat, eine Kleinigkeit ist. Glauben Sie meinetwegen gar nichts von dem, was an sogenannten okkulten Lehren, was an sogenannten Einsichten in die Geisteswelt etwa in der «Entschleierten Isis» oder in der sogenannten «Geheimlehre» von Blavatsky steht, glauben Sie gar nichts davon, aber nehmen Sie das Buch einmal zur Hand und fragen Sie sich, wieviel Geister der Gegenwart von so vielen Dingen etwas Eindringlicheres gewußt haben wie Blavatsky.

Die zwei gewaltigen Bände der «Geheimlehre» geben über fast alle Gebiete des geistigen Lebens, die Urkultur, die Urreligion, über alle möglichen Zweige der Naturwissenschaft, über das gesellschaftliche Leben, über Astronomie, Physio-

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logie Aufschluß. Meinetwegen lassen Sie das, was darinnen gesagt ist, falsch sein, aber ich frage Sie, wer imstande ist, über alle diese Gebiete heute in sachkundiger Weise selbst Falsches zu sagen und damit zu zeigen, daß er sich in eindringlicher Weise mit alledem bekanntgemacht hat? Sie brauchen nicht allein die Richtigkeit, sondern auch das Umfassende des Geistes, das Sie nicht leugnen können, in Betracht zu ziehen, dann haben Sie das Beispiel einer Frau gegeben, welche nicht nur in irgendeinem Zweige menschlicher Geistesrichtung, sondern im ganzen Umkreise menschlichen Geisteslebens gezeigt hat, was Frauengeist in bezug auf höhere Weltanschauung leisten kann. Wenn man unbefangen selbst Max Müllers religionsgeschichtliche Abhandlungen nimmt und ihren Inhalt mit dem Umfassenden der «Geheimlehre» vergleicht, dann wird man sehen, wie weit die letztere die ersteren überragt. So ist es also eine eigentümliche Fügung, daß eine Frau am Ausgangspunkt dieser theosophischen Bewegung steht. Es ist vielleicht erklärlich gerade aus denjenigen Dingen heraus, die uns auch die Frauenfrage wie eine Geburt aus unserem gegenwärtigen Geistesleben gezeigt haben.

Wenn wir einmal tiefer in den geistigen Entwickelungsgang der Menschen hineinschauen, dann wird uns das, was uns sonst in Erstaunen versetzen kann, vielleicht als geistesgeschichtliche Notwendigkeit erscheinen. Um das aber in fruchtbringender Weise tun zu können, müssen wir in kurzer Weise schon einmal auf das Wesen des Menschen eingehen. Wir wollen die menschliche Natur mit ein paar skizzenhaften Strichen zeichnen.

Was der Materialismus, was die alltägliche Weltanschauung beim Menschen kennt, das betrachtet die geisteswissenschaftliche Forschung, die Theosophie, bloß als einen Teil der menschlichen Wesenheit. Ich kann Ihnen heute nur

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einige Skizzen geben, aber nicht Phantastereien, Träumereien, sondern Dinge, die so feststehen wie mathematische Urteile für die Mathematiker. Also dasjenige, was der Mensch in der alltäglichen Anschauung, in der gewöhnlichen Wissenschaft vom Menschen kennt, das ist ein Teil der menschlichen Wesenheit, das ist der physische Leib. Dieser physische Leib des Menschen hat dieselben physikalischen und chemischen Kräfte und Gesetze und Stoffe, die sich draußen in der sogenannten leblosen Natur finden. Das, was draußen an Kräften den toten Stein bildet und im Stein das «Leben» ist, dieselben Kräfte sind auch im physischen Leib des` Menschen. Darüber hinaus sieht aber die geisteswissenschaftliche Weltanschauung noch andere Glieder der Menschen natur, zunächst ein zweites Glied, das der Mensch gemeinsam mit allen Pflanzen hat. Die heutige Wissenschaft spricht aus ihren Spekulationen schon etwas von dem, worauf da die Geisteswissenschaft hinzielt, von einem besonderen Lebensprinzip, weil ja die Gesetze des Materialismus, die noch vor fünfzehn Jahren für viele galten, bei den Einsichtigen überwunden sind. Aber die heutige Naturforschung wird nur aus einer Art von Spekulation dieses zweite Glied der menschlichen Wesenheit erschließen. Die theosophische Geistesforschung beruft sich aber auf das Zeugnis derjenigen, die ein höheres Anschauungsvermögen haben, die sich so verhalten zu dem gewöhnlichen Durchschnittsmenschen, wie ein Sehen der zu einem Blinden sich verhält. Sie beruft sich auf das Zeugnis von solchen Personen, die dieses zweite Glied der menschlichen Wesenheit als etwas Reales, Wirkliches vorhanden wissen. Derjenige, der nichts weiß, hat kein Recht zu urteilen, ebensowenig wie der Blinde ein Recht hat, über Farben zu urteilen.

Alle Rederei von der Grenze der menschlichen Erkenntnis ist Unsinn. Man sollte reden und fragen: Kann sich der

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Mensch nicht zu einer höheren Erkenntnisstufe erheben? Ist das nicht vielleicht wirklich, was man Augen des Geistes und Ohren des Geistes nennt? Es hat immer Menschen gegeben, die gewisse schlummernde Fähigkeiten ausbildeten und die dadurch mehr sehen können als andere. Ihr Zeugnis muß geradeso gelten wie das Zeugnis derjenigen, die durch das Mikroskop schauen. Wie viele haben das gesehen, was die natürliche Schöpfungsgeschichte lehrt? Ich möchte Sie fragen, wie viele Menschen haben das gesehen, wovon sie reden? Wie viele zum Beispiel haben tatsächlich Beweise von der Entwickelung des Menschenkeimes? Wenn sie sich prüfen würden, dann würden sie sehen, was das für ein Glaube ist, der sie beherrscht. Und wenn es ein berechtigter Glaube ist, so ist ebenso berechtigt derjenige Glaube, der sich auf das Zeugnis der Eingeweihten, der Initiierten stützt, die aus ihren geistigen Erlebnissen heraus sprechen.

Im Sinne dieser Geisteswissenscbaft sprechen wir deshalb von einem zweiten Glied der menschlichen Wesenheit. Es ist dasselbe, was wir in der christlichen Religion bei Paulus als geistigen Leib bezeichnet finden. Wir sprechen vom Äther- oder Lebensleib. Niemals würde sich eine gewisse Summe von chemischen und physikalischen Kräften zum Leben kristallisieren, wenn sie nicht vorzüglich geformt würde von dem, was jeden lebendigen Leib als Lebens- oder Ätherleib durchzieht. So bezeichnen wir dieses zweite Glied als Lebensleib oder Ätherleib. Es ist das, was der Mensch mit der gesamten Pflanzen- und Tierwelt gemeinschaftiich hat. Aber eine Pflanze hat nicht dasjenige, was wir Triebe, Begierden und Leidenschaften nennen. Eine Pflanze empfindet keine Lust und kein Leid, denn von Empfindung kann man nicht sprechen, wenn man sieht, daß ein Wesen auf etwas bloß Äußeres reagiert. Man kann von Empfindung nur sprechen, wenn der äußere Reiz sich im Inneren

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spiegelt, wenn er da ist als inneres Erlebnis. Dieser Teil der heutigen Physiologie, der von einem Empfindungsleib der Pflanze spricht, zeigt nur einen ungeheuren Dilettantismus in der Auffassung solcher Begriffe.

Da nun, wo das tierische Leben beginnt, wo Lust und Leid, wo Triebe, Begierden und Leidenschaften beginnen, spricht man vom dritten Gliede der menschlichen Wesenheit, von dem astralischen Leib. Ihn hat der Mensch gemeinschaftlich mit der ganzen Tierwelt. Nun gibt es eines, was innerhalb des Menschen hinausgeht über alle Tierwelt und was den Menschen zur Krone der Schöpfung macht und was wir uns am besten vor die Seele führen, wenn wir eine kleine subtile Betrachtung anstellen.

Es gibt im ganzen Umkreis der deutschen Sprache einen Namen, der sich unterscheidet von allen andern Namen. Zum Tisch kann jeder «Tisch», zum Stuhl jeder «Stuhl» sagen. Doch ein Name kann nicht so angewendet werden. Niemand kann zu mir «ich» sagen, so daß es mich bedeuten würde. Niemals kann «ich» an unser Ohr klingen, wenn es mich bedeutet. Dies hat man immer als etwas Wesentliches empfunden. Und selbst in den populären der älteren Religionsbekenntnisse hat man gefunden, daß da ein wichtiger Punkt der Seele liegt. Da wo die Seele anfängt, das Göttliche in sich zu fühlen, da wo sie anfängt, in diesem Dialog mit sich selbst zu sich «ich» zu sagen, mit sich selbst so zu sprechen, wie von außen nicht gesprochen werden kann, da beginnt die göttliche Wesenheit der Seele den Entwickelungsgang im Menschen. Der Gott im Menschen kündigt sich da an. Die alte hebräische Geheimlehre hatte das empfunden. Deshalb nannte man diesen Namen den unaussprechlichen Namen Gottes, den Namen, der da bedeutet: «Ich bin der Ich-bin.»

Nach alttestamentlichem Glauben bedeutet der Name die

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Ankündigung der Gottheit in der menschlichen Seele. Deshalb gingen auch gewaltige Gefühle und Empfindungen durch die Menge, wenn der Priester ankündigte diesen Namen der Gottheit in der Seele: Jahve.

Das ist das vierte Glied im Menschen, womit seine äußere Natur endet und seine Göttlichkeit beginnt. Und nun haben wir gesehen, wie der Mensch gleichsam von äußeren Kräften geführt ist bis zum Ich hinauf. Da steht er, und vbn da beginnt er dann in sich zu wirken. Dieses Ich arbeitet hinunter in die drei andern Teile der menschlichen Wesenheit. Machen Sie sich den Unterschied zwischen den Menschen von diesem Standpunkte aus klar. Vergleichen Sie einen Wilden mit einem europäischen Durchschnittsmenschen, mit einem edlen Idealisten, etwa Schiller oder Franz von Assisi.

Wenn der astralische Leib der Träger von Begierde und Leidenschaft ist, so müssen Sie sagen: Der astralische Leib des Wilden ist ganz und gar umgeben von den Naturmächten, der europäische Dnrchschnittsmensch hat aber etwas hineingearbeitet in seinen astralischen Leib. Von gewissen Leidenschaften und Trieben sagt er sich: Denen darfst du nicht folgen. - Er hat seinen Astralleib umgestaltet. Noch mehr hat ihn umgestaltet eine solche Persönlichkeit wie Schiller, noch mehr eine solche Persönlichkeit, die in gar keiner Beziehung zu den Leidenschaften steht wie Franz von Assisi, die ganz und gar geläutert war und in diesem Astralleib Herr ist über alle Triebe und Begierden. So kann man denn von einem Menschen, der an sich gearbeitet hat, sagen: Sein Astralleib besteht aus zwei Teilen. Der eine Teil ist das, was von der Natur, von göttlichen Mächten gegeben ist, der andere Teil ist das, was er selbst darinnen erzeugt hat. Diesen zweiten, vom Ich umgestalteten Teil, nennen wir geistiges Selbst oder Manas.

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Nun gibt es Dinge, die tiefer in die menschliche Natur hineingehen, wo das Ich weiter hineinarbeitet als bloß in den Astralleib. Solange Sie mit bloßen moralischen oder Rechtsgrundsätzen, mit logischen Grundsätzen Ihre Laster zügeln, so lange arbeiten Sie an Ihrem Astralleib. Aber es gibt andere Kulturmittel, wodurch das Ich an sich arbeitet, und das sind die religiösen Impulse der Menschheit. Was aus der Religion stammt, ist ein arbeitender Motor des Geisteslebens, ist mehr als äußere Rechtsgrundsätze und Moralgrundlagen. Wenn das Ich auf Grund religiöser Impulse arbeitet, dann arbeitet es in den Ätherleib hinein. Ebenso wenn das Ich aufgeht in Betrachtung eines Kunstwerkes und eine Ahnung erhält, daß hinter dem sinnlichen Dasein ein Ewiges, Verborgenes verkörpert sein kann, dann wirkt die künstlerische Vorstellung nicht nur in den Astralleib, sondern der Mensch veredelt und läutert den Ätherleib. Könnten Sie einmal als praktischer Okkultist beobachten, wie eine Wagnersche Oper auf die verschiedenen Glieder der menschlichen Natur wirkt, es würde Sie überzeugen, daß besonders die Musik es ist, die ihre Vibrationen tief hineinsenken läßt in den Atherleib.

Nun ist auch der Ätherleib der Träger von alledem, was mehr oder weniger bleibend ist in der menschlichen Natur. Man hat sich klarzumachen, was für ein Unterschied ist zwischen Entwickelung des Ätherleibes und des Astralleibes. Erinnern wir uns an den eigenen Lebensgang. Denken Sie nach, was Sie alle gelernt haben seit Ihrem achten Lebensjahr; das ist ungeheuer viel. Bedenken Sie den Inhalt Ihrer Seele: Prinzipien, Vorstellungen und so weiter. Das sind Veränderungen, Umwandlungen Ihres Astralleibes. Aber nun denken Sie nach, wie wenig sich bei den meisten Menschen das ändert, was man Gewohnheiten, Temperament nennt, was man allgemein Fähigkeiten nennt. Wenn jemand

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jähzornig ist, so hat sich das schon früh angezeigt und hat sich wenig geändert. Wenn einer ein vergeßliches Kind war, so wird er heute noch ein vergeßlicher Mensch sein. Man kann für diese ungleiche Entwickelung ein kleines Beispiel gebrauchen. Diese Entwickelung verhält sich so, wie wenn die Veränderungen des Astralleibes durch den Minutenzeiger und die Veränderungen des Ätherleibes durch den Stundenzeiger der Uhr angezeigt würden. Dasjenige, was der Mensch an seinem Ätherleib ändert, was das Ich gemacht hat aus dem Ätherleib, nennt man Buddhi oder, wenn man ein deutsches Wort gebrauchen will, Lebensgeist.

Nun gibt es eine noch höhere Entwickelung, die der Chela durchmacht. Die beruht darauf, daß man ein ganz anderer Mensch wird auch im Ätherleib. Wenn der gewöhnliche Mensch lernt, so lernt er mit dem Astralleib. Wenn der Schüler der Geheimwissenschaft lernt, so muß er ein anderer Mensch werden. Da müssen sich seine Gewohnheiten und sein Temperament ändern`; denn das macht es aus, was uns in andere Welten hineinsehen läßt. Da wird nach und nach sein ganzer Ätherleib umgewandelt.

Das Schwierigste für den Menschen ist, daß er bis in seinen physischen Leib hineinarbeiten lernt. Auch darüber, wie das Blut sich bewegt, kann man Herr werden; man kann Einfluß bekommen auf die Nervenströmungen, Einfluß auf dasjenige, was der Atmungsvorgang ist und so weiter. Auch darin kann man lernen. Wenn der Mensch in seinen physischen Leib hineinarbeiten kann und damit in Verbindung mit dem Kosmos treten lernt, dann entwickelt er sein Atman. Dies ist das höchste Glied der menschlichen Wesenheit, und weil es mit der Entwickelung des Atmungsprozesses zusammenhängt, deshalb heißt es Atman. Der Geistesmensch wird dann im physischen Menschen gefunden.

So haben wir sieben Glieder der menschlichen Wesenheit,

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ebenso wie der Regenbogen sieben Farben und die Tonskala sieben Töne hat. Es besteht so der Mensch aus: Erstens dem physischen Leib, zweitens dem Ätherleib, drittens dem Astralleib, viertens dem Ich, fünftens dem Manas, sechstens dem Buddhi, siebentens dem Atman. Wenn der Mensch auf der höchsten Stufe der Entwickelung ankommt, sich seinen physischen Leib macht, dann haben wir den wirklichen Geistesmenschen.

Nun müssen wir in bezug auf unsere heutige Frage dieses Wesen, diese Natur des Menschen näher anschauen. Da wird sich uns ein Rätsel in den Beziehungen zwischen Mann und Frau aus der Menschennatur heraus in einer eigenartigen Weise lösen. Gerade der Okkultismus oder diese intime Betrachtung der Menschennatur führt uns da hinein in den physischen Leib, in den Ätherleib, in den Astralleib, in das Ich und das, was das Ich gemacht hat.

Bei jedem Menschen - das ist eine Tatsache - ist der Ätherleib zweiteilig, und es stellt sich der Ätherleib des Mannes, wie er unter uns lebt, mit weiblichen Eigenschaften dar, und der Ätherleib des Weibes mit männlichen Eigenschaften. Eine ganze Fülle von Tatsachen in unserem Leben wird erklärt, wenn wir wissen, daß im Manne etwas von der Frauennatur ist, und gerade dasjenige, was wir eben besprochen haben als am Ätherleib hängend, hat beim Manne mehr Frauennatur und bei der Frau mehr Mannesnatur. Daher wird es sich erklären, daß gewisse Charaktereigenschaften beim Manne auftreten können. In Wahrheit haben wir in dem physischen materiellen Menschen niemals etwas anderes vor uns als einen physischen Ausdruck einer Totalpersöniichkeit. Die Menschenseele baut sich den Körper, wie aus zwei Polen sich der Magnet aufbaut. Sie baut sich einen männlichen und einen weiblichen Teil, das eine Mal den einen Teil als physischen Leib, das andere Mal als

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Ätherleib. Daher wird in bezug auf diejenigen Leidenschaften, die gerade am Ätherleib hängen: Hingebung, Tapferkeit, Liebe, die Frau offenbar männliche Charaktereigenschaften zeigen können und der Mann manchmal recht weiblich erscheinen. Dagegen mit Bezug auf alle Charaktereigenschaften, die mehr am physischen Leib hängen, da wird sich im äußeren Leben die Konsequenz des Geschlechts ausleben.

Deshalb muß es erklärlich erscheinen, daß wir in jedem Menschen, wenn wir ihn ganz betrachten wollen, eine Erscheinung vor uns haben mit zwei Teilen, einem offenen materiellen und einem verborgenen, dem geistigen. Und der ist erst ein vollständiger Mensch, der mit einer äußeren Männlichkeit im Inneren einen weiblichen schönen Charakter zu verbinden in der Lage ist. Gerade das haben die größten Geister, namentlich die mystischen Naturen, von jeher empfunden in unserem verflossenen Geistesleben.

Das ist ein wichtiger Punkt. Es hat der Mann eine große Rolle gespielt, weil der Materialismus zur äußeren Kultur hindrängte. Diese äußere Kultur ist eine Männerkultur, weil sie eine materielle Kultur sein sollte. Aber wir müssen uns klar sein, daß auch in der weltgeschichtlichen Entwickelung sich die Kulturepochen ablösen, und daß diese einseitige Männerkultur ihre Ergänzung finden muß durch dasjenige, was ja in jedem Manne lebt. Das hat man gerade in der Zeit der Männerkultur empfunden. Daher haben auch die Mystiker, wenn sie aus dem Tiefsten ihrer Seele Sprachen, diese Seele als etwas Weibliches bezeichnet. Daher finden Sie überall den Vergleich der für die Welt empfänglichen Seele mit dem Weibe, und darauf beruht der Ausspruch Goethes im Chorus mysticus:

Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;

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Das Unzulängliche
Hier wird`s Ereignis;
Das Unbeschreibliche
Hier ist`s getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.

Unsinnig ist es, in einer trivialen Weise diesen Ausspruch auszulegen. Richtig ist er im Sinne Goethes und als wahre Mystik auszulegen, wenn man sagt: Derjenige, der etwas gewußt hat von edler Geisteskultur, hat auch auf den weiblichen Charakter der Seele hingewiesen, und gerade aus dieser Männerkultur rang sich der Spruch «Das ewig Weibliche zieht uns hinan». So wurde die große Welt, der Kosmos, vorgestellt als Mann, und die Seele, die sich befruchten läßt von der Weisheit des Kosmos, als das Weibliche.

Und was ist sie denn, jene eigentümliche Geistesart, die sich im Manne herangebildet hat seit Jahrtausenden, die Logik? Wollen wir in die Tiefe ihres Wesens sehen, so müssen wir etwas Weibliches sehen, die Phantasie, das befruchtet werden muß vom Männlichen.

So sehen wir die höhere Natur des Menschen, das, was das Ich aus den niederen Leibern macht, wenn wir das betrachten, was über die Geschlechtsdifferenz hinauswächst. Mann und Weib müssen ihre physischen Leiber wie Instrumente betrachten, die es ihnen möglich machen, sich als Totalität in der physischen Welt in der einen oder andern Richtung zu betätigen. Je mehr die Menschen das Geistige in sich fühlen, desto mehr wird der Körper zum Instrumente, desto mehr lernen sie aber auch den Menschen verstehen, wenn sie in die Tiefe der Seele sehen.

Das wird Ihnen zwar nicht eine Lösung der Frauenfrage geben, aber eine Perspektive. Nicht mit Tendenzen und

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Idealen können Sie die Frauenfrage lösen! Im Realen müssen Sie sie lösen, indem Sie jene Seelenvorstellung, jene Seelenverfassung erschaffen, welche es möglich macht, daß Mann und Frau von der Totalität der Menschennatur aus sich verstehen. Solange der Mensch im Materiellen befangen ist, so lange wird eine wirklich fruchtbare Erörterung der Frauen frage nicht möglich sein.

Deshalb darf es nicht wundern, daß in einem Zeitalter, das die männliche Kultur geboren hat, die geistige Kultur, die in der theosophischen Bewegung ihren Anfang genommen hat, geradezu von einer Frau herausgeboren werden sollte. So wird sich denn diese theosophische oder geisteswissenschaftliche Bewegung als eminent praktisch erweisen. Sie wird die Menschheit dahin führen, in sich selber das Geschlecht zu überwinden und sich zu einem Standpunkt zu erheben, wo Geistselbst und Atman stehen, die übergeschlechtlich und überpersönlich sind, zum rein Menschlichen. Vom allgemeinen Mensch werden spricht nicht die Theosophie, sondern vom allgemein Menschlichen, so daß es stufenweise erkannt wird. So wird im Weibe allmählich ein ähnliches Bewußtsein erwachen, wie während der Männerkultur im Mann erwacht ist. Wie einer derjenigen, die tief aus der Seele heraus gesprochen haben, sagte: «Das ewig Weibliche zieht uns hinan», so werden diejenigen, die in sich die andere Seite des Menschen als Weib fühlen und im richtigen praktischen Sinne diese geisteswissenschaftlich verstehen, vom ewig Männlichen in der weiblichen Natur sprechen, und dann wird wahres Verständnis und wahre seelische Lösung der Frauenfrage möglich sein. Denn die äußere Natur ist eine Physiognomie des Seelenlebens. Wir haben nichts anderes in unserer, in der äußeren Kultur als das, was die Menschen geschaffen haben, was die Menschen aus Impulsen umgesetzt haben in Maschinen, in industrielle

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Dinge, in Rechtswesen. Wie die Seele sich entwickelt, so entwickeln sich die äußeren Institutionen. Ein Zeitalter, das aber an der äußeren Physiognomie hing, mochte Schranken aufrichten zwischen Mann und Frau. Ein Zeitalter, das nicht mehr am Äußeren, am Materiellen haften wird, sondern dem die Erkenntnis des übergeschlechtlichen Inneren gegeben sein wird, wird das Geschlechtliche, ohne daß es sich in das Öde, Asketische verkriechen will oder etwa das Geschlechtliche verleugnen will, veredeln und verschönern und im Übergeschlechtlichen leben. Und dann wird man Verständnis haben für das, was die wahre Lösung in der Frauenfrage bringen wird, weil es zugleich die wahre Lösung zur ewigen Menschheitsfrage bieten wird. Man wird dann nicht mehr sagen, wenn man von Dingen des täglichen Lebens spricht: Das ewig Weibliche zieht uns hinan -, man wird auch nicht mehr sagen: Das ewig Männliche zieht uns hinan -, man wird mit Verständnis, mit tiefem Geistesverständnis sagen: Das ewig Menschliche zieht uns hinan.

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DIE GRUNDBEGRIFFE DER THEOSOPHIE MENSCHENRASSEN Berlin, 9. November 1905

Oftmals ist es gesagt worden, daß des Menschen bestes und wichtigstes Studium der Mensch selbst sei, und daß auch des Menschen größtes Rätsel der Mensch selbst sei. Angesichts gewisser Tatsachen muß betont werden, daß dieses Rätsel dem Menschen wiederum in den mannigfaltigsten Gestalten entgegentritt. Wie vervielfältigt erscheint uns das Menschenrätsel und es blickt uns von allen Seiten an. Eine solche Vervielfältigung des Menschenrätsels sind zweifellos die mannigfaltigen Gestaltungen des Menschen, die wir die Rassen der Menschen nennen. Die Naturwissenschaft und die Geisteswissenschaft haben sich nun immer bemüht, Licht in diese Mannigfaltigkeit des menschlichen Daseins, in diese verschiedenen Formen des Menschen hineinzubringen. Eine Fülle von Fragen geht uns dabei auf. Wir tragen in uns das Bewußtsein, daß in allen Menschen eine einheitliche Natur und Wesenheit liegt. Wie verhält sich nun aber diese einheitliche Natur und Wesenheit zu den mannigfaltigsten Gestaltungen und Physiognomien, die uns in den Rassen entgegentreten? Insbesondere tritt uns diese Frage nahe, wenn wir sehen, wie verschieden veranlagt, wie verschieden begabt die einzelnen Menschenrassen sind. Auf den Stufen dessen, was wir die höchste Kultur nennen, steht die eine, auf der primitivsten, untergeordneten Kulturstufe, scheinbar für unsere Betrachtung, die andere. Das alles läßt es uns merkwürdig erscheinen, daß der Mensch, der doch eine e1nheitliche Natur hat, in so verschiedener und auch unvollkommener

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Gestalt erscheinen kann. Man empfindet es oft als eine Ungerechtigkeit der Natur, daß sie den einen zu einem Dasein in einer tief untenstehenden Menschenrasse verurteilt und den andern zu einer scheinbar vollkommenen Rasse heraufhebt.

Licht in dieses Dunkel hineinzubringen, ein wenig dieses Rätsel aufzuhellen, scheint die geisteswissenschaftliche Weltanschauung mehr als irgendeine andere geeignet zu sein. Denn diese geisteswissenschaftliche Weltanschauung spricht nicht in demselben Sinne von dem einheitlichen Menschen wie die andern Weltanschauungen. Sie hat von ihm einen von dem der Philosophen, Religionen und so weiter verschiedenen Begriff, sie spricht von einem Immer-Wiederkehren der Menschenseele. Sie sagt uns, daß die Seele, die in dem heutigen menschlichen Individuum lebt, bereits oft auf dieser Erde war und noch oftmals wiederkehren wird. Und wenn wir die Sache noch näher betrachten, dann sehen wir, daß die Seelen der Menschen durch die verschiedenen Rassen hindurchschreiten. So kommt uns schon Sinn und Vernunft in die Mannigfaltigkeit der Rassen. So sehen wir, wie nicht der eine verurteilt ist, bloß in einer primitiven Rasse zu leben und der andere auf den hochentwickelten Stufen des Rassendaseins zu sein. Ein jeder von uns geht durch die verschiedensten Stufen der Rassen hindurch und der Durchgang bedeutet für die einzelne Seele gerade eine Fortentwickelung. Derjenige, der heute als Angehöriger der europäischen Menschenrasse erscheint, hat in früherer Zeit andere Menschenrassen durchlaufen und wird in späterer Zeit andere durchlaufen als unsere. Es erscheinen uns die Rassen wie Lehrstufen, und es kommen Zusammenhang und Zweck in diese Mannigfaltigkeit hinein.

Wollen wir aber diesen Sinn ganz gründlich einsehen, dann müssen wir allerdings auf das, was der Entwickelung

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der verschiedenen Rassen zugrunde liegt, tiefer eingehen. Derjenige, der sich über die bloß sinnliche Anschauung in die unsichtbare, übersinnliche Welt hinauferhebt und diese Frage von solchen Gebieten aus zu beantworten sucht, der kann hier wirklich zu einer befriedigenden Lösung des Rätsels kommen. Die gewöhnliche Naturwissenschaft, die sich auf die sinnliche Beobachtung in dieser Frage beschränken muß, hat in diese Fälle, die uns da in bezug auf die Menschheitstypen gegeben sind, nur einen leitenden Faden hineinzubringen vermocht. Die Naturwissenschaft führt uns zurück bis zu den unvollkommenen Stufen des Menschendaseins, wie sie es im Sinne der heutigen darwinistischen Anschauungsweise vermag. Sie verfolgt den Menschen in die früheren Epochen der Erdenentwickelung zurück. Sie zeigt uns, wie der Mensch in den früheren Zeiten Stadien durchgemacht hat, in denen er seine Bedürfnisse mit einfachen, untergeordneten Werkzeugen befriedigte, in denen er nur geringe Arbeit leisten konnte. Und in noch frühere Zeiten will uns die Naturwissenschaft zurückführen, in denen der Mensch sich herausentwickelt hat aus der Tierheit. Wir werden erst zu der Behauptung geführt, daß wir naturwissenschaftlich die frühesten Entwickelungsstadien des Menschen wahrscheinlich nicht mehr nachweisen können, vermutlich weil die Gebiete der Erde, auf denen sich der Mensch von heute damals entwickelt hat, von den Fluten des Ozeans bedeckt sind. Nur auf ein Gebiet weist uns die Naturwissenschaft immer wieder hin. Das ist das Gebiet im Süden von Asien, im Osten von Afrika und hinunter nach Australien. Ernst Haeckel vermutet, daß dort ein uralter, untergegangener Kontinent zu suchen ist und daß sich die Zwischenstufen zwischen Tier und Mensch dort einmal entwickelt haben. Er nennt diesen Kontinent Lemurien.

Allerdings, in demselben Sinne, in dem Haeckel von diesem

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Kontinent und seinen Bewohnern spricht, in diesem Sinne, also von lediglich affenähnlichen Menschen als den Vorfahren der heutigen Menschen, kann die Geisteswissenschaft, und zwar aus ihren Erfahrungen, nicht über diese Angelegenheit sprechen. Ich habe zu zeigen versucht, daß es andere Methoden und Mittel gibt, über die Vorzeiten etwas zu erfahren, als die sind, auf welche sich die Naturwissenschaft verlassen muß, andere als die Erforschung der Resultate, die in der Erde zurückgelassen worden sind. Sie finden in meiner Darstellung der Menschheitsgeschichte, in den Aufsätzen «Aus der Akasha-Chronik», aus der inneren, mystischen Erfahrung heraus alles, was in den sogenannten Geheimschulen über des Menschen Herkunft und seine Gliederung in verschiedene Rassen von jeher gelehrt worden ist. Physische Aufzeichnung und sinnliche Erfahrung kann uns nicht in die Zeiten hinaufführen, die uns wirklich das Maßgebende über diese Frage lehren können. Die übersinnliche Erfahrung allein kann uns das lehren. Nur einen spärlichen Begriff von dieser übersinnlichen Erfahrung kann ich heute geben, und nur ein Vergleich soll uns dahin führen, wo das hergenommen ist, was wir heute im wesentlichen besprechen wollen.

Sie wissen alle, wenn ich hier spreche, so wird mein Wort fortgetragen von den Wellenbewegungen, die in der Luft hier angeregt werden. Die schwingende Luft trägt meine Worte durch die Gehörorgane in Ihre Seele hinein. Während ich hier spreche, ist dieser ganze Luftraum ausgefüllt mit Schallwellen. Denken Sie sich, diese Schallwellen könnten durch irgendein Mittel fixiert werden, es könnte in jedem Augenblick ein Abdruck dessen entstehen, was hier gesprochen wird, es könnte der rasche Fortgang der Schallwellen, die hier im Raume durcheinandergehen, festgehalten werden, dann würden Sie eine Aufzeichnung haben von

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alledem, was hier gesprochen wird. Ebenso wie das Wort, das ich hier spreche, einen Eindruck macht auf das Medium, auf das Mittel um uns herum, so machen es auch die andern Äußerungen der Menschennatur, allerdings nicht auf die Luft, welche in bezug auf viele andere und feinere Materien und Stoffe schon etwas grob ist, denn es gibt viel feinere Stoffe, als die Luft ist. Ich weise nur auf den Äther hin, obwohl unsere Betrachtung damit nichts zu tun hat. Aber ich meine eigentlich die feinste Materie, die Akasha-Materie, In der sich nicht nur die gesprochenen Worte abdrücken, sondern alle Gedanken, Gefühle und Willensimpulse des Menschen. Diese Akasha-Materie mit ihren Eindrücken bildet wirklich einen Phonographen in ausgebreitetem Maße. Und während diese Schallwellen hier in der Luft fortwährend vergehen, nur so lange dauern bis der Schall gehört ist, bleiben die Eindrücke, welche die menschlichen Leistungen bis zu den Gedanken hinauf in diese sogenannte Akasha-Materie machen, immer bestehen. Derjenige, welcher sich hinaufentwickelt, um in dieser Akasha-Materie zu lesen, der kann die Aufzeichnungen verfolgen, welche eingetragen sind seit Urzeiten. Und aus dieser Kunde heraus, aus diesen höheren geistigen Erfahrungen stammen die Angaben, welche die Geisteswissenschaft über die menschliche EntwickeIung durch die verschiedenen Rassen hindurch macht. Da werden wir zurückgeführt nicht allein zu den Menschen, weldie uns die Naturwissenschaft und Archäologie aufzeichnet, wenn sie in den Höhlen Frankreichs oder andern Höhlen der Erde Überreste von Menschen findet, die primitive Werkzeuge und Waffen gehabt haben, Menschen mit weit zurückliegenden Stirnen, die also auch nur eine unentwickelte Denknatur haben konnten, Menschen, die weit abstanden von dem, was wir heute Kulturmenschen nennen. Alle diese Forschungen führen uns nicht zurück zu denjenigen

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Gestaltungen der Menschheit, die uns die geisteswissenschaftliche Weltanschauung kennen lehrt, wenn auch die heutigen Naturforscher meinen, daß sie uns zehn bis fünfzehn Jahrtausende, vielleicht noch weiter zurückführen. Alle jene Menschen- und Rassenformen, die der Naturforscher in der Erde finden kann, weisen wieder zurück auf ganz anders gestaltete Menschenphysiognomien, auf Rassen, welche auf einem ganz andern Erdgebiet gelebt haben, auf der Atlantis, die sich ausgedehnt hat zwischen Europa, Afrika und Amerika. Auch der Naturwissenschaft ist der Gedanke nicht mehr fremd, daß der Atlantische Ozean einstmals Land war. Die Ähnlichkeit der Fauna, des Tierreiches und der verschiedenen Bodenbildungen, auch gewisse Verwandtschaften in den Sprachen, alle diese Dinge weisen selbst den Naturforscher darauf hin, daß wir es zu tun haben mit einer großen Erdsenkung, mit einer Überflutung eines weiten Landgebietes, die in sehr frühen Zeiten unserer Entwickelung stattgefunden hat. Nach dem, was Plato erzählt von der Insel Poseidonis, die noch von ihm als eine Insel im Ozean angeführt wird, war das der letzte Rest einer vergangenen Welt. Das lehrt uns auch die geisteswissenschaftliche Anschauung.

Wenn wir zurückgehen auf die Bewohner, die in Atlantis gelebt haben, dann zeigt sich uns etwas ganz anderes als heute. Wir lernen ein Geschlecht kennen, in dem die bedeutendsten Fähigkeiten, die den heutigen Kulturmenschen zu dem machen, was den Kulturmenschen ausmacht, noch nicht vorhanden waren. Das atlantische Geschlecht hat diese Fähigkeiten, die Fähigkeit zu kombinieren, zu rechnen, noch nicht gehabt, auch die Denkfähigkeit nicht. Was die Menschen damals gehabt haben, war das Gedächtnis und die Sprache. Diese hat sich in ihnen erst ausgebildet. Dafür haben sie aber andere Fähigkeiten gehabt. Ein Fortschritt in

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den menschlichen Fähigkeiten findet nur dadurch statt, daß gewisse sogenannte höhere Grade des Menschendaseins mit dem Zurücktreten früherer Stufen der Entwickelung erkauft werden. Geradeso wie der Mensch heute gegenüber gewissen Tieren nur eine sehr geringe Fähigkeit der Geruchsorgane hat, während die Tiere die höheren Sinne, namentlich das Gehirn weniger ausgebildet haben, dafür aber die niedrigeren Fähigkeiten zu großer Vollendung bringen, so ist es auch hier auf diesen höheren Stufen der Menschheit. Der Atlantier hatte ein fast allwissendes Gedächtnis. Sein Wissen beruhte überhaupt auf dem Gedächtnis. Es gab für ihn nicht, was wir Gesetz, was wir Regel nennen. Er rechnete nicht so, daß er ein Einmaleins kannte; das kannte er gewiß nicht. Bei ihm war das Gedächtnis die Grundlage für sein ganzes Denken. Er wußte, wenn er zweimal fünf Bohnen zusammengelegt hatte, daß das ein Häufchen von so und so viel war. Da rechnete er nicht, sondern bewahrte das für die gedächtnismäßige Anschauung auf. Ebenso war seine Sprache eine ganz andere als die unsrige. Ich werde im Laufe des Vortrages auf diese Erscheinung noch etwas zurückkommen. Da der Atlantier nur diese Fähigkeiten ausgebildet hatte, so gehörte zu ihm notwendig eine gewisse hellseherische Gabe, welche zurücktrat, als sich unser waches Tagesbewußtsein, unser Verstandesbewußtsein, unser rechnerisches, logisches Bewußtsein, unser Kulturbewußtsein entwickelte. Der Atlantier war in ganz anderem Sinne imstande, aus seiner Natur heraus durch die besondere magische Kraft seines Willens auf das Wachstum der Pflanzen zu wirken. Ohne sinnliche Vermittlung vermochte der Atlantier gewisse magische Wirkungen auszuführen. Das alles hing auch zusammen mit einer ganz andern Art des Körperbaues, vor allen Dingen mit einem wesentlichen Zurücktreten der Stirn und mit einer mangelhaften Ausbildung

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des Vorderhirns. Dagegen waren andere Teile des Gehirns anders ausgebildet als beim heutigen Kulturmenschen. Dies machte es für ihn möglich, daß er sich seiner großen Gedächtnisfähigkeiten bedienen konnte.

Wenn wir solch einen Atlantier nach den Aufzeichnungen der Akasha-Chronik beobachten, dann finden wir, daß zu gleicher Zeit die Helligkeit unseres gegenwärtigen Bewußtseins noch nicht erreicht war. Es war noch ein Traumbewußtsein. Es war heller als dieses, aber es hatte noch nicht jene lichte Klarheit des Verstandes, die unser heutiges Bewußtsein hat. Es war mehr ein Hinbrüten und Hinträumen. Und das, was in ihm wirkte, war auch nicht so, daß er in jedem Augenblicke sich selbst als den Herrn dessen ansehen konnte, was er bewirkte, sondern es war so, daß das alles, was in ihm war, wie eine Art Inspiration, wie eine Art Ein- gebung war. Er fühlte sich mit andern Mächten zusammenhängend, wie mit einem ihn durchflutenden Geist. Der Geist war für ihn etwas viel Konkreteres, er war dasjenige, was im Winde, was in den Wolken war, was in den Pflanzen aufwuchs. Der Geist war etwas, das man spüren konnte, wenn man die Hände durch die Luft zog, wenn die Bäume rauschten. Das war die Sprache der Natur. Die Selbständigkeit des Atlantiers war auch nicht so groß wie die der heutigen Menschen.

Wenn wir weiter zurückblicken, dann kommen wir zu den Vorfahren dieser Bevölkerung, zu jenen Menschen, die auf einem Weltteil gelebt haben, den sowohl die Naturwissensdiaft wie auch die Geisteswissenschaft kennt: in Lemurien, dem Erdteil zwischen Asien, Australien und Afrika. Nur muß die Geisteswissenschaft das Aussehen, die Gestalt jener Menschen ganz anders schildern, als die Naturforscher von heute das tun. Äußerlich ist die Schilderung der Gestalt dieser Menschen, die der Geistesforscher gibt, nicht

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so verschieden von der, die der Naturforscher vermutet. Aber geistig ist sie ganz anders. Der Lemurier war in höherem Grade noch als der Atlantier ein hellsehender Mensch. Er war mit einer riesigen Kraft des Willens begabt, er war ein Mensch, bei dem noch nicht Sprache und Gedächtnis ausgebildet waren. Erst im späteren Lemurien fing die Sprache an. Der Lemurier konnte aber die Pflanzen wachsen machen, er konnte dem Winde gebieten, er konnte Naturkräfte wie mit Zauber aus der Erde hervorholen, kurz, den heutigen Vorstellungen gegenüber grenzt das, was der Lemurier konnte, ans Wunderbare. Aber das alles war in einem völlig dumpfen Bewußtsein, in einem tieferen Traumschlaf, als er bei dem Atlantier vorhanden war. Ganz geleitet von höheren Einflüssen, von höheren geistigen Wesenheiten, war dieser Lemurier ein abhängiges Geschöpf in den Händen höherer Mächte, die ihm die Impulse zu seinen Willensentschlüssen, zu allem was er tat, gaben.

So haben wir drei aufeinanderfolgende Entwickelungsformen unseres Geschlechts. Dieser Lemurier entwickelte sich heraus aus dem noch nicht menschlichen Genossen der Ichthyosaurier, Plesiosaurier und so weiter. Das sind jene fabelhaften Tiere, die noch vor unseren Säugetieren da waren und die durch die großen, gewaltigen Naturrevolutionen in diesen Kontinenten zugrunde gegangen sind. Alles das, was als vulkanische Bildungen aus dem Ozean herausragt, sind Überreste jener alten lemurischen Zeit. Und auch jene primitiven Bauten von kolossaler Größe und so merkwürdiger Form, wie sie sich auf der Osterinsel finden, sind Überreste der Zyklopenbauten, die hereinragen in unsere Zeit wie ein Denkmal an jene Menschen, die so ganz anders In ihrer Seele lebten als wir.

Nur mit ein paar Worten soll hingedeutet werden auf das Verhältnis, in dem der Mensch zu den verschiedenen Tierformen

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steht. Der Naturforscher von heute, an materialistische Vorstellungsweisen gewöhnt, nimmt an, daß der Mensch sich aus niederen Tierformen entwickelt hat. Das kann der Geistesforscher nicht. Er nimmt an, daß dem Materiellen das Geistige vorangegangen ist, daß in dem Geistigen der Urgrund des Äußeren, des Materiellen liegt, daß des Menschen äußerer Leib Ausdruck von des Menschen Seele sei. Das, was der Geistesforscher als Astralkörper schildert, war viel früher ausgebildet als des Menschen physischer Leib. Dieser Astralleib hat eine Verdichtung durchgemacht und bildet so den Ätherleib, und erst dieses Ätherleibes Verdichtung bildet den physischen Leib. Das Dichtere hat sich erst später gebildet. Das Dünnere, das Astrale namentlich, war in viel früheren Zeiten vorhanden. So zeigt uns die Geisteswissenschaft, daß nicht aus zufälliger Zusammenballung physischer Materie ein Wesen entstanden ist, welches solche Triebe, Leidenschaften und Instinkte hat wie der Mensch, sondern daß diese Triebe und Leidenschaften in einer ihnen zukommenden Materie das Ursprüngliche sind. Diese Materie hat nicht die Leidenschaft geschaffen, sondern die früheren Leidenschaften haben die Formen der Physiognomie geschaffen. So geht der Mensch durch einen Verdichtungsprozeß hindurch. Und in der Tat, wenn wir zurückgehen auf jene Lemurier, so sehen wir, daß ihr Leib immer dünner und dünner wird, bis wir zu Menschen zurückkommen, welche ihrer physischen Materie nach gewissen Tieren, die heute eine gallertartige Materie haben, sehr ähnlich sind.

Wenn wir noch weiter zurückgingen, so würden wir uralte Menschenvorfahren finden, in einer Materie ausgebildet, welche nicht mit dem gewöhnlichen physischen Auge gesehen werden kann: den Äthermenschen. Doch auf diese urälteste Zeit will ich heute nicht zurückgehen.

Wir wollen unsere Betrachtungen bei denjenigen Menschen

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anfangen, die nach und nach in einer solchen fleischlichen Hülle zu erscheinen beginnen, wie der gegenwärtige Mensch sie trägt, obwohl die Hülle des Menschen, der Lemurien und Atlantis bewohnt hat, ganz verschieden war von unserer Art des Muskel- und Knochenbaues. Das alles war viel weicher, biegsamer und schmiegsamer, und fügte sich den Anforderungen jener dumpfen, traumhaften Seelenkräfte, wie ich es Ihnen geschildert habe. Gerade dadurch, daß des Menschen physische Materie dichter und dichter wird, wird auf der andern Seite der Pol zur physischen Materie geschaffen, der das Werkzeug der Verstandeskraft ist. Mit der Ausbildung des Gehirns ist gleichzeitig eine Verdichtung der übrigen Organe des Menschen gegeben. So wächst das Gehirn zum Werkzeug des Verstandes, des Geistes heran. Und wenn wir die drei Stufen zusammennehmen, so haben wir sie im Kulturmenschen. Zuerst haben wir den lemurischen Menschen, tranceartig ist sein Bewußtsein, dann haben wir den atlantischen Menschen, der Gedächtnis und Sprache ausbildet, und dann den eigentlichen Kulturmenschen, den Menschen unserer Zeit.

Wenn wir die heutigen Menschen betrachten, dann haben sie sich, so wie sie sind, herausentwickelt aus diesen früheren Stufen des Daseins. Nicht immer verschwindet sogleich, wenn das Höhere erscheint, dasjenige, was primitiv ist. Es erhält sich vorerst und verändert sich in mannigfaltiger Weise. So daß wir sagen können: Ein Teil der früheren atlantischen Bevölkerung ist herübergewandert von Atlantis nach Europa und weiter nach Asien und hat Kolonien gebildet, ein Teil ist zurückgeblieben, so daß wir jetzt die mannigfaltigsten Stufen nebeneinander haben. Jeder fortschreitende Teil läßt gleichsam die Stufen der Entwickelung wie eine Erinnerung zurück. In ähnlicher Weise stellt sich dies auch beim Menschen dar. Er ist es, der die verschiedensten

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Formen der Tiere aus sich herausgebildet hat. Ebenso wie die Menschheit niedere Rassen zurückläßt, so läßt der Mensch auf noch früheren Stufen gewisse Tierformen zurück, die wie äußere Ausprägungen des festgehaltenen Gedächtnisses seines früheren Daseins sind. Wenn wir die Tiere betrachten, so können wir sagen, daß sie die Stufen unserer eigenen Entwickelung, von den niederen Tierformen bis zu den Formen unserer Rasse, darstellen. Aber so haben unsere eigenen Formen nicht ausgeschaut wie dasjenige, was da zurückgeblieben ist. Damals waren die Verhältnisse noch anders. Man stellt sich gewöhnlich gar nicht vor, wie unendlich groß die Veränderungen sind, die sich auf der Erde vollzogen haben. In der alten Atlantis gab es noch nicht eine Verteilung von Regen und Sonnenschein, von Luft und Wasser wie heute. Da war eine ganz andere, von Wasser gesättigte Luft da. Regen gab es damals noch nicht. Mythen und Sagen halten diese Dinge in anschaulicher Weise fest. Daher sprechen die nordischen Sagen auch von «Nifelheim»> «Nebelheim». Dem liegt eine wirkliche Tatsache zugrunde. Unsere Vorfahren waren anders gestaltet wie wir heute, und die, welche sie zurückgelassen haben, kamen in Verhältnisse, die sie nicht vertrugen. Sie mußten sich daher herunterentwickeln, sie kamen in Dekadenz, sie degenerierten.

Die physischen Verhältnisse unserer heutigen Erde machen es möglich, daß der Verstand sich zu einer bestimmten Bildungsstufe der Wesen entwickelt. Hätte sich die Erde von den ganz andern Verhältnissen von Atlantis nicht zu unserem Vorteil zu Regen und Sonnenschein entwickelt, so hätte der Mensch niemals sich hinaufentwickeln können zu der Stufe, auf der wir uns heute befinden. Wir sehen, daß nur die fortschreitende Rasse sich in der entsprechenden Weise hinaufentwickeln kann. Was aber die frühere Form

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beibehält und wie ein Erinnerungszeichen davon ist, das kommt herunter, weil es sich in die späteren Verhältnisse nicht fügt. Wenn wir zurückgehen in die früheren Zeiten, dann begreifen wir, daß das, was wir früher waren, ganz anders war als die Tiere, die wir heute sehen. Diese haben sich verändert infolge der ganz veränderten Verhältnisse. Wir haben auch in den untergeordneten Rassen Stufen früheren Menschendaseins zu erkennen, die eigentlich ihrer Beschaffenheit nach an andere irdische Verhältnisse angepaßt waren.

Die Sache wird viel verständlicher, wenn wir so in sie hineinblicken. Da werden wir begreifen, daß die indianische Bevölkerung Amerikas, die uns so rätselhaft erscheint mit ihren sozialen Gliederungen und ihren eigentümlichen Instinkten, ganz anders sein muß. Wieder anders ist die afrikanische, die äthiopische, die Negerrasse. Da sind Instinkte, welche sich an das niedere Menschliche anknüpfen. Und bei den Malayen finden wir ein gewisses traumhaftes Element. Innerhalb der mongolischen Bevölkerung sind diejenigen Eigenschaften vorhanden, welche sich auf eine besondere Energie des Blutes begründen, auch gewisse geistige Eigenschaften, die in ganz charakteristischer Weise ausgebildet sind. Daher wird die mongolische Rasse es immer ablehnen, eine pantheistische Anschauung anzunehmen. Ihre Religion ist ein Dämonenglaube, ein Totenkult. Die Bevölkerung, die man die kaukasische Rasse nennt, stellt die eigentliche Kulturrasse dar, welche berufen ist, durch die Ausbildung des logischen Denkens Werkzeuge zu schaffen für eine Bearbeitung der Natur durch den bloßen Verstand des Menschen, welcher nicht mehr die magischen Kräfte handhaben kann, sondern sich auf das Mechanische verlassen muß. Alles, was der Mensch in den Zeiten der alten Atlantis in dieser Weise hatte, ging verloren, und deshalb

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verfertigte er Werkzeuge, weil er nicht mehr so wirken konnte; daher brauchte er Werkzeuge für die mechanische Wirkung.

Die Naturforschung hat in der mannigfaltigsten Weise versucht, die verschiedenen Rassen einzuteilen. Sie hat sie nach der Bildung des Schädels einzuteilen versucht in solche, die einen schmalen und nach hinten langen Schädel haben, in solche, die einen kurzen und breiten Schädel haben, und in solche, welche zwischen den beiden stehen. Man teilte die Menschen auch nach der Hautfarbe ein, in schwarze: Neger, Äthiopier; in gelbbraune, die Malayen und Mongolen; und in weiße, die Kaukasier. Diese Einteilung ist mehr nach äußeren Merkmalen gemacht und gibt gewisse Unterschiede, ist aber nicht erschöpfend. In der neueren Zeit hat man die Sprache zugrunde gelegt. Wenn Sie aber geisteswissenschaftlich die Vergangenheit betrachten, so werden Sie zu ganz andern Anschauungen kommen. Sie werden finden, daß unsere weiße Kulturmenschheit dadurch entstanden ist, daß gewisse Teile sich von den Atlantiern absonderten und hier unter andern klimatischen Verhältnissen sich höherentwickelten. Gewisse Teile der atlantischen Bevölkerung sind zurückgeblieben eben auf den früheren Stufen, so daß wir in der Bevölkerung Asiens und Amerikas Überreste von den verschiedenen atlantischen Rassen zu sehen haben. Aber sie haben sich verändert, weichen von der ursprünglichen atlantischen Bevölkerung ab.

Wir unterscheiden innerhalb der atlantischen Bevölkerung sieben Menschenrassen. Von diesen sieben Menschenrassen sind fünf in einer aufsteigenden Form der Entwickelung. Ich will hier nur erwähnen, daß die chinesische Bevölkerung in ihrer Hauptmasse in gewisser Beziehung eine Nachkommenschaft darstellt, die der vierten von den sieben Menschenrassen der atlantischen Bevölkerung entspricht,

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und daß die mongolische Rasse Asiens eine Nachkommenschaft von der siebenten Unterrasse dieser atlantischen Bevölkerung darstellt. Nach und nach entwickelten sich Gedächtnis und Sprache. Erst in der dritten Unterrasse, in den Urtolteken, kommt die Sprache mit Deutlichkeit heraus. Da kommt auch eine auf das Gedächtnis gestützte Kultur heraus. Die fünfte Unterrasse, die wir die Ursemiten nennen und die ihren Hauptsitz in dem heutigen Irland hatten, bildete die erste Keimanlage für unsere gegenwärtige kaukasische oder, wie wir sie auch in der Geisteswissensaft nennen, arische Menschenrasse. Von dieser, der heutigen jüdischen Bevölkerung sehr unähnlichen, aber wegen gewisser Vorgänge mit Recht semitisch genannten Unterrasse zog ein Teil nach Asien hinüber und bildete die Verstandeskultur aus, welche sich dann über das heutige Europa, das südliche Asien und über die Bevölkerung des nördlichen Afrika verbreitete. Dagegen ist um dieses Zentrum herum ein Gürtel von Menschheitsbevölkerung, der in der mannigfaltigsten Weise in seinen Charaktereigenschaften noch Überreste trägt von Bewohnern aus früheren Zeiten, Überreste der Atlantier. Alle diese Bewohner haben Nachkommen zurückgelassen, und so können wir uns vorstellen, daß der Zug, von dem ich eben gesprochen habe, hinüberflutete nach Asien, dort zusammenstieß mit einer Bevölkerung, die von Atlantis und vielleicht von Lemurien übriggeblieben ist, und dann das bildete, was wir heute die malayischen Rassen nennen. Bei ihnen ist ein schläfriges Wesen und eine Frühreife in bezug auf Leidenschaften und Geschlechtsreife wahrzunehmen. So bildete sich aus einem auserlesenen Zweige der atlantischen Bevölkerung, mit Vermischung der alten Bevölkerungsreste, die Menschenrasse heraus, welche wir die indisch-arische Rasse nennen. Sie verband ein gewisses traumhaftes, hellseherisches Wesen mit

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einer eigentümlich ausgebildeten, verstandesmäßig ausgebildeten Weltanschauung. In keiner Weltanschauung waren vielleicht die hellseherische Anschauung gewisser tieferer Kräfte der Natur und ein System des Denkens von einer solch architektonischen Geschlossenheit und durchdringenden Schärfe so miteinander verbunden.

In ganz andern Gestaltungen finden wir gegen Vorderasien hin andere, neue Bevölkerungsgliederungen. Ferner ist natürlich - die geisteswissenschaftliche Weltanschauung kann dies nachweisen - ein Zug der Atlantier herübergegangen nach Amerika. Da waren noch Reste von Lemuriern und auch von Atlantiern, die sich gemischt haben, teils im Blute, teils in den Lebensgütern und Lebensgewohnheiten. Das tritt dann als indianische Bevölkerung später den europäischen Einwanderern gegenüber. Da stießen zwei grundverschiedene Menschheitsentwickelungen zusammen. Was in den alten Zeiten lebte, ein ganz anderes seelisches Element, etwas Hellseherisches, etwas von dem die ganze Welt durchflutenden Geist, das lebte noch in dieser indianischen Bevölkerung nach. Es ist uns eine Rede erhalten, welche ein Indianerhäuptling hielt beim Zusammenstoßen der Indianer und der Europäer. Er hat da das gebrochene Wort der Europäer gestraft. Man hatte nämlich der indianischen Bevölkerung versprochen, nachdem man ihnen die Wohnsitze genommen hatte, ihnen andere Sitze zu geben. Er sprach etwa das Folgende: O ihr Bleichgesichter, ihr versteht nicht dasjenige, was der große Geist uns lehrt. Das kommt davon her, daß ihr Bleichgesichter alles das, was die Götter sagen, aus Büchern lest, daß ihr euch von den Buchstaben in den Büchern sagen laßt, was wahr ist. Ihr habt uns versprochen, daß ihr uns wieder Ländereien geben werdet, aber ihr habt das Versprechen nicht gehalten, weil euer Gott euch nicht die Wahrheit und das Wort halten lehrt. Wir kennen einen

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Gott, der in den Wolken, in den Wellen, in dem Säuseln der Blätter, in Blitz und Donner zu uns spricht. Und der Gott des roten Mannes, der hält Wort. Der Gott weiß, daß er dem Stamm treu sein muß. - Das war eine große, eine gewaltige Sprache. Der große Geist war ein Überrest einer menschlichen Anschauung, die aus einem traumhaften Bewußtsein herausgekommen ist, aus Inspirationen von höheren Gewalten. Daher aber war sie zu gleicher Zeit näher dem Göttlichen, den Quellen des Göttlichen.

Etwas Ähnliches lehren uns die Sprachen. Wenn wir die verschiedenen Menschenrassen vergleichen, so finden wir in den Sprachen dieses äußeren Völkergürtels einen ganz andern Bau. Wir finden den alten atlantischen Bau in den mongolischen Sprachen, und in den Negersprachen finden wir in dem Bau der Sprachen selbst etwas ausgedrückt von der Anschauungsweise des atlantischen Ursprungs. Gewisse Sprachen Afrikas legen den wesentlichen Wert auf die Substantive, und sie drücken das, was durch Flexionen bei uns ausgedrückt wird, durch Vorwörter aus. Daraus ist zu sehen, daß sie aus einem vorzüglich wirkenden Gedächtnis entsprungen sind. Die mongolischen Sprachen zeigen, daß sie zu einer Zeit entsprungen sind, in der das Gedächtnis nicht mehr in der Weise funktionierte, wie das früher der Fall war. Da sind nämlich die Zeitwörter mehr ausgebildet, welche schon nach dem Verstande hinschillern. Der Atlantier redete eigentlich gar nicht von dem Gedächtnis. Alles war ihm gegenwärtig. Erst wenn man anfängt zu vergessen, dann bildet sich das Zeitwort in der Sprache aus. Ich möchte sagen, daß ein grandioses Denkmal von der Mitte der atlantischen Kultur zurückgeblieben ist, und das ist die chinesische Sprache. Diese Sprache hat etwas rein Zusammensetzendes und zu gleicher Zeit etwas Ursprüngliches, wo in dem Laute selbst etwas Inneres, Seelisches und ein gewisses

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Verhältnis zur Außenwelt ausgedrückt wird. Wenn wir gewisse Bevölkerungsteile im Zusammenhang damit studierten, so könnten wir dies ganz und gar begreifen.

Unsere Rasse aber können wir verstehen, wenn wir sie in den zwei Strömungen verfolgen, die wir deutlich nachweisen können. Da haben wir zunächst jene Strömung, die sich vom Westen, vielleicht von dem heutigen England hinwegbewegt hat nach Asien hinüber. Sie hat vielleicht Veranlassung gegeben zur indischen, zur vorderasiatischsemitischen, zur indo-afrikanisch-semitischen wie auch zur arabisch-chaldäischen Rasse. Dann müssen wir uns aber noch einen andern Strom denken, der nicht so weit gekommen ist, der vielleicht nur bis Irland oder Holland gekommen ist, oder auch in das Gebiet> das von den Vorfahren der alten Perser bewohnt worden ist. Da haben wir einen Gürtel von verwandter Erdbevölkerung durch das Gebiet der Perser über das Schwarze Meer nach Europa.

Es ist also so, daß wir zwei Zonen der Menschheitsbevölkerung nachweisen können. Die eine geht von Indien herüber und umfaßt die südlichen Halbinseln Europas, die andere umfaßt die nördlich gelegenen Zonen mit verschiedenen Abstufungen. Wir haben da die arische und die verschiedenen semitischen Abstufungen in Asien und Afrika; dann in Griechenland und Italien die griechisch-lateinische Bevölkerung. Aber diese müssen wir uns schon wieder so vorstellen, daß sie entstanden ist durch die Vermischung mit dem nördlichen Völkergürtel, der auch die persische Bevölkerung umfassen würde und alles das, aus dem sich wie aus Untergründen herausentwickelt hat im Westen die slawische und die germanische Bevölkerung, und die, welche mehr oder weniger allen zugrunde liegt, die uralte keltische Bevölkerung. Wir können uns vorstellen, daß wir eine alte keltische Bevölkerung im Westen Europas hatten. Das ist

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der am weitesten westlich liegende Teil des Völkerstromes, während die persische Bevölkerung den am weitesten nach Osten gegangenen Teil des Völkerstromes darstellt. Dazwischen stehen dann die slawischen und die germanischen Völker; mit dem südlichen Gürtel vermischt, bildeten diese die griechisch-lateinische Rasse. Selbst in den Sprachen läßt sich nachweisen, daß eine Verwandtschaft der Bevölkerung besteht, welche sich am stärksten ausdrückt in der tiefen Verwandtschaft der Sprachen im nördlichen Völkergürtel. Wir haben da Sprachen, die ganz verschieden sind von dem, was die Eigenheit der semitisch-ägyptischen Kultur ausmacht. Wir finden in der semitisch-ägyptischen Kultur im Sprachenbau klar ausgesprochen den Ausdruck dessen, was sich in der fünften Unterrasse der Atlantis als ursemitische Kultur herausgebildet hat. Sie ist charakterisiert durch das erste Aufleuchten des Verstandes in der Menschheitsentwickelung. Hier bildete sich zuerst die Logik und der Verstand heraus. Das traumhaft hellseherische Element von früher vermischte sich in der verschiedensten Weise und es bildeten sich die verschiedenen Religionen aus. Die semitische Sprache trägt aber nicht den Charakter des Atomistischen, wie wir es bei den Chinesen sehen, sondern den Charakter des Analytischen. Dagegen haben die kaukasischen Sprachen einen synthetischen Charakter.

Wir unterscheiden fünf Menschheitsglieder oder Rassen. Ob das Wort mit Recht oder Unrecht gebraucht wird, mag dahingestellt sein. Die erste Rasse sind die alten Indo-Arier mit ihrem wunderbaren seherischen Denken. Sie hatten eine Kultur, die der vedischen Kultur vorangegangen ist, weshalb es auch von ihr keine Aufzeichnungen gibt. Das, was in den Veden steht, sind nur Nachklänge von der uralten seherischen, indischen Kultur. Dann kommt als zweite Rasse die alte persische Kultur, jene Bevölkerung, bei welcher vorzugsweise

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die Verstandeskraft auf die äußere Arbeit verwendet wird. Das alte Indische hat etwas, was sich von der Welt zurückzieht. In diesem nördlichen Gebiete finden wir Menschen, die die Welt umfassen, die die Welt erobern wollen, die sich auf Werkzeuge und dergleichen einlassen. Daher sehen wir in dieser Kultur, wie sich da das Bewußtsein entwickelt, daß die Menschheit etwas zu erreichen hat, daß es Gutes und Böses gibt. Ormuzd und Ahriman treten hier einander entgegen. Dann kommen wir nach Vorderasien. Da prägt sich eine weitere Rasse aus. Was sich in dem semitischen Sprachenbau ausdrückt, das ist das Kombinatorische, das Rechnerische, das Logisch-Begriffliche. Das tritt uns in der Architektur Ägyptens entgegen, das ist ausgedrückt in den Pyramiden und in den großartigen Gedankengebilden, dann in der wunderbaren Wissenschaft, in der astrologischen Form der Astronomie.

Nun haben wir drei Rassen. Und jetzt kommen wir nach Europa zu den südlichen Halbinseln. Dort finden wir das, was vom Norden herüberströmt und was sich in alten Kulturvölkern zum Ausdruck bringt. Wir finden, daß sich da etwas herausbildet, was nach innerem Leben sucht. Während der Ägypter äußerlich aufbaut, mit innerer Symbolik, fängt der Grieche an, Denkmäler und Bildhauerkunst zu pflegen, wozu er die Anregung aus den Mysteriendramen schöpft. Die bedeutendste Tat innerhalb dieser vierten Unterrasse oder Kulturperiode ist aber der Aufgang des Christentums. Dieses Christentum in seiner eigenartigen Gestalt aufzufassen, sind die südlichen Rassen nicht imstande. In Griechenland wird es gräzisiert, in Rom romanisiert und zum Staatskirchentum ausgebildet. Dies geschah unter dem allmählichen Heraufkommen der fünften Unterrasse im Mittelalter. Das ist unsere eigene Unterrasse. Es ist die, welche die Aufgabe hatte, die Kultur auf den physischen Plan

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herunterzutragen. Das zeigt an, daß Sinn und Vernunft in der Aufeinanderfolge der Rassenentwickelung ist.

Auch noch in einem andern Sinne ist Sinn und Vernunft in dieser Rassenentwickelung. Aus drei Gliedern besteht ja der Mensch seiner niederen Natur nach: aus physischem Leib, Ätherleib und Astralleib. Der physische Leib ist das, was wir mit Augen sehen, mit Händen greifen können. Der Astralleib ist der Träger unserer Begierden, Leidenschaften und Instinkte, unserer Gefühle, Lüste, Affekte, von Zorn und Haß. Der Ätherleib ist der Träger der Lebenskräfte. In diesen lebt das menschliche Ich. Dieses äußert sich in verschiedener Weise.

Ich will gleich damit beginnen, wie es sich äußert in unserer jetzigen Kulturperiode. Es hat den physischen Körper im eminentesten Sinne ausgebildet, ihn ausziseliert in der wunderbarsten Weise. Der Körper, das Gehirn wurde das Werkzeug für das verstandesmäßige Leben und für die verstandesmäßige Vorstellung. Stufenweise mußte der Körper erobert werden. Wenn Sie zurücksehen könnten, würden Sie finden, daß in der lemurischen Zeit der Körper sich ausnimmt wie ein plumpes riesenmäßiges Gebilde. Der Astralleib kann die Glieder noch nicht bewegen. Ungeschickt waren die Vorfahren der lemurischen Zeit. Das sehen Sie noch nachklingen in der indianischen Bevölkerung Amerikas. Auf der einen Seite kämpfen noch die Instinkte, weil die Menschen noch nicht das Bewußtsein haben, sich von innen zu durchdringen, sie bearbeiten den Körper von außen, sie tätowieren ihn, weil er ihnen noch nicht fertig erscheint. Gehen wir herauf zu den andern Rassen, so finden wir, daß der Mensch sich erst den Ätherleib erobert. Die Lebensfunktionen, die Ernährungsfunktionen werden ausgebildet, so daß der Mensch aus einem unbewußten Wesen ein bewußtes, willkürliches Wesen wird.

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Schritt für Schritt tritt der Mensch den Eroberungszug durch seine eigene Wesenheit an. Die lemurische Menschheit bedeutete die Eroberung des Astralleibes, die atlantische Menschheit bedeutete die Eroberung des Lebensleibes, und unsere gegenwärtige Menschheit bedeutet die Eroberung des physischen Leibes. Darauf folgt die Eroberung der geistig-seelischen Kräfte, welche die Aufgabe unserer Zeit ist. So kommt also ein noch höherer Sinn in die Rassenentwickelung hinein und so begreifen wir, daß die Rassenentwickelung eine Schulung des sich entwickelnden Menschengeistes ist. Wir blicken zurück in Gebiete, wo der Mensch ganz anders gegliedert ist. Unsere Seelen verkörperten sich in der damaligen Zeit und lernten die äußere Welt in den Erscheinungen kennen. Später kamen sie wieder auf die Erde in einer andern Rasse und lernten so auf eine andere Art in die Welt hineinschauen. Und so geht es weiter. Rasse für Rasse macht der Mensch durch. Diejenigen, welche junge Seelen sind, verkörpern sich in denjenigen Rassen, die auf ihrer früheren Rassenstufe zurückgeblieben sind.

So gliedert sich das, was als Rasse und Seelen um uns herum lebt, in organischer und seelischer Weise ineinander ein. Alles bekommt Sinn, wird durchsichtig, wird erklärlich. Wir rücken immer mehr und mehr der Lösung dieser Rätsel nahe und wir können begreifen, daß wir in der Zukunft durch andere Epochen durchzugehen haben, daß wir andere Wege zu gehen haben, als die Rasse sie machte. Wir müssen uns klar darüber sein, daß Seelen- und Rassenentwickelung unterschiedlich sind. Innerhalb der atlantischen Rasse haben unsere eigenen Seelen gewohnt, welche sich dann heraufentwickelt haben zu einer höherstehenden Menschenrasse. Das gibt uns ein Bild der Entwickelung des Menschen bis zu unserer Zeit. So begreifen wir auch den Grundsatz, den Kern einer allgemeinen Brüderschaft zu begründen ohne Rück-

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sicht auf Rasse, Farbe, Stand und so weiter. Diesen Gedanken werde ich noch besonders ausführen. Ich wollte heute nur zeigen, wie in den verschiedenen Gestalten doch die gleiche Wesenheit ist, und zwar in viel richtigerem Sinne als die Naturwissenschaft es lehrt. Unsere Seele schreitet von Stufe zu Stufe, das heißt von Rasse zu Rasse, und wir lernen die Bedeutung der Menschheit kennen, wenn wir diese Rassen betrachten. Das eine lernen wir immer mehr verstehen, nämlich, wie tief und wahr der Ausspruch ist: Uns selbst sehen wir überall und in den mannigfaltigsten Gestalten. Das ist Selbsterkenntnis! Es bewahrheitet sich auch hier der große Spruch am Tempel der Weisheitsschule der Griechenheit: O Mensch, erkenne dich selbst!

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DER WEISHEITSKERN IN DEN RELIGIONEN Berlin, 16. November 1905

Wenn heute jemand ein populäres Buch, sagen wir über Astronomie, liest, dann wohl zunächst aus dem Grunde, um sich über die geheimnisvollen Tatsachen des Weltalls zu Unterrichten. Er findet seine Befriedigung wohl dann in einem soldien Buche, wenn die Dinge, die ihm mitgeteilt werden, seinem Verstande, seiner Empfindung und seinem Gefühle einleuchten. Er versucht wohl auch, da wo man sich überzeugen kann, wie man zu solchen Wahrheiten, zu solchen Erkenntnissen kommt, in populären Vorträgen, in denen experimentiert wird, oder auf zugänglichen Sternwarten, Laboratorien und so weiter, soweit es geht einzudringen in die Dinge, die ihm da mitgeteilt werden. Jedenfalls bleibt aber dabei noch eines bestehen. Der Mensch, der solches liest, muß dabei voraussetzen, daß es noch andere Menschen gibt, welche mit ganz besonderen Forschungsmethoden, durch ganz besondere wissenschaftliche und technische Schulung zu diesen Fähigkeiten gekommen sind, die in unseren populären Büchern mitgeteilt werden.

Wer Haeckels «Natürliche Schöpfungsgeschichte» liest, der kann sich vielleicht sagen: Ja, das leuchtet meinem Verstande, meiner Vernunft, meiner Empfindung ein. - Aber er wird auch gewahr, daß viel, sehr viel dazugehört, diese Tatsachen erst festzustellen. Und er setzt dann vielleicht voraus, daß es eine kleine Gruppe von Menschen gibt, welche sich mit der Feststellung solcher Tatsachen beschäftigt. In ganz ähnlicher Weise verhält sich wohl ein großer Teil der Menschheit gegenüber andern Schriften, welche

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Tatsachen aus einem andern Gebiete an den Menschen heranbringen wollen, nämlich gegenüber den sogenannten Religionsschriften. Im Grunde genommen ist es kein anderes Verhältnis als dasjenige, welches ich soeben geschildert habe. Auch gegenüber den Religionsschriften frägt sich der Mensch zunächst: Spricht das überzeugend zu meiner Empfindung, meinen Gefühlen und meiner Vernunft? - Auch hier setzt er oder setzte er in den abgelaufenen Zeiten wenigstens immer voraus - und es gibt heute noch zahlreiche Religionsbekenntnisse, in denen ein gleiches der Fall ist -, daß es ebenso wie für äußere> sinnliche Tatsachen, die wir etwa kennenlernen aus der «Natürlichen Schöpfungsgeschichte» von Haeckel oder aus populären Darstellungen der Astronomie, es auch für diese religiösen Wahrheiten einen kleinen Kreis von Menschen gibt, welche die Methoden kennen, den Schlüssel dazu haben, diese Tatsachen festzustellen. So setzte also der Mensch den Religionsurkunden gegenüber auch voraus, daß es einzelne gibt, welche imstande sind, diese Wahrheiten nicht nur zu lesen, sondern auch festzustellen; daß es einzelne Menschen gibt, die den Schlüssel dazu haben und die Methoden kennen, wie man sich unmittelbar von ihnen überzeugen kann. Kurz, es muß den religiösen Schriften gegenüber, wie jeder andern Darstellung von Tatsachen, die Voraussetzung gemacht werden, daß sie aus einem Wissen, einer unmittelbaren Erfahrung stammen.

Gegenüber den Schriften, die von den sinnlichen Tatsachen handeln, setzt der Mensch voraus, daß es einzelne Leute gibt, welche mit Fernrohren, Mikroskopen, mit biologischen und andern Untersuchungsmethoden diese Tatsachen feststellen. Gegenüber den Mitteilungen, die in den Religionsurkunden enthalten sind, müssen wir auch voraussetzen, daß es Menschen gibt, welche die Methoden kennen, um durch Erfahrung in das Gebiet einzudringen, das in den

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religiösen Schriften berührt wird. Ebenso wie in der «Natürlichen Schöpfungsgeschichte» das Gebiet der sinnlichen Tatsachen und in den populären Vorträgen das Gebiet und die Tatsachen der Astronomie anschaubar behandelt wird, so wird in den Religionsschriften das Gebiet des Übersinnlichen, des Unsichtbaren, des Geistigen behandelt. Und wenn wir dasselbe Vertrauen, denselben Glauben als Nichtselbstforscher den Religionsschriften entgegenbringen sollen, so müssen wir ebenso voraussetzen, daß es einzelne Personen, einzelne Individualitäten in der Welt gibt, die es sich zur besonderen Aufgabe machen, Erfahrungen zu sammeln in der Welt des Übersinnlichen, des Unsichtbaren, in der Welt dessen, was als geistige Ursachen der sinnlichen Welt zugrunde liegt. Kein anderes Verhalten kann der Mensch gegenüber der Darstellung einer natürlichen Schöpfungsgeschichte und der Darstellung einer übersinnlichen Schöpfungsgeschichte haben. Nicht das Verhalten der Menschen zu diesen Dingen ist verschieden, verschieden sind lediglich die Gebiete, von denen die betreffenden Schriften erzählen. Damit ist gesagt, daß es Wissende geben muß, welche die Tatsachen> die in den Religionsschriften mitgeteilt sind, feststellen können. Allerdings, bis zu einem gewissen Grade ist gegenüber den Religionsurkunden gerade in unserer Zeit dieses Bewußtsein verlorengegangen. Und ebenso wie es wenig Sinn hätte, wenn jemand nicht voraussetzen könnte, daß hinter den populären wissenschaftlichen Darstellungen Forscher stehen, ebenso hätte es im Grunde genommen nicht viel Sinn, wenn wir nicht voraussetzen könnten, daß hinter den Aussagen der Religionsschriften Forscher stehen. Heute wiederum das Bewußtsein zu erneuern, zu beleben, daß es auch im Übersinnlichen eine Forschung gibt, das ist die Aufgabe der Theosophie oder Geisteswissenschaft. Nichts anderes will die Geistesforschung, als in den weitesten Kreisen

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wiederum das Bewußtsein hervorrufen, daß es so ist, wie ich es jetzt gesagt habe.

Oftmals übersetzt man das Wort Theosophie im Deutschen dadurch, daß man sagt, die Theosophie sei eine Erkenntnis, eine Weisheit von Gott. Dies ist keine richtige Übersetzung, wenigstens gibt sie nicht wieder, was die Theosophie will. Gotteserkenntnis ist etwas, was zunächst auch dem Theosophen wie eine Ahnung vorschwebt, wie etwas, was das letzte Ziel aller Erkenntnis bedeutet. Und sowenig wir heute schon alle Erkenntnismittel und Erkenntrnsfähigkeiten zum Bewußtsein gebracht haben, ebensowenig dürfen wir Sagen, daß wir heute eine umfassende oder abschließende Erkenntnis des göttlichen Urgrundes der Welt haben können.

Die Menschheit wird sich weiterentwickeln, wird weiterschreiten, auch in ihren Erkenntnisfähigkeiten. Von dem, was der Mensch auf diesem Wege noch wird erreichen können an Einblick in die geheimnisvollen Welten des Daseins, können sich vielleicht heute noch nicht einmal die Fortgeschrittensten einen Begriff machen. Wir müssen uns durchaus klarmachen, daß europäische Kulturmenschen einen ganz andern Begriff von der Gottheit haben als zum Beispiel die sogenannten Wilden Afrikas oder die Barbaren, welche im Beginne des Mittelalters im Römischen Reiche von Norden her eindrangen. Wir müssen voraussetzen, daß ein gewöhnlicher Gebildeter unter uns auch einen andern Begriff hat von dem göttlichen Wesen, als ihn Goethe hatte. So können wir uns auch vorstellen, daß der Mensch immer weiter und weiter schreitet, daß in der Zukunft Fähigkeiten in dem Menschen ausgebildet sein werden, gegen welche die intuitive und imaginative Kraft Goethes noch etwas sehr Unentwickeltes ist. Da können wir eine Ahnung davon haben, um wieviel erhabener und großartiger der Gottesbegriff

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jener Menschen sein wird als unser eigener. Wir können sagen, daß wir in ihm leben, weben und sind, daß aber die

Erkenntnis von ihm niemals abgeschlossen sein kann. Also das meint die Theosophie nicht, daß sie eine Erkenntnis von Gott sein will. Theosophie heißt nämlich diejenige Erkenntnis, die sich die tiefere, innerste Wesenheit des Menschen erwirbt, im Gegensatz zu der gewöhnlichen, alltäglichen Erkenntnis, die sich die äußere, sinnliche, vergängliche Natur des Menschen erwirbt.

Machen wir uns einmal klar: Wir sehen um uns herum Farbn, Licht, wir hören Töne, riechen Gerüche, schmecken Geschmäcke, greifen Gegenstände, fühlen Wärme und Kälte und so weiter, alles das durch unsere äußeren Sinnesorgane. Und wir können uns vorstellen, daß für denjenigen, der kein Ohr hat, keine tönende Welt, sondern eine stumme Welt ringsherum ist, für denjenigen, der kein Auge hat, keine leuchtende, keine farbenprächtige Welt, sondern eine finstere. Alles dies ist nur eine Zusammenfassung dessen, was der Mensch mit Sinnen wahrnehmen kann. Aber die Sinne bestehen aus stofflichen Kräften, die der Erde wieder übergeben werden. Und was wir durch sie wahrnehmen, ist auch ein Vergängliches. Wir haben damit den vergänglichen Menschen uns vor Augen geführt. Der Physiker zeigt uns, daß eine Zeit kommen wird, in welcher die Erde zerstoben sein wird in unzählige Atome, in welcher sie nicht mehr da sein wird. Dann werden auch alle die Fa+en, Lichter, Töne, die Formen von Mineralien, Pflanzen und Tieren nicht mehr in der heutigen Form da sein, ja die Menschenform selbst wird nicht mehr vorhanden sein.

Damit haben wir also den Umkreis des Vergänglichen im Menschen charakterisiert. Was dieser vergängliche Mensch erkennt, ist Alltagswissenschaft, ist solche Wissenschaft, wie sie unsere offizielle Wissenschaft verfolgt. Damit soll nichts

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gegen diese offizielle Wissenschaft gesagt sein. Diese ganze Wissenschaft ist aber nichts anderes als eine Beschäftigung mit den Dingen der Vergänglichkeit. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, die Welt zu betrachten, nämlich durch diejenigen Fähigkeiten im Menschen, die selbst unvergänglich sind. Die menschliche Wesenheit trägt einen unvergänglichen Kern in sich. Und diesen unvergänglichen Kern, den wir in uns durch Selbstschau, durch eigene Betrachtung finden, wird der Mensch hinaustragen zu einem neuen Dasein in den Zeiten, in denen die Erde zerstoben sein wird. Er wird diesen unvergänglichen Kern in andere Welten hinaus- tragen, und was er erkannt hat, wird er als die Frucht dieses Erdenlebens in eine andere Welt hinaustragen. Was so erkannt wird durch den göttlichen Wesenskern, ist der Inhalt der Geisteswissenschaft. Nicht eine Erkenntnis anderer Dinge ist die Theosophie, sondern eine Erkenntnis anderer Art, eine Erkenntnis des andern Gliedes der menschlichen Wesenheit. Die Theosophie oder Geisteswissenschaft kommt daher nicht von solchen Menschen, welche mit dem gewöhnlichen Verstand, mit den gewöhnlichen Sinnen sich erheben wollen zu einer Betrachtung des Geistigen von dem Sinnlichen aus, sondern von solchen, welche die im Menschen schlummernden Fähigkeiten erweckt haben und dadurch imstande sind, das Übersinnliche, das Unvergängliche zu erforschen. Die gewöhnliche Wissenschaft betrachtet Pflanze, Tier und Mensch nach den gewöhnlichen Eigenschaften, wie sie sich den Sinnen darbieten. Auch die Geistesforschung betrachtet nur dasjenige, was uns in der Welt um gibt. Aber sie betrachtet es durch andere Kräfte und andere Fähigkeiten und lernt daher an den Dingen ihre ewigen und unvergänglichen Eigenschaften kennen. Das ist Theosophie. Und solche Forscher, welche in sich solche Fähigkeiten erweckt haben, das sind diejenigen, welche imstande sind, die übersinnlichen

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Tatsachen, die uns in den Religionsbekenntnissen mitgeteilt werden, selbst festzustellen. So wie die Naturforscher im Laboratorium und auf der Sternwarte durch die Kraft der Sinne und durch die Instrumente feststellen, was in den populären Büchern dann zu lesen ist, so stellen die Forscher des Übersinnlichen durch ihre eigene Erfahrung dasjenige fest, was in den Religionsurkunden der verschiedenen Zeiten der Menschheit mitgeteilt worden ist. In demselben Sinne,, wie wir von den wissenschaftlichen Laboratorien und astronomischen Sternwarten als Forschungsstätten sprechen, in demselben Sinne sprechen wir von geistigen Forschungsstätten. Diese geistige Forschungsstätte nennen wir - auf den Ausdruck kommt es nicht an - die Loge der Meister der Weisheit. Weil alle Weisheit zuletzt auf einem gemeinsamen Ursprung, auf einem gemeinsamen Urgrund beruhen muß, weil alle diejenigen, welche in geistiger Beziehung zu diesen Lehrern stehen, von jener Weisheit durchstrahlt und durchflutet werden, so gehen auch alle Forschungen zurück auf den geistigen Urquell, auf die große Bruderschaft der vorgeschrittensten Weisen, welche dasjenige, was in jenen religiösen Urkunden verkündigt wird, aus eigener Anschauung durch die Mittel der Geistesforschung erkannt haben. Nennen Sie das, was aller Religion zugrunde liegt, «das geistige Laboratorium der Menschheit», nennen Sie es «die große weiße Loge», das bleibt sich gleich. Wir wissen jetzt, was damit gemeint ist. Wie jedes populäre Buch zurückgeht auf das, was irgendwo wirklich erforscht worden ist, so geht jede der großen Religionen zurück auf dasjenige, was im geistigen Sinne in diesem Laboratorium der weißen Bruderschaft der Menschheit erforscht worden ist. Und diejenigen, welche die Religionen begründet haben, waren nichts anderes als große, hervorragende Individualitäten, welche den Unterricht und die Unterweisung jener Bruderschaft in diesem

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großen geistigen Laboratorium genossen haben, eingeführt worden sind in das geistige Leben, das allen Erscheinungen zugrunde liegt, und von da hinausgesandt wurden zu den verschiedenen Völkern, um zu einem jeglichen Volke In seiner Sprache und in seiner Art zu sprechen. Ein einheitlicher Erkenntnisgrund, eine Urwahrheit wird in jenem geistigen Laboratorium gelehrt, und es ist möglich, daß jene, die sich durch innere Entwickelung hinaufranken, die Methoden der Forschung selbst erkennen lernen und sie so handhaben können wie Haeckel und andere Naturforscher die sinnlichen Methoden. Es ist möglich, daß diese den Zugang zu den Forschern des geistigen Laboratoriums finden und erfahren, von welcher Zentralstätte die großen Weisen, die hinausgezogen sind nach Süden und Westen und der Menschheit die großen Botschaften gebracht haben, hergekommen sind, es ist möglich, daß sie den Weg zu jenen finden, von denen sie lernen können, wie das alles zustande gekommen ist.

Die uralten Religionslehrer sind von derselben Stätte aus- gesandt worden, die großen Religionsstifter, die im uralten Indien die ersten Botschaften gebracht haben, deren Nachhall die europäischen Forscher so bewundert haben, als sie der Weisheit, die im alten Brahmanentum liegt, entgegen- traten. Dieselbe Weisheitsstätte hat ausgesandt die verschiedenen Buddhas, welche den einzelnen Mitgliedern der asiatischen Religionen ihre Botschaften gebracht haben, sie hat ausgesandt den ägyptischen Hermes, der jene wunderbare Religion gegründet hat, von der einer zu Soion gesagt hat: Was ihr wisset, ist wie das Wissen von Kindern gegenüber der Weisheit unserer Eingeweihten. - Hervorgegangen ist aus ihr Pythagoras, der große Lehrer des griechischen Volkes, hervorgegangen auch derjenige, der in die Zukunft hineinleuchtet, dessen Religionsbekenntnis immer breiter

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und geistiger wird, der Jesus selber. Da haben wir den Zusammenhang, wie er sich geistig darstellt, und sehen, wie die verschiedenen Religionen zurückweisen auf die Zentralstätte, wo höchste menschliche Weisheit gepflegt wird. Wer die verschiedenen Religionen betrachtet, wird sich überzeugen können, daß ihre Eigenschaften selbst hinweisen auf eine solche Zentralstätte. Daß sich Ähnlichkeiten in den verschiedenen Religionsbekenntnissen finden, ist oft auch von unseren materialistischen Kulturforschern erkannt worden. Der Zarathustrismus, das alte Indertum, der Buddhismus, ja selbst die Religion, die im alten Amerika gelebt hat, sie enthalten alle Bestandteile, in denen wunderbare Übereinstimmung besteht. Man hat aber geglaubt, daß diese Übereinstimmung aus äußeren Gründen komme. Man ist nicht tief genug eingedrungen, weil man den Schlüssel dazu einigermaßen verloren hatte. Wer sich aber wirklich einläßt auf das, was als Wahrheitskern den Religionen zugrunde liegt, der wird aus den Religionsbekenntnissen selbst die Überzeugung gewinnen können, daß die Übereinstimmungen nicht aus dem Äußeren stammen können, sondern daß sie aus einem gemeinsamen Weisheitskern hervorgehen, und daß sie nur aus Rücksicht auf einzelne Völker und die verschiedenen Zeiten verschieden ausgestaltet worden sind.

Wenn wir nach Asien hinüberblicken, finden wir zunächst noch die vorhandenen Reste einer uralten Religion, wie sie eigentlich in unserem heutigen Sinn gar nicht mehr als Religion aufgefaßt werden kann. Wir finden diese Religion in der merkwürdigen Kultur des Chinesentums. Ich spreche nicht von der Religion des Konfuzius, nicht von derjenigen, welche als Buddhismus in Indien und China Verbreitung gefunden hat, sondern ich möchte sprechen von den Überresten der uralten chinesischen Religion, der Tao-Religion. Das ist die Religion, welche den Menschen auf Tao verwe1st.

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Tao wird übersetzt als das Ziel oder der Weg. Aber man bekommt keine klare Vorstellung von dem Wesen dieser Religion, wenn man sich einfach an diese Übersetzung hält. Das Tao drückt aus und drückte schon vor Jahrtausenden für einen großen Teil der Menschheit das Höchste aus, zu dem die Menschen aufsehen konnten, von dem sie sich dachten, daß die Welt, die ganze Menschheit einmal hinkommen werde, das Höchste, was der Mensch keimhaft in sich trägt und was einst als reife Blume aus der innersten menschlichen Natur sich entwickeln wird. Ein tiefer, verborgener Seelengrund und eine erhabene Zukunft zugleich bedeutet Tao. Mit scheuer Ehrfurcht wird nicht nur Tao ausgesprochen, sondern wird auch an Tao gedacht von dem, der weiß, um was es sich dabei handelt. Die Tao-Religion beruht auf dem Prinzip der Entwickelung, und sie sagt: Was heute um mich ist, ist ein Stadium, das überwunden werden wird. Ich muß mir klar darüber sein, daß diese Entwickelung, in der ich mich befinde, ein Ziel hat, daß ich mich hinentwickeln werde zu einem erhabenen Ziel und daß in mir eine Kraft lebt, die mich anspornt, zu dem großen Ziele Tao zu kommen. Fühle ich diese große Kraft in mir und fühle ich, daß mit mir alle Wesen zu diesem Ziele hinsteuern, dann ist mir diese Kraft die Steuerkraft, die mir aus dem Winde entgegenbläst, aus dem Stein entgegentönt, aus dem Blitz entgegenleuchtet, aus dem Donner entgegentönt, die mir ihr Licht von der Sonne zusendet. In der Pflanze erscheint sie als Wachstumskraft, Im Tier als Empfindung und Wahrnehmung. Sie ist die Kraft, die Form nach Form bis zu jenem erhabenen Ziele Immer und immer hervorbringen wird, durch die ich mich eins weiß mit der ganzen Natur, die aus mir mit jedem Atemzuge aus- und einströmt, die das Symbol des höchsten sich entwickelnden Geistes ist, die ich als Leben empfinde. Diese Kraft empfinde ich als Tao. - Es wurde in dieser Religion

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zunächst von einem jenseitigen Gotte gar nicht gesprochen, es wurde nicht von etwas gesprochen, was außerhalb der Welt ist, sondern von etwas, wodurch man Kraft finden kann zum Fortschritte der Menschheit.

Tao hat man zu jener Zeit so recht empfunden, als der Mensch noch verbunden war mit dem göttlichen Urquell, besonders bei der Bevölkerung der Atlantis. Diese unsere Vorfahren hatten noch keinen so hochentwickelten Verstand, keine solche Intelligenz wie die heutige Menschheit. Dafür aber hatten sie ein mehr traumhaftes Bewußtsein, ein mehr instinktiv aufsteigendes Vorstellungsleben und ein wenig rechnerisches Gedankenleben. Stellen Sie sich das Traumleben vor, aber gesteigert, so daß es sinnvoll und nicht chaotisch ist, und denken Sie sich eine Menschheit, aus deren Seele solche Bilder aufsteigen, welche die Empfindungen ankündigen, die in der eigenen Seele sind, die wiedergeben alles, was äußerlich um uns herum ist. Man muß sich die Seelenwelt dieser Urmenschen ganz anders vorstellen als unsere heutige. Heute strebt der Mensch danach, möglichst genau Gedanken und Vorstellungen von der Umwelt zu bilden. Der Urmensch dagegen bildete sich symbolische, sinnbildliche Vorstellungen, welche in ihm selbst voller Leben erschienen. Wenn Sie heute einem Menschen gegenüber- treten, dann versuchen Sie, sich vor allen Dingen einen Begriff davon zu machen, ob es ein guter oder böser, ein gesd1eiter oder ein dummer Mensch ist, und Sie versuchen einen Begriff zu bekommen, der in möglichst trockener Art dem äußeren Menschen entspricht. Das war nie der Fall bei dem Urmenschen der Atlantis. Ihm stieg ein Bild auf, nicht ein Verstandesbegriff. Trat er einem bösen Menschen gegenüber, so stieg ihm ein Bild auf, das dumpf und finster war. Die Wahrnehmung wurde aber nicht zu einem Begriff. Gleichwohl richtete er sich, benahm er sich nach diesem

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Bilde. Wenn er ein helles, schönes Bild vor sich hatte, das ihm traumhaft vor seiner Seele stand, dann wußte er, daß er Vertrauen schöpfen konnte zu einem solchen Wesen. Und er bekam Furcht vor einem Bilde, wenn es in schwarzen, roten oder braunen Farben in ihm aufstieg. Es erschienen die Wahrheiten noch nicht verstandesmäßig und intellektuell, sondern als Eingebung. Er fühlte so, als ob die in diesen Bildern wirkende Gottheit in ihm selber wäre. Er sprach von der Gottheit, die sich im Windeswehen ankündigte, im Waldesrauschen und auch in den Bildern des inneren SeelenIehens, wenn es ihn drängte, zu einer erhabenen Menschheitszukunft hinaufzuschauen. Und das nannte er Tao.

Der gegenwärtige Mensch, der diese Urmenschheit abgelöst hat, steht in einer andern Weise zu den geistigen Mächten. Er hat die Kraft des unmittelbaren Schauens, die in gewisser Beziehung dumpfer und dämmeriger ist als die unsrige, verloren und hat dafür die Entwickelungsstufe des Intellektuellen und verstandesmäßigen Vorstellens errungen, die in gewisser Beziehung höher ist, in gewisser Beziehung aber auch tiefer steht. Dadurch steht der heutige Mensch höher als der Urmensch, weil er einen scharfen, durchdringenden Verstand besitzt; aber er empfindet nicht mehr den lebendigen Zusammenhang mit den göttlich wirkenden Tao-Kräften der Welt. Dadurch hat er die Welt, wie

sie sich in seiner Seele offenbart, und auf der andern Seite die Verstandeskräfte. Der Atlantier hat die Bilder gefühlt, die in ihm lebten. Der heutige Mensch hört und sieht die äußere Welt. Diese zwei Dinge, Äußeres und Inneres, stehen einander gegenüber, und er fühlt nicht mehr, wie ein Band von dem einen zu dem andern hinübergeht. Das ist der große Sinn der Entwickelung der Menschheit. Seitdem die Ländermassen wieder aufgestiegen sind, nachdem die Fluten der Ozeane die Kontinente überschwemmt hatten, seit

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jener Zeit sehnt sich die Menschheit, das Band wieder zu finden zwischen dem, was sie im Inneren empfindet und wahrnimmt, und dem, was sich ihr draußen in der SinnesweIt darbietet. Daher hat das Wort religare Religion seine Berechtigung. Es heißt nichts anderes, als das, was einst verbunden war und jetzt getrennt ist, wieder zu verbinden, Welt und Ich wieder zu verbinden. Die verschiede nen Formen der Religionsbekenntnisse sind nichts anderes als die Mittel, als die von den großen Weisen gelehrten Wege, diese Verbindung wiederzufinden. Sie sind deshalb so verschiedenartig gestaltet, um in dieser oder jener Form den Menschen jeder Kulturstufe verständlich zu werden.

Der Inder des Altertums, der eine üppig wachsende Pflanzenwelt vor sich hatte, die ihn in der Seele träumerisch stimmte und es nicht nötig machte, äußere Werkzeuge und äußere Kultur zu erzeugen, der hatte nötig, das, was es als Religion in der Menschheit gibt, in einer andern Weise zu hören als der moderne Mensch. Wenn der Mensch ruhig lebt, treten andere Vorstellungen in seiner Seele auf, als wenn er mit groben Werkzeugen arbeitet und technisch tätig sein muß. So haben wir die äußere Natur verschieden in den verschiedenen Gebieten der Erde und ebenso verschieden das innere Seelenleben der Menschen, und da das Band gesucht werden soll durch die verschiedenen Religionen, so ist es nur natürlich, daß die Meister den Weg zur Auffindung dieses Bandes für andere Völker und verschiedene Zeiten in anderer Weise feststellen mußten.

Die erste Art, wie dieses Band festgestellt worden ist, wie das uralte Tao der Atlantis wiederum gesucht wurde, ist die Religion des alten Indiens, des Gangeslandes, die in uralten Zeiten die Unterweisungen heiliger Rishis, großer Eingeweihter, erhalten hat, deren erhabene Lehren noch nachklingen in den wunderbaren vedischen Dichtungen und in der

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bis zu den höchsten Stufen menschlichen Begreifens hinaufreichenden Vedantaphilosophie der alten Brahmanen. In großen Zügen wurde der Menschheit da verkündigt, daß es so etwas gibt, was als einheitlicher Weltengrund allem als Unterlage dient. Brahman, Parabrahman, Bhagavad und wie die verschiedenen Namen noch sind, wurde es genannt. Und was wir in den Veden finden, die nur ein Nachklang der ursprünglichen alten Lehren sind, das zeigt uns, wie groß und gewaltig und wie sublim zu gleicher Zeit die Begriffe waren, durch die sich jene feine Spiritualität hinaufzuringen versuchte zu dem göttlichen Urquell des Seins. Man könnte es so umschreiben: Einstmals versammelten sich die geistigen Heerscharen um das Urwesen herum und fragten es, wer es wäre, und da sagte es: Ich wäre nicht derjenige> der ich bin, wenn ich mich durch ein anderes als durch mich selbst bestimmen könnte. Wenn ihr ein Ding bestimmt, dann sucht ihr dafür einen höheren Begriff. Die einzelnen tierischen Wesenheiten, den Löwen> den Adler, den Hund, den Wolf und so weiter bestimmt man, indem man zu den übergeordneten Begriffen der Katzenart, der Hundeart, Vogelart und so weiter übergeht. Die einzelnen Winde bestimmt man, indem man zu dem allgemeinen Begriff Wind übergeht. So hat jedes Ding in der Welt seinen Namen, der anzeigt, was über ihm steht. Ich aber - so sagte zu den geistigen Heerscharen das Brahman -, ich habe keinen Namen, der über mir steht. Ich bin der Ich-bin.

Das ist der Urquell, von dem der Mensch ausgegangen ist, das ist das Ziel, zu dem der Mensch wieder kommen soll. Entwickelung gab es auch hier im alten Indien. Entwickelung war das Zauberwort, durch welches der Mensch sein Ziel empfand. Es muß, so sagt das Religionsbekenntnis, etwas gegeben haben, was hinführt zu dem Punkte, auf dem der Mensch heute steht. Es muß einst ein Sehnen gegeben

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haben, welches herabführt von dem göttlichen Ursprung in diese Welt, zu der notwendigen Durchgangsstufe, auf der wir heute stehen. So wahr es notwendig und richtig war, daß es ein solches Sehnen und Wünschen gegeben hat, das hineinführt in die Welt, so wahr ist es, daß es eine Kraft geben muß, die den Menschen wieder hinausleitet, so daß er die Früchte dieser Welt wieder zum göttlichen Urquell zurückführt. Diese Kraft ist die Überwindung des Wunsches durch die göttlichen Wünsche, die Läuterung der Ziele durch das göttliche Ziel.

Jetzt war es etwas ganz anderes, was als Religion empfunden wurde, als in den uralten Zeiten, von denen wir gesprochen haben. Jetzt war es nicht mehr der Gott, der sich dem Innern enthüllte, jetzt war es der sich von außen offenbarende Gott, denn des Menschen Inneres hatte eine Kluft zwischen sich und der Außenwelt schaffen müssen. Offenbar tritt jetzt an die Stelle des unmittelbaren Lebens und an die Stelle der bloßen Kraft das Wort, und Veda heißt ja selbst nichts anderes als Wort. Das Wort ist es, durch welches vorgeschrittene, weise Menschen verkündigten, was des Menschen Quelle und Ziel ist, was aller Welt zugrunde liegt. Von diesem Wort hatte man in der alten Zeit eine ganz andere Vorstellung als heute, wenn man von dem Wort spricht.

Ich möchte versuchen, Ihnen eine Vorstellung davon zu geben, was man empfand, wenn man vom Veda, vom Logos, und später vom Wort sprach. Der Mensch gibt den Dingen Namen. Er sagt, das ist dies und das ist jenes. Aber wenn sein Mund die Dinge benennt, so ist das nicht Willkür, sondern das sind dieselben Namen, die einst die göttliche Urseele der Menschheit aus sich heraus gesprochen und die Dinge dadurch geschaffen hat. Der Mensch sieht die Dinge und spricht hinterher die Namen aus. Aber die Urseele hat

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einst zuerst die Namen gesprochen und nach dem Wort haben sich die Dinge gebildet. So gab es in den alten Zeiten eine Urseele, welche die Worte der Schöpfung aussprach. Die Worte wurden zu Dingen und die menschliche Seele fand hinterher die Worte aus den Dingen heraus, die die Gottheit hineingelegt hat. Sie erweckte die schlafenden Worte aus den Dingen wieder. So verhielt sich der Mensch zu der Gottheit, wo man religiöse Empfindung, die Empfindung dem Worte gegenüber hatte, die im alten Indertum wahrhaft lebte. Deshalb hat sich mit dem Wort die Meinung verbunden, daß es Menschen gibt, welche imstande sind, tiefer hineinzuschauen in die Natur und das Wesen der Welt, welche In ihrem Wort unmittelbar nachklingen lassen und verkündigen können, was einst die Gottheit aus sich in die Welt hinausgehaucht hat. Solche Menschen empfand man als Eingeweihte. Der alte Inder sprach von seinen Rishis nicht als von gewöhnlichen Menschen, sondern als von solchen, welche bereits im physischen Körper den Grad der Unsterblichkeit erreicht haben und nicht in der Sinnenwelt leben, sondern in ihrer Seele in der höheren Himmelswelt und Umgang haben mit den Göttern, mit den geistigen Wesenheiten, die der Welt zugrunde liegen. Indem man so zu den Menschen aufschaute, die in dieser Weise das Tao in sich entwickelt hatten, war man sich bewußt, daß jeder Mensch auch einst diese Stufe erlangen wird. Und damit war die Lehre verbunden von der Wiedergeburt, von der oftmaligen Wiederkehr. Es war nicht aus seiner Phantasie, sondern aus seiner Wahrnehmung heraus gesprochen, als Buddha zu seinen Gläubigen sprach und sagte: Ich sehe zurück auf eins, zwei, drei, vier, zehn, hundert Leben. - Und von diesen hundert Leben sprach er, wie der Mensch von einem Leben spricht. In diesen vielen Leben hat er sich alles erworben, was ihn befähigte, nicht mehr bloß aus der Erfahrung der sinnlichen,

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sondern aus der Erfahrung der übersinnlichen Welt zu sprechen und der Menschheit die Botschaft von diesen übersinnlichen Welten zu bringen. Diese übersinnliche Erkenntnis ist ein Urbestandteil aller Religionen.

Versetzen wir uns noch einmal in die das Tao empfindenden Völker. Sie versuchen, sich nicht bloß in der Religion mit dem Göttlichen zu vereinigen, sondern sie betrachten sich wie eine Umkleidung, wie eine Hülle des Göttlichen. Das war ibr unmittelbares Bewußtsein. Es hat Menschen gegeben, die nicht so denken konnten, die nicht so klug waren wie wir, aber ein unmittelbares Bewußtsein hatten, daß sie selbst einen göttlichen Kern umschlossen, wie eine Frucht den Kern umschließt. Diesen Kern sahen und empfanden sie, und sie blickten durch ihn zurück in die Vergangenheit und hinaus in die Zukunft. Sie empfanden dadurch in sich selbst die Lehre von der Wiederverkörperung.

Ein solches Bewußtsein fanden die hinunterziehenden Einwanderer damals vor. Die alten indischen Lehrer, welche den Indern die erste Brahmakultur gaben, fanden damals noch eine lebendige Anschauung von der Wiederverkörperung vor. Daher haben alle Religionen, welche von dieser Stätte ausgegangen sind, die Lehre von der Wiederverkörperung. Das Tao wurde empfunden, in seiner verschiedenen Gestaltung der menschlichen Tätigkeit wurde es empfunden. Es ist nur natürlich, daß der Mensch unseres Zeitraums, der sein Seelenleben getrennt hat von den großen äußeren Gewalten, nicht die vielen Leben überblicken konnte, sondern nur noch sah, daß er das Eingeschränkte dieses Seelenlebens darstellte. Von jeder darauffolgenden Stufe, die sich nun nordwärts ausdehnt, von der uralten persischen Religion angefangen, schwand das Bewußtsein davon, daß des Menschen Seele eine Hülle um den ewig sich wiederverkörpernden Kern ist. Das Bewußtsein schränkte sich auf den

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Zenit zwischen Geburt und Tod ein, und darauf, wie innerhalb von Geburt und Tod das «religare», die Religion, gesucht werden muß. Da wird zum ersten Male so recht empfunden der Gegensatz einer Zweiheit statt der Einheit.

Hat der Tao-Mensch der atlantischen Zeit seinen Zusammenhang mit dem Urquell lebendig empfunden, hat der brahmanische Mensch noch versucht, das Brahman aufzuerwecken, das außerhalb und innerhalb des Menschen als das gleiche gedacht wird, so empfand der Mensch in Persien zuerst eine gewisse Zweiheit, einen Dualismus. Er empfand dasjenige, was aus dem Menschen geworden ist, als Inneresund Äußeres, als Urgrund und jetzige Menschengestalt. Er blickte auf zu dem Urgrund, aus dem alles um ihn herum hervorgegangen ist, er blickte auf zu dem Wort, aus dem Pflanze, Tier und Mensch der physischen Gestalt nach hervorgegangen sind. Aber er empfand auch noch etwas anderes: Er empfand, daß etwas darin waltete, das nicht im Einklang steht mit der Harmonie, das erst wieder werden muß wie das ursprüngliche Göttliche. Das letztere empfand er als Abfall von dem ursprünglichen Göttlichen. Der Gegensatz trat ihm entgegen, die Zweiheit Licht und Dunkel oder Männliches und Weibliches. Sie stellen dar den Urgrund und das, was in der materiellen Verdichtung die menschliche Seele erwartet. Das ist die zweite Stufe der Menschheitsentwickelung.

Die dritte Stufe tritt uns entgegen in den vorhistorischen und historischen Geschichten Ägyptens, die uns in dem «Totenbuch» erhalten sind. Da empfand der Mensch zu der Zweiheit noch ein Drittes. Er sah, wie ein Licht, die Sonne, die Erde überstrahlt, sah, wie sie diese mit ihren Strahlen durchdringt und die in ihr schlummernden Samen und Wesen zum Leben erweckt, sah, wie der Urgrund befruchtet werden muß. Diese Dreiheit: Urgrund, Befruchtung, neues

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Leben, finden wir symbolisiert als Osiris, die Sonne, der Gott des Lichtes; als Isis, die Materie, und als Horus, das sich daraus entwickelnde Leben. Das waren die drei ägyptischen Gottheiten. Die Dreiheit tritt also hier auf. Und diese Dreiheit wird nun zu einem Grundkern in allen späteren Religionsbekenntnissen.

Als Dreieinigkeit tritt uns dann die Gottheit in den Religionsbekenntnissen entgegen, wo sie genannt wird: Vater, Wort und Heiliger Geist - Isis, Osiris, Horus - Atma, Buddhi, Manas. Überall finden wir jetzt die Dreiheit in den Religionen. Und den Grund dafür haben wir erkannt. Er tritt uns in Bildern oder Worten in Asien, in Ägypten bei den Priestern entgegen, aber auch in der griechisch-römischen Welt, bei Augustinus, dann im Mittelalter, wo man wie anklingend einen entsprechenden Urton findet, der in der Vergangenheit vollkommen klar hervortrat, als der Urgrund, aus dem der Mensch hervorgegangen ist. Dieser hat sich zu dem entwickelt, was er heute ist, und strebt jetzt aus dem Mittelpunkt seines Selbst der Zukunft entgegen. Es empfanden die alten Geistesforscher dies als die Dreiheit im Menschen. Wenn wir in der Zukunft einer größeren Vollkommenheit entgegengereift sein werden, dann wird jene Kraft, der wir unser Dasein verdanken und die heute als verborgener Urgrund des Seins in uns wirkt, gestaltend herausgetreten sein. Das empfand man als das Göttliche, das Unaussprechliche des Menschen, das dem ersten Wesensbestandteil der dreigliedrigen Welt gleich ist. Und dann empfand man das, was jetzt im Menschen lebt, was nach diesem Höchsten strebt, als das in der Gegenwart wirkende Wort, den Sohn, der entstanden ist aus dem Vater, der unaussprechlich in ihm ruht: Aus dem Vater ist hervorgegangen der Sohnesmensch. So wahr dieser Vatergrund den zukünftigen, vollkommeneren Menschen gestaltet, so wahr hat

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er den sich entwickelnden Sohnesmenschen geschaffen, die Buddhi, das zweite menschliche Wesensglied, das noch nicht vollkommen ist, aber der Grund ist, daß wir der Vollkommenheit zustreben. Das ist die zweite Wesenheit. Aber auch In der Vergangenheit hat dieser Weltengrund gearbeitet. So wie der sinnliche Mensch von dem Allwelten-Urgrund in der Vergangenheit geschaffen worden ist, so hat auch dasjenige> was heute schon in ihm Form angenommen und ausgestrahlt hat, etwas, das ebenfalls in der Vergangenheit aus dem Urgrund hervorgegangen und jetzt schon ausgestaltet isL Blicken wir hinaus in das Universum, wie es sich in Farben, Tönen, Gerüchen und Tastempfindungen wahrnehmbar macht: es ist herausgequollen aus dem unaussprechlichen Urgrund. In solcher Beziehung können wir diesen Urgrund, der für uns, die Geschöpfe, in die Erscheinung tritt, Geist nennen, auch im christlichen Sinne. Aber es ist die Welt nicht zu Ende geschaffen. Keim ist die Welt, etwas, was in sich selbst Seele hat, was in sich selbst den Trieb zur Zukunft hin hat. Das ist der Sohn. Daher nannte man dieses Streben: das Wort, Veda, Edda. Das dritte ist das, was heute als Kraft in uns ist, was in der Zukunft in uns wahrnehmbar wird: der tief in unser aller Seelen liegende Vatergrund alles Seins.

Dies lebendig empfinden, zum Wesen des ganzen inneren Vorstellens machen, heißt: die Trinität empfinden. Persona heißt Maske oder äußere Gestalt, Verhüllung. Daher zeigt die Religion diesen Wahrheitskern, den ich soeben entwickelt habe, in drei verschiedenen Masken, in drei Personen. Gott hat drei verschiedene Personen, heißt, er tritt in drei verschiedenen Masken auf: Geist, Wort und Vater. Damit haben wir zu gleicher Zeit dasjenige Religionsbekenntnis berührt, das dann zum Christentum geführt hat. Wenn Sie dies in Wahrheit verstehen, so werden Sie diese Wahrheit

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auch in ihm ausgesprochen finden. Wenn Sie das tiefste Evangelium, dasjenige von Johannes, richtig verstehen, so finden Sie darin dasselbe Bewußtsein von dem religare,von dem Verbinden mit einem höheren Bewußtsein, das in Menschengestait erschienen ist: die Lehre von dem fleischgewordenen Logos, der inkarnierten Gottheit, der gegenwärtigen Gottheit selbst, die in Brüderlichkeit lebt mit den zwei andern Formen der Gottheit, dem aus der Vergangenheit staminenden, in der Gegenwart wirkenden Geist, und dem in den gegenwärtigen Welten in die Zukunft hinein schaffenden Vater. So ist der Sohn ausgegangen von dem Vater, ist zu gleicher Zeit verbunden mit dem Geist, und so ist der Sohn die große Vorherverkündigung, die zum Vater führen wird. Das ist es, worauf auch hingewiesen ist mit den Worten: «Niemand kommt zum Vater denn durch mich», durch den göttlichen Wesenskern der Gegenwart. Dann ist weiter darauf hingewiesen, daß er wieder den Geist senden wird, den Wesenskern dessen, was heute schon in der Weit ist. So wahr wie Christus gesagt hat: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt», ebenso wahr ist es, daß er wiederkommen wird, daß das ganze Christentum eine Vorbereitung gewesen ist für die neue Gestalt. Vorläufig ist der Geist da, die Erkenntnis, die Wissenschaft, vorläuflg sind die Religionen gelehrt worden, wie sie in der Vergaiigenheit gelehrt wurden. Die Religionsurkunden sind uns erhalten geblieben und die Theologen suchen sie jetzt auszulegen und danach zu lehren. Das ist die Art, wie an Stelle der Weisheit jetzt die Theologie arbeitet. Theosophie heißt Weisheit und Wahrheit, Theologie heißt die Lehre der Weisheit und Wahrheit. So wie die Theologie aus der Geisteswissenschaft entstanden ist, so muß die Theologie zurück zur Geisteswissenschaft.

Ich habe häufig darauf aufmerksam gemacht, wie früher

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die Forschung war, und wie dann ein Umschwung gekommen ist. Man baute bisher an allen Stätten, wo gelehrt wurde, auf die Bücher der alten Weisen, auf Plato, Aristoteles und so weiter. Nicht Forscher waren da, sondern Interpreten. Ich habe hier jene merkwürdige Zeit im Auge, von der die Theologie uns erzählt, die man aber in späterer Zeit, in der man wieder die Natur, das Grundbuch, zu lesen lernte, nicht mehr begreifen konnte. Der Glaube an das Geschriebene war fast absolut. Wenn zum Beispiel ein Naturforscher behauptet hatte, die Nerven gehen nicht vom Herzen, sondern vom Gehirn aus, so hieß es doch: Aristoteles sagt anders, und Aristoteles hat recht, obgleich man vielleicht an dem Objekt das Behauptete dargelegt sah. In den weitesten Kreisen ist heute das Bewußtsein noch nicht vorhanden, daß es einen Schlüssel gibt, daß es Forschungsstätten und Forschungsmethoden gibt, welche ebenso die Tatsachen des Geistigen feststellen wie die Sternwarten oder die Laboratorien die Tatsachen der sinnlichen Welt. Seit dreißig Jahren wird wiederum verkündigt, daß es so etwas gibt wie eine geistige Zentralstätte der Menschheit, und die Theosophen sagen damit nichts Unglaublicheres, als wenn Haeckel sagt: Das ist so und so. - Wenn Haeckel eine Behauptung aufstellt, so setzen wir voraus, daß er die Beweise dafür in seinem Forschen gefunden hat. Ebenso setzen wir voraus, daß, was in den Religionsurkunden gesagt wird, durch die Tatsachen bewahrheitet gefunden wurde, und daß es Individualitäten unter uns gibt, die selber wieder zu den Quellen zurückgehen können. Ein Aufmerksammachen auf die geistigen Forscher, auf das Zurückgehen zur Zentralstätte ist die Theosophie oder Geisteswissenschaft, die wieder aus der Erfahrung heraus über die Dinge des Übersinnlichen spricht, gleich denjenigen, welche ursprünglich die Religionsurkunden geschaffen, aus der

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inneren Erfahrung heraus gesprochen haben. Wie vor vierhundert Jahren die Naturwissenschaft ein Wiederaufleben erfahren hat, so soll die Theosophie oder Geisteswissenschaft heute ein Wiederaufleben der unmittelbaren geistigen Forschung bedeuten.

Damit sind wir in die Notwendigkeit versetzt, zu jenem Wahrheitskern zurückzukehren, den ich in flüchtigen Zügen zu schildern versuchte vom Tao bis zum Erscheinen des großen Menschheitserlösers. Was ich heute erreichen wollte, ist, ein Bewußtsein davon zu geben, wie sich die Geisteswissenschaft zu dem Zentralpunkt, dem Wahrheitskern der verschiedenen Religionen, verhält. Diejenigen, welche der Geisteswissenschaft noch nicht nahegetreten sind, werden vielleicht wiederkommen, um mehr zu hören. Vielleicht werden aber auch einige sagen, sie sei Neubuddhismus, eine neue Religion, sei etwas Orientalisches, wolle etwas Fremdes in unsere Welt hineinbringen. Dem ist aber nicht so, das wäre nicht geisteswissenschaftlich. So sprechen nur diejenigen, welche nicht den Willen haben, hinzuhören auf das, was die Geisteswissenschaft sagt. Das Bestreben der Geisteswissenschaft ist, den Wahrheitskern in unseren äußeren Religionsbekenntnissen zu suchen, auf die Quellen zurückzugehen, aus denen die heute existierenden Bücher hervorgegangen, geschaffen sind. Auf die Tatsachen zurückzugehen ist nötig, dann werden die Bücher besser verstanden werden, dann wird neues Leben in die Menschheit einströmen. So ist das Christentum zu verstehen als eine Religion, welche die Menschheit vorzubereiten hat für die Zukunft, als die Religion des Sohnes, durch die man den Vater auf denselben Wegen findet. Diese Religion verständlich zu machen, ist zu gleicher Zeit eine der wichtigsten Aufgaben der Geisteswissenschaft. Sie sucht deshalb den Wahrheitskern in allen Religionen, um den Wahrheitskern in unserer

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eigenen zu finden. Wir erkannten, daß Religion nicht aus kindlichen Vorstellungen, sondern aus höchster Weisheit, aus der geistigen Forschung hervorgegangen ist. Wir lernten aber auch, daß man auf den Höhen der Wissenschaft stehen und doch ein religiöser Mensch sein kann. Wenn diese Erkenntnis, diese Forschung wieder Anklang finden wird, dann wird das lebendige Gefühl erwachenfür das, was einer der Theosophen vor mehr als hundert Jahren, Goethe, in die Welt hinausgerufen hat wie eine Art Programm, als schönen und herrlichen Kernspruch für die Menschheit, mit dem wir heute abschließen wollen, dabei bekennend, daß es keine wahre Wissenschaft, keine tiefere menschliche Beobachtung geben kann, welche die religiösen Wahrheiten als kindlich darstellt; und daß alle Religionen als Kern unseres höchsten Zieles enthalten:

Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
Hat auch Religion;
Wer jene beiden nicht besitzt,
Der habe Religion!

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BRUDERSCHAFT UND DASEINSKAMPF Berlin, 23. November 1905

Es ist heute unsere Aufgabe, über zwei Seeleninhalte zu sprechen, von denen der eine ein großes, die Menschheit, seit sie wirklich fühlt, durchdringendes Ideal darstellt, Bruderschaft, und der andere etwas, was uns insbesondere heute im Leben auf Schritt und Tritt begegnet, der Daseinskampf: Bruderschaft und Daseinskampf. Diejenigen von Ihnen, welche sich nur ein wenig mit den Zielen der geisteswissenschaftlichen Bewegung befaßt haben, kennen ja unseren ersten Grundsatz, den Kern einer auf allgemeiner Menschen- liebe gegründeten Bruderschaft zu bilden, ohne Unterschied von Rasse, Geschlecht, Beruf, Bekenntnis und so weiter. Damit hat die Theosophische Gesellschaft selbst dieses Prinzip einer allgemeinen Bruderschaft an die Spitze ihrer Bewegung gestellt und zum wichtigsten ihrer Ideale gemacht. Angezeigt hat sie dadurch, daß sie von denjenigen Kulturbestrebungen, die uns heute vor allen andern Dingen not tun, diesen großen ethischen Zug nach der Bruderschaft hin als innig zusammenhängend ansieht mit dem, was überhaupt das Ziel der Menschheitsentwickelung ist.

Der geisteswissenschaftlich Strebende ist überzeugt, und nicht nur überzeugt, sondern sich ganz klar darüber, daß die tiefe Erkenntnis, die Erkenntnis der geistigen Welt, wenn sie wahrhaft und wirklich den Menschen ergreift, zur Bruderschaft führen muß, daß die edelste Frucht tiefer, innerster Erkenntnis eben diese Bruderschaft ist. Damit allerdings scheint die geisteswissenschaftliche Weltanschauung manchem zu widersprechen, was in den letzten Zeiten an die

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Menschheit herangetreten ist. Es wird gerade in gewissen Kreisen immer wieder und wieder auf die fortschrittlich wirkende Kraft des Kampfes hingewiesen, und wie oft können wir es heute noch hören, daß des Menschen Kräfte wachsen am Widerstand, daß der Mensch stark wird an Willen und intellektueller Initiative dadurch, daß er seine Kräfte an dem Gegner messen muß. Eine Weltanschauung, die aus geistvollen Grundlagen hervorgegangen ist, die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, hat unter manchen andern kampfbegeisterten Sätzen auch diesen: Ich liebe den Kritiker, ich liebe den großen Kritiker mehr als den kleinen. - Das können wir in den verschiedensten Abänderungen gerade bei Nietzsche als etwas, was ganz in seine Lebensanschauungen hineingehört, immer wieder und wieder finden. Mit gewissen wirtschaftlichen Anschauungen, die seit langem herrschen, hängt es zusammen, daß man in dem Kampfe aller gegen alle in der allgemeinen Konkurrenz einen mächtigen Hebel des Fortschritts sieht. Wie oft wurde gesagt, daß dadurch die Menschheit am besten vorwärtsschreiten könne, daß der einzelne sich selbst, so gut es geht, nützt und sich zur Geltung bringt. Das Wort Individualismus ist geradezu zu einem Schlagwort geworden, freilich mehr auf dem Gebiete des äußeren materiellen Lebens, aber auch nicht ohne Gültigkeit auf dem Gebiete inneren geistigen Lebens.

Daß der Mensch seinen Mitmenschen am meisten nütze, wenn er so viel wie möglich wirtschaftlich aus dem Leben herausschlägt, denn dadurch, daß er wirtschaftlich stark wird, kann er auch der Allgemeinheit mehr nützen: das ist das Glaubensbekenntnis vieler Nationalökonomen und Soziologen. Auf der andern Seite hören wir, wie immer wieder betont wird, daß der Mensch nicht aufgehen soll in einer Schablone, daß er die in ihm liegenden Kräfte allseitig entwickeln, daß er sich rückhaltlos ausleben soll, daß er zur

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Entfaltung bringen soll, was in seinem Inneren liegt und daß er dadurch den Mitmenschen am meisten nützen könne. Es gibt viele unter unseren Volksgenossen, die geradezu ängstlich sind in der Verfolgung dieses Prinzips, die nicht genug darin tun können, sich auszuleben. Die geistesw1ssenschaftliche Weltanschauung verkennt nicht die Notwendigkeit des Kampfes ums Dasein, gerade in unserer Zeit, aber gleichzeitig ist sich diese Weltanschauung auch klar darüber, daß heute, wo dieser Kampf ums Dasein die mächtigsten Wogen schlägt, das Prinzip der Bruderschaft in seiner tiefen Bedeutung dem Verständnis wieder nähergebracht werden muß.

Die wichtigste Frage wird diese sein: Ist es denn richtig, was von so vielen geglaubt wird, daß des Menschen Kräfte vorzüglich am Widerstand wachsen, daß es vor allen Dingen der Kampf ist, den der Mensch zu führen hat, welcher ihn groß und stark gemacht hat? Ich habe in dem Vortrage über die Friedensidee, den ich vor Ihnen halten durfte, bereits darauf hingewiesen, daß dieses Prinzip des Kampfes ums Dasein im Menschenleben heute eine starke Nahrung dadurch erhält, daß die Naturwissenschaft es zu einem allgemeinen natürlichen Weltprinzip gemacht hat, daß sie, namentlich im Westen, eine Zeitlang geglaubt hat, diejenigen Wesen in der Welt seien am zweckdienlichsten gestaltet, welche ihren Gegner aus dem Felde geschlagen haben und in diesem Daseinskampfe übriggeblieben sind.

Der Naturforscher Huxley sagt: Wenn wir das Leben draußen ansehen, erscheint es uns wie ein Gladiatorenkampf, der Stärkste bleibt Sieger, die andern gehen zugrunde. - Wenn man den Naturforschern glauben würde, müßte man annehmen, daß alle die Wesen, welche heute die Welt bevölkern, in der Lage gewesen sind, die andern, die noch früher da waren, aus dem Felde zu schlagen. Es gibt

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auch eine Soziologenschule, welche aus diesem Prinzip des Kampfes ums Dasein heraus geradezu eine Entwickelungslehre für die Menschheit hat machen wollen. In einem Buche, betitelt «Von Darwin bis Nietzsche», hat der Dekan Alexander Tille zu zeigen versucht, daß das Glück der Menschheit für die Zukunft davon abhängt, daß man rückhaltlos diesen Kampf ums Dasein auf die Fahne der Entwickelung der Menschheit schreibe, daß man dafür sorge, daß das Unfähige zugrunde gehe, daß man dagegen das Starke und Kräftige im Daseinskampfe züchten und fördern müsse. Der Schwache solle zugrunde gehen. Wir brauchten eine solche Gesellschaftsordnung, die den Schwachen unterdrücke, weil er schädlich sei. - Ich frage Sie: Wer ist der Starke, derjenige der eine ideale Geisteskraft, aber einen schwächlichen Körper hat, oder der andere, welcher eine weniger hohe Geisteskraft mit einem robusten Körper besitzt? - Mit allgemeinen Regeln ist hier wenig getan, wie Sie sehen. Schwer ist es, zu entscheiden, wer eigentlich übrigbleiben sollte im Daseinskampfe. Wenn es sich um praktische Maßnahmen handeln würde, so müßte zuerst diese Frage entschieden werden. Wir fragen uns nun, was zeigt sich uns, wenn wir das menschliche Leben betrachten? Hat in der Entwickelung der Menschheit das Prinzip der Bruderschaft oder das Prinzip des Daseinskampfes Großes geleistet, oder haben sie beide etwas zu der Entwickelung der Menschheit beigetragen?

Nur mit flüchtigen Worten möchte ich nochmals darauf aufmerksam machen, was ich schon in dem Vortrag über die Friedensidee gesagt habe, daß selbst die Naturwissenschaft von heute nicht mehr auf dem Boden steht, auf dem sie noch vor einem Jahrzehnt gestanden hat. Ich habe schon auf den grundlegenden Vortrag des russischen Forschers Keßler vom Jahre 1880 hingewiesen, in dem gezeigt worden

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ist, daß die entwicklungsfähigen und eigentlich fortschreitenden Tierarten nicht diejenigen sind, welche den größten Kampf führen, sondern welche sich gegenseitig beistehen, einander Hilfe leisten. Damit sollte nicht behauptet werden, daß Kampf und Krieg in der Tierwelt nicht bestehen. Gewiß sind sie vorhanden, aber eine andere Frage ist es, was die Entwickelung mehr fördert, der Krieg oder die gegenseitige Hilfeleistung? Es wurde ferner die Frage aufgeworfen: Überleben diejenigen Arten, deren Individuen fortwährend miteinander kämpfen, oder diejenigen, welche sich gegenseitig Hilfe leisten? Hier ist durch die angedeutete Forschung schon nachgewiesen, daß nicht der Kampf, sondern die Hilfeleistung das eigentlich Fortschrittfördernde ist. Ich habe schon auf das Buch des Fürsten Kropotkin «Gegenseitige Hilfe im Tierreich und Menschenleben» hingewiesen. Zu dem, was heute ausgeführt wird zu den Fragen, die uns hier beschäftigen, finden Sie in dem Buche manchen schönen Beitrag.

Was hat also Bruderschaft in der Menschheitsentwickelung geleistet? Wir brauchen uns nur die eigenen Vorfahren auf demselben Boden, auf dem wir heute leben, einmal anzuschauen. Man kann leicht die Vorstellung bekommen, als ob Jagd und Krieg das eigentlich Fördernde gewesen wäre und hauptsächlich den Charakter jener Menschen bedingt habe. Wer aber tiefer auf die Geschichte eingeht, wird finden, daß dies nicht richtig ist, daß gerade diejenigen, auch unter den germanischen Stämmen, am besten gediehen sind, welche das Prinzip der Bruderschaft in außerordentlicher Weise ausgebildet hatten. Wir finden dieses Prinzip der Bruderschaft vor allen Dingen in der Art Und Weise ausgebildet, wie in den Zeiten vor und nach der Völkerwanderung der Besitz geregelt war. In ausgedehntestem Maße gab es da einen Gemeinbesitz an Grund und Boden. Die Dorfmark,

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in welcher die Menschen beisammen wohnten, hatte einen gemeinsamen Grundbesitz, und mit Ausnahme des wenigen, was unmittelbar zum Hausgebrauch gehört, mit Ausnahme der Werkzeuge, vielleicht auch eines Gartens, war alles, was Besitz war, gemeinschaftlich. Von Zeit zu Zeit wurde der Grund und Boden von neuem wieder unter den Menschen aufgeteilt, und es zeigte sich, daß diese Stämme dadurch stark geworden waren, daß sie die Bruderschaft in bezug auf materielle Guter bis zu einer außerordentlichen Höhe getrieben hatten.

Wenn wir einige Jahrhunderte weitergehen, finden wir, daß dieses Prinzip uns in außerordentlich fruchtbringender Weise entgegentritt. Das Prinzip der Bruderschaft, wie es ausgeprägt ist in der alten Dorfmark, in den alten Zuständen, wo die Menschen ihre Freiheit im brüderlichen Zusammenleben fanden, drückte sich besonders charakteristisch darin aus, daß man so weit ging, das, was der einzelne besaß, bei seinem Tode auf seinem Grunde zu verbrennen, weil man nichts, was einem einzelnen als Einzelbesitz gehörte, nach dem Tode desselben besitzen wollte. Als mit diesem Prinzip gebrochen worden war infolge verschiedener Verhältnisse, namentlich weil einzelne sich Großgrundbesitz angeeignet hatten und die Menschen in der umliegenden Gegend dadurch zur Leibeigenschaft und zu Frondiensten gezwungen waren, da machte sich das Prinzip der Bruderschaft in einer andern, leuchtenden Weise geltend. Die, welche bedrückt waren von den Herren, den Besitzen den, wollten sich von ihrem Druck freimachen. So sehen wir in der Mitte des Mittelalters eine große, gewaltige Freiheitsbewegung durch ganz Europa gehen. Diese Freiheitsbewegung stand im Zeichen der allgemeinen Bruderschaft, aus der eine allgemeine Kultur hervorblühte. Wir sind in der sogenannten Städtekultur in der Mitte des Mittelalters. Diejenigen Menschen,

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welche es nicht aushalten konnten unter der Fronarbeit auf den Gütern, entflohen ihren Herren und suchten ihre Freiheit in den erweiterten Städten. Da kamen die Menschen von oben herunter, von Schottland, Frankreich und Rußland, von allen Seiten her kamen sie und brachten die freien Städte zusammen. Dadurch entwickelte sich das Prinzip der Bruderschaft, und in der Art, die es sich betätigte, wurde es im höchsten Maße kulturfördernd. Diejenigen, welche gemeinschaftliche, gleichartige Beschäftigungen hatten, schlossen sich zu Vereinigungen zusammen, die man Schwurbruderschaften nannte und die später zu den Gilden auswuchsen. Diese Schwurbruderschaften waren weit mehr als bloße Vereinigungen der gewerblichen oder handeltreibenden Menschen. Sie entwickelten sich aus dem praktischen Leben heraus zu einer moralischen Höhe. Das gegenseitige Sich-Beistehen, die gegenseitige Hilfeleistung war in hohem Maße bei diesen Bruderschaften ausgebildet, und viele Dinge, um die sich heute fast niemand mehr kümmert, waren Gegenstand solchen Beistandes. So leisteten sich zum Beispiel die Angehörigen einer solchen Bruderschaft in der Weise Hilfe, daß sie sich in Krankheitsfällen unterstützten. Es wurden von Tag zu Tag zwei Brüder bestimmt, die am Bette eines kranken Bruders Wache halten mußten. Es wurden die Kranken mit Nahrungsmitteln unterstützt> ja es wurde selbst über den Tod hinaus brüderlich gedacht, indem es als ganz besonders ehrenvoll galt, den zur Bruderschaft Gehörigen in entsprechender Weise zu begraben. Endlich gehörte es auch zur Ehre der Schwurbruderschaft, die Witwen und Waisen zu versorgen. Daraus sehen Sie, wie ein Verständnis für die Moral im Gemeinschaftsleben erwuchs, wie sich diese Moral auf dem Grunde eines Bewußtseins bildete, von dem sich der heutige Mensch schwer eine Vorstellung machen kann. Glauben Sie nicht, daß hier in

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irgendeiner Weise die gegenwärtigen Verhältnisse getadelt werden sollen. Sie sind notwendig geworden, so wie es auch nötig gewesen ist, daß die mittelalterlichen Verhältnisse in ihrer Art zum Ausdrucke gekommen sind. Verstehen müssen wir nur, daß es auch andere Phasen der Entwickelung gab als die heutige.

In den freien Städten des Mittelalters sprach man überall von einem «Gerichtspreis», von einem «Gerichtsmarkt». Was war damit gemeint? Ich will es an einem konkreten Beispiele anschaulich machen. Wenn von den umliegenden Ländereien Produkte in eine Stadt gebracht wurden, so war es streng verboten, daß sie in den ersten Tagen anders als Im Kleinverkauf abgesetzt wurden. Niemand durfte im großen kaufen und Zwischenhändler werden. Niemals war damals daran gedacht worden, daß der Preis durch Angebot und Nachfrage geregelt werden sollte. Man verstand damals beides zu regulieren. Die Gruppen in den Städten oder die Gilden mußten den Mitgliedern, welche nach Darlegung dessen, was erforderlich war, um Waren herzustellen, um Produzent zu werden, aufgenommen worden waren, den Preis für diese Produkte feststellen. Niemand durfte den Preis überschreiten. Wenn wir selbst über die Arbeitsverhältnisse ein wenig Umschau halten, dann sehen wir, wie ein gründliches Verständnis vorhanden war für das, was ein Mensch nötig hatte. Wenn wir die Arbeitslöhne der damaligen Zeit unter Berücksichtigung der ganz andern Verhältnisse betrachten, so müssen wir uns sagen, wie damals ein Arbeiter entlohnt war, das hält keinen Vergleich aus mit der Entlohnung von heute. Oftmals ist diese Tatsache von den Forschern ganz falsch gedeutet worden.

Nach praktischen Gesichtspunkten waren diese Bruderschaften gestaltet und daher bildeten sie sich auch allmählich nach solchen praktischen Gesichtspunkten aus. Sie griffen

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dann von einer Stadt zur andern über, denn es war natürlich, daß diejenigen, welche in den verschiedenen Städten ein gemeinsames Handwerk und gemeinsame Interessen hatten, sich miteinander verbanden und sich gegenseitig unterstützten. So dehnten sich die Verbände von Stadt zu Stadt aus.

Die Menschheit war damals noch nicht unter Polizeimaßregeln vereinigt, sondern unter praktischen Gesichtspunkten. Wer sich die Mühe nimmt, die Verhältnisse zu studieren, welche damals gleichmäßig in den Städten Europas sichtbar waren, der merkt sehr bald, daß wir es hier mit einer ganz bestimmten Phase der Vertiefung des Bruderschaftsprinzips zu tun haben. Das zeigt sich besonders, wenn wir sehen, welche Frucht sich daraus entwickelt hat. Wir könnten zunächst auf die höchsten Gipfel hinweisen, auf die gewaltigen Kunstleistungen des 12. und 13. Jahrhunderts. Sie wären nicht möglich gewesen ohne diese Vertiefung des Bruderschaftsprinzips. Dantes gewaltiges Werk, «Die Göttliche Komödie», verstehen wir kulturhistorisch nur dann, wenn wir die Ausprägung des Bruderschaftsprinzips verstehen. Sehen Sie sich ferner an, was in den Städten unter den Einflüssen dieses Prinzips entstanden ist, zum Beispiel wie Buchdruckerkunst> Kupferdruck, Papierbereitung, Uhrmacherkunst und die später erscheinenden Erfindungen sich unter dem freien Prinzip der Bruderschaft vorbereiteten. Was wir das Bürgertum zu nennen gewohnt sind, geht aus der Pflege des Bruderschaftsprinzips in den mittelalterlichen Städten hervor. Vieles, was durch die wissenschaftliche und künstlerische Vertiefung hervorgebracht worden ist, wäre nicht möglich gewesen ohne die Pflege dieses Bruderschaftsprinzips. Wenn ein Dom gebaut werden sollte, nehmen wir den Kölner Dom oder irgendeinen andern, dann sehen wir, daß sich zunächst eine Vereinigung

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bildete, eine sogenannte Baugilde, wodurch ein entschiedenes Zusammenwirken der Mitglieder einer solchen Gilde entstand. Man kann, wenn man einen intuitiven Blick dafür hat, sogar in dem Baustil dieses Bruderschaftsprinzip zum Ausdruck gebracht sehen, man kann es zum Ausdruck gebracht sehen fast in jeder mittelalterlichen Stadt, und Sie finden es überall, ob Sie nach dem Norden von Schottland oder nach Venedig gehen, ob Sie sich russische oder polnische Städte ansehen.

Das eine müssen wir betonen, daß das Bruderschaftsprinzip unter dem Einflusse einer entschieden in die materielle Kultur hineingehenden Zeitströmung herausgekommen ist, und deshalb sehen wir sowohl in dem, was als höhere Kultur hervorgeht, wie in dein, was als Frucht jener Zeit uns bleibt, überall das Materielle, das Physische. Es mußte einmal gepflegt werden, und um es richtig zu pflegen, es auszugestalten, war dieses Bruderschaftsprinzip dazumal nötig. Aus einer Abstraktion heraus ist dieses Bruderschaftsprinzip seinerzeit hervorgegangen und durch diese Abstraktion, durch dieses verstandesmäßige Denken ist unser Leben gespalten worden, so daß man heute nicht mehr recht weiß, nicht mehr recht begreift, wie Daseinskampf und Bruderschaftsprinzip in ihrer gegenseitigen Beziehung zusammenwirken. Auf der einen Seite wurde das Geistesleben immer abstrakter und abstrakter. Moral und Gerechtigkeit, Anschauungen in bezug auf das Staatswesen und die andern gesellschaftlichen Verhältnisse wurden unter immer abstraktere Grundsätze gebracht, und der Daseinskampf wurde immer mehr und mehr durch eine Kluft von dem getrennt> was der Mensch eigentlich als sein Ideal fühlt. Dazumal, in der Mitte des Mittelalters, bestand eine Harmonie zwischen dem, was man als sein Ideal fühlte und dem, was man wirklich tat, und wenn je einmal gezeigt worden ist,

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daß man Idealist und Praktiker zugleich sein kann, so ist das im Mittelalter der Fall gewesen. Auch das Verhältnis des römischen Rechtes zum Leben war noch ein harmonisches. Schauen Sie sich dagegen heute die Sache an, dann finden Sie, wie unsere Rechtsverhältnisse über dem moralischen Leben schweben. Viele sagen: Wir wissen, was gut, recht und billig ist, aber praktisch ist es nicht. - Das kommt davon her, daß das Denken über die höchsten Prinzipien vom Leben abgetrennt ist.

Vom 16.Jahrhundert ab sehen wir das geistige Leben mehr unter den Grundsätzen des Verstandes sich entwickeln. Derjenige, der aus seiner Gilde heraus, mit den andern zwölf Schöffen zusammen zu Gericht saß über irgendein Vergehen, das ein Mitglied der Gilde begangen hatte, er war der Bruder dessen, der gerichtet werden sollte. Leben verband sich mit Leben. Jeder wußte, was der andere arbeitete, und jeder versuchte zu begreifen, warum er einmal abweichen konnte von dem richtigen Wege. Man sah gleichsam in den Bruder hinein und wollte in ihn hineinsehen.

Jetzt hat sich eine Jurisprudenz herausgebildet der Art, daß den Richter und den Anwalt nur das Gesetzbuch interessiert, daß beide nur einen «Fall» sehen, auf den sie das Gesetz anzuwenden haben. Betrachten Sie nur, wie alles, was moralisch gedacht ist, von der Rechtswissenschaft losgelöst ist. Diesen Zustand haben wir immer mehr im letzten Jahrhundert sich entwickeln sehen, während im Mittelalter unter dem Prinzip der Bruderschaft sich etwas herausgebildet hatte, was notwendig und wichtig ist für jeden gedeihlichen Fortschritt: Sachverständigkeit und Vertrauen, die heute als Prinzip immer mehr in Fortfall kommen. Das Urteil des Sachverständigen ist heute fast ganz zurückgetreten gegenüber der abstrakten Jurisprudenz, gegenüber dem abstrakten Parlamentarismus. Der Allerweltsverstand, die

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Majorität soll heute das Maßgebende sein, nicht das Sachverständnis. Die Bevorzugung der Majorität mußte kommen. Aber ebensowenig wie man in der Mathematik abstimmen kann, um ein richtiges Resultat herauszubringen - denn 3 mal 3 ist immer 9 und 3 mal 9 ist immer 27 -, so ist es auch da. Unmöglich wäre es, das Prinzip des Sachverständigen durchzuführen ohne das Prinzip der Bruderschaft, der Bruderliebe.

Der Daseinskampf hat seine Berechtigung im Leben. Dadurch, daß der Mensch ein Sonderwesen ist, daß er als einzelner seinen Weg durch das Leben gehen muß, ist er auf diesen Daseinskampf angewiesen. In gewisser Beziehung gilt auch hier das Wort Rückerts: Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten. - Machen wir uns nicht fähig, unseren Mitmenschen zu helfen, so werden wir ihnen auch schlecht helfen können. Sehen wir nicht zu, daß alle unsere Anlagen ausgebildet werden, so werden wir auch nur geringen Erfolg haben, unseren Brüdern zu helfen. Um diese Anlagen zur Entwickelung zu bringen, muß ein gewisser Egoismus vorhanden sein, denn Initiative hängt mit Egoismus zusammen. Wer es versteht, sich nicht führen zu lassen, wer es versteht, nicht jedes Bild aus der Umgebung auf sich wirken zu lassen, sondern hinabzusteigen in sein Inneres, wo die Quellen der Kräfte sind, der wird sich zu einem kräftigen und fähigen Menschen ausbilden und bei Ihm wird die Möglichkeit, andern Dienste zu leisten, viel mehr vorhanden sein als bei dem, welcher sich allen möglichen Einflüssen seiner Umgebung fügt. Es liegt nahe, daß dieses Prinzip, das für den Menschen notwendig ist, ins Radikale ausgearbeitet werden kann. Nur dann wird aber dieses Prinzip die richtigen Früchte tragen, wenn es gepaart ist mit dem Prinzip der Bruderliebe.

Ich habe gerade aus diesem Grunde die freien Städtegilden

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des Mittelalters als praktisches Beispiel angeführt, um zu zeigen, wie das Praktische gerade unter dem Prinzip der gegenseitigen persönlichen, individuellen Hilfeleistung so stark geworden ist. Woraus haben sie die Stärke gesogen? Daraus, daß sie mit ihren Mitmenschen in Bruderschaft gelebt haben. Recht ist es, sich so stark wie möglich zu machen. Aber die Frage ist, ob wir überhaupt stark werden können ohne die Bruderliebe. Diese Frage muß derjenige, der sich zu einer wirklichen Seelenkenntnis aufschwingt, mit einem entschiedenen Nein beantworten.

Wir sehen in der ganzen Natur Vorbilder des Zusammenwirkens von Einzelwesen in einem Ganzen. Nehmen Sie bloß den menschlichen Körper. Er besteht aus selbständigen Wesen, aus Millionen und Abermillionen von einzelnen selbständigen Lebewesen oder Zellen. Wenn Sie einen Teil dieses menschlichen Körpers unter dem Mikroskop betrachten, so finden Sie, daß er geradezu aus solchen selbständigen Wesen zusammengesetzt ist. Wie wirken sie aber zusammen? Wie ist dasjenige selbstlos geworden, das in der Natur ein Ganzes bilden soll? Keine unserer Zellen macht ihre Sonderheit in egoistischer Weise geltend. Das Wunderwerkzeug des Gedankens, das Gehirn, ist ebenfalls aus Millionen feiner Zellen gebildet, aber jede wirkt an ihrem Platze in harmonischer Weise mit den andern. Was bewirkt das Zusammenwirken dieser kleinen Zellen, was bewirkt es, daß ein höheres Wesen innerhalb dieser kleinen Lebewesen zum Ausdrucke kommt? Des Menschen Seele ist es, die diese Wirkung hervorbringt. Aber niemals könnte die menschliche Seele hier auf Erden wirken, wenn nicht diese Millionen kleiner Wesen ihre Selbstheit aufgeben und sich in den Dienst des großen, gemeinsamen Wesens stellen würden, das wir als die Seele bezeichnen. Die Seele sieht mit den Zellen des Auges, denkt mit den Zellen des Gehirns, lebt

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mit den Zellen des Blutes. Da sehen wir, was Vereinigung bedeutet. Vereinigung bedeutet die Möglichkeit, daß ein höheres Wesen durch die vereinigten Glieder sich ausdrückt. Das ist ein allgemeines Prinzip in allem Leben. Fünf Menschen, die zusammen sind, harmonisch miteinander denken und fühlen, sind mehr als 1 + 1 + 1 + 1 + 1 sie sind nicht bloß die Summe aus den fünf, ebensowenig wie unser Körper die Summe aus den fünf Sinnen ist, sondern das Zusammenleben, das Ineinanderleben der Menschen bedeutet etwas ganz Ähnliches, wie das Ineinanderleben der Zellen des menschlichen Körpers. Eine neue, höhere Wesenheit ist mitten unter den fünfen, ja schon unter zweien oder dreien. «Wo zwei oder drei in meinem Namen vereinigt sind, da bin ich mitten unter ihnen.» Es ist nicht der eine und der andere und der dritte, sondern etwas ganz Neues, was durch die Vereinigung entsteht. Aber es entsteht nur, wenn der einzelne in dem andern lebt, wenn der einzelne seine Kraft nicht bloß aus sich selbst, sondern auch aus den andern schöpft. Das kann aber nur geschehen, wenn er selbstlos in dem andern lebt. So sind die menschlichen Vereinigungen die geheimnisvollen Stätten, in welche sich höhere geistige Wesenheiten herniedersenken, um durch die einzelnen Menschen zu wirken, wie die Seele durch die Glieder des Körpers wirkt.

In unserem materialistischen Zeitalter wird man das nicht leicht glauben, aber in der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung ist es nicht bloß etwas Bildliches, sondern im höchsten Grade Wirkliches. Daher spricht der Geisteswissenschafter nicht bloß von abstrakten Dingen, wenn er von dem Volksgeist oder von der Volksseele oder von dem Familiengeist oder von dem Geiste einer andern Gemeinschaft spricht. Sehen kann man diesen Geist nicht, der in einer Vereinigung wirkt, aber da ist er, und er ist da durch

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die Bruderliebe der in dieser Vereinigung wirkenden Persönlichkeiten. Wie der Körper eine Seele hat, so hat eine Gilde, eine Bruderschaft auch eine Seele, und ich wiederhole noch einmal, es ist das nicht bloß bildlich gesprochen, sondern als volle Wirklichkeit zu nehmen.

Zauberer sind die Menschen, die in der Bruderschaft zusammen wirken, weil sie höhere Wesen in ihren Kreis ziehen. Man braucht sich nicht mehr auf die Machinationen des Spiritismus zu berufen, wenn man mit Bruderliebe in einer Gemeinschaft zusammenwirkt. Höhere Wesen manifestieren sich da. Geben wir uns in der Bruderschaft auf, so ist dieses Aufgeben, dieses Aufgehen in der Gesamtheit eine Stählung, eine Kräftigung unserer Organe. Wenn wir dann als Mitglied einer solchen Gemeinschaft handeln oder reden, so handelt oder redet in uns nicht die einzelne Seele, sondern der Geist der Gemeinschaft. Das ist das Geheimnis des Fortschritts der zukünftigen Menschheit, aus Gemeinschaften heraus zu wirken. Wie eine Epoche die andere ablöst und jede ihre eigene Aufgabe hat, so ist es auch mit der mittelalterlichen Epoche im Verhältnis zu der unsrigen, mit unserer Epoche im Verhältnis zu der zukünftigen. Im unmittelbaren praktischen Leben, bei der Grundlegung der nützlichen Künste, haben die in mittelalterlichen Bruderschaften gewirkt. Ein materialistisches Leben haben sie erst gezeigt» nachdem sie ihre Früchte erhalten hatten, ihre Bewußtseinsgrundlage, nämlich die Brüderlichkeit, aber mehr oder weniger geschwunden war, nachdem das abstrakte Staatsprinzip, das abstrakte, geistige Leben anstelle wirklichen Ineinanderfühlens getreten war. Der Zukunft obliegt es, wieder Bruderschaften zu begründen, und zwar aus dem Geistigen, aus den höchsten Idealen der Seele heraus. Das Leben der Menschen hat bisher die mannigfaltigsten Vereinigungen gezeitigt, es hat einen furchtbaren Daseinskampf

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hervorgerufen, der heute geradezu an seinem Gipfelpunkte angekommen ist. Die geisteswissenschaftliche Weltanschauung will die höchsten Güter der Menschheit im Sinne des Bruderschaftsprinzips ausbilden, und so sehen Sie dann, daß die geisteswissenschaftliche Weltbewegung auf allen Gebieten dieses Bruderschaftsprinzip an die Steile des Daseinskampfes setzt. Ein Gemeinschaftsleben müssen wir führen lernen. Wir dürfen nicht glauben, daß der eine oder der andere imstande sei, dieses oder jenes durchzuführen.

Es möchte wohl ein jeder gerne wissen, wie man Daseinskampf und Bruderliebe miteinander vereinigt. Das ist sehr einfach. Wir müssen lernen, den Kampf durch positive Arbeit zu ersetzen, den Kampf, den Krieg zu ersetzen durch das Ideal. Man versteht heute nur noch zu wenig, was das heißt. Man weiß nicht, von welchem Kampf man spricht, denn man spricht im Leben überhaupt nur noch von Kämpfen. Da haben wir den sozialen Kampf, den Kampf um den Frieden, den Kampf um die Emanzipation der Frau, den Kampf um Grund und Boden und so weiter, überall, wohin wir blicken, sehen wir Kampf.

Die geisteswissenschaftliche Weltanschauung strebt nun dahin, an die Stelle dieses Kampfes die positive Arbeit zu setzen. Derjenige, der sich eingelebt hatte in diese Weltanschauung, der weiß, daß das Kämpfen auf keinem Gebiete des Lebens zu einem wirklichen Resultate führt. Suchen Sie das, was sich in Ihrer Erfahrung und vor Ihrer Erkenntnis als das Richtige erweist, in das Leben einzuführen, es geltend zu machen, ohne den Gegner zu bekämpfen. Es kann natürlich nur ein Ideal sein, aber es muß ein solches Ideal vorhanden sein, das heute als geisteswissenschaftlicher Grundsatz in das Leben einzuführen ist. Menschen, die sich an Menschen schließen und die ihre Kraft für alle einsetzen, das sind diejenigen, welche die Grundlage abgeben für eine

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gedeihliche Entwickelung in die Zukunft hinein. Die Theosophische Gesellschaft will selbst in dieser Beziehung mustergültig sein, sie ist deshalb nicht eine Propagandagesellschaft wie andere, sondern eine Brudergesellschaft. In ihr wirkt man durch die Arbeit eines jeden einzelnen der Mitglieder. Man muß das nur einmal richtig verstehen. Derjenige wirkt am besten, der nicht seine Meinung durchsetzen will, sondern das, was er seinen Mitbrüdern an den Augen ansieht; der in den Gedanken und Gefühlen der Mitmenschen forscht und sich zu deren Diener macht. Der wirkt am besten innerhalb dieses Kreises, der im praktischen Leben durchführen kann, die eigene Meinung nicht zu schonen. Wenn wir in dieser Weise zu verstehen suchen, daß unsere besten Kräfte aus der Vereinigung entspringen und daß die Vereinigung nicht bloß als abstrakter Grundsatz festzuhalten, sondern vor allen Dingen in theosophischer Weise bei jedem Handgriffe, in jedem Augenblicke des Lebens zu betätigen ist, dann werden wir vorwärtskommen. Wir dürfen nur keine Ungeduld haben in diesem Vorwärtskommen.

Was zeigt uns also die Geisteswissenschaft? Sie zeigt uns eine höhere Wirklichkeit, und dieses Bewußtsein einer höheren Wirklichkeit ist es, was uns in der Betätigung des Bruderschaftsprinzips vorwärtsbringt.

Man nennt heute noch die Theosophen unpraktische Idealisten. Es wird nicht lange dauern, so werden sie sich als die Praktischsten erweisen, weil sie mit den Kräften des Lebens rechnen. Niemand wird daran zweifeln, daß man einen Menschen verletzt, wenn man ihm einen Stein an den Kopf wirft. Daß es aber viel schlimmer ist, dem Menschen ein Haßgefühl zuzusenden, das die Seele des Menschen viel mehr verletzt als der Stein den Körper, das wird nicht bedacht. Es kommt ganz darauf an, in welcher Gesinnung wir den Mitmenschen gegenüberstehen. Es hängt aber auch gerade

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davon unsere Kraft für ein gedeihliches Wirken in der Zukunft ab. Wenn wir uns bemühen, so in Bruderschaft zu leben, dann führen wir das Prinzip der Bruderschaft praktisch aus.

Tolerant sein, heißt in geisteswissenschaftlichem Sinne noch etwas anderes, als was man gewöhnlich darunter versteht. Es heißt, auch die Freiheit des Gedankens der andern zu achten. Einen andern von seinem Platze wegzuschieben, ist eine Rüpelhaftigkeit, wenn man aber in Gedanken dasselbe tut, so fällt niemandem ein, daß dies ein Unrecht ist. Wir sprechen zwar viel von der Schätzung der fremden Meinung, sind aber nicht geneigt, dies für uns selbst gelten zu lassen.

Ein Wort hat für uns fast noch keine Bedeutung, man hört es und hat es doch nicht gehört. Wir müssen aber 1ernen, mit der Seele zuzuhören, wir müssen verstehen, die intimsten Dinge mit der Seele zu erfassen. Immer ist erst im Geiste vorhanden, was später im physischen Leben wird. Unterdrücken müssen wir also unsere Meinung, um den andern ganz zu hören, nicht bloß das Wort, sondern sogar das Gefühl, auch dann, wenn sich in uns das Gefühl regen sollte, daß es falsch ist, was der andere sagt. Es ist viel kraftvoller, zuhören zu können, solange der andere spricht, als ihm in die Rede zu fallen. Das gibt ein ganz anderes gegenseitiges Verständnis. Sie fühlen dann, wie wenn die Seele des andern Sie durchwärmte, durchleuchtete, wenn Sie ihr in dieser Weise mit absoluter Toleranz entgegentreten. Nicht bloß Freiheit der Person sollen wir gewähren, sondern völlige Freiheit, ja sogar die Freiheit der fremden Meinung sollen w1r schätzen. Das ist nur ein Beispiel für vieles. Derjenige, der dem andern ins Wort fällt, der tut von einer geistigen Weltanschauung aus betrachtet etwas Ähnliches wie der, welcher dem andern physisch einen Fußtritt gibt. Bringt

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man es dazu, zu begreifen, daß es eine viel stärkere Beeinflussung ist, einem andern ins Wort zu fallen, als ihm einen Fußtritt zu geben, dann erst kommt man dazu, die Bruderschaft bis in die Seele hinein zu verstehen, dann wird sie eine Tatsache. Das ist das Große der geisteswissenschaftlichen Bewegung, daß sie uns einen neuen Glauben, eine neue Überzeugung von den geistigen Kräften, die von Mensch zu Mensch strömen, bringt. Das ist das höhere, geistige Bruderschaftsprinzip. Jeder mag sich ausmalen, wie weit die Menschheit von solchem geistigem Bruderschaftsprinzip entfernt ist. Jeder mag sich darin ausbilden, wenn er Zeit dazu findet, seinen Lieben Gedanken der Liebe und Freundschaft zuzusenden. Der Mensch hält das gewöhnlich für etwas Bedeutungsloses. Aber wenn Sie einmal dahin gelangen, einzusehen, daß der Gedanke ebensogut eine Kraft ist wie die elektrische Welle, die von einem Apparat ausgeht und zum Empfangsapparat überströmt, dann werden Sie auch das Bruderschaftsprinzip besser verstehen, dann w1rd allmählich das gemeinschaftliche Bewußtsein deutlicher, dann wird es praktisch.

Von diesem Gesichtspunkt aus können wir uns klar darüber werden, wie die geisteswissenschaftliche Weltanschauung den Daseinskampf und das Bruderschaftsverhältnis auffaßt. Wir wissen ganz genau, daß mancher, der an diesen oder jenen Platz im Leben gestellt ist, einfach unterginge, wenn er nicht mit den Wölfen heulen würde, wenn er diesen Daseinskampf nicht ebenso grausam führen würde wie viele andere. Für denjenigen, der materialistisch denkt, gibt es fast kein Entrinnen aus diesem Daseinskampf. Wir sollen zwar an dem Platze unsere Pflicht tun, an den uns das Karma hingestellt hat. Wir tun aber das Richtige, wenn wir uns klar sind, daß wir viel mehr leisten würden, wenn wir darauf verzichteten, in der unmittelbaren Gegenwart die

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Erfolge zu sehen, die wir erreichen wollen. Bringen Sie es übers Herz, wenn Sie vielleicht mit blutender Seele im Daseinskampfe stehen, demjenigen, dem Sie wehe getan haben im Daseinskampfe, in liebevoller Gesinnung von Seele zu Seele Ihre Gedanken zuströmen zu lassen, dann werden Sie als Materialist vielleicht denken, Sie haben nichts getan. Nach diesen Auseinandersetzungen aber werden Sie einsehen, daß dies später seine Wirkung haben muß, denn nichts, das wissen wir, ist verloren, was im Geistigen vorgeht.

So können wir manchmal mit zagender Seele, mit Wehmut im Herzen den Daseinskampf aufnehmen und durch unsere Mitarbeit denselben umwandeln. So in diesem Daseinskampfe arbeiten, heißt in praktischer Beziehung den Daseinskampf ändern. Nicht von heute auf morgen ist das möglich, aber daß wir es können, ist außer allem Zweifel. Wenn wir an der eigenen Seele im Sinne der Bruderliebe arbeiten, dann nützen wir dadurch, daß wir uns nützen, am meisten der Menschheit, denn wahr ist es, daß unsere Fähigkeiten entwurzelt sind wie eine aus dem Boden gerissene Pflanze, wenn wir im selbstischen Sondersein verharren. Sowenig ein Auge noch ein Auge ist, wenn es aus dem Kopfe gerissen wird, sowenig ist eine menschliche Seele noch eine Menschenseele, wenn sie sich von der menschlichen Gemeinschaft trennt. Und Sie werden sehen, daß wir unsere Talente dann am besten ausbilden, wenn wir in brüderlicher Gemeinschaft leben, daß wir am intensivsten leben, wenn wir im Ganzen wurzeln. Freilich müssen wir abwarten, bis das, was Wurzel schlägt im Ganzen, durch stille Einkehr in sich selbst zur Frucht reift.

Wir dürfen uns weder in der Außenwelt noch in uns selbst verlieren, denn wahr ist es im höchsten geistigen Sinne, was der Dichter gesagt hat, daß man stille bei sich

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selbst sein muß, wenn unsere Talente heraustreten sollen. Aber diese Talente wurzeln doch in der Welt. Sie stärken und uns dem Charakter nach bessern können wir nur dann, wenn wir in der Gemeinschaft leben. Deshalb ist es wahr im Sinne des echten wahren Bruderschaftsprinzips, daß die Brüderlichkeit den Menschen gerade im Daseinskampfe am allerstärksten macht, und er wird am meisten von seinen Kräften in der Stille seines Herzens finden, wenn er seine ganze Persönlichkeit, seine ganze Individualität mit den andern Menschenbrüdern zusammen ausbildet. Wahr ist es: Es bildet ein Talent sich in der Stille -, wahr ist es aber auch: Es bildet ein Charakter und damit der ganze Mensch und die ganze Menschheit sich im Strome der Welt.

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INNERE ENTWICKELUNG Berlin, 7. Dezember 1906

In einer großen Reihe von Vorträgen ist hier von den Vorstellungen über die Welt des Übersinnlichen und ihren Zusammenhang mit der Welt des Sinnlichen gesprochen worden. Es ist nur natürlich, daß immer wieder und wieder die Frage auftaucht: Woher stammen die Erkenntnisse von der übersinnlichen Welt? Mit dieser Frage, oder mit andern Worten, mit der Frage nach der inneren Entwickelung des Menschen wollen wir uns heute beschäftigen.

Innere Entwickelung des Menschen ist hier in dem Sinne gemeint, daß sie das Hinaufsteigen des Menschen zu Fähigkeiten bedeutet, die er sich erwerben muß, wenn er jene übersinnlichen Erkenntnisse zu den seinen machen will. Nun mißverstehen Sie nicht dasjenige, was dieser Vortrag will. Dieser Vortrag ist weit davon entfernt, Regeln oder Gesetze aufzustellen, die etwas mit allgemeiner menschlicher Sittlichkeit oder mit Forderungen, die der allgemeinen Zeitreligion angehören, zu tun haben. Ich muß das ausdrücklich aus dem Grunde bemerken, weil ja immer wieder und wieder in unserer Zeit des Nivellements, wo man so gar keinen Unterschied gelten lassen will zwischen Mensch und Mensch, das Mißverständnis auftaucht, als ob derjenige, der von Okkultismus spricht, irgendwelche allgemeine menschliche Forderungen, sittliche Grundsätze oder dergleichen, die für jeden ohne Unterschied gelten, aufstellte. Das ist nicht der Fall. Auch ist der Vortrag, um den es sich heute handelt, keineswegs ein solcher, den man verwechseln darf mit einem Vortrag über allgemeine Grundsätze der theosophischen Bewegung.

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Der Okkultismus ist nicht dasselbe wie Theosophie. Die Theosophische Gesellschaft hat nicht allein und gewiß nicht ausschließlich die Aufgabe, den Okkultismus zu pflegen. Es könnte sogar möglich sein, daß derjenige, der sich dieser Theosophischen Gesellschaft anschließt, den Okkultismus ganz und gar verpönt.

Unter denjenigen Dingen, die in der Theosophischen Gesellschaft gepflegt werden, zu denen auch eine allgemeine Ethik gehört, ist eben auch der Okkultismus, welcher die Kenntnis derjenigen Gesetze unseres Daseins in sich schließt, die sich der gewöhnlichen Sinnesbeobachtung im alltäglichen menschlichen Erfahrungsbereiche entziehen. Keineswegs sind aber die Gesetze solche, die nichts zu tun haben mit dieser alltäglichen Erfahrung. Okkult heißt: verborgen, geheimnisvoll. Es muß aber wieder und wieder betont werden, daß der Okkultismus etwas ist, wozu gewisse Vorbedingungen wirklich nötig sind. Genau so unverständlich wie die höhere Mathematik für den gewöhnlichen Bauern ist, der noch nie etwas davon gehört hat, ist es der Okkultismus für viele Leute unserer Zeit.

Der Okkultismus hört aber auf, okkult zu sein, wenn man sich seiner bemächtigt hat. Ich habe also damit das Feld des heutigen Vortrags streng begrenzt. Niemand kann also einwenden - und das muß nach den jahrtausendalten Erfahrungen und vielfach geflogenen Versuchen ausdrücklich betont werden -, die Forderungen, die der Okkultismus aufstellt, können nicht erfüllt werden, sie widersprechen einer allgemeinen Menschenkultur. Von niemandem wird die Erfüllung derselben verlangt. Wenn aber jemand zu mir kommt und die Überzeugungen, die der Okkultismus verschafft, vermittelt haben will, sich aber weigert, sich mit dem Okkultismus zu befassen, so befindet er sich in genau derselben Lage wie der Schulknabe, der eine Glasstange

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elektrisch machen will, sich aber weigert, sie zu reiben. Sie wird eben ohne Reibung nicht elektrisch werden. So ungefähr ist es auch mit dem, der gegen die Praktiken des Okkultismus etwas einzuwenden hätte.

Niemand wird aufgefordert, Okkultist zu werden, jeder muß freiwillig zum Okkultismus kommen. Derjenige, welcher den Einwand macht, daß wir den Okkultismus nicht brauchen, der braucht sich nicht mit ihm zu befassen. Es ist kein Appell an die allgemeine Menschheit, den der Okkultismus in jetziger Zeit stellt. In unserer gegenwärtigen Kultur ist es außerdem außerordentlich schwierig, sich den Forderungen eines Lebens zu unterwerfen, das die übersinnliche Welt erschließt.

Zwei Vorbedingungen fehlen in unserer Kultur ganz und gar. Die erste Forderung ist die Isolation, das, was man in der Geheimwissenschaft die höhere menschliche Einsamkeit nennt, die zweite ist die Überwindung eines in unserer Zeit in bezug auf die innersten seelischen Eigenschaften aufs höchste gestiegenen, der Menschheit zum großen Teil unbewußten Egoismus.

Der Mangel an diesen beiden Vorbedingungen macht den Entwickelungsgang des inneren Lebens geradezu zu einer Unmöglichkeit. Isolation oder geistige Einsamkeit ist heute deshalb so schwer möglich, weil das Leben immer mehr und mehr zerstreut, zersplittert, kurz, äußere Sinnlichkeit fordert. In keiner Kultur haben die Menschen jemals so im Äußerlichen gelebt wie gerade in unserer. Und nun bitte ich, wieder alles, was ich sage, nicht als Kritik zu nehmen, sondern lediglich als Charakteristik.

Selbstverständlich weiß derjenige, der so spricht, wie ich heute spreche, ganz genau, daß das nicht anders sein kann, daß gerade die großen Vorzüge und bedeutenden Errungenschaften unserer Zeit auf diesen Eigenschaften beruhen. Aber

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deshalb ist unsere Zeit so bar jeder übersinnlichen Erkenntnis und bar jedes Einflusses übersinnlicher Erkenntnisse auf unsere Kultur. In andern Kulturen - und es gibt solche - ist der Mensch in der Lage, sein inneres Leben mehr zu pflegen und sich von Einwirkungen des äußeren Lebens zurückzuziehen. Innerhalb solcher Kulturen gedeiht dann das, was man im höheren Sinne inneres Leben nennt. In den morgenländischen Kulturen gibt es das, was man Joga nennt, und diejenigen, welche nach den Regeln dieser Lehre leben, heißt man Jogi. Ein Jogi ist demnach derjenige, welcher die höhere geistige Wissenschaft anstrebt, aber erst, nachdem er sich einen Meister des Übersinnlichen gesucht hat. Keiner wird sie anders suchen als unter der Anleitung eines Meisters, eines Guru. Wenn er diesen gefunden hat, so muß er einen großen Teil des Tages regelmäßig, nicht unregelmäßig, dazu verwenden, ganz und gar in seiner Seele zu leben. Alle Kräfte, die der Jogi zu entwickeln hat, liegen schon in seiner Seele, sie liegen so sicher, so wahr darin wie die Elektrizität in der Glasstange, aus der sie durch Reiben hervorgelockt wird. Wahr ist es, daß kein Mensch aus sich selbst weiß, wie man diese Kräfte hervorruft, wie ja auch kein Mensch von selbst darauf kommt, daß man die Glasstange durch Reiben elektrisch machen kann. Man muß die durch Jahrtausende hindurch gemachten Beobachtungen und die dadurch herausgebildeten geheimwissenschaftlichen Methoden benützen, um die Kräfte der Seele hervorzurufen. Und das ist sehr schwer in unserer Zeit, die von jedem Menschen durch den Daseinskampf fordert, daß er sich zersplittert. Er kommt nicht zu der großen inneren Sammlung, nicht einmal zu einem Begriff von der Sammlung, den man da im Joga hatte. Kein Bewußtsein ist da von der tiefen Einsamkeit, die der Jogi suchen muß. Er muß, wenn auch nur für kurze Zeit, so doch mit ungeheurer Regelmäßigkeit

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jeden Tag dieselbe Sache rhythmisch wiederholen, mit völliger Abgeschiedenheit von alledem, worin man sonst lebt. Es ist notwendig und absolut unerläßlich, daß alles Leben, das uns sonst umgibt, vor dem Jogi erstirbt, daß seine Sinne unempfänglich werden gegenüber allen Eindrücken der Außenwelt. Blind und taub muß sich der Jogi machen können gegenüber der Umwelt für die Zeit, die er sich selbst vorschreibt. So in sich gesammelt muß er sein können - und er muß sich die Praxis in dieser Sammlung erwerben -, daß man eine Kanone neben ihm abschießen könnte, ohne daß er darin, seine Aufmerksamkeit auf das innere Leben zu richten, gestört werden würde. Frei muß er auch werden von allen Gedächtniseindrücken, von allen Erinnerungen an das Alltagsleben.

Nun bedenken Sie, wie außerordentlich schwer diese Vorbedingungen in unserer Kultur herzustellen sind, wie wenig man einen Begriff von solcher Isolation, von solcher geistigen Einsamkeit hat. Dies alles muß man nämlich unter einer Voraussetzung erreichen, nämlich unter der, nie in irgendeiner Weise die Harmonie, das völlige Gleichgewicht gegenüber der Außenwelt zu verlieren. Und das ist außerordentlich leicht möglich bei einer so tiefen Versenkung in sein Inneres. Derjenige, der sich tiefer und tiefer in sein Inneres e1nlebt, muß gleichzeitig die Harmonie mit der Außenwelt um so klarer herstellen. Nichts, was an Entfremdung, an Entfernung vom äußeren praktischen Leben anklingt, darf bei ihm auftreten, sonst gerät er auf eine schiefe Bahn, sonst wird man vielleicht sein höheres Leben bis zu einem gewissen Grade nicht von Wahnsinn unterscheiden können. Es ist wirklich eine Art Wahnsinn, wenn das innere Leben seine Beziehungen zum äußeren verliert. Denken Sie sich einmal - um Ihnen das an einem Beispiel klarzumachen -, Sie wären klug in bezug auf unsere irdischen Verhältnisse,

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Sie hätten alle Erfahrung und Weisheit, die auf Erden gesammelt werden kann. Sie schlafen abends ein, wachen aber morgens nicht auf der Erde, sondern auf dem Mars auf. Auf dem Mars sind nun aber ganz andere Verhältnisse als auf der Erde. Alle Wissenschaft, die Sie auf der Erde gesammelt haben, nützt Ihnen da ganz und gar nichts. Keine Harmonie ist mehr da zwischen dem, was in Ihrem Inneren lebt und dem, was außer Ihnen vorgeht. Daher würden Sie wahrscheinlich in einer Stunde schon, weil Sie sich in den neuen Verhältnissen nicht zurechtfinden können, in ein Mars-Irrenhaus gesteckt werden. Auf eine solche Bahn kann derjenige leicht gelenkt werden, der in der Entwickelung seines Innenlebens den Zusammenhang mit der Außenwelt verliert. Daß dies nicht geschieht, darauf hat man streng zu achten. Alles das sind große Schwierigkeiten in unserer Kultur.

Das andere Hindernis ist eine Art Egoismus in bezug auf innere seelische Eigenschaften, von denen sich die gegenwärtige Menschheit gewöhnlich keine Rechenschaft gibt. Das hängt eng mit der geistigen Entwickelung des Menschen zusammen. Es gehört nämlich zu den Vorbedingungen der geistigen Entwickelung, daß man sie nicht aus Egoismus sucht. Wer sie aus Egoismus sucht, kann nicht weit kommen. Nun ist aber unsere Zeit bis ins Innere der Menschenseele hinein egoistisch. Man erlebt immer wieder und wieder, daß man zu hören bekommt: Ja, was helfen mir alle Lehren, die im Okkultismus verbreitet werden, wenn ich sie nicht selbst erleben kann? - Wer von dieser Voraussetzung ausgeht und auch nicht von ihr abkommt, kann schwerlich zu einer wirklich höheren Entwickelung kommen, denn zur höheren Entwickelung gehört das intimste Bewußtsein menschlicher Gemeinschaft, so daß es gleichgültig ist, ob ich selbst oder ein anderer diese oder jene Erfahrung mache. Ich muß daher

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dem, der höhere Entwickelung hat als ich, unbegrenzte Liebe und volles Vertrauen entgegenbringen. Erst muß ich mich zu diesem Bewußtsein durchringen, zu dem Bewußtsein unendlichen Vertrauens gegenüber meinem Mitmenschen, wenn er sagt, das und das habe ich erlebt. Solches Vertrauen muß Bedingung des Gemeinschaftslebens sein, und wo auch immer solche okkulten Fähigkeiten in ausgedehnterem Maße herangezogen werden, da ist dieses Vertrauen in grenzenloser Weise vorhanden, da hat man das Bewußtsein, daß der Mensch eine Persönlichkeit ist, in der eine höhere Individualität lebt.. Die Grundlage für mich ist also zunächst das Vertrauen und der Glaube, weil wir nicht bloß immer in uns unser höheres Selbst suchen, sondern auch in unseren Mitmenschen. Jeder, der um uns herum lebt, ist seinem innern Wesenskern nach in voller ungeteilter Einheit mit uns.

Solange es auf mein niederes Selbst ankommt, so lange bin ich von andern Menschen getrennt. Dann aber, wenn es sich um mein höheres Selbst handelt - und nur dieses kann in die übersinnliche Welt hinaufsteigen -, dann bin ich nicht mehr von den Mitmenschen getrennt, dann bin ich ein einheitliches Wesen mit meinen Mitmenschen, dann ist derjenige, der zu mir von den höheren Wahrheiten spricht: ich selbst. Ich muß diesen Unterschied zwischen ihm und mir ganz fallenlassen, ich muß das Gefühl ganz überwinden, daß er etwas vor mir voraus hat. Versuchen Sie sich in dieses Gefühl ganz und gar hineinzuleben, so daß es bis in die intimsten Fäserchen der menschlichen Seele dringt und jeder Egoismus schwindet, und der andere, der weiter ist als Sie, wirklich so vor Ihnen steht wie Ihr eigenes Selbst, dann haben Sie eine der Vorbedingungen begriffen, die dazu gehören, höheres geistiges Leben zu erwecken.

Sie können es gerade da, wo Anleitung zum okkulten Leben - oftmals sehr verkehrt und irrtümlich - gegeben

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wird, hören: Das höhere Selbst lebt im Menschen, er braucht nur sein Inneres sprechen zu lassen und es wird sich die höchste Wahrheit offenbaren. - Nichts ist einerseits richtiger und andererseits unfruchtbarer, als was da behauptet wird. Der Mensch versuche einmal, seinen inneren Menschen sprechen zu lassen, und er wird sehen, daß in der Regel, auch wenn er sich noch so sehr einbildet> daß sein höheres Selbst zum Vorschein kommt, sein niederes Selbst spricht. Das höhere Selbst finden wir zunächst nicht in uns. Wir müssen es zuerst außer uns suchen. Bei dem, der weiter ist, können wir ein Stück lernen, da wir es da gleichsam anschaulich haben. Niemals können wir von unserem eigenen egoistischen Ich etwas für unser höheres Selbst profitieren. Wo der steht, der weiter ist als ich, da werde ich einst in Zukunft stehen. Der Anlage nach trage ich wirklich den Samen für das, was er ist, in mir. Aber erst müssen sie erhellt sein, die Wege zum Olymp hinauf, damit ich ihnen nachwandeln kann.

Ein Gefühl, Sie mögen es glauben oder nicht - jeder praktische Okkultist, der Erfahrung hat, wird es Ihnen bestätigen -, ein Gefühl ist die Grundbedingung für alle okkulte Entwickelung, welches in den verschiedenen Religionen erwähnt wird. Die christliche Religion bezeichnet es mit dem bekannten Satze, den man als Okkultist ganz und gar verstehen muß: «Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnt ihr nicht in das Reich der Himmel kommen.» Derjenige versteht den Satz allein, der im höchsten Sinne des Wortes verehren gelernt hat. Nehmen Sie einmal an, Sie hätten in frühester Jugend eine verehrungswürdige Person schildern gehört, eine Persönlichkeit, von der in Ihnen die höchste Vorstellung in einer Richtung erweckt worden ist, und es soll Ihnen die Gelegenheit geboten werden, diese Persönlichkeit näher kennenzulernen. Eine heilige Scheu vor

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dieser Persönlichkeit lebt in Ihnen an dem Tage, der Ihnen den Augenblick bringen soll, wo Sie dieselbe zum ersten Male leibhaftig sehen. Da können Sie, vor der Türe dieser Persönlichkeit stehend, das Gefühl haben, sich zu scheuen, die Klinke zu berühren und die Tür aufzumachen. Wenn Sie so hinaufschauen zu solch verehrungswürdiger Persönlichkeit, dann haben Sie ungefähr das Gefühl begriffen, das auch das Christentum meint, wenn es sagt, daß man werden soll wie die Kindlein, um teilzunehmen am Reiche der Himmel. Es kommt wirklich nicht so sehr darauf an, ob derjenige, an welchen das Gefühl gerichtet ist, es auch in vollem Maße verdient, sondern es kommt darauf an, daß wir die Fähigkeit haben, so recht tief aus unserem Inneren heraus verehrungsvoll zu etwas aufzuschauen. Das ist das Bedeutungsvolle bei der Verehrung, daß man selbst zu dem hinaufgezogen wird, zu dem man aufblickt.

Das Gefühl der Verehrung ist die erhebende Kraft, die magnetische Kraft, die uns zu den höheren Sphären des übersinnlichen Lebens hinaufzieht. Das ist das Gesetz der okkulten Welt, das sich jeder, der höheres Leben sucht, wie mit goldenen Lettern in seine Seele hineinschreiben muß. Von dieser Grundstimmung des Gemütes aus muß die Entwickelung beginnen. Ohne dieses Gefühl ist überhaupt nichts zu erreichen. Sodann muß derjenige, der innere Entwickelung sucht, sich darüber klar sein, daß er Ungeheueres in bezug auf den Menschen tut. Was er sucht, ist nichts mehr und nichts weniger als eine Neugeburt, und zwar in buchstäblichem Sinne. Die höhere Seele des Menschen soll geboren werden. Und so wie der Mensch bei seiner ersten Geburt geboren worden ist aus den tiefen inneren Gründen des Daseins, wie er hervorgetreten ist zum Lichte der Sonne, so tritt derjenige, der innere Entwickelung sucht, von dem Lichte der Sonne, von dem, was er in der Sinnenwelt erleben

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kann, zu einem höheren geistigen Licht heraus. Es wird in ihm etwas geboren, das in dem gewöhnlichen Menschen, der dabei die Mutter darstellt, ebenso tief ruht wie das Kind in der Mutter, bevor es geboren wird.

Wer sich der vollen Tragweite dieser Tatsache nicht bewußt ist, der weiß nicht, was okkulte Entwickelung heißt. Die höhere Seele, die zunächst tief, tief in der ganzen Menschennatur steckt und mit ihr verwoben ist, wird herausgeholt. Wenn der Mensch im alltäglichen Leben vor uns steht, sind niedere und höhere Natur miteinander verquickt, und das ist ein Glück für das alltägliche Leben.

Mancher, der unter uns lebt, würde, wenn er seiner niederen Natur folgte, vielleicht bösartige, schlimme Eigenschaften zutage fördern, aber in ihm lebt, vermischt mit dieser niederen Natur, die höhere, welche jene im Zaume hält. Die Vermischung ist vergleichsweise so, wie wenn wir in einem Glase eine gelbe und eine blaue Flüssigkeit mengen, was eine grüne Flüssigkeit gibt, in der wir Gelb und Blau nicht mehr unterscheiden können. So ist auch im Menschen die niedere Natur mit der höheren vermischt und beide sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Wie Sie dann aus der grünen Flüssigkeit die blaue durch chemische Mittel herausziehen können, so daß nur das Gelbe zurückbleibt und das einheitliche Grün in eine vollständige Zweiheit, in Blau und Gelb getrennt wird, so trennen Sie bei der okkulten Entwickelung die niedere von der höheren Natur. Sie ziehen die niedere Natur aus dem Körper heraus wie den Degen aus der Scheide, die dann für sich allein bleibt. Diese niedere Natur kommt so heraus, daß sie fast schauerlich erscheint. Als sie noch vermischt war mit der höheren Natur, war davon nichts zu bemerken. Jetzt aber, wo sie getrennt ist, treten alle bösartigen, schlimmen Eigenschaften hervor. Menschen, die vorher als wohlwollend erschienen waren, werden

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oft zanksüchtig und neidisch. Diese Eigenschaften saßen früher schon in ihrer niederen Natur, wurden aber von der höheren beherrscht. Das können Sie bei vielen Leuten beobachten, die auf abnormen Wegen geführt werden. Ganz besonders leicht wird der Mensch zum Lügner, wenn er in die übersinnliche Welt eingeführt wird. Er verliert leicht die Fähigkeit, Wahres von Falschem zu unterscheiden. Es gehört notwendig zur okkulten Schulung, daß parallel mit derselben die strengste Schulung des Charakters einhergeht. Das, was die Geschichte der Heiligen als deren Versuchungen erzählt, ist nicht Legende, sondern buchstäbliche Wahrheit.

Derjenige, welcher sich auf irgendeinem Wege in die höhere Welt hinaufentwickeln will, ist dieser Versuchung leicht ausgesetzt, wenn er nicht die Kraft und die Gewalt der Charakterstärke und eine höchste Moralität in sich entwickelt hat, um alles, was an ihn herantritt, niederhalten zu können. Nicht allein, daß Begierde und Leidenschaften wachsen, das ist nicht einmal so sehr der Fall, sondern - und das erscheint zunächst wunderbar - auch die Gelegenheiten nehmen zu. Wie durch ein Wunder wird derjenige, der in die höhere Welt hinaufsteigt, von Gelegenheiten zum Schlimmen und Bösen umlauert, die ihm vorher verborgen gewesen sind. In jeder Tatsache des Lebens lauert ihm ein Dämon auf, der ihn auf Abwege zu führen sucht. Was er früher nicht gesehen hat, sieht er jetzt. Es zaubert ihm gleichsam die Spaltung seiner Natur überall aus den geheimen Stätten des Lebens solche Gelegenheiten vor. Deshalb wird von der sogenannten weißen Magie, von derjenigen Schule okkulter Entwickelung, die den Menschen in die höheren Welten führt auf gute, echte und wahre Weise, eine ganz bestimmte Charakterbildung als unerläßlich gefordert. Jeder praktische Okkultist wird Ihnen sagen,

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daß niemand durch diejenige enge Pforte zu schreiten wagen sollte - so nennt man den Eingang zur okkulten Entwickelung -, ohne diese Eigenschaften fort und fort zu üben. Sie sind eine notwendige Vorschule zum okkulten Leben.

Das erste, was der Mensch entwickeln muß, ist, auf allen seinen Wegen durch das Leben das Unbedeutende von dem Bedeutenden, das Vergängliche von dem Unvergänglichen zu trennen. Diese Forderung ist leicht zu stellen, aber oft schwer durchzuführen. Es ist, wie Goethe sagt, zwar leicht, doch ist das Leichte schwer. Sehen Sie sich zum Beispiel eine Pflanze oder ein Ding an. Sie lernen erkennen, daß jedes Ding eine bedeutende und eine unbedeutende Seite hat und der Mensch meistens an dem Unbedeutenden sein Interesse findet, an der Beziehung der Sache zu ihm oder an einer untergeordneten Eigenschaft. Derjenige, der Okkultist werden will, muß sich allmählich angewöhnen, in jedem Ding eine Wesenheit zu sehen und zu suchen. Er muß, wenn er zum Beispiel eine Uhr sieht, ein Interesse daran haben, welches die Gesetze der Uhr sind. Er muß sie bis ins kleinste hinein zergliedern können und ein Gefühl dafür entwickeln, welches die Gesetze der Uhr sind. Nehmen Sie ferner an, ein Mineraloge betrachtet einen Bergkristall. Er wird schon durch eine äußere Betrachtung zu einer bedeutenden Kenntnis des Kristalls kommen. Der Okkultist aber muß einen Stein in die Hand nehmen und lebendig fühlen können, was etwa in dem folgenden Monolog angedeutet ist: In gewisser Beziehung stehst du unterhalb der Menschheit, aber in gewisser Beziehung siehst du, der Bergkristall, weit über der Menschheit. Unter der Menschheit siehst du, weil du dir von den Menschen keine Bilder durch Vorstellung machen kannst, weil du nicht empfindest. Du kannst nicht vorstellen, nicht denken und lebst nicht, aber etwas hast du vor der Menschheit voraus, du bist in dir selbst keusch,

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hast kein Verlangen, keine Wünsche und Begierden. Jeder Mensch, jedes lebendige Wesen hat Wünsche, Verlangen, Begierden; du hast sie nicht. Du bist vollkommen und wunschlos, zufrieden mit dem, was dir geworden ist, ein Vorbild für den Menschen, mit dem er dann noch seine andern Eigenschaften verbinden muß.

Kann der Okkultist das recht tief fühlen, so hat er das Bedeutende ergriffen, das ihm der Stein sagen kann. So kann der Mensch aus jedem Ding etwas Bedeutungsvolles schöpfen. Wenn ihm das dann zur Gewohnheit geworden ist, daß er das Bedeutende von dem Unbedeutenden sondert, dann hat er sich ein weiteres der Gefühle angeeignet, die der Okkultist haben muß. Sodann muß er sein eigenes Leben mit dem Bedeutenden verbinden. Darin irren die Menschen besonders in unserer Zeit sehr leicht. Die Menschen glauben sehr leicht, daß der Platz, an dem sie stehen, ihnen nicht gebühre. Wie häufig sind Menschen geneigt zu sagen: Mein Los hat mich an einen Platz gestellt, an den ich nicht passe. Ich bin, sagen wir zum Beispiel Postbeamter. Wenn ich an einen andern Platz gestellt wäre, so könnte ich den Leuten hohe Ideen vermitteln, große Lehren geben und so weiter. - Der Fehler bei diesen Menschen ist der, daß sie ihr Leben nicht an das Bedeutende ihres Berufes anknüpfen. Sehen Sie in mir etwas Bedeutendes, weil ich zu den Menschen hier reden kann, so sehen Sie das Bedeutende in Ihrem eigenen Leben und Beruf nicht. Wenn die Postbriefträger die Briefe nicht wegtrügen, so würde der ganze Briefverkehr stocken, viele Arbeit, die von andern bereits geleistet ist, wäre umsonst.

Daher ist jeder an seinem Posten von außerordentlicher Wichtigkeit für das Ganze, und keiner ist höher als der andere. Christus hat das am schönsten in geradezu herrlicher Weise anzudeuten versucht im dreizehnten Kapitel

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des Evangeliums Johanni in den Worten: «Der Knecht ist nicht größer denn sein Herr, noch der Apostel größer denn der, der ihn gesandt hat.» Diese Worte wurden gesprochen, nachdem der Meister den Aposteln die Füße gewaschen hatte. Damit wollte er sagen: Was wäre ich ohne meine Apostel? Sie müssen da sein, damit ich da sein kann in der Welt, und ich habe ihnen den Tribut zu bringen, daß ich mich vor ihnen erniedrige und ihnen die Füße wasche. - Da ist einer der bedeutendsten Hinweise für das Gefühl, das der Okkultist für das Bedeutende haben muß. Nicht darf man das äußerlich Bedeutende mit dem innerlich Bedeutenden verwechseln, darauf ist streng zu achten.

Dann müssen wir eine Reihe von Eigenschaften entwickeln. Dazu gehört in erster Linie, daß wir Herr unserer Gedanken werden, namentlich der Gedankenfoige. Man nennt das Kontrolle der Gedanken. Überlegen Sie sich einmal, wie in der Seele des Menschen die Gedanken hin- und herschwirren, wie sie drinnen herumirrlichtelieren: da tritt ein Eindruck auf, dort ein anderer, und jeder einzelne verändert den Gedanken. Es ist nicht wahr, daß wir den Gedanken in der Hand haben, vielmehr beherrschen uns die Gedanken ganz und gar. Wir müssen aber so weit kommen, daß wir während einer gewissen Zeit des Tages uns in einen bestimmten Gedanken versenken und uns sagen: Kein anderer Gedanke darf in unsere Seele einziehen und uns beherrschen. - Damit führen wir selbst die Zügel des Gedankenlebens für einige Zeit.

Das zweite ist, daß wir uns in ähnlicher Weise zu unseren Handlungen verhalten, also Kontrolle der Handlungen üben. Dabei ist notwendig, daß wir wenigstens dazu gelangen, ab und zu solche Handlungen zu begehen, zu denen wir durch nichts, was von außen kommt, veranlaßt sind. Alles dasjenige, wozu wir durch unseren Stand, unseren

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Beruf, unsere Stellung veranlaßt sind, das führt uns nicht tiefer in das höhere Leben hinein. Das höhere Leben hängt von solchen Intimitäten ab, zum Beispiel daß wir den Entschluß fassen, ein Erstes zu tun, etwas, was unserer ureigensten Initiative entspringt, und wenn es auch nur eine ganz unbedeutende Tatsache wäre. Alle andern Handlungen tragen zum höheren Leben nichts bei.

Das Folgende, das dritte, was es zu erstreben gilt, ist die Ertragsamkeit. Die Menschen schwanken zwischen Freude und Schmerz hin und her, sind in diesem Zeitpunkte himmelhoch jauchzend, im andern zu Tode betrübt. So lassen sich die Menschen auf den Wellen des Lebens, der Freude und des Schmerzes schaukeln. Sie müssen aber den Gleichmut, die Gelassenheit erlangen. Das größte Leid, die größten Freuden dürfen sie nicht aus der Fassung bringen, sie müssen feststehen, ertragsam werden.

Das vierte ist das Verständnis für ein jegliches Wesen. Durch nichts wird schöner ausgedrückt, was es heißt, ein jegliches Wesen zu verstehen, als durch eine Legende, die uns über den Christus Jesus erhalten geblieben ist, nicht im Evangelium, sondern in einer persischen Erzählung. Jesus ging mit seinen Jüngern über Feld, und sie fanden auf dem Wege einen verwesenden Hund. Greulich war das Tier anzusehen. Jesus blieb stehen und warf bewundernde Blicke auf dasselbe, indem er sagte: «Wie schöne Zähne hat doch das Tier.» Jesus hat aus dem Scheußlichen das eine Schöne herausgefunden. Streben Sie, dem Herrlichen überall so beizukommen, an jedem Ding draußen in der Wirklichkeit, dann werden Sie sehen, daß jedes Ding etwas hat, zu dem man ja sagen kann. Machen Sie es wie Christus, der an dem toten Hunde die schönen Zähne bewunderte. Das ist die Richtung, die zur großen Toleranz und zum Verständnis für jegliches Ding und für jedes Wesen führt.

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Die fünfte Eigenschaft ist die volle Unbefangenheit gegenüber allem Neuen, das uns entgegentritt. Die meisten Menschen beurteilen das Neue, das ihnen entgegentritt, nach dem Alten, was ihnen schon bekannt ist. Wenn jemand kommt, um ihnen etwas zu sagen, so erwidern sie gleich: Darüber bin ich anderer Meinung. - Wir dürfen aber einer Mitteilung, die uns zukommt, nicht gleich unsere Meinung gegenüberstellen, wir müssen vielmehr auf dem Ausguck stehen, um herauszufinden, wo wir etwas Neues lernen können. Und lernen können wir selbst von einem kleinen Kinde. Selbst wenn einer der weiseste Mensch wäre, so muß er geneigt sein, mit seinem Urteil zurückzuhalten und andern zuzuhören. Dieses Zuhörenkönnen müssen wir entwickeln, denn es befähigt uns, den Dingen die größtmöglichste Unbefangenheit entgegenzubringen. Im Okkultismus nennt man dies «Glaube», und das ist die Kraft, die Eindrücke, die das Neue auf uns macht, nicht durch das, was wir demselben entgegenhalten, abzuschwächen.

Die sechste Eigenschaft ist das, was jeder von selbst erhält, wenn er die angeführten Eigenschaften entwickelt hat. Das ist die innere Harmonie. Die innere Harmonie hat der Mensch, der die andern Eigenschaften hat. Dann ist es auch notwendig, daß der Mensch, der die okkulte Entwickelung sucht, das Freiheitsgefühl im höchsten Maße ausgebildet hat, das Freiheitsgefühl, durch das er in sich selbst das Zentrum seines Wesens suchen und auf eigenen Füßen stehen kann, daß er nicht jeden zu fragen braucht, was er zu tun hat, sondern daß er aufrecht steht und frei handelt. Das ist auch etwas, was man sich aneignen muß.

Hat der Mensch diese Eigenschaften in sich entwickelt, dann ist er über alle Gefahr erhaben, die die Spaltung seiner Natur in ihm bewirken könnte, dann können die Eigenschaften seiner niederen Natur nicht mehr auf ihn wirken,

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dann kann er vom Wege nicht mehr abirren. Daher müssen diese Eigenschaften mit großer Genauigkeit herausgebildet werden. Dann kommt das okkulte Leben, dessen Ausdruck eine gewisse Rhythmisierung des Lebens bedingt.

Der Ausdruck: Rhythmisierung des Lebens drückt die dazu entwickelte Fähigkeit aus. Wenn Sie die Natur betrachten, so finden Sie in ihr einen gewissen Rhythmus. Sie werden es für selbstverständlich halten, daß das Veilchen alljährlich zur selben Zeit im Frühling blüht, daß die Saat auf dem Felde, die Traube zur selben Zeit am Weinstock reif wird. Diese rhythmische Aufeinanderfolge der Erscheinungen findet sich überall draußen in der Natur. Überall ist Rhythmus, überall Wiederholung in regelmäßiger Folge. Wenn Sie hinaufgehen zu den Wesen, die höher entwickelt sind, sehen Sie immer mehr und mehr diese rhythmische Folge abnehmen. Sie sehen auch beim Tier, noch in höherem Grade, alle Eigenschaften rhythmisch geordnet. Zu bestimmter Zeit des Jahres bekommt das Tier ganz bestimmte Funktionen und Fähigkeiten. Je höher sich das Wesen entwickelt, je mehr das Leben in die eigenen Hände des Wesens gegeben wird, desto mehr hört dieser Rhythmus auf. Sie müssen wissen, daß des Menschen Leib nur eines der Glieder seiner Wesenheit ist. Dann kommt der Ätherleib, dann der Astralleib und endlich die höheren Glieder, die jenen zugrunde liegen.

Der physische Leib ist in hohem Maße dem Rhythmus unterworfen, dem die ganze äußere Natur unterworfen ist. Wie das Pflanzen- und Tierleben in seiner außeren Form rhythmisch abläuft, so verläuft auch das Leben des physischen Körpers. Das Herz schlägt rhythmisch, die Lunge atmet rhythmisch und so weiter. Alles dies verläuft so rhythmisch, weil es geordnet ist von höheren Gewalten, von der Weisheit der Welt, von dem, was die Schriften den Heiligen

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Geist nennen. Die höheren Leiber, und namentlich der Astralleib, sind, ich möchte sagen, in gewisser Weise von diesen höheren geistigen Mächten verlassen und haben ihren Rhythmus verloren. Oder können Sie es leugnen, daß Ihre Betätigung in bezug auf Wünsche, Begierden und Leidenschaften unregelmäßig ist, daß sie gar keinen Vergleich aushält mit der Regelmäßigkeit, die im physischen Leibe waltet? Wer den Rhythmus lernt, der in der physischen Natur liegt, der findet darin immer mehr das Vorbild für die Geistigkeit. Wenn Sie das Herz betrachten, dieses wunderbare Organ mit dem regelmäßigen Schlag und seiner eingepflanzten Weisheit, und vergleichen es mit den Begierden und Leidenschaften des Astralleibes, die alle möglichen Aktionen gegen das Herz loslassen, dann werden Sie erkennen, wie nachteilig die Leidenschaft auf den regelmäßigen Gang desselben wirkt. Ebenso rhythmisch aber, wie die Verrichtungen des physischen Leibes sind, müssen die Funktionen des Astralleibes werden.

Ich will hier etwas anführen, was den meisten der heutigen Menschen grotesk erscheinen wird, und zwar in bezug auf das Fasten. Das Bewußtsein von der Bedeutung des Fastens ist uns ganz und gar verlorengegangen. Von dem Gesichtspunkt der Rhythmisierung unseres Astralleibes ist das Fasten aber etwas außerordentlich Sinnvolles. Was heißt Fasten? Es heißt, die Eßbegierde zügeln und den Astralleib in bezug auf die Eßbegierde ausschalten. Der, welcher fastet, schaltet den Astralleib aus und entwickelt keine Eßlust. Das ist so, wie wenn Sie eine Kraft ausschalten in einer Maschine. Der Astralleib ist dann untätig, und die ganze Rhythmik des physischen Leibes und die ihm eingepfianzte Weisheit wirken hinauf in den Astralleib und rhythmisieren denselben. Wie das Siegel von einem Petschaft, so drückt sich die Harmonie des physischen Leibes dem Astralleibe ein

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und sie würde sich viel nachhaltiger übertragen, wenn er nicht immer unregelmäßig gemacht würde durch die Begierden, Leidenschaften und Wünsche, auch durch geistige Begierden und Wünsche.

Was dem heutigen Menschen notwendiger ist, als das in früherer Zeit der Fall war, das ist, Rhythmus in sein ganzes höheres Leben hineinzubringen. Ebenso wie dem physischen Leibe Rhythmus von Gott eingepflanzt ist, so muß der Mensch seinen Astralkörper rhythmisch machen. Der Mensch muß sich seinen Tag vorschreiben, ihn für den Astralleib so einteilen, wie der Geist der Natur ihn für die niederen Reiche einteilt. Morgens früh, zu ganz bestimmter Zeit, muß man eine geistige Verrichtung machen, zu einer andern Zeit, die wieder streng festgehalten werden muß, eine andere, am Abend wieder eine andere. Diese geistigen Übungen dürfen nicht willkürlich gewählt werden, sondern müssen zur Weiterbildung des höheren Lebens geeignet sein. Das ist eine Art, das Leben in die Hand zu nehmen und in der Hand zu behalten. Setze dir also für morgens eine Stunde fest, wo du dich konzentrierst. Diese Stunde mußt du einhalten. Da mußt du eine Art Windstille herstellen, damit der große okkulte Meister in dir aufwachen kann. Da mußt du meditieren über einen großen Gedankeninhalt, der nichts mit der Außenwelt zu tun hat, und diesen Gedankeninhalt ganz in dir aufleben lassen. Es genügt eine kurze Zeit, vielleicht eine Viertelstunde, es genügen selbst fünf Minuten, wenn man nicht mehr Zeit hat. Es ist aber wert- und zwecklos, wenn man diese Übungen unregelmäßig macht. Macht man sie regelmäßig, so daß die Tätigkeit des Astralleibes regelmäßig wie eine Uhr wird> dann haben sie Wert. Der Astralleib bekommt ein ganz anderes Aussehen, wenn Sie diese Übungen regelmäßig machen. Setzen Sie sich also des Morgens hin und machen Sie diese

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Übungen, so werden sich die Kräfte, die ich Ihnen schilderte, entwickeln. Es muß aber, wie gesagt, regelmäßig geschehen, denn der Astralleib erwartet um dieselbe Zeit, daß dasselbe mit ihm vorgenommen wird, und er gerät in Unordnung, wenn es nicht geschieht. Es muß wenigstens die Gesinnung zur Ordnung vorhanden sein. Wenn Sie in dieser Weise Ihr Leben rhythmisieren, dann müssen Sie die Erfolge in nicht allzulanger Zeit gewahren, nämlich das geistige Leben, das zunaöchst vor dem Menschen verborgen ist, wird in gewissem Grade offenbar.

Das Menschenleben wechselt in der Regel zwischen vier Zuständen. Der erste Zustand ist die Wahrnehmung der Außenwelt. Sie schauen mit den Sinnen herum und nehmen die Außenwelt wahr. Der zweite Zustand ist derjenige, den wir Phantasie, Vorstellungsleben nennen können, der etwas Verwandtes mit dem Traumleben hat, sogar dazugehört. Da wurzelt der Mensch nicht in der Umgebung, sondern ist losgelöst von derselben, da hat er keine Wirklichkeiten vor sich, höchstens Reminiszenzen. Der dritte Zustand ist der traumlose Schlaf. Da hat der Mensch gar kein Bewußtsein von dem Ich, und der vierte Zustand ist derjenige, in welchem der Mensch in der Erinnerung lebt. Das ist etwas anderes als Wahrnehmung, das ist schon Abgezogenes, Geistiges. Hätte der Mensch keine Erinnerung, so könnte er überhaupt keine geistige Entwickelung erhalten.

Inneres Leben fängt an sich zu entwickeln durch innere Beschaulichkeit und Meditation. Da macht dar Mensch dann über kurz oder lang die Wahrnehmung, daß er nicht mehr in chaotischer Weise träumt, sondern daß er in höchst bedeutsamer Weise träumt, und daß sich ibm im Traume merkwürdige Dinge enthüllen, die er nach und nach anfängt als Offenbarung geistiger Wahrheiten zu erkennen. Es kann natürlich leicht der triviale Einwand erhoben werden: Das

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ist eben alles geträumt, was geht uns das an? - Wenn aber jemand im Traume den lenkbaren Luftballon entdeckte und ihn dann ausführte, dann hätte dieser Traum eben die Wahrheit enthüllt. So kann also eine Idee noch in anderer als der gewöhnlichen Weise erfaßt werden, und die Wahrheit derselben muß sich dann in der Verwirklichung finden. Wir müssen also von deren innerer Wahrheit von außen her überzeugt werden.

Die nächste Stufe im geistigen Leben ist die, wo wir die Wahrheit durch unsere eigenen Eigenschaften erfassen und unsere Träume mit Bewußtsein lenken. Wenn wir anfangen, den Traum in regelmäßiger Weise zu lenken, so sind wir auf den Stufen, wo uns die Wahrheit durchsichtig wird. Man nennt die erste Stufe die materielle Erkenntnis, wozu der Gegenstand daliegen muß. Die andere Stufe ist die imaginative Erkenntnis. Diese entwickelt man durch Meditation, durch Gestaltung des Lebens in rhythniischer Weise. Mühsam ist es, sie zu erringen. Ist sie aber erreicht, dann kommt auch die Zeit, wo kein Unterschied mehr ist zwischen Wahrnehmung im gewöhnlichen Leben und Wahrnehmung im Übersinnlichen. Wenn wir zwischen Dingen des gewöhnlichen Lebens sind, also in der sinnlichen Welt, und ändern unseren geistigen Zustand, so erleben wir dann fortwährend die geistige, die übersinnliche Welt, wenn wir uns genügend in dieser Weise trainiert haben. Das ist der Fall, sobald wir imstande sind, wirklich blind und taub zu werden gegenüber der Sinnenwelt, uns an nichts zu erinnern aus dem Alltagsleben und dennoch ein geistiges Leben in uns haben. Dann beginnt unser Traumleben eine bewußte Form anzunehmen. Und wenn wir imstande sind, von diesem etwas hineinzugießen in unser Alltagsleben, dann kommt auch das, was uns die seelischen Eigenschaften der um uns herum sich befindenden Wesen wahrnehmbar macht.

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Wir sehen dann nicht mehr das Äußere der Dinge allein, sondern wir sehen dann auch das Innere, den verborgenen Wesenskern der Dinge, der Pflanzen, der Tiere und der Menschen. Ich weiß, daß die meisten sagen werden: Das sind im Grunde genommen andere Dinge. Das ist ganz richtig; es sind immer ganz andere Dinge als die, welche der Mensch sieht, der solche Sinne nicht hat. Das dritte ist der Zustand, der sonst ganz leer ist, der aber anfängt belebt zu werden, wenn die Kontinuität des Bewußtseins eintritt. Die Kontinuität kommt ganz von selbst, der Mensch schläft dann nicht mehr bewußtlos. Während der Zeit, wo er sonst schläft, erlebt er dann die übersinnliche Welt.

Worin besteht sonst der Schlaf? Der physische Leib liegt im Bette und der Astralleib lebt in der übersinnlichen Welt. In dieser übersinnlichen Welt gehen Sie spazieren. In der Regel kann der Mensch mit heutiger Disposition sich nicht weit vom Körper entfernen. Wenn man nun durch Regeln, die die Geisteswissenschaft gibt, für diesen während des Schlafes herumziehenden Astralleib Organe entwickelt hat, wie der physische Leib Organe hat, so fängt er an, während des Schlafes sich bewußt zu werden. Der physische Leib ware blind und taub, wenn er keine Augen und Ohren hätte, und der Astralleib, der in der Nacht spazierengeht, ist aus demselben Grunde blind und taub, weil er noch keine Augen und Ohren hat. Diese werden ihm aber entwickelt durch die Meditation, sie ist das Mittel zur Heranbildung der Organe. Diese Meditation muß dann in regelmäßiger Weise geleitet werden. Sie wird so geleitet, daß der Leib des Menschen die Mutter und der Geist des Menschen der Vater ist. Der Leib des Menschen, wie er physisch vor uns steht, ist in jedem Glied, das er uns darbietet, ein Geheimnis, und zwar so, daß jedes Glied in bestimmter, aber verborgener Weise zu einer Partie des Astralleibes gehört. Das

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sind die Dinge, die der Okkultist kennt. Er weiß zum Beispiel, wozu der Punkt zwischen den Augenbrauen gehört im physischen Leibe. Er gehört zu einem bestimmten Organe im astralen Organismus, und indem Ihnen der Geheimwissenschafter angibt, in welcher Weise Sie Gedanken, Gefühle und Empfindungen hinlenken müssen zu dem Punkte zwischen den Augenbrauen, dadurch daß Sie irgend etwas, was im physischen Leibe ausgebildet ist, in Zusammenhang bringen mit dem Entsprechenden im Astralleibe, bekommen Sie eine gewisse Empfindung im Astralleibe. Es muß aber regelmäßig geschehen, und man muß wissen, wie. Dann fängt der Astralleib an, sich zu gliedern. Aus einem Klumpen wird er zum Organismus, in dem sich die Organe ausbilden. Die astralen Sinnesorgane habe ich in der Zeitschrift «Lucifer-Gnosis» beschrieben. Man nennt sie auch Lotusblumen. Durch bestimmte Formeln werden diese Lotusblumen ausgebildet. Wenn sie ausgebildet sind, dann ist der Mensch fähig, die geistige Welt wahrzunehmen. Dies ist dann dieselbe Welt, welche er betritt, wenn er durch die Pforte des Todes schreitet. Zuschanden gemacht ist dann der Ausspruch Hamlets, daß von jenem unbekannten Land noch kein Wanderer zurückgekommen ist.

Sie können also von der sinnlichen Welt in die übersinnliche Welt hin eingehen, besser gesagt, hineinschlüpfen, und sowohl da als dort leben. Das ist kein Leben in einem Wolkenkuckucksheim, sondern ein Leben in demjenigen Gebiet, welches uns erst das Leben in unserem Gebiete erklärlich und verständlich macht. So wie ein gewöhnlicher Mensch, der die Gesetze der Elektrizität nicht studiert hat, in eine elektrisch betriebene Fabrik hineingeht, das wunderbare Getriebe sieht und es nicht versteht, so versteht auch der gewöhnliche Mensch nicht das Getriebe der geistigen Welt. Der Unverstand des Fabrikbesuchers besteht so lange,

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als er die Gesetze der Elektrizität nicht kennt. So ist der Mensch auch im Gebiete des Geistigen unverständig, solange er nicht die Gesetze des Geistigen kennt. Es gibt nichts in unserer Welt, das nicht auf Schritt und Tritt von der geistigen Welt abhängig wäre. Alles, was uns hier umgibt, ist äußerer Ausdruck der geistigen Welt. Es gibt keinen Stoff. Jeder Stoff ist verdichteter Geist, und wer in die geistige Welt hineinsieht, dem vergeistigt sich die ganze stofflich sinnliche Welt, die Welt überhaupt. Wie das Eis vor der Sonne zu Wasser schmilzt, so schmilzt vor der Seele, die in die geistige Welt hineinsieht, alles Sinnliche zu einem Geistigen, so offenbart sich allmählich der Urgrund der Welt vor dem geistigen Auge und dem geistigen Ohre.

In Wahrheit ist das Leben, das der Mensch auf diese Art kennenlernt, das geistige Leben, das der Mensch im Inneren schon fortwährend führt, von dein er aber nichts weiß, weil er sich selbst nicht kennt, bevor er die Organe für die höhere Welt sich entwickelt hat. Denken Sie sich einmal, Sie wären Mensch mit den Eigenschaften, die Sie jetzt haben, hätten aber keine Sinnesorgane. Sie wüßten nichts von der Welt um Sie herum, Sie hätten kein Verständnis für den physischen Leib, und doch gehörten Sie der physischen Welt an. So gehört die Seele des Menschen der geistigen Welt an, weiß es aber nicht, weil sie nicht hört und nicht sieht. Wie unser Körper aus den Kräften und Stoffen der physischen Welt genommen ist, so ist unsere Seele aus den Kräften und Stoffen der geistigen Welt genommen. Wir erkennen uns nicht in uns, sondern erst in unserer Umgebung. So wahr Sie nicht Herz und Gehirn sehen können, ohne daß Sie es durch Ihre Sinnesorgane an andern wahrnehmen - selbst mit Hilfe der Röntgenstrahlen können nur Ihre Augen das Herz sehen -, so wahr ist es, daß Sie Ihre eigene Seele nicht sehen oder hören können, ohne daß Sie sie durch geistige

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Sinnesorgane in der Umwelt erkennen. Sie können sich nur durch Ihre Umwelt erkennen. Es gibt in Wahrheit keine Innenerkenntnis, keine Selbstbeschauung, es gibt nur eine Erkenntnis, eine Offenbarung durch Organe sowohl des physischen als des geistigen Lebens um uns herum. Wir gehören den Welten um uns her an, der physischen, der seelischen und der geistigen Welt. Wir lernen aus der physischen, wenn wir physische Organe haben und aus der geistigen Welt, aus allen Seelen, wenn wir geistige, seelische Organe haben. Es gibt keine andere Erkenntnis als Welterkenntnis.

Müßig ist es und leere Beschaulichkeit, wenn der Mensch in sich brütet und glaubt, durch bloße Selbstschau irgend etwas erreichen zu können. Den Gott in sich findet der Mensch, wenn er die göttlichen Organe in sich erweckt und dann in seiner Umwelt sein höheres, göttlichcs Selbst findet, wie er sein niederes Selbst auch nur durch seine Augen und Ohren in der Umwelt finden kann. Wir selbst werden uns klar als physische Wesen durch den Umgang mit der Sinnenwelt, und wir werden uns klar in geistiger Beziehung dadurch, daß wir geistige Sinne in uns entwickeln. Entwickelung des Inneren heißt, sich erschließen für das göttliche Leben in der Außenwelt um uns herum.

Jetzt werden Sie verstehen, warum es notwendig ist, daß zunächst derjenige, der so, wie ich es beschrieben habe, in die höhere Welt aufsteigt, eine unendliche Festigung seines Charakters zuerst erfährt. Wie die Sinnenwelt ist, kann der Mensch zunächst durch sich selbst erfahren, weil seine Sinne schon erschlossen sind, weil ein gütiger göttlicher Geist, der gesehen und gehört hat in der physischen Welt, in grauester Vorzeit neben dem Menschen gestanden hat, bevor er gesehen und gehört hat und ihm die Augen und Ohren erschlossen hat. Von eben solchen Wesen muß der Mensch heute lernen, geistig zu sehen, von Wesen, die schon

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können, was er lernen muß. Wir müssen einen Guru haben, der uns sagt, wie wir unsere Organe entwickeln sollen, der uns sagt, was er gemacht hat, daß die Organe sich entwickelt haben. Der, weicher anleiten will, muß sich eine Grundeigenschaft angeeignet haben: die unbedingte Wahrhaftigkeit, und dies ist auch eine Hauptforderung, die an den Schüler gestellt werden muß. Niemand darf zum Okkultisten ausgebildet werden, es sei denn, daß er zu dieser Grundeigenschaft der unbedingten Wahrhaftigkeit vorher ausgebildet wird.

Gegenüber den sinnlichen Erfahrungen kann man prüfen, was gesagt wird. Wenn ich Ihnen aber aus der geistigen Welt etwas erzähle, so müssen Sie Vertrauen haben, weil Sie noch nicht so weit sind, daß Sie es prüfen können. Der, welcher Guru sein will, muß so wahrhaftig geworden sein, daß es ihm unmöglich ist, es leichtzunehmen mit solchen Behauptungen bezüglich der geistigen Welt und des geistigen Lebens. Die Sinnenwelt korrigiert sofort die Irrtümer, welche wir in bezug auf diese Sinnenwelt machen, in der geistigen Welt aber müssen wir jene Richtschnur in uns selbst haben, wir mussen streng trainiert sein, so daß wir nicht gezwungen sind, die Kontrolle durch die Außenwelf zu machen, sondern sie in uns selbst haben. Diese Kontrolle können wir uns nur erwerben, indem wir die strengste Wahrhaftigkeit schon hier in der Welt uns aneignen. Deshalb hatte auch die Theosophische Gesellschaft, als sie begann, einige elementare Lehren des Okkultismus vor die Welt hinauszutragen, den Grundsatz anzunehmen: Kein Gesetz über der Wahrheit. - Wenige verstehen diesen Grundsatz. Die meisten sind damit zufrieden, wenn sie sich sagen können, ich habe das Bewußtsein, daß es wahr ist, und wenn es falsch ist, so sagen sie, ich habe mich geirrt. Der Okkultist darf nicht auf seine subjektive Ehrlichkeit pochen. Da ist

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er auf falscher Fährte. Er muß immer mit den Tatsachen in der Außenwelt übereinstimmen und eine Erfahrung, die dagegen spricht, muß er als Irrtum, als Fehler ansehen. Da-für-Können und Nichts-dafür-Können hört für den Okkultisten auf. Er muß mit den Tatsachen des Lebens in absolutem Einklang stehen. Man muß anfangen, sich im strengsten Sinne für jede Behauptung, die man aufstellt, verantwortlich zu fühlen. Dann erzieht man sich zu der unbedingten Sicherheit, die derjenige für sich und andere haben muß, der ein geistiger Führer sein will.

So sehen Sie, daß ich Ihnen heute - wir werden über dieses Thema noch einmal sprechen müssen, um die höheren Partien noch hinzuzufügen - eine Reihe Eigenschaften und Verfahrungsarten angeben mußte, die Ihnen zu intim erscheinen werden, um mit andern darüber zu sprechen, die jede Seele mit sich selbst abmachen muß, die Ihnen vielleicht ungeeignet erscheinen, das gewaltige Ziel zu erreichen, das erreicht werden soll, nämlich das Eintreten in die übersinnliche Welt. Diesen Eintritt wird derjenige unbedingt erreichen, weicher den Weg beschreitet, den ich charakterisiert habe.

Wann? Darüber hat einer der vorzügiichsten Teilnehmer in der theosophischen Bewegung, unser längstverstorbenes Mitglied Subba Row, sich zutreffend ausgesprochen. Er antwortete auf die Frage, wie lange es dauert: Sieben Jahre, vielleicht auch siebenmal sieben Jahre, vielleicht auch sieben Inkarnationen, vielleicht auch bloß sieben Stunden. - Es hängt ganz von dem ab, was der Mensch ins Leben mitbringt. Es kann ein Mensch vor uns stehen, der scheinbar ganz dumm ist, der aber ein jetzt verborgenes höheres Leben mitgebracht hat, das nur herausgeholt werden muß. Heute sind die meisten Menschen in okkulter Beziehung weiter, als es scheint, und es würde dies vielen auch bekannt sein,

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wenn unsere materiellen Verhältnisse und unsere materielle Zeit sie nicht so sehr in das innere Leben der Seele zurückschlüge. Ein großer Prozentsatz der Menschen von heute war früher schon weiter. Es hängt von verschiedenen Dingen ab, ob das, was im Menschen ist, herauskommt. Man kann aber einigen Hilfe geben. Denken Sie sich, ein Mensch steht vor mir. In seiner früheren Inkarnation war er eine hochentwickelte Individualität, hat aber jetzt ein unentwickeltes Gehirn. Ein unentwickeltes Gehirn kann manchmal große geistige Fähigkeiten verdecken. Wenn man ihm aber die gewöhnlichen profanen Fähigkeiten beibringt, so ist es möglich, daß auch das innere Geistige herauskommt. Nun hängt es aber nicht bloß hiervon ab, sondern auch von der Umgebung, in welcher der Mensch lebt.

In ganz bedeutsamer Weise ist der Mensch ein Spiegelbild seiner Umgebung. Nehmen Sie an, ein Mensch ist eine hochentwickelte Persönlichkeit, lebt aber in einer Umgebung, die nur gewisse Vorurteile in ihm erweckt und ansbildet, die dann so energisch wirken, daß die höhere Veranlagung nicht aus ihm herauskommen kann. Wenn ein solcher Mensch nicht jemanden findet, der sie aus ihm herausholt, dann bleibt sie eben in ihm verborgen.

Nur wenige Andeutungen konnte ich Ihnen hierüber machen; wir werden aber nach Weihnachten nochmals über die weiteren und tieferen Dinge sprechen. Die eine Vorstellung, die ich erwecken wollte, ist die, daß das höhere Leben nicht tumultuarisch ausgebildet wird, sondern ganz intim, in tiefster Seele, und daß der große Tag, an dem die Seele erwacht und in das höhere Leben eintritt, tatsächlich kommt wie der Dieb in der Nacht. Die Entwickelung zum höheren Leben führt den Menschen in eine neue Welt hinein, und wenn er eingetreten ist in diese neue Welt, dann sieht er sozusagen die andere Seite des Daseins, dann eröffnet sich

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ihm das, was vorher für ihn verborgen war. Vielleicht kann es nicht jeder, vielleicht können es nur wenige, so soll sich jeder sagen. Aber das soll ihn nicht abhalten, zunächst wenigstens denjenigen Weg zu betreten, der jedem offensteht, nämlich von den höheren Welten zu hören. In Gemeinschaft zu leben, ist der Mensch berufen, und wer sich absondert, kann zu keinem geistigen Leben kommen. Eine Absonderung im höheren Sinne aber ist es, wenn ich sage: Das glaube ich nicht, das hat keinen Bezug auf mich, das mag für das andere Leben Geltung haben; für den Okkultisten gilt das nicht. Ein Grundsatz ist es für den Okkultisten, die andern Menschen in Wirklichkeit als die Offenbarung seines eigenen höheren Selbstes anzusehen, weil man dann weiß, daß man die andern in sich finden muß.

Ein feiner Unterschied besteht zwischen den beiden Sätzen «die andern in sich finden» und «sich in den andern zu finden». Das heißt aber im höheren Sinne: Das bist du. - Und im höchsten Sinne heißt es: In der Welt sich selbst erkennen und verstehen das Wort des Dichters, welches ich vor einigen Wochen in anderem Zusammenhange anführen durfte: «Einem gelang es, er hob den Schleier der Göttin zu Sais. - Aber was sah er? Er sah - Wunder des Wunders - sich selbst.» Nicht im egoistischen Innern, sondern selbstlos in der Welt sich finden, ist wahre Selbsterkenntnis.

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DAS WEIHNACHTSFEST ALS WAHRES ZEICHEN DES SONNENSIEGES Berlin, 14. Dezember 1905

Versuchen wir einmal darüber nachzudenken, wie viele Menschen heute noch eine klare, etwas tiefergehende Vorstellung in ihrer Seele wachzurufen verstehen, wenn sie jetzt durch die Straßen schreiten und an allen Orten die Vorbereitungen zum Weihnachtsfest sehen. Wie wenig klare Vorstellungen es über dieses Fest heute gibt und wie wenig sie entsprechen den Absichten derer - wir dürfen als Theosophen so sprechen -, die einstmals diese großen Feste als Wahrzeichen des Unendlichen und Unvergänglichen in der Welt eingesetzt haben, davon kann man sich hinlänglich überzeugen, wenn man einen Blick in die sogenannten Weihnachtsbetrachtungen unserer Zeitungen wirft. Etwas Trostloseres und zu gleicher Zeit dem, um was es sich handelt, Fremderes kann es wohl nicht geben als dasjenige, was durch das bedruckte Papier in dieser Zeit in die Welt hinausgeht.

Lassen Sie heute eine Art Zusammenfassung dessen vor unserer Seele vorbeiziehen, was uns diese verschiedenen Herbstvorträge über den geisteswissenschaftlichen Horizont gebracht haben. Nicht etwa eine pedantische, schulmeisterliche Zusammenfassung soll es sein, sondern eine Zusammenfassung von der Art, wie sie in unseren Herzen aufsteigen kann, wenn wir anknüpfen vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte an das Weihnachtsfest, wie es sich uns darbieten kann, wenn wir die geisteswissenschaftliche Lebensauffassung nicht als graue Theorie, nicht als äußeres Bekenntnis, nicht als Philosophie, sondern als unmittelbar

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uns durchpulsendes Leben selbst betrachten. Der heutige Mensch steht der unmittelbaren Natur fremd gegenüber, viel fremder, als er denkt, viel fremder als noch zur Zeit Goethes. Oder wer fühlt noch die ganze Tiefe jenes Goethe-Wortes, das der große Dichter sprach, als er in die Kreise von Weimar eintrat und zu gleicher Zeit eine für ihn äußerst wichtige Lebensepoche begann? Damals richtete er an die Natur mit ihren geheimnisvollen Kräften einen Hymnus, eine Art Goethe-Gebet:

«Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen - unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen.

Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder - alles ist neu und doch immer das Alte.

Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie.

Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer, und ihre Werkstätte ist unzugänglich.

Sie lebt in lauter Kindern, und die Mutter, wo ist sie? - Sie ist die einzige Künstlerin: aus dem simpelsten Stoff zu den größten Kontrasten; ohne Schein der Anstrengung zu der größten Vollendung - zur genauesten Bestimmtheit, immer mit etwas Weichem überzogen. Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten Begriff, und doch macht alles eins aus.

Sie spielt ein Schauspiel: ob sie es selbst sieht, wissen wir

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nicht, und doch spielt sie`s für uns, die wir in der Ecke stehen.

Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig und ist kein Moment Stillestehen in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch hat sie ans Stillestehei1 gehängt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar... »

Wir sind alle ihre Kinder. Und wenn wir glauben, am wenigsten nach ihren Gesetzen zu handeln, handeln wir vielleicht am allermeisten nach diesem durch die Natur flutenden und in uns einströmenden großen Gesetze. Und wer fühlt das andere bedeutsame Goethewort so ganz tief heute noch, mit dem Goethe nicht minder versuchte, das Einfühlen in die verborgenen, der Natur und dem Menschen gemeinsamen Kräfte zum Ausdruck zu bringen, da wo Goethe diese Natur anspricht nicht wie eine leblose Wesenheit, gleich etwa dem heutigen materialistischen Denken, wo er sie anspricht w1e einen lebendigen Geist:

Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles,
Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst
Dein Angesicht im Feuer zu gewendet.
Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,
Vergönnest mir in ihre tiefe Brust
Wie in den Busen eines Freunds zu schauen.
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.
Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,
Die Riesenfichte, stürzend, Nachbaräste

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Und Nachbarstämme quetschend niederstreift,
Und ihrem Fall dumpf-hohl der Hügel donnert,
Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst
Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust
Geheime tiefe Wunder öffnen sich.

Das ist die Stimmung, durch welche Goethe aus seinem Naturgefühl heraus wiederum etwas von dem aufzufrischen suchte, was aus Gefühl und Erkenntnis zugleich herausfloß. Das ist die Stimmung in den Zeiten, in denen die Weisheit selbst noch mit der Natur im Bunde lebte, in denen geschaffen wurden jene Wahrzeichen des Sich-Einfühlens mit der Natur und dem Universum, als die wir, vom geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte ausgehend, die großen Feste erkennen. Etwas Abstraktes, fast Gleichgültiges, ist für die Seele und für das Herz solch ein Fest geworden. Uns gilt heute vielfach das Wort, um das wir streiten können, zu dem wir schwören können, mehr als das, was dieses Wort ursprünglich gelten sollte. Dieses Wort, dieses äußere, dieses buchstäbliche Wort sollte sein der Repräsentant, die Ankündigung, das Sinnbild des großen, des schöpferischen Wortes, das in der Natur draußen und im ganzen Universum lebt, und das wieder in uns auflebt, wenn wir uns richtig erkennen, und bei denjenigen Gelegenheiten, die sich nach dem Gange der Natur besonders dazu eignen, der ganzen Menschheit zum Bewußtsein gebracht werden soll. Das war die Absicht bei der Einsetzung der großen Feste. Versuchen wir, unsere Erkenntnis, also dasjenige, was wir uns anzueignen bestrebt waren im Laufe der geisteswissenschaftlichen Vorträge, zu gebrauchen, um so etwas zu verstehen, was die alten Weisen ausdrückten in dem Weihnachtsfest.

Dieses Weihnachtsfest ist nicht bloß ein christliches Fest.

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Es hat es überall gegeben, wo religiöses Fühlen sich ausdrückte. Wenn Sie sich umsehen im alten Ägypten, tausend und abertausend Jahre vor unserer Zeitrechnung, wenn Sie hinübergehen nach Asien, auch wenn Sie heraufgehen in unsere Gegenden, wiederum lange Jahre vor unserer Zeitrechnung, überall finden Sie dieses gleiche Fest in den Tagen, in denen auch die Geburt des Christus durch das Christentum gefeiert wird.

Was war das für ein Fest, das überall auf der Erde, seit uralten Zeiten, in diesen Tagen gefeiert wurde? - Auf nichts anderes wollen wir uns heute beziehen als auf jene wunderbaren Feuerfeste, welche in den Gegenden des nördlichen und mittleren Europas in alten Zeiten begangen wurden. In diesen Tagen war es, als jenes Fest in unseren Gegenden, in Skandinavien, Schottland, England, innerhalb der Kreise der alten Kelten von ihren Priestern, den sogenannten Druiden, vorzugsweise gefeiert worden ist. Und was wurde da gefeiert?

Da wurde gefeiert die zu Ende gehende Winterszeit und die sich nach und nach wieder ankündigende Frühlingszeit. Freilich gehen wir noch, indem wir Weihnachten entgegentreten, dem Winter zu. Aber in der Natur kündigt sich da bereits ein Sieg an, der eben für den Menschen das Wahrzeichen eines Hoffnungsfestes, oder besser gesagt - wenn wir das Wort gebrauchen, das für dieses Fest fast in allen Sprachen vorhanden ist -, das Wahrzeichen eines Zuversichtsfestes, eines Vertrauens- und Glaubensfestes sein kann. Der Sieg der Sonne über die ihr entgegenstrebenden Mächte der Natur: das ist das Wahrzeichen. Wir haben sie gespürt, die immer kürzer und kürzer werdenden Tage. Und dieses Kürzerwerden der Tage ist uns ein Ausdruck für ein Absterben, besser gesagt für ein Einschlafen der Naturkräfte bis zu dem Tage, an dem wir das Weihnachtsfest feiern und

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an dem unsere Vorfahren dasselbe Fest begingen. An diesem Tage fangen die Tage selbst an, immer länger und länger zu werden. Das Licht der Sonne feiert seinen Sieg über die Finsternis. Das erscheint uns heute, indem wir materialistisch denken, viel mehr, als wir es glauben, als ein Ereignis, über das wir nicht mehr besonders nachdenken. Denjenigen, die ein lebendiges Gefühl und eine mit dem Gefühl im Bunde stehende Weisheit hatten, erschien es wie ein lebendiger Ausdruck für ein geistiges Erlebnis, für ein Erlebnis der Gottheit selbst, die unser Leben lenkt. Wie wenn in dem einzelnen persönlichen Menschenleben ein wichtiges Ereignis stattfindet, das etwas entscheidet, so empfand man in jener Zeit eine solche Sonnenwende als etwas Wichtiges im Leben eines höheren Wesens. Ja noch mehr: Nicht unmittelbar nur empfand man dieses Kürzerwerden und wiederum Längerwerden der Tage als einen Ausdruck eines solchen Lebensereignisses eines höheren Wesens, sondern mehr noch wie ein Erinnerungszeichen an etwas viel Größeres, etwas Einziges. Und damit kommen wir auf den großen Grundgedanken des Weihnachtsfestes als eines Weltenfestes, eines Menschheitsfestes allererster Ordnung.

In den Zeiten, in denen es eine wirkliche Geheimlehre gegeben hat - nicht wie heute, wo sie von der äußeren materialistischen Weltanschauung verleugnet wird, sondern in dem Sinne, daß sie als das Lebensblut allen Volkslebens gewirkt hat -, in den Zeiten sah man zu Weihnachten etwas sich in der Natur ereignen, das wie ein Merkstein angesehen wurde, wie ein Erinnerungszeichen an ein großes Ereignis, das einst auf diesem Erdenrund stattgefunden hat. Und die Priester, welche ihre Getreuesten, diejenigen, die die Lehrer des Volkes waren, in diesen Tagen zur Mitternachtsstunde um sich versammelten, suchten ihren Getreuen ein großes Geheimnis zu enthüllen und sprachen ungefähr das Folgende

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zu ihnen. Ich erzähle Ihnen hier nicht irgend etwas Ausgeklügeltes, nichts durch die abstrakte Wissenschaft Gefundenes, sondern ich erzähle etwas, was gelebt hat in den Mysterien, in geheimen Kultstätten, in den angedeuteten Zeiten, da die Priester ihre Getreuen versammelten, um ihnen durch das, was sie ihnen sagten, Kraft für ihre Lehren zu geben.

Heute, so sagten sie, sehen wir sich ankündigen den Sieg der Sonne über die Finsternis. So war es auch einmal auf dieser Erde. Da feierte die Sonne den großen Sieg über die Finsternis. Das geschah so: Bis dahin war alles Physische,

alles leibliche Leben auf unserer Erde fast nur bis zur Tierheit gediehen. Was auf unserer Erde als höchstes Reich lebte, das war erst auf der Stufe sich vorzubereiten, die unsterbliche Menschenseele zu empfangen. Dann kam in dieser Vorzeit ein Augenblick, ein großer Augenblick der Menschheitsentwickelung, da stieg von göttlichen Höhen die unsterbliche, die unvergängliche Menschenseele herunter. Die Lebenswelle hatte sich bis zu jener Zeit so entwickelt, daß der Menschenleib fähig geworden war, die unvergängliche Seele in sich aufzunehmen. Höher zwar, als die materialistischen Naturforscher glauben, stand dieser Menschenvorfahr. Aber der geistige Teil, der unsterbliche Teil war noch nicht in ihm. Er stieg erst herunter von einem andern, höheren Planeten auf unsere Erde, die nun der Schauplatz seines Wirkens werden sollte, der Aufenthaltsort von dem, was nun unverlierbar für uns ist, von unserer Seele.

Die lemurische Rasse nennen wir diese Menschheitsvorfahren. Ihr folgte die atlantische Rasse und dann die unsrige, die wir die arische Rasse nennen. Innerhalb dieser lemurischen Rasse wurden die Menschenkörper befruchtet von der höheren Menschenseele. Das «Herabsteigen der göttlichen Söhne des Geistes» nennt die Geisteswissenschaft

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diesen großen Augenblick der Menschheitsentwickelung. Seit jener Zeit formt und arbeitet im Menschenleib zu seiner höheren Entwickelung diese menschliche Seele. Anders als die materialistische Naturwissenschaft sich das denkt - heute kann ich das nur andeuten, in andern Vorträgen habe ich ausführlich davon gesprochen, und das müssen diejenigen berücksichtigen, die das erste Mal hier sind und das, was ich sage, als Phantastik betrachten könnten -, war es zu diesem Zeitpunkte, in dem der Menschenleib von der unvergänglichen Seele befruchtet wurde. Entgegen der Anschauung der materialistischen Naturforscher geschah damals etwas im großen Universum, was zu den wichtigsten Ereignissen unserer Menschheitsentwickelung gehört.

Damals trat zuerst, nach und nach, jene Konstellation ein, jene gegenseitige Stellung von Erde, Mond und Sonne, die den Herabstieg der Seelen möglich machte. Die Sonne erhielt dazumal für den Menschen jene Bedeutung, welche sie für sein Wachstum, für sein Gedeihen auf der Erde hat, und zu gleicher Zeit auch die Bedeutung, die sie für die andern Geschöpfe hat, die zu ihm gehören, für Pflanzen und Tiere. Nur wer geistig sich das ganze Werden von Menschheit und Erde klarmacht, wird diesen Zusammenhang von Sonne, Mond und Erde mit den auf der Erde lebenden Menschen in der richtigen Weise einsehen. Es gab eine Zeit - so lehrte man in diesen alten Zeiten -, da war die Erde noch eins mit Sonne und Mond. Da waren sie noch ein Körper. Da waren die Wesenheiten auch noch von anderer Gestalt und von anderem Aussehen als die heute auf der Erde lebenden, denn sie waren dazumal angepaßt jenem Weltenkörper, der aus Sonne, Mond und Erde gemeinschaftlich bestand. Alles, was auf dieser Erde lebt, erhielt seine Wesenheit dadurch, daß zuerst die Sonne und dann der Mond sich abtrennte, und daß diese beiden Himmelskörper

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in eine äußere Beziehung zu unserer Erde traten. Und in dieser Beziehung liegt sogleich das Geheimnis der Zusammengehörigkeit des Menschengeistes mit dem ganzen Universalgeist, den man in der Geisteswissenschaft den Logos nennt, und der die Sonne, den Mond und die Erde zu gleicher Zeit umfaßt. Dadrinnen leben, weben und sind wir.

So wie die Erde herausgeboren ist aus dem Körper, der Sonne und Mond zugleich umfaßte, so ist der Mensch herausgeboren aus einem Geiste, aus einer Seele, der Sonne und Erde und Mond zugleich angehören. Wenn der Mensch hinaufsieht zur Sonne, hinaufsieht zum Mond, soll er nicht nur diese äußeren physischen Körper sehen, sondern soll in ihnen sehen äußere Leiber für geistige Wesenheiten. Das hat freilich der heutige Materialismus verlernt. Aber wer nicht mehr in der Sonne und im Monde die Leiber von Geistern sehen kann, der kann auch nicht im Menschenleibe den Körper eines Geistes erkennen. So wahr der Menschenleib der Träger eines Geistes ist, so wahr sind die Himmelskörper die Träger von geistigen Wesenheiten.

Zu diesen geistigen Wesenheiten gehört auch der Mensch. So wie sein Leib von den Kräften, die in Sonne und Mond walten, abgetrennt ist, und wie sein äußeres Physisches doch Kräfte beherbergt, die in Sonne und Mond tätig sind, so ist auch in seiner Seele dieselbe Geistigkeit tätig, die auf Sonne und Mond herrscht. Und indem der Mensch auf der Erde dieses Wesen geworden ist, ist er abhängig geworden von jener Wirkungsart der Sonne, in die sie eingetreten ist als ein besonderer, die Erde bescheinender Körper.

So fühlten sich unsere Altvordern als geistige Kinder des ganzen Universums, und sie sagten sich: Durch das, was durch den Sonnengeist in uns unsere Geistesform hervorgerufen hat, sind wir Menschen geworden. Der Sieg der Sonne über die Finsternis bedeutet für uns zugleich eine

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Erinnerung an den Sieg, den dazumal, in den Zeiten, in denen die Sonne zum erstenmal so geschienen hat, wie sie jetzt auf der Erde scheint, unsere Seele errungen hat. Ein Sonnensieg war es, als die unsterbliche Seele dazumal im Zeichen der Sonne eintrat in den physischen Leib, sich hineinsenkte in die Finsternis der Begierden, Triebe und Leidenschaften.

Stellen wir uns das Leben des Geistes einmal vor. Die Finsternis geht voran dem Sonnensieg. Und diese Finsternis folgte nur auf eine frühere Sonnenzeit. So war es auch mit der Menschenseele. Diese Menschenseele geht hervor aus der ursprünglichen Göttlichkeit. Aber sie mußte eine Zeitlang untertauchen in die Bewußtlosigkeit, um innerhalb dieser Bewußtlosigkeit die niedere Menschennatur aufzubauen; denn diese Menschenseele hat selbst die niedere Menschennatur allmählich aufgebaut, um dann dieses von ihr selbst aufgebaute Wohnhaus zu bewohnen. Wenn Sie sich vorstellen, daß ein Baumeister ein Wohnhaus baut, nach den besten Kräften die in ihm selbst sind, und später in dasselbe einzieht, so haben Sie ein richtiges Gleichnis für den Einzug der unsterblichen Menschenseele in den Menschenkörper. Aber nur unbewußt konnte in jener Zeit die Menschenseele an ihrem eigenen Wohnhaus arbeiten. Dieses unbewußte Arbeiten ist in dem Gleichnis ausgedrückt durch die Finsternis. Und das Bewußtwerden, das Aufleuchten der bewußten Menschenseele, ist in dem Gleichnis ausgedrückt durch den Sonnensieg.

So bedeutete dieser Sonnensieg für diejenigen, welche ein lebhaftes Empfinden von dem Zusammenhang des Menschen mit dem Universum noch hatten, den Augenblick, in welchem sie das Wichtigste für ihr Erdendasein empfangen hatten. Dieser große Augenblick, er wurde festgehalten in jener Feier.

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Nun stellte man sich zu allen Zeiten den Gang des Menschen durch das Erdenwallen so vor, daß dieser Mensch immer ähnlicher und ähnlicher wird dem regelmäßigen rhythmischen Gang der Natur selbst. Blicken wir einmal von der Menschenseele auf zu dem, worin jetzt ihr Leben eingeschlossen ist, blicken wir auf zu dem Gang der Sonne im Universum und zu allem, womit dieser Gang der Sonne in Verbindung ist> so wird uns etwas klar, was zu fühlen, zu empfinden unendlich wichtig ist: das große Rhythmische, das große Harmonische im Gegensatz zu dem Chaotischen, zu dem Unharmonischen in der eigenen Menschennatur. Blicken Sie hinauf zur Sonne, verfolgen Sie sie auf ihrem Wege, und Sie werden sehen, wie rhythmisch, wie regelmäßig ihre Erscheinungen im Jahresgang und im Tageslauf wiederkehren. Und Sie werden sehen, wie regelmäßig und rhythmisch alles zusammenhängt unter dem Sonnenlauf in dem, was wir die Natur nennen.

Öfters habe ich schon betont, daß alles rhythmisch ist bei den unter dem Menschen stehenden Wesenheiten. Denken Sie sich die Sonne einen Augenblick hinausgerückt von der Bahn, einen Bruchteil einer Sekunde nur, und stellen Sie sich die unglaubliche, die unbeschreibliche Unordnung vor, die

in unserem Universum angerichtet würde. Nur durch diese große gewaltige Harmonie im Sonnenlauf ist unser Universum möglich. Mit dieser Harmonie hängen die rhythmischen Lebensprozesse aller Wesen zusammen, die von der Sonne abhängig sind. Stellen Sie sich die Sonne im Jahreslauf vor, wie sie die Wesen der Natur hervorruft im Frühling, stellen Sie sich vor, wie wenig Sie imstande sind zu denken, daß das Veilchen zu einer andern Zeit blüht als zu der, wo Sie es gewohnt sind. Stellen Sie sich vor, daß die Saat zu einer andern Zeit ausgeworfen werde und die Ernte zu einer andern Zeit geschehen könnte, als es geschieht. Herauf

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bis zu dem Tierleben zeigt sich Ihnen alles abhängig vom rhythmischen Sonnengang. Selbst beim Menschen ist alles rhythmisch, regelmäßig und harmonisch, insofern es nicht den menschlichen Leidenschaften, Instinkten oder gar dem menschlichen Verstande unterworfen ist. Beachten Sie den Puls, den Gang der Verdauung, und bewundern Sie den großen Rhythmus und fühlen Sie die große, unendliche Weisheit, die durch die ganze Natur flutet, und vergleichen Sie dann damit das Unregelmäßige, das Chaotische, das in den menschlichen Leidenschaften, Trieben und Begierden und namentlich im menschlichen Verstande und Denken waltet. Versuchen Sie einmal, an Ihrem Geiste vorbeiziehen zu lassen das Regelmäßige Ihres Pulses und Ihres Atems, und vergleichen Sie es mit der Unregelmäßigkeit des Denkens, Fühlens und Wollens. Es ist ein Irrlichtelieren.

Stellen Sie sich dagegen vor, wie die Lebensmächte weisheitsvoll eingerichtet sind, wie das Rhythmische über dem Chaotischen zu bestehen hat. Was verbricht nicht alles menschliche Leidenschaft und Genußsucht am Rhythmus des menschlichen Leibes! Öfters habe ich es hier schon erwähnt, wie wunderbar es für den ist, der durch die anatomische Wissenschaft das Herz, dieses wunderbar eingerichtete Organ des Menschenkörpers, kennenlernt und sich dann sagen muß, was es auszuhalten hat dadurch daß der Mensch durch den Genuß von Tee, Kaffee und so weiter auf den rhythmischen, harmonischen Schlag des Herzens einwirkt. So ist es mit der ganzen rhythmischen, göttlichen, weisheitsvollen Natur, die von unseren Altvordern bewundert worden ist, deren Seele die Sonne mit ihrem regelmäßigen Gang ist.

Indem die Weisen und ihre Anhänger zur Sonne hinaufblickten, sagten sie sich: Du bist das Bild dessen, was diese Seele, die mit dir geboren ist, noch nicht ist, was sie aber werden soll. - Die göttliche Weltenordnung eröffnete sich

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für diese Weisen in ihrer ganzen Glorie. Das spricht auch die christliche Weltanschauung aus, indem sie ausspricht, daß die Glorie sein soll in den göttlichen Höhen. Das Wort «Glorie» heißt Offenbarung, nicht Ehre. Man sollte nicht sagen: Ehre sei Gott in der Höhe - sondern: Heute ist die Offenbarung des Gottes in den Himmeln. - Das ergibt die Wahrheit des Satzes. Und in diesem Satze kann man voll empfinden die die Welt durchflutende Glorie. In den früheren Zeiten empfand man das so, daß man diese Weltenharmonie als großes Ideal hinstellte für den, der Führer sein sollte für die übrige Menschheit. Deshalb sprach man zu allen Zeiten und überall da, wo man ein Bewußtsein von diesen Dingen hatte, von dem «Sonnenhelden».

In den Tempelstätten, wo die Einweihung vollzogen wurde, da unterschied man sieben Einweihungsgrade. Ich werde Ihnen dieselben mit den persischen Namen vorführen. Der erste Grad ist derjenige, wo der Mensch hinausging über das alltägliche Fühlen, dann zu einem höheren seelischen Empfinden und zur Erkenntnis des Geistes kam. Ein solcher Mensch wurde bezeichnet als «Rabe». Daher sind die Raben diejenigen, welche den Eingeweihten in den Tempeln das, was draußen in der Welt vorgeht, verkündigen. Als die mittelalterliche Weisheitsdichtung in der Person eines mittelalterlichen Herrschers einen Eingeweihten hinstellen wollte, der im Inneren der Erde, bei den Weisheitschätzen der Erde auf jenen großen Augenblick warten sollte, wo das Christentum, neu vertieft, die Menschheit verjüngen soll, als diese mittelalterliche Weisheitsdichtung die Gestalt des Barbarossa ausbildete, da ließ sie wieder die Raben die Verkündiger sein. Selbst das Alte Testament spricht von den Raben bei Elias.

Die im zweiten Grade Eingeweihten sind die « Okkulten». Die im dritten Grade Eingeweihten sind die «Streiter», die

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Im vierten Grade sind die «Löwen». Die im fünften Grade sind mit dem Namen ihres eigenen Volkes: Perser oder Inder und so weiter bezeichnet, denn erst der im fünften Grade Eingeweihte ist der wahre Repräsentant seines Volkes. Der im sechsten Grade Eingeweihte hieß «Sonnenheld» oder «Sonnenläufer». Der im siebenten Grade Eingeweihte hatte den Namen «Vater».

Warum hieß nun der im sechsten Grade Eingeweihte Sonneriheld? Wer so hoch hinaufgestiegen war auf der Leiter der geistigen Erkenntnis, der mußte im Inneren wenigstens ein solches Leben ausgebildet haben, daß dieses innere Leben nach dem Muster des göttlichen Rhythmus im ganzen Weltenall verlief. Er mußte so empfinden, so fühlen, so denken, daß nichts von Chaos, nichts Unrhythmisches, nichts Unharmonisches bei ihm mehr vorhanden war, sondern daß er von einer mit der äußeren Sonnenharmonie zusammenstimmenden inneren Seelenharmonie erfüllt war. Das war die Forderung, die man an diesen im sechsten Grade Eingeweihten stellte. Als heilige Menschen, als Muster, als Ideale stellte man sie hin, und man sagte von ihnen: So groß das Unglück wäre für das Universum, wenn es möglich wäre, daß die Sonne eine Viertelminute abirrte von ihrer Bahn, ein ebenso großes Unglück würde es sein, wenn es für einen Sonnenhelden möglich wäre, von der Bahn der großen Sittlichkeit, von der Bahn des Seelenrhythmus, von der Geistesharmonie auch nur einen Augenblick abzuweichen. - Wer in seinem Geiste eine so sichere Bahn gefunden hatte wie die Sonne draußen im Universum, den nannte man einen Sonnenhelden. Und solche Sonnenhelden hatten alle Völker.

Unsere Gelehrten wissen so wenig von diesen Dingen. Zwar fällt es ihnen auf, daß sich Sonnenmythen um die Leben aller großen Religionsstifter herumkristallisierten. Sie

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wissen aber nicht, daß man bei den Einweihungszeremonien die führenden Helden zu Sonnenhelden zu machen pflegte, und daß es dann gar nicht wunderbar ist, wenn das, was die Alten hineinzulegen sich bemühten, von der materialistischen Forschung wieder herausgefunden wird. Bei Buddha und selbst bei Christus hat man solche Sonnenmythen gesucht und gefunden. Hier haben Sie den Grund, warum man diese bei ihnen finden konnte. Sie sind zuerst in sie hineingelegt worden, so daß sie einen unmittelbaren Abdruck des Sonnenrhythmus darstellten. Diese Sonnenhelden waren dann das große Muster, dem man nachleben sollte.

Was dachte man sich, was in der Seele eines solchen Helden geschah, der eine solche innere Harmonie gefunden hatte? - Das stellte man sich vor, daß nun nicht mehr nur eine einzelne individuelle Menschenseele in ihm lebt, sondern daß in einem solchen etwas aufgegangen war von der universellen Seele, die das ganze Universum durchflutet. Diese Universalseele, die das ganze Universum durchflutet, nannte man in Griechenland Chresto`s, und sie ist bei den erhabensten Weisen im Orient als die Buddhi bekannt. Wenn der Mensch aufgehört hat, sich nur zu fühlen als der Träger seiner individuellen Seele und etwas in sich erlebt von dem Universellen, dann hat er in sich selbst ein Abbild geschaffen dessen, was sich damals als Sonnenseele mit dem Menschenleibe verband; dann hat er etwas ungeheuer Bedeutungsvolles auf der Bahn der Menschheit erreicht.

Betrachten wir einmal diesen Menschen mit einer so veredelten Seele, dann werden wir die Zukunft des Menschengeschlechtes und die ganze Beziehung dieser Menschenzukunft zu der Idee, der Vorstellung der Menschheit überhaupt, vor uns hinstellen können. So wie die Menschheit heute vor uns steht, kann man es sich nicht anders vorstellen, als daß gewisse Dinge dadurch entschieden werden,

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daß die Menschen sozusagen in Streit und Hader durch eine Art Majorität, durch einen Mehrheitsbeschluß, eine Entscheidung herbeiführen. Da wo man noch solche Mehrheitsbeschlüsse als etwas wirklich Ideales ansieht, da hat man noch nicht begriffen, was wirklich Wahrheit ist. Wo lebt in uns schon wirkliche Wahrheit? Wahrheit lebt in uns da, wo wir uns anheischig machen, logisch zu denken. Oder wäre es nicht Unsinn, durch Mehrheitsbeschluß zu entscheiden, ob zwei mal zwei gleich vier oder drei mal vier gleich zwölf ist? Wenn der Mensch einmal erkannt hat, was wahr ist, dann mögen Millionen kommen und sagen, es sei anders, er wird doch in sich selbst seine Sicherheit haben.

So weit sind wir in bezug auf das wissenschaftliche Denken, in bezug auf dasjenige Denken, das nicht mehr berührt ist von menschlichen Leidenschaften, Trieben und Instinkten. Überall da, wo Leidenschaften, Triebe und Instinkte mitwirken, befinden sich die Menschen noch in Streit und Hader, in wirrem Durcheinander, wie das Trieb- und Instinktleben überhaupt ein wildes Chaos bildet. Wenn aber einst die Triebe, Instinkte und Leidenschaften geläutert, rein und ideal zu dem geworden sind, was man die Buddhi, was man den Chrestos nennt, wenn sie ausgebildet sind bis zu jener Höhe, auf der heute das logische, leidenschaftslose Denken steht, dann wird das erreicht sein, was uns in den alten Weisheitsreligionen, im Christentum, in der anthroposophischen Geisteswissenschaft als das eigentliche Menschheitsideal entgegenleuchtet. Wenn unser Denken und Fühlen so geläutert ist, daß das, was einer fühlt, harmonisch zusammenklingt mit dem, was andere fühlen, wenn auf dieser Menschenerde für das Gefühl und die Empfindung dieselbe Epoche gekommen sein wird, wie sie gekommen ist für den uniformierenden Verstand, wenn Buddhi auf dieser Erde, der Chrestos, verkörpert sein wird im Menschengeschlecht,

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dann wird das Ideal der alten Weisheitslehrer, des Christentums, der Anthroposophie erfüllt sein. Dann wird man ebensowenig abzustimmen brauchen über dasjenige, was man für gut und edel und richtig hält, wie man über das abzustimmen braucht, was man für logisch richtig und logisch falsch erkannt hat. Dieses Ideal kann jeder vor seine Seele hinstellen, und wenn er das tut, dann hat er das Ideal des Sonnenhelden vor sich, dasselbe, was alle Geheimlehrer, die im sechsten Grad eingeweiht sind, auch haben.

Selbst unsere deutschen Mystiker im Mittelalter fühlten das, indem sie ein Wort mit einer tiefen Bedeutung aussprachen, das Wort Vergottung oder Vergöttlichung. Dieses Wort gab es in allen Weisheitsreligionen. Was bedeutet das? Es bedeutet das Folgende: Einstmals waren diejenigen, die wir heute als die Geister des Universums ansehen, auch durchgegangen durch eine Stufe, auf der die Menschheit heute steht, durch das Chaotische. Und durchgerungen haben sich diese führenden Geister des Universums bis zu ihrer göttlichen Stufe, wo ihre Lebensäußerungen harmonisch das All durchklingen. Was uns heute als harmonischer Gang der Sonne im Jahreslauf, beim Wachsen der Pflanzen, im Leben der Tiere erscheint, war einst chaotisch und hat sich erst zu dieser großen Harmonie durchgerungen. Wo diese Geister einst standen, steht heute der Mensch. Er wird sich aus seinem Chaos zu einer Zukunftsharmonie entwickeln, die nachgebildet sein wird der heutigen Sonne, der heutigen universellen Harmonie.

Dieses nicht als Theorie, nicht als Lehre, sondern als lebendige Empfindung in unsere Seele gesenkt, das gibt die anthroposophische Weihnachtsempfindung. Empfinden wir es so recht, daß die Glorie, die Offenbarung der göttlichen Harmonie, in den Höhen der Himmel erscheint, und wissen wir, daß die Offenbarung dieser Harmonie einstmals aus

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unserer eigenen Seele erklingen wird, dann empfinden wir das andere, was eintreten wird innerhalb der Menschheit durch diese Harmonie, dann empfinden wir den Frieden derjenigen, die eines guten Willens sind. So schließen sich die zwei Gefühle als Weihnachtsgefühle aneinander. Wenn wir unter dieser großen Perspektive hineinblicken in die göttliche Weltenordnung, in die Offenbarung, in ihre Glorie in den Himmelshöhen, und hinausblicken in die menschliche Zukunft, so können wir heute schon vorfühlen jene Harmonie, welche in der Zukunft auf der Erde Platz greifen wird in den Menschen, die das Gefühl und die Empfindung dafür haben. Je mehr sich in uns senkt, was wir draußen in der Welt als die Harmonie fühlen, desto mehr Friede und Einklang wird auf dieser Erde sein.

So stellt sich das große Ideal des Friedens als eine Naturempfindung höchster Art vor unsere Seele hin, wenn wir in den Weihnachtstagen den Gang der Sonne in der Natur in der richtigen Weise fühlen und empfinden. Wenn wir den Sieg des Sonnenlichtes über die Finsternis in diesen Tagen nachfühlen, dann schöpfen wir daraus die große Zuversicht, das große Vertrauen, das unsere eigene sich entwickelnde Seele mit dieser Weltenharmonie verbindet, dann werden wir nicht umsonst das, was in dieser Weltenharmonie lebt, in unsere Seele einfließen lassen. Dann flutet, dann lebt in uns etwas, was harmonisch ist, dann senkt sich in die Seele der Same> der Friede auf diese Erde bringt, im Sinne des Friedens der Religionen. Diejenigen sind eines guten Willens, die solchen Frieden empfinden, einen solchen Frieden, wie er über die Erde kommt, wenn jene höhere Stufe der Eintracht für das Gefühl und das Gemüt erreicht sein wird, die heute allein für den uniformierenden Verstand erreicht ist. Dann wird an die Stelle des Streites, der Zwietracht, die alles durchflutende Liebe getreten sein, von der Goethe in

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demselben Hymnus, den ich angeführt habe, sagt, daß wir durch ein paar Züge aus diesem Becher der Liebe für ein Leben voll Mühe schadlos gehalten werden.

Deshalb ist dieses Weihnachtsfest ein Fest der Zuversicht, ein Fest des Vertrauens und der Hoffnung in allen Weisheitsreligionen gewesen, weil wir in diesen Tagen empfinden, daß das Licht siegen muß. Das Samenkorn, hineingelegt in die Erde, wird etwas aus sich heraussprießen lassen, was das Licht sucht und wieder im Lichte des neuerstehenden Jahres gedeihen muß. Ebenso wie das Samenkorn der Pflanze hinuntergesenkt ist in die Erde und heranreift im Lichte der Sonne, so ist die göttliche Wahrheit, die göttliche und wahrhaftige Seele hinuntergesenkt in die Tiefe des Leidenschafts- und Instinktlebens. Da unten in der Finsternis soll sie reifen, die göttliche Sonnenseele. Und so wahr das Samenkorn in der Erde reift, und so wahr dem Samenkorn in der Erde durch den Sieg des Lichtes über die Finsternis dieses Reifen möglich gemacht wird, so wahr wird durch den fortlaufenden Sieg des Lichtes über die Finsternis der Seele dem Licht der Seele der Sieg ermöglicht. Und so wahr, wie in der Finsternis nur Streit und im Lichte nur Friede sein kann, so wahr wird mit dem richtigen Verständnis die Weltenharmonie, der Weltenfriede eintreten. Das ist das tiefe, das wahre Wort auch des Christentums: Gloria in diesen Tagen, Offenbarung in diesen Tagen der göttlichen Mächte in der Höhe> in den Himmeln, und Friede den Menschen, die eines guten Willens sind.

Aus dieser großen Weltenempfindung heraus hat auch im 4. Jahrhundert die christliche Kirche sich entschlossen, das Geburtsfest des Weltenheilandes in dieselben Tage zu verlegen, an denen bei allen großen Weisheitsreligionen der Sieg des Lichtes über die Finsternis gefeiert worden ist. Bis zum 4.Jahrhundert war das Weihnachtsfest, das Geburts-

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fest Christi, vollständig veränderlich. Erst im 4. Jahrhundert hat man sich entschlossen, den Christenheiland an dem Tage geboren werden zu lassen, an dem dieser Sieg des Lichtes über die Finsternis immer gefeiert worden ist.

Wir können uns heute nicht mit den Weisheitslehren des Christentums selbst befassen, die Gegenstand eines Vortrages im nächsten Jahr sein werden. Aber das eine soll und muß schon heute gesagt werden, daß nichts Richtigeres geschehen konnte, als das Geburtsfest derjenigen göttlichen Individualität in diese Zeit zu verlegen, die für den Christen die Gewähr, die Zuversicht bietet, daß seine Seele, seine Göttlichkeit den Sieg davontragen wird über alles dasjenige, was Finsternis ist in seiner bloß äußerlichen Welt.

So ist das Christentum im Einklang mit allen großen Weltreligionen. Und wenn die christlichen Weihnachtsglocken erklingen, dann mag sich wohl der Mensch erinnern, daß in diesen Tagen dieses Fest in aller Welt begangen wurde. Überall da wurde es begangen, wo man den wahren großen Fortschritt der Menschenseele auf diesem Erdenrund verstanden hat, da wo man etwas davon wußte, was Geist und geistiges Leben bedeutet, da wo man im praktischen Sinne Selbsterkenntnis zu üben versuchte.

Nicht eine unbestimmte, nicht eine abstrakte Naturempfindung ist das, wovon wir heute gesprochen haben, sondern ein Naturempfinden in aller lebendigen Geistigkeit. Wenn wir anknüpfen an das Wort Goethes: «Natur, wir sind von ihr umgeben und umschlungen» und so weiter, so dürfen wir uns klar darüber sein, daß wir die Natur nicht im materialistischen Sinne deuten, sondern daß wir in ihr den äußeren Ausdruck und die Physiognomie des göttlichen Weltengeistes sehen. Und wie das Körperliche aus dem Körperlichen, das Seelische und Geistige aus dem GöttlichSeelischen und Göttlich-Geistigen geboren ist, und wie das

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Körperliche, das Leibliche sich verbindet mit bloß materiellen Kräften, so verbindet sich das Seelische mit dem Geistigen.

Dieses im Zusammenhang mit dem ganzen Universum zu erfühlen und zu empfinden, unsere Erkenntnis, unser Denken dazu zu gebrauchen, sich nicht in unbestimmter, sondern in allerbestimmtester Weise eins zu fühlen mit dem ganzen Universum, dazu sind die großen Feste als Wahrzeichen für die Menschheit da. Und wenn man davon wieder etwas empfindet, dann werden diese Feste wieder etwas anderes sein, als sie heute sind, dann werden sie sich wieder lebendig einpflanzen in Seele und Herz, dann werden sie uns dasjenige sein, was sie uns wirklich sein sollen: Knotenpunkte des Jahres, die uns verknüpfen mit dem Geiste des Alls.

Wenn wir das ganze Jahr hindurch unsere Pflichten, unsere Aufgaben für das alltägliche Leben erfüllt haben, an diesen Punkten des Jahres blicken wir hin zu dem, was uns mit dem Ewigen verbindet. Und wenn wir auch wissen, daß wir uns manches erkämpfen mußten im Laufc des Jahres - an diesen Tagen bekommen wir ein Gefühl davon, daß es über allem Kampf und über allem Chaos einen Frieden und eine Harmonie gibt. Deshalb sind diese Feste Feste der großen Ideale; und das Weihnachtsfest ist das Geburtsfest des größten Ideales der Menschheit, des Ideales, das die Menschheit erringen muß, wenn sie ihre Bestimmung überhaupt erreichen will. Das Geburtsfest dessen, was der Mensch empfinden, fühlen und wollen kann, das ist das Weihnachtsfest, wenn es richtig verstanden wird.

Die anthroposophische Geisteswissenschaft will dazu beitragen, daß dieses Fest wieder so verstanden wird. Nicht ein Dogma, nicht eine bloße Lehre oder eine Philosophie wollen wir in die Welt hineinsenden, sondern Leben. Das ist unser Ideal, daß alles das, was wir sagen und lehren, was

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in unseren Schriften, in unserer Wissenschaft enthalten ist, ins Leben übergeht. Es wird ins Leben überfließen, wenn der Mensch auch im Alltäglichen überall Geisteswissenschaft übt, so daß wir nicht mehr von Geiswswissenschaft zu sprechen brauchen, wenn von allen Kanzeln geisteswissenschaftliches Leben ertönt durch die Worte, die zu den Gläubigen gesprochen werden, ohne daß dabei das Wort Theosophie oder Geisteswissenschaft ausgesprochen wird. Wenn in allen Gerichtsstätten mit geisteswissenschaftlichem Empfinden auf die Taten der Menschen gesehen wird, wenn am Krankenbette der Arzt geisteswissenschaftlich empfindet und geisteswissenschaftlich heilt, wenn in der Schule der Lehrer Geisteswissenschaft für das heranwachsende Kind entwickelt, wenn auf allen Straßen geisteswissenschaftlich gedacht, gefühlt und gehandelt wird, so daß die geisteswissenschaftliche Lehre überflüssig geworden ist - dann ist unser Ideal erreicht, dann wird Geisteswissenschaft eine Alltäglichkeit sein. Dann wird aber auch Geisteswissenschaft in den großen festlichen Wendepunkten des Jahres sein. Und es wird der Mensch sein Alltägliches anknüpfen an das Geistige durch das geisteswissenschaftliche Denken, Fühlen und Wollen. So wird er andererseits das Ewige und Unvergängliche, die Geistessonne hinein leuchten lassen in seine Seele an den großen Festtagen, die ihn erinnern werden, daß in ihm ein Wahres, ein höheres Selbst, ein Göttliches, ein Sonnenhaftes, ein Lichtvolles ist, das immerdar siegen wird über alles Dunkel, über alles Chaos, welches einen Seelenfrieden gibt, der immer ausgleichend wirken wird gegenüber allem Kampf, allem Krieg und allem Unfrieden in der Welt.

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DIE WEISHEITSLEHREN DES CHRISTENTUMS Berlin, 1. Februar 1906

Dem Menschen tritt die Welt, wenn er um sich blickt, zunächst in verwirrender Mannigfaltigkeit entgegen, sowohl als äußere Natur wie als Menschenleben selbst. Er richtet wohl den Blick hinauf zu dem Sternenhimmel und versucht den Sinn der herrlichen, aber zunächst rätselhaften Mannigfaltigkeit der Sterne des leuchtenden Himmels zu ergründen. Auch vom Gang der Sterne und vom sonstigen Leben und Weben der Elemente während des Tages wird wohl der sinnige Mensch versuchen, in allem den Sinn zu erkennen. Wenn wir dann hinuntersehen auf unsere Erde, wenn wir versuchen, unsere Gebirge mit ihrer bunten Mannigfaltigkeit von Felsen, Wäldern und Vegetation zu verstehen, wenn wir versuchen, die Dinge, die uns umgeben an Pflanzen, Tieren und Wesen unseresgleichen, zu begreifen und in den Erscheinungen, die mehr oder weniger dunkel aus den Ereignissen der Natur zu uns herandringen, kurz in allem versuchen, Vernunft und Sinn zu sehen, dann fühlen wir wohl zunächst eine Art von Ohnmacht gegenüber all dem Verwirrenden, das uns da entgegentritt. Das Verwirrendste aber bildet für uns dasjenige, was im eigentlichen Leben des Menschen, in der geschichtlichen Entwickelung des Menschen seit Jahrtausenden uns entgegentritt. Wissenschaft, Religion und sonstiges menschliches Streben, Gefühl, Verstand und Vernunft haben von jeher versucht, in die bunte Mannigfaltigkeit der Sterne, in das Leben und Treiben der Wesen unserer Erde Sinn und Zusammenhang hineinzubringen. Wer könnte leugnen, daß es der Menschengeist in dieser Beziehung

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weit gebracht hat und daß er hoffen darf, es immer weiter und weiter zu bringen. Ob aber auch ein gesetzmäßiger Sinn, eine Art geistiger Zusammenhang in dem enthalten ist, was wir menschliche Entwickelung in der Geschichte nennen, das erscheint doch manchem recht fraglich, wenn er den Ablauf des Schicksals betrachtet mit all dem Elend, das auf der einen Seite unverdient über Einzelmenschen, über Stämme und Völker dahingeht, mit all dem Glück, das scheinbar unverdient den einzelnen oder auch viele trifft, mit all der Aufeinanderfolge geschichtlicher Erlebnisse der einzelnen Völker, Rassen und Nationen. Wenn wir so in alles das hineinblicken, dann erscheint es uns wohl manchmal als das reine Chaos. Da glaubt wohl mancher, vergeblich nach einem Sinn, nach einem Zusammenhang zu forschen, glaubt vergeblich für alles das Verständnis schöpfen zu können.

Große, tiefblickende Geister haben niemals daran gezweifelt, daß der menschliche Geist auch in diesem Ablauf der geschichtlichen Ereignisse Sinn und Verstand, gesetzmäßige Notwendigkeit finden kann. Ich brauche nur dar- auf aufmerksam zu machen, daß unser großer deutscher Dichter und Denker, Lessing, in dem Testament seines Lebens, in seinem letzten Werke, diese Menschheitsentwickelung dargestellt hat als eine Erziehung des Menschengeschlechts. Dargestellt hat er das Altertum wie die Kindheit der Menschheit mit dem Alten Testament als dem ersten Elementarbuch, das folgende Zeitalter wie eine Art von Jünglingsalter, von dem aus wir die Möglichkeit haben, in die Zukunft hineinzublicken, die uns etwas Reifes und Männliches bringen soll. Ich möchte noch daran erinnern, daß ein anderer großer deutscher Denker, den freilich heute nur wenige kennen, selbst die nicht, die dazu berufen wären, ihn zu studieren, der große deutsche Philosoph Hegel, die

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Geschichte eine Beziehung des Menschen zum Bewußtsein der Freiheit, ein Gewecktwerden zum Bewußtsein der Freizeit genannt hat. Diese zwei Beispiele könnten wir durch hundert vermehren, und wir würden überall sehen, daß die Menschen, die mit genialem Blick in dieses Treiben, in dieses verwirrende, scheinbar chaotische Treiben blicken, niemals gezweifelt haben, daß darin auch eine gesetzliche Notwendigkeit, vor allen Dingen eine höhere Ordnung vorhanden ist als draußen in der Natur, in der Welt der Sterne, Pflanzen, Tiere und physischen Wesen überhaupt.

Wenn wir den Blick über die Entwickelung der Menschheit schweifen lassen, tritt uns eines entgegen, das heute dicht mehr mit der Lebendigkeit empfunden wird, mit der es empfunden werden sollte: eine Zweiheit, eine durchreifende Zweiteilung. Es ist dies scheinbar etwas ganz triviales, was aber nur deshalb so trivial erscheint, weil es die Menschen so gewohnt worden sind. Wir rechnen nämlich mit dem langen Zeitraum vor und mit dem langen Zeitraum mach Christi Geburt. Das wird heute aus dem Grunde nicht mehr als etwas Bedeutsames empfunden, weil die Menschheit das so gewohnt geworden ist. Aber ist es nicht etwas in höchsten Sinne Bedeutsames, daß unsere ganze Geschichte gespalten wurde nach diesem einzigen Ereignis in zwei Teile? Daß etwas so mächtig als Kraft gewirkt haben muß, daß es von einem so großen Teil der Menschheit, wie es wirklich der Fall ist, anerkannt wurde? Daß dies geschehen konnte, zeigt uns an, daß tief in der Menschenbrust etwas verborgen ist von dem Bewußtsein der einzigartigen, gewaltigen Bedeutung der Tat des Christus Jesus. Wer könnte aber leugnen, daß heute diese Bedeutung vielen etwas Fragwürdiges geworden ist, so daß heute wenige von denen, die sich zu den Alleraufgeklärtesten rechnen, sich wahrhaft Rechenschaft davon geben können, warum das so ist, aus

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welcher unendlichen Tiefe heraus eigentlich die Menschheit zu dieser Zweiteilung der Geschichte gekommen ist?

Das ist die Frage, die uns heute beschäftigen soll, die Weisheitslehre des Christentums vom Standpunkte einer vertieften geistigen Weltauffassung. Die theosophische Bewegung, die seit dreißig Jahren in der gebildeten Welt sich immer mehr und mehr ausbreitet, versucht unter anderem auch, die Weisheitslehre des Christentums zu vertiefen. Diejenigen, welche sich schon etwas mit anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft befaßt haben, wissen, daß der zweite Grundsatz der geisteswissenschaftlichen Strömung der ist, den Weisheitskern in allen großen Kulturreligionen zu suchen. Gerade in bezug auf die anthroposophische Auffassung des Christentums herrschen die denk bar größten Mißverständnisse, und unter denen, die berufen sind, das Christentum zu lehren und zu erklären, sind gerade die allerwenigsten, welche dem anthroposophischen Streben wirkliches Verständnis entgegenbringen. Immer wieder und wieder wird gesagt: Ja, die Anthroposophie will irgendwelche morgenländische Lehren, einen neuen Buddhismus nach Europa herein verpflanzen. Das wäre das Unanthroposophischste, was nur zu denken ist. Wenn wir es ehrlich meinen mit dem Grundsatz, den Weisheitskern in allen Religionen zu suchen, dann müssen wir uns bewußt sein, daß wir diesen Weisheitskern vor allen Dingen im Christentum zu suchen haben, in der Religion, durch welche die ganze Kultur Europas geschaffen worden ist und aus der die feinsten Strömungen des Abendlandes entsprungen sind. Wer das Christentum heute nicht verstehen würde, würde sich selbst nicht verstehen, und wenn das Christentum für Europa etwas wirklich Großes leisten soll in der Zukunft, dann muß es vertieft werden. Soll die Geisteswissenschaft einen Anteil an dieser großen Leistung haben,

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dann hat sie die Aufgabe, in die Tiefen des Christentums einzudringen und da jene Quellen zu suchen, die noch in die Zukunft hinübersprudeln können, die Kulturhoffnungen für die Zukunft zu erwecken in der Lage sind.

Als ich vor einiger Zeit in einer Stadt Süddeutschlands über die Weisheitslehren des Christentums, also über unser heutiges Thema sprach, da waren auch verschiedene protestantische Pastoren und katholische Priester da. Nach dem Vortrage sagten mir die katholischen Priester: Was Sie uns da gesagt haben, ist das auserlesenste Christentum, aber doch nur für die Auserlesenen, welche in so vertiefter Weise das Christentum haben wollen. Wir aber verkündigen das Christentum in einer Form, in der es alle verstehen, in der es allen zugänglich ist. - Da sagte ich: Wenn Sie recht hätten, dann könnten Sie sicher sein, daß es mir niemals eingefallen wäre, über den Weisheitskern des Christentums zu sprechen, da ich es für das Überflüssigste in der Welt halten würde. Wenn Sie nämlich recht hätten, könnte es dann einen Menschen geben, der sich gedrängt fühlte, abzufallen von der Art und Weise, wie Sie lehren? Dann könnten sich nicht mit jedem Tage diejenigen mehren, welche keine Befriedigung mehr finden bei der Art und Weise, wie Sie lehren. Gewiß gibt es viele, für die Sie heute sprechen können. Aber daß es möglich ist, daß zahlreiche Menschen bei Ihnen nicht mehr ihre Befriedigung finden, das beweist Ihnen die Tatsache, daß es Menschen gibt, zu denen in anderer Weise gesprochen werden muß. Es kommt nicht darauf an, daß wir uns einbilden, wir finden den Weg zu allen. Das können wir leicht tun und meinen, wir tragen so vor, daß wir den Weg zu allen finden. Aber darauf kommt es nicht an, welche Meinungen wir haben über das, was wir für den richtigen Weg halten. Nicht auf unsere Einbildungen, sondern auf die Tatsachen kommt es an. Wenn Sie

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dieses beobachten und nicht das sprechen lassen, was Sie hinstellen als Ihr subjektives Bekenntnis, dann werden Sie sehen, daß es viele gibt, zu denen Sie nicht mehr sprechen. Und zu denen muß eben in einer neuen Form gesprochen werden. Das sind diejenigen, zu denen der Geisteswissenschafter spricht.

Aber nicht allein zu diesen wird die Geisteswissenschaft sprechen. Sie wird auch zu denen sprechen, die noch in voller christlicher Frömmigkeit bei alten christlichen Traditionen verharren, und auch für diese wird sie eine Vertiefung, eine Vergeistigung der wahrhaften Lehren des Christentums sein. Der geisteswissenschaftliche Wahrspruch: Nichts ist höher als die Wahrheit -, wird häufig von solchen wie dem Pfarrer, den ich angeführt habe, recht mißverstanden. Man glaubt, es genüge, wenn man nur den Glauben hat, etwas sei wahr. Nein, das genügt nicht, daß wir die subjektive Überzeugung haben und uns einbilden, wir hätten den richtigen Weg. Das soll gerade durch die geisteswissenschaftliche Weltströmung überwunden werden. Die Wahrheit liegt nicht bei unserer Meinung, sondern bei den Tatsachen. Die Beobachtung der Tatsachen muß uns höherstehen als das, was wir glauben. Das ist der Sinn des Wahrspruches. Was wir glauben, ist unsere persönliche Angelegenheit. Überpersönlich ist das, was durch die Welt der Tatsachen zu uns spricht. Dem haben wir uns zu fügen, dem haben wir nachzugehen.

Es ist in der Tat wahr, daß durch die Erscheinung des Christus Jesus auf der Erde die Menschheitsentwickelung in zwei Teile gespalten worden ist, und daher müssen wir etwas tiefer hineinblicken in diesen Gang der Menschheitsentwickelung. Wer nur einigermaßen in eine geistige Erforschung des Daseins eindringt, der wird bald erkennen, wie schal und oberflächlich alle materialistische Weltanschauung

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ist, wie alles Stoffliche nur der Ausdruck des dahinterliegenden Geistigen ist, wie das Geistige Ursprung und Quell alles äußeren sinnlichen Daseins ist. Der Mensch als dieses Sinnenwesen, als das er sich seit den Zeiten, von denen uns die Geschichte, das menschliche Denken überhaupt berichtet, entwickelt hat, der Mensch selbst, so wie er auf der Erde lebt, ist nur der Ausdruck eines überirdischen Menschenwesens, das geistig ist. Heute ist nicht die Zeit dazu da, diese großen Gedanken hier in einer völligen, etwa wissenschaftlichen Weise auszuführen. Das ist öfter hier in diesen Vorträgen geschehen. Heute kann ich es nur bildlich andeuten, und bildlich wurde es von christlichen und vorchristlichen Denkern immer in der Art angedeutet, daß das noch nicht von der Materie berührte übersinnliche Menschenwesen herabgestiegen sei und sich in der Sinnlichkeit verkörpert habe. In dem, was die jüdische Geheimlehre Adam Kadmon nennt, sehen wir den von andern geistigen Welten in diese sinnliche Welt herein gekommenen Menschen. Es wird dieses Hereinkommen als ein «Fall» bezeichnet. Aber man muß das nicht mißverstehen. Große christliche Schriftsteller haben dies als einen Fall aufgefaßt, und als ein Hinaufheben aus diesem Fall zu einer neuen geistigen Höhe wurde die Tat des Christus Jesus aufgefaßt. Wir werden es noch sehen, wie der Paulinische Ausspruch, daß der Christus Jesus der umgekehrte Adam sei, einen tiefen geistigen Sinn hat. Wenn wir so den Menschen auffassen als gleichsam - ich bitte das Wort «gleichsam» nicht etwa auf die Waage zu legen, weil es nur eine Andeutung des wahren Verhältnisses sein soll -,als gleichsam heruntergestiegen von geistigen Höhen und in der Sinnenwelt verkörpert, dann werden wir auch begreifen, worin zunächst in den ersten Zeiten geschichtlicher Entwickelung des Menschen Aufgabe bestanden hat.

Was hat da in den ersten Zeiten geschichtlicher und vorgeschichtlicher

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Entwickelung der Mensch auf diesem irdischen Schauplatz zu tun gehabt? Für ihn waren in dieser ersten Zeit seine sinnlichen Glieder Werkzeuge, deren Gebrauch er lernen mußte. Der hohe geistige Mensch war jetzt in der Sinnenwelt verkörpert. Er lernte da in der ersten Epoche des Daseins, die ich die instinktive Epoche menschlicher Entwickelung nennen möchte, seine eigenen Werkzeuge gebrauchen. Das war die erste Aufgabe des ersten Viertels menschlicher Entwickelung - wir wollen nicht in die sehr alten Zeiten zurückgehen. Seine Hände und die übrigen Gliedmaßen lernte der Mensch allmählich gebrauchen, er lernte sich einfügen in die ihn umgebende Welt und Natur. Dazu brauchte er keinen Verstand, das war instinktives Einfühlen und Einziehen in das Dasein. Als die Menschheit sich beherrschen lernte und den Gebrauch der Gliedmaßen als Werkzeuge erwarb, da lebte sie in der Stammesgeschichte. Das Volk war dasjenige, innerhalb dessen der Mensch lebte. Es war ein natürlicher Zusammenhang, der gegeben war durch die Blutsverwandtschaft. So etwas wie ein tierischer Instinkt hielt die Menschheit zusammen. Nur die großen Lehrmeister waren außerhalb des Instinktlebens. In der verschiedensten Weise lernten die Menschen ihre Gliedmaßen gebrauchen, je nach der Beschaffenheit der Länder, Erdgegenden und Zeiten, in denen die Völker lebten. Die Entwickelung erzeugte eine große Mannigfaltigkeit in der menschlichen Gliederung. Dasjenige, was dem Menschen mitgegeben war, gestaltete sich in der größten Verschiedenheit aus. Wir können überall zurückgehen auf unserem Erdenrund: wir finden bei allen Völkern diese instinktive Epoche der Entwickelung.

Dann finden wir eine zweite Epoche. Da lernt der Mensch noch etwas mehr, etwas, was die Bibel und andere Weltanschauungen mit einem bestimmten Wort umfassen, mit

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einem Wort, das richtig zu verstehen außerordentlich wichtig ist. Wir verstehen dieses Wort richtig, wenn wir uns klarmachen, was die erste Periode der Menschheitsentwickelung vorzugsweise hervorbringen mußte. In der mannigfaltigsten Weise hat der Instinkt die Menschen gelehrt, die Glieder zu gebrauchen, in der einen Gegend so, in der andern anders. Ein Volk entwickelte sich in der heißen Zone bei einem üppigen Pflanzenwuchs, wo ohne Mühsal die Nahrung zu beschaffen war, ein anderes entwickelte sich in einer kalten, unwirtlichen Gegend, wo es mit großer Mühe sich seine Nahrung und seine Daseinsbedingungen schaffen mußte und so mit großer Mühe die Gliedmaßen sich zu bilden hatte. Daß die Menschen so wenig Verstand hatten, führte dazu, daß sie einander gegenüberstanden, wie es die verschiedene lnstinktausbildung ergab. Etwas Neues trat ein durch das Gesetz, welches der Verstand machte. Die Instinkte der Völker sind verschieden, der Verstand ist ein gleicher, und in dem Augenblick, als der einheitliche Verstand angewendet wurde auf das menschliche Zusammenleben, trat das in die Welt, was auch in der Bibel das Gesetz genannt wird. Erst lernte der Mensch seinen ganzen Körper als sein Werkzeug beherrschen. Dann trat die gesetzmäßige Periode auf, wo der Mensch Harmonie und Ordnung in seine Gemeinschaft hineinzubringen suchte, wo er die Instinkte auszugleichen suchte im gegenseitigen Handeln, wo er ein Verhältnis, wie es der Verstand ergibt, auf dieser Erde herstellen wollte. Der Verstand wurde durch die Art und Weise, wie die Menschen zusammenlebten, eingeführt. So entwickelte sich die Menschheit in den zwei ersten Vierteln des Daseins. Aber die Menschheit war da nicht ohne Leitung, nicht ohne Führung. Der Instinkt entwickelte sich zu immer größerer Helligkeit, bis dann das Gesetz die Form des in weitesten Kreisen verbreiteten Verstandes annahm.

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Woher kam das alles? Niemals wäre die Menschheit so weit gekommen ohne solche Brüder, welche in der Entwickelung ihren andern Mitmenschen weit, weit vorangeschritten waren. Zu allen Zeiten, immer und überall hat es Menschen gegeben, die sich rascher die Stufen des Daseins hinaufentwickelten, um Führer sein zu können, um die andere Menschheit leiten zu können. Solche Persönlichkeiten, solche Individualitäten werden von der Geistesforschung die Hüter der Weisheit, die Hüter des Menschenfortschrittes genannt. Solche Hüter des Menschenfortschrittes hat es immer gegeben. Es gibt sie auch heute noch. Diese großen Individualitäten, diese Persönlichkeiten, die Leute auf einer Stufe des Daseins angekommen sind, wohin die Mehrzahl der Menschheit erst in einer fernen, fernen Zukunft kommen wird, waren auch in den vorchristlichen Zeiten, in den zwei ersten Vierteln der Menschheitsentwickelung vorhanden. Sie leiteten die Welt, sie waren die Behüter der Menschheit und brachten Ordnung und Zusammenhang in die Menschheit. Wo hatten jene Leiter des Menschengeschlechts ihr Wissen, ihre Weisheit her? Und worin bestand diese Weisheit? - Man leitete das Sichtbare durch das Unsichtbare, das Sinnliche durch das Übersinnliche. Man leitete die materiellen Zusammenhänge durch dasjenige, was im Materiellen unsichtbar schlummert. Schlummert es im Materiellen unsichtbar? Ein einfaches Nachdenken kann Sie davon überzeugen. Sehen Sie hinauf zur Wolke. Sie erscheint Ihnen hell und dunkel. Sie kündigt Ihnen ein Gewitter an. Und während Sie noch hinaufsehen, zuckt der Blitz durch die Wolke, rollt der Donner. Wo war der Blitz, wo war der Donner? Sie schlummerten, sie schliefen als verborgene materielle Kräfte. So wie Blitz und Donner schlummerten, so schlummern noch eine Menge verborgener Kräfte in dem Sichtbaren als Unsichtbares, in dem Sinnlichen als Übersinnliches. So wie

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unsere ganze äußere Kultur im Grunde genommen dahin gekommen ist, wo sie ist, dadurch daß der Mensch gelernt hat, die einfach in der Materie schlummernden Kräfte und Fähigkeiten zu wecken, so kommt die große geistige Kultur davon her, daß die Hüter der Menschheit imstande sind, die im Sinnlichen schlummernden übersinnlichen Kräfte, die im Irdischen schlummernden überirdischen Fähigkeiten zu erwecken und das Niedere durch das Höhere zu beherrschen vermögen. So wie der Baumeister die Anziehungskräfte der Erde benützt, um auf die Säule den Balken zu legen, also eine in der Materie schlummernde Kraft benützt, um durch die verschiedene Kombination von Säulen und Balken unsere Gebäude aufzuführen, und wie der Elektriker unsere Motoren und andere elektrische Apparate mit der unsichtbaren elektrischen Kraft beherrscht, so beherrschen die Hüter der Weisheit und des Menschheitsfortschrittes die irdischen Kräfte durch dasjenige, was nicht sinnlich in der Welt vorhanden ist. Das Sichtbare wird nicht durch das Sichtbare beherrscht, sondern durch das Unsichtbare. Nicht derjenige ist weltfremd, der sich erheben wird durch das Unsichtbare über das Sichtbare, sondern derjenige, der am Sichtbaren hängenbleibt. Der wahre Wirklichkeitsmensch ist der, welcher die Welt beherrscht durch das, was in ihm schlummert, damit er die Wirklichkeit gestalten, aufbauen und in den Dienst des Menschheitsfortschrittes stellen kann. So wie der Baumeister und der Elektriker die in der Materie schlummernden Kräfte benützen, um Häuser zu bauen, um mechanische Kultur zu schaffen, so benützen die großen Hüter der Weisheit und des Menschheitsfortschrittes die im Menschentum liegenden Kräfte, um die Menschen selbst zu ihrem Ziele zu führen, um dasjenige, was in der Außenwelt chaotisch durcheinanderwirbelt, zu gliedern und ihm Bedeutung zu geben. Niemals war die Fortentwickelung von der

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instinktiven, dann gesetzmäßigen Periode herauf bis zu der unsrigen sinnlich. Das aber mußten die weisen Hüter der Menschen erst erfahren, erst erlebt haben, sie mußten davon ganz durchdrungen sein, nicht aus blindem Glauben, nicht aus vagen Überzeugungen, sondern aus geistiger Erfahrung heraus. Sie mußten sich klar darüber sein, daß es ein Übersinnliches gibt, ein Übersinnliches in und außer dem Menschen, daß das, was sich abspielt zwischen Geburt und Tod, nur die eine Seite unseres Daseins ist und daß es einen Wesenskern gibt, der hinausreicht über Geburt und Tod, daß es im Menschen etwas gibt, was umfassender als alles Sinnliche ist, was der Schöpfer der Gestalt und der Erhalter alles Sinnlichen ist, und dies nicht etwa aus einer Vermutung, sondern aus der unmittelbaren übersinnlichen, ewigen Anschauung heraus.

Aus dieser Anschauung heraus mußten die Hüter der Menschheit handeln, dann aus der Erkenntnis heraus, daß der Tod zu besiegen ist, daß ein Bewußtsein zu erringen ist, daß es etwas gibt, was den Tod als ein Ereignis wie andere Ereignisse im Leben erscheinen läßt. Nur aus einer solchen Erfahrung heraus erwächst dem Menschen die Kraft, das Sinnliche aus dem Übersinnlichen, das Sichtbare aus dem Unsichtbaren heraus zu beherrschen. Soll ich also mit wenigen Worten sagen, worin das große Geheimnis derjenigen, die wir die großen Hüter der Menschheit nennen, bestand, so muß ich sagen, diese Hüter der Weisheit und des Menschheitsfortschrittes wußten, daß es im Menschen etwas gibt, das den Tod besiegt. Sie mußten hinter die Kulissen des Daseins, hinter die Regionen des Daseins sehen, die der Mensch betritt, wenn er durch die Pforte des Todes geschritten ist. Das, was hinter dem Sinnlichen liegt, mußte ihnen durch die Erfahrung zugänglich sein. Und dieses hinter der sinnlichen Welt Liegende lernten sie kennen in den sogenannten

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Einweihungstempeln, in den Einweihungstempeln der alten ägyptischen Priester und Geheimlehrer, in den Schulen der eleusinischen und anderer griechischer Einweihungstempel. Diejenigen, welche reif waren, diese Überzeugungen sich zu erwerben, wurden in diese Geheimnisse eingeweiht. Nur mit wenigen Worten - alles übrige wird in den nächsten Vorträgen herauskommen - kann ich andeuten, was in diesen Einweihungstempeln, in diesen hohen Schulen des geistigen Lebens den Menschen überliefert worden ist.

Da ging der Mensch zunächst durch den Tod hindurch, erlebte er innerhalb dieses Lebens schon jenen Aufstieg, der sich für den Menschen vollzieht, wenn er durch die Todespforte hindurchschreitet. Wenn der Mensch im natürlichen Tod die Pforte, die zur andern Welt führt, durchschreitet, dann betritt er ein anderes Land, das Land auf der andern Seite des Daseins. Man kann das auch schon während dieses Lebens betreten, man kann es betreten durch einen anderen Bewußtseinszustand, durch die Erweckung von Fähigkeiten, die in der Menschenbrust schlummern, die uns befähigen, nicht bloß den bewußtlosen Zustand während des Schlafes in der geistigen Umwelt zu erleben, sondern durch die geistigen Eigenschaften auch die Welt jenseits zu betreten, Bürger der geistigen Welt zu sein. Das nannte man den Tod, die Auferstehung und die Himmelfahrt. Diese erlebten die großen Eingeweihten. Wenn ich mich so ausdrücken darf, erlebten sie bei lebendigem Leibe den Tod, für dreieinhalb Tage waren sie sozusagen tot, sie traten aus dem physischen Körper heraus und erfuhren die Tatsachen einer höheren Welt, einer geistigen Welt, derjenigen Welt, welcher der Mensch seinem tieferen Wesen nach angehört. Das geschieht mit demjenigen Teil der menschlichen Wesenheit, der in das übersinnliche Dasein eintritt. Wenn der Mensch dann durch diese höhere Welt hindurchgegangen war, dann wurde er

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von denjenigen, die schon Eingeweihte waren, in sein irdisches Dasein zurückgerufen. Dann war er ein neuer Mensch, ein Mensch, den man einen Auferstandenen genannt hat. Als Symbol dafür bekam er einen neuen Namen, der eine tiefere Bedeutung hatte. Ein solcher, der in den Mysterien und in den Einweihungstempeln zum Schauen gekommen war, sprach eine neue Sprache, und in seinen Worten tönten die Klänge der geistigen Welt, die er während der Einweihung erlebt hat. Er war ein Bote höherer Welten, seine Worte hatten Flügel durch die Erlebnisse in der geistigen Welt selbst, er sprach eine andere Sprache. Er war einer derjenigen, von denen man sagte, er redet die Sprache der Götter, er redet die Weisheit, welche die Götter wissen. Das ist im Grunde genommen Theosophie, die göttliche Weisheit. Man nannte einen solchen Menschen, wenn man das Wort ins Deutsche übersetzt, selig. Die Worte haben eine tiefe Bedeutung, wenn man sie im rechten Sinne versteht, sie sind nicht zufällig entstanden. Von einem solchen, der Anteil genommen hat an der geistigen Welt, weil er sie geschaut hat, sagte man, er ist selig. Diejenigen, die etwas wissen von jener großen Seligkeit, von denen wunderbaren Erlebnissen einer andern Welt, die erzählen davon, selbst wenn sie profane Schriften darüber schreiben. Das Wichtigste dieser Dinge wurde niemals niedergeschrieben und kann niemals niedergeschrieben werden. Aber diejenigen> die etwas davon erzählen und niedergeschrieben haben, schreiben davon in Tönen, die ganz anders klingen als diejenigen, welche etwas von einem sinnlichen Dasein erzählen. Diejenigen, die etwas von der Einweihung wußten, sprechen von einer Erneuerung des ganzen menschlichen Wesens. Und einer von ihnen sagte: Derjenige ist erst im wahren Sinne des Wortes ein Mensch geworden, der in den Mysterien seines ewigen Wesenskernes teilhaftig geworden ist, während

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die andern noch warten müssen, bis ihnen ebenfalls diese Gnade zuteil wird. - Plato, der einzigartige griechische Philosoph, sagt Diejenigen wandeln im Schlamme, die nichts erfahren haben von dem Heiligen in der Einweihung. - So könnten wir noch viele Stimmen aus dem Altertum und aus der vorchristlichen Zeit anführen, worin die Heiligkeit, die Gewalt und Größe der Einweihung stimmungsvoll hervorgehoben wird, so daß es in unserer Seele nachhallt. Nur wenige, einzelne Auserlesene, konnten in solcher Weise, unmittelbar durch die Schau, teilhaftig werden an dem höheren geistigen Leben. Die Menge hatte keinen andern Anteil als den an den Verkündigungen solcher Schauenden, solcher Eingeweihten.

Da trat das Christentum auf, und durch das Christentum wurden diese ganzen Verhältnisse anders. Darin liegt die ganze Tiefe der Umwandlung, welche durch das Christentum in der Menschheit bewirkt worden ist. Sie ist ausgedrückt in einem gewaltigen Wort, und das heißt: «Selig sind diejenigen, die da glauben, auch wenn sie nicht schauen.» Das Geheimnis des Christentums liegt in diesem Wort, und wir verstehen es nur, wenn dir es möglichst wörtlich nehmen. Was heißt es? Wir wissen, daß derjenige, welcher in einem Einweihungstempel die Einweihung erfahren hatte, wußte, daß er den Tod besiegte, daß er die Grablegung mitmachte und selig geworden ist durch die Schau. Nun kam eine große Individualität, die auf dem äußeren Plane der Geschichte vor aller Augen, so weit diese Augen es sehen wollten oder es durch den Glauben, durch die Vereinigung mit der einzigartigen Persönlichkeit aufnehmen konnten, dieses große Ereignis, das sich für die Eingeweihten in dem tiefen Dunkel der Mysterientempel so oft abgespielt hatte, einmal äußerlich auf dem geschichtlichen Plane vollzog. Das war das Ereignis, das sich im Jahre 33 in Palästina abspielte.

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Das, was bis dahin mehr oder weniger symbolisch in den Tiefen der Tempel empfangen und gehütet worden ist, das war jetzt historische Wahrheit, geschichtliche Wirklichkeit auf der großen Bühne des Lebens geworden. Das muß man verstehen, denn das ist wichtig. Ich habe wirklich mit vollem Bedacht meine kleine Schrift über das Christentum nicht: «Die Mystik des Christentums» betitelt, sondern «Das Christentum als mystische Tatsache». Ich wollte nicht das Mystische des Christentums darstellen, sondern das Christentum selbst sollte als mystische Tatsache verstanden werden. Es sollte verstanden werden, daß das, was in Palästina sich abgespielt hat, zu gleicher Zeit eine Tatsache von tiefer Symbolik ist und zu gleicher Zeit etwas, was tatsächliche Wirklichkeit, tatsächliche Wahrheit ist. Verstehen wir uns recht in diesem Punkte gerade, denn er gehört zu den wichtigsten Punkten in der Erkenntnis des Christentums. Wenn man davon spricht, daß in Palästina im Jahre 33 das Ereignis des Todes, der Auferstehung, der Grablegung und der Himmelfahrt als historisches Ereignis sich vollzogen hat und sagt, daß dieses Ereignis aber auch vorher so und so oft im Mysterientempel sich abgespielt hat, dann hält man das nicht für etwas Wirkliches, dann glaubt man nicht an den tatsächlichen Christus. Und andere, die wieder an den Christus glauben, meinen, daß wir es bei dem Sterben, der Grablegung und der Auferstehung mit einer tiefen Symbolik zu tun haben. Es ist schwer zu verstehen, daß etwas zugleich Tatsache und zugleich Sinnbild sein kann. Daß eine Tatsache auch eine tiefe symbolische Bedeutung hat, wird derjenige, der die Geschichte in «wirklicher» Weise auslegen und gleichgültig betrachten wird, niemals fassen; daß es in der Geschichte hohe und niedere Berge gibt, hohe Berge, die über das Große hinausgehen, das sind zugleich Tatsachen und Symbole. Das ist es, worauf es ankommt. Jetzt haben

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wir ein Ereignis vor alle hingestellt, welches ausspricht vor allen Menschen, daß der Tod zu besiegen ist und daß es im Geiste ein Leben gibt, das über allen Tod hinausreicht, denn der Einzige hatte den Tod besiegt. Er hatte dasjenige, was die Eingeweihten als ihre Erfahrung in den Mysterien erlebt haben, vor aller Augen dargelebt. Jetzt brauchte man nicht mehr ins Mysterium hineinzugehen, um zu schauen, jetzt konnte man glauben und sich verbunden fühlen mit demjenigen, der in der physischen Welt das große Ereignis vom Siege des Lebens über den Tod dargelebt hat. Jetzt konnte man glauben, wenn man auch nicht schaute. Derjenige versteht die religiösen Bücher richtig, der sich wieder aufringt zu einem wörtlichen Verstehen. Das Schauen bedeutet nämlich wörtlich das Schauen in den Mysterien, und das Glauben ist der Glaube an die Tatsache der Besiegung des Todes durch das Leben, das Christus uns dargestellt hat. So dürfen wir sagen, daß die größte Weisheitslehre des Christentums die ist, daß die Weisheitslehre der verschiedenen Religionen im Christentum zur Tatsache geworden ist.

Was waren die Weisheitslehren der verschiedenen Religionen? Das können Sie durch eine wirkliche Vertiefung in die geisteswissenschaftlichen Lehren sich zur Überzeugung bringen, daß in bezug auf die Lehren die Religionen miteinander übereinstimmen. Nehmen Sie die Lehren des Hermes, des Pythagoras, des Zarathustra oder auch anderer Religionsstifter: in dem, was sie gelehrt und ausgesprochen haben, kann ein tiefer Weisheitskern, der übereinstimmt, gefunden werden. Alle die Lehrer, welche die großen Weisheitslehren verkündigt haben, sie alle konnten sagen: Ich bin der Weg und die Wahrheit. - Denn Wahrheit strömte aus ihrem Munde; die Wahrheit, die sie erlebt haben in den Mysterientempeln, sie waren zu Boten der göttlichen Wahrheit geworden. Bei dem Christus Jesus war es etwas anderes.

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Er konnte mehr von sich sagen. Er ist dasjenige geworden, was in dem großen und schönen Spruch: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben» ausgedrückt ist. Das, was die andern Religionsstifter sagten, während ihr Leben sich verbarg vor den Blicken der Menschheit in dem Dämmerdunkel des Mysteriums, das lehrte er vor aller Augen. Unsichtbar war das Leben, durch das die Erfahrung gewonnen wurde im Inneren des Mysteriums. Sichtbar wurde es durch das Ereignis in Palästina. So steht das Christentum über den alten vorchristlichen Religionen. Die Weisheit, die durch das verborgene Leben des Eingeweihten gewonnen worden ist, ist herausgetreten an die Öffentlichkeit, und wir haben in der neueren Zeit im Christentum die Wahrheit, die selbst Person, die selbst Leben, die selbst Dasein geworden ist. Daher kommt es bei den alten Religionen vielfach nicht darauf an, zu erzählen, wie die Religionsstifter gelebt haben. Wir hören nicht erzählen, wie der ägyptische Hermes, wie die indischen Rishis, wie Zarathustra, wie Buddha gelebt hat. Wenn wir die Lehren empfangen und unser Herz und unseren Sinn in ihnen erheben, so fließt daraus der Segen für uns. Wollen wir aber das Christentum verstehen, so müssen wir in Betracht ziehen, daß der Christus nicht bloß so gesprochen hat, sondern auch seinen Weg so gegangen ist. Daher ist von ihm auch kein Buch erhalten, sondern nur Bücher über ihn. Die frohen Botschaften, die Evangelien, sind nicht die Weisheitssprache des Jesus. Sie sind die Erzählungen von dem Leben Jesu. Andere haben gesprochen über ihn und von ihm. Wenn die Jünger des Buddha und des Hermes sprächen, so würden sie sagen: Das haben wir gehört, das sind seine heiligen Worte, die wollen wir euch wiedergeben. - Wenn aber die Jünger Jesu in die Welt hinauszogen, dann legten sie Wert darauf, daß er da war, daß sie mit ihm verbunden waren, daß sie seine Genossen waren.

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Sie suchten die Tradition, die Überlieferung durchzuhalten, sie fortzupflanzen von Generation zu Generation: Wir haben selbst mit ihm zusammen das Wort auf dem heiligen Berge gehört, wir haben die Hände in seine Wunden gelegt. - Das Wahrheitselement des Zusammenlebens war es, was die Lebendigkeit auf die Nachwelt herüberbringen soll. Das ist etwas anderes als das, was vorher in den verschiedenen andern Religionen vorhanden war. Das ist das völlig Neue.

Wenn wir die ganze Bedeutung dieses völlig Neuen ermessen wollen, dann müssen wir uns den Unterschied klarmachen, der zwischen dem ersten Viertel der Menschheitsentwickelung bestand und dem, was jetzt eintrat. Was tritt jetzt ein? Für was bereitet das Christentum die Menschheit eigentlich vor? Warum mußte einer das große Ereignis so erleben, daß die Menschen zu ihm hinschauen konnten, zu ihm aufblicken konnten als einem Beweis des Sieges des Lebens über den Tod? Man brauchte einen solchen, weil jetzt eine andere Epoche in der Menschheitsgeschichte eintritt, weil jetzt der Intellekt, die Kraft des Geistes für Jahrhunderte, ja Jahrtausende für etwas anderes verwendet worden ist. Ungefähr mit der Ausbreitung des Christentums beginnt dasjenige, was wir den Siegeszug der Menschheit über unsere materielle Welt nennen können. Zuerst mußte das Christentum den Boden dazu vorbereiten. In der Mitte des Mittelalters beginnt der materielle Sieg der Menschheit, immer vollkommener werden die Gesetze, mit denen die Menschen ihn begründen. Der Mensch macht sich zum Herrn der Natur durch die Vervollkommnung seiner Mechanismen, begründet einen großen, erdumspannenden Verkehr und Handel. Der menschliche Intellekt wird Sieger über unsere Erde. Das ist alles in den vorchristlichen Zeiten nicht dagewesen. Versuchen Sie sich zu vergegenwärtigen, wie

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unsere Wissenschaft in den Zeiten, in denen auch das Christentum hervorgeht, beginnt. Sie wissen, Thales war der erste Philosoph. Das Christentum bereitet dann den Boden dafür vor, die Menschheitskraft zu verwenden zum Sieg über die äußere Natur. Damit die Menschheit nicht völlig abgeschlossen werde vom geistigen Leben, dazu war notwendig, daß die Überzeugung von einem geistigen Leben von ganz anderer Seite herkommt. Die tüchtige Persönlichkeit mußte jetzt dazu verwendet werden, um den Erdball in materieller Beziehung zu erobern. Daher mußte sich die Wissenschaft vom Gefühl, vom Glauben abspalten. Das war das Charakteristikum derjenigen, welche eingeweiht wurden in die Mysterien, daß Wissenschaft und Glaube und Empfindung und Glaube eins waren. Für den, der aus dem Materiellen heraustritt, gibt es keine Trennung zwischen Glauben und Wissen, zwischen Wahrheit und Empfindung. Die Formen, in denen die Sterne angeordnet waren, das waren bei den chaldäischen Eingeweihten die Schriftzüge der Gottheit selbst. Das mußte anders werden in der neuen Zeit. Zunächst richtete der Mensch den Blick hinauf zum Sternenhimmel, und eine der göttlichen Empfindungen entkleidete Wissenschaft umspannte die Himmelsräume und das irdische Dasein in allen seinen Erscheinungen. Die Welt konnte in ihrem Wissen mit dem Glauben und mit der Weisheit nicht mehr denselben Weg gehen. Weil beide sich trennen mußten, mußte ein Ereignis eintreten, das den Glauben sicherstellte, das eine so feste Empfindung, ein so festes Gefühl in der Menschheit begründete, daß sich daneben die materielle Wissenschaft begründen konnte und daß durch die materielle Zeit hindurch der Glaube fortlebte. So haben wir nebeneinander fest begründet den Glauben, und die Wissenschaft, die nicht den Glauben hat, sondern auf die Persönlichkeit, den Christus hinschaut. Ein wahrhaft persönliches

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Verhältnis zu dem Einzigartigen setzt sich neben dem materiellen Streben fest. Und so war das, was im Jahre 33 in Palästina hingestellt war, das Bollwerk zur Bewahrung des Ewigen, des Bewußtseins des Geistigen während der Entwickelung der Menschheit zur Materialität. Es mußten diejenigen selig werden, die an den Einzigen glauben konnten, während sie ihr Schauen verwenden mußten auf die Erringung des materiellen Lebens. So war das Altertum in seiner zweiten Epoche die prophetische Hindeutung auf den Christus Jesus. Nicht mit Unrecht wird das, was im Alten Testament gelehrt wird, als die prophetische Vorhersage, der prophetische Hinweis auf den Christus Jesus gedeutet. Jede Einweihung war eine solche Vorhersage. Was der Eingeweihte erlebte, erlebte er zuerst geistig, dann symbolisch, dann war es in der Welt da. Dann war es Erfüllung, Erfüllung des Alten: es war das Neue Testament. Auch dieses Wort zeigt sich uns in seiner vollen Bedeutung, wenn wir es in seiner Tiefe erfassen. So haben Sie die drei Epochen der Menschheitsentwickelung geschildert, die nebeneinander- gehen, von Glauben, Wissen und Weisheit.

Anders waren die Zeiten gewesen - versetzen wir uns einmal zurück in die Zeiten, von denen zwar die Geschichte nicht so recht erzählt - ich habe öfter schon davon gesprochen -, in denen die armen ägyptischen Sklaven die großen, mächtigen Felsblöcke herbeischleppten und sich blutig arbeiteten an gigantischen Steinriesen. Davon kann sich der moderne Arbeiter keinen Begriff machen, was jenes Arbeiten bedeutete. Beseligung und Zufriedenheit waren die Gefühle, die durch die Seele des elenden Sklaven zogen. Eines wußte nämlich dieser Sklave. Er wußte, daß dieses Leben, das er in so harter Arbeit lebte, eines unter vielen war. Der Eingeweihte hat es ihm oft gesagt, um es der Menschheit zum Bewußtsein zu bringen, daß der Mensch

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sich oft und oft verkörpert und daß er dasjenige, was er erlebt, sich selbst bereitet hat, und daß er dasjenige, was er jetzt tut, belohnt erhält in zukünftigen Leben. So löste sich für ihn das Rätsel des menschlichen Schicksals tatsächlich. Innerhalb des blutig arbeitenden Sklavenvolkes war Beseligung und religiöse Empfindung. Der Sklave sagte sich: Der, welcher heute mir befiehlt, war ehemals auch so wie ich, und ich werde, wenn ich dies jetzt alles ausführe, einst auch so sein wie er. - Das zu erreichen, wäre den Weisen, die in späterer Zeit die materielle Welt eroberten, den Weisen, die es mit der rein materiellen Wissenschaft zu tun hatten, nicht möglich gewesen, so gewaltig auch die Lehren des Galilei und Kopernikus sind, die Lehren der modernen Erforschung des sinnlich materiellen Daseins. Gewiß, es soll nichts gegen diese Lehren gesagt sein und es kann niemand die Größe und Gewalt dieser Lehren besser schätzen als ich, aber wahr ist es doch und es muß auch gesagt werden, daß jene Feuerworte, jenen Geist, der die Seelen öffnet, der dem Menschen die Hoffnung gibt für die Ewigkeit, der den Menschen die Gewißheit gibt des seelisch-geistigen Lebens, die materialistischen Forscher nicht finden konnten. Diese Gewißheit aber kam von der persönlichen Verbindung mit dem einzigartigen Christus. Nach und nach hat sich auch wieder die äußere Wissenschaft vertieft. Die Wissenschaft ist allmählich wieder zu einer Weisheit geworden, und die Folge davon ist, daß diese äußere Wissenschaft den Anspruch erhoben hat, wiederum als Religionsgründer aufzutreten. Denn, was sind denn die Aufklärer, die Freidenker? Was wollen sie? Sie sind ja eigentlich religiöse Naturen. Sie wollen eine Religion begründen, sie wollen aus der modernen Wissenschaft selbst eine solche Religion hervorzaubern. Im Grunde genommen sind Moleschott, Haeckel und so weiter mit ihren Büchern, die eine Art materialistisches Evangelium

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für so viele begründet haben, nichts anderes als materialistische Religionsstifter. Weil das Weltlich-Sinnliche eine so gewaltige Kraft und Autorität gewonnen hat, daß der Mensch das Höchste durch die Wissenschaft und ihre Weisheit erringen will, deshalb haben sich die Wissenschafter, auch die, 'welche die Gewalt der Wissenschaft nur etwas empfinden und etwas von dem Großen und Gewaltigen der Wissenschaft mitzuteilen haben, abgewendet von dem Christus Jesus. So haben wir die Abspaltung der Wissenschaft. Jesus hat aber ein Wort gesprochen, ein Wort, das wir nicht tief genug erfassen können, und das ist das: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.» Wir brauchen seine Weisheit nicht bloß aus den Überlieferungen und Büchern zu entlehnen, sondern, wenn wir uns erheben in die höheren Welten, werden wir in uns selbst wieder das große Erlebnis haben, das nur in den höheren Welten jenseits der Pforte des Todes erfahren werden kann. Dann spricht er wieder zu uns, dann beweist er uns, daß er heute da ist, daß wir ihn hören können unmittelbar in der Gegenwart. Daher brauchen wir wieder eine solche Vertiefung der Menschheit, daß der Mensch in sich selbst das Christus-Erlebnis hat, daß der Mensch wieder in sich selbst etwas Ähnliches erfahren kann wie die Eingeweihten in den alten Mysterien. Wenigstens ein Abglanz des großen, bedeutsamen Erlebnisses der Mysterientempel soll allmählich denjenigen, die sich der Anthroposophie zuwenden, überliefert werden, ein Betreten der geistigen, der andern Seite des Lebens schon hier während dieses Lebens, damit sie dasjenige erfahren können, was Goethe so groß und bedeutsam ausgedrückt hat in dem Gedicht, das so beginnt: «Sagt es niemand, nur den Weisen, weil die Menge gleich verhöhnet», und das schließt: «Und solang du das nicht hast, dieses: Stirb und Werde, bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.»

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Um dieses Stirb und Werde handelt es sich heute. Es gibt ein Mittel zur geistigen Entwickelung, durch das wir den inneren göttlichen Wesenskern in uns erwecken können, durch das wir hinauswachsen können in die geistige Welt. Da gehen uns die Augen auf für die geistige Welt, die Ohren werden in uns rege, daß wir Höheres sprechen hören. Wir werden Bürger einer höheren Welt werden können, wir werden finden, daß der Christus bei uns ist bis ans Ende der Welt. Dann können wir auch jene Sprache wieder vernehmen, die zu den Jüngern sprach auf dem Berge. Das ist in dem tiefsten Mysterium des Christentums selbst angedeutet.

Lassen Sie uns zum Schluß dieses große Mysterium einmal hinstellen. Auch Christus hatte eingeweihte Schüler, auch er führte sie hinweg von der Menge. Wenn er das, was er der Menge in Gleichnissen sagte, auslegen wollte, so führte er seine drei eingeweihten Jünger: Petrus, Jakobus und Johannes auf den Berg Tabor. Da schauten sie die Verklärung. Wer die Verklärung versteht, der wird darin das tiefste Mysterium des Christentums erkennen. Die Jünger werden entrückt dem sinnlichen Dasein. Was tritt ihnen vor Augen? Elias und Moses. Elias ist das Wort für Weg oder Ziel, Moses ist einfach das geheimwissenschaftliche Wort für Wahrheit, und Jesus ist das Leben. Indem in der Zeitlichkeit die Ewigkeit ihnen erschienen ist, indem ihnen diejenigen, die längst tot sind, vor Augen erschienen, vor ihren geistigen Augen, heißt das, sie waren in die geistige Welt hinaufgestiegen. Petrus sagt, hier ist es schön, hier laßt uns Hütten bauen. Den Ausdruck «Hütten bauen» können Sie überall lesen, wo ein Schüler die zweite Stufe des Chelapfades ersteigt. Von ihm wird gesagt, daß er in der jenseitigen Welt Hütten baut. Von demjenigen, der die sogenannten Schlüsselworte erkennt, werden überall die großen Wahrheiten in den religiösen Urkunden erkannt. Das große

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Wort «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben», tritt Ihnen da entgegen. Als sie vom Berge herabgingen, verbot ihnen Jesus, jemandem zu sagen, was sie gesehen hatten, bis des Menschen Sohn von den Toten auferstanden sei. Sie befragten sich untereinander: Was ist denn das, das Auferstehen von den Toten? - Und sie fragten Jesu: Es sagen doch die Schriftgelehrten, Elias müsse zuvor kommen? - Er antwortete: Elias soll ja zuvor kommen und alles wieder zurechtbringen. - Die Jünger, im intimsten Heiligtum, sprechen hier von der Wiederverkörperung wie von etwas, das unter ihnen selbstverständlich ist. Der Herr sprach selbst davon wie von etwas Selbstverständlichem, indem er sagte: Elias ist wiedergekommen, Johannes der Täufer ist Elias, saget es aber niemand bis ich wiederkomme. - Das ist das Testament auf Jem Berge. «Berg» ist das Schlüsselwort für Einweihung. Überall, wo es sich um Einweihung handelt, ist der Ausdruck «Auf dem Berge» angewendet. Was heißt: «Sagt es niemand bis ich wiederkomme»? Das heißt, bis ich wieder zu euch spreche, bis ihr selbst wieder da seid in solcher Gestalt, daß die Menschheit wiederum das Wort der Wahrheit wahrnehmen kann. Als Stellvertreter war der Christus Jesus auf der Erde. Durch den Hinblick auf seinen Tod sollte die Menschheit den Sieg des Lebens über den Tod empfinden. Der Glaube, durch den selbst der ägyptische Sklave vom Jenseits gewußt hat, sollte ersetzt werden durch den Glauben, daß das Ewige in dem Wesenskern ist, der durch das Physische hindurchgeht. Jetzt mußten sie den Siegeszug durch die Welt antreten. Materiell bleibt uns nichts von dem, was Weisheit, unmittelbares Wissen vom Jenseits ist. Jetzt sollte während der folgenden zweitausend Jahre der Menschheit nichts verkündigt werden von der Wiederverkörperung. Das hat Jesus als Testament eingesetzt. Erst wenn die Menschen durchgegangen sind durch die dritte

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Epoche der Entwickelung, werden sie diesen materiellen Sieg über den Erdball errungen haben, sie werden den Intellekt und den Verstand auf die äußere Kultur angewendet haben. Dann erst darf wieder eine neue Epoche beginnen, dann kann wieder die Weisheit dasjenige begreifen, was sich einzigartig dargelebt hat. Dann erscheint der Christus wieder auf der Erde, damit er unmittelbar ergriffen werden kann. Dann braucht der Mensch nicht mehr das Leben auf Tabor, dann wird er die Einweihung in sich selbst erleben, den Gottmenschen in sich selbst finden. Dann wird er wieder aufschauen zu dem göttlichen Leben, das in den vor- christlichen Zeiten Gemeingut der Menschheit gewesen ist. Diese neue Epoche ist durch die anthroposophische Lehre eingeleitet worden. Was der Christus auf dem Berge Tabor hinterlassen hat, das fühlen die geisteswissenschaftlich Strebenden als ihre Mission, als ihren Beruf. Christliche Mystiker des Mittelalters haben es schon angedeutet. Bei Angelus Silesius, dem großen schlesischen Eingeweihten, finden Sie es ausgesprochen: «Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.» Wie der Blinde das Erwachen des Lichtes, so kann derjenige, welcher in den neuen Zustand kommt, die Erscheinung wie auf Tabor erleben. Das ist die Zukunft.

So haben wir in der dritten Epoche der Menschheit ein Christentum des Glaubens gehabt, und so werden wir in der vierten Epoche ein Christentum der Weisheit haben. Was hat die Menschheit in der dritten Epoche geleistet? Die instinktive Periode ist die Periode der vorchristlichen Zeit. Die Periode der äußeren materiellen Kultur haben wir gehabt, und wir treten jetzt ein in die vierte Periode der Menschheitsentwickelung. Den Erdkreis hat der Mensch umspannt mit Industrie und Handel; ohne Unterschied von Nation und Rasse wirken Industrie und Handel. Die Maschine

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bereitet dieselben Fabrikate in Japan, Brasilien und Europa. Dieselben Eisenbahnen durchqueren den Erdball auf allen Gebieten ohne Unterschied von Rasse, Nation und Stand. Die Unterschiede in der Menschheit sind gefallen in unserem Kulturkörper. Der Scheck, der hier in Berlin ausgestellt wird, kann eingelöst werden in Tokio. Alles in unserer Kultur hat sich so vollzogen, daß wir als Grundsatz der dritten Periode aufstellen können, was kein Mensch als Grundsatz hätte hinstellen können, als diese Kultur eingeleitet werden sollte, am Ausgangspunkt unserer Kultur: Wir wollen eine Kultur begründen, die den Erdball umspannt, ohne Unterschied von Rasse, Geschlecht, Beruf und Bekenntnis. Das ist die materielle Kultur, die unter diesem Motto den Erdkreis, den Erdball umspannt hat. Diese Kultur muß Seele erhalten. Und diese Kulturseele in sie hinein- zuführen, das ist die Aufgabe der vierten Epoche der Menschheit, das ist die Aufgabe der Anthroposophie und unserer Lebensführung. Eine materielle Kultur haben wir, und eine geistige Kultur mit denselben Eigenschaften brauchen wir. Stark sind die Menschen da, wo sie die moralische Verbindung begründet haben. Der japanische Händler versteht die Händler aller anderen Länder. Bis in die Seele hinein müssen sich die Menschen wieder verstehen können. Das wird auch sein, wenn diese Errungenschaften auch für die Menschenwissenschaft fruchtbar gemacht werden. Der Kulturkörper hat drei Epochen. Er braucht Kulturseele. Kulturgeist muß die vierte Epoche bringen. Das ist der große Grundgedanke, das große Ziel, das die große Kulturbewegung haben muß, wenn sie etwas anderes sein will als ein bloßes Spiel für diejenigen, welche nichts anderes zu tun haben, als über mystische Gedanken zu grübeln. Wird die Theosophische Gesellschaft bestehen, dann wird sie das zustande bringen. Daher muß sie das Christentum in seiner

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Tiefe auffassen, sie muß seine tiefsten Weisheitslehren verstehen und muß auch die Kraft haben, diese Weisheitslehren nicht in alter traditioneller Form zu üben, im Alten zu leben, sondern sie umzugestalten, daß sie brauchbar in allen Zeiten fortleben werden, so daß das Christentum nicht Vergangenheit ist, sondern die lebendige Kraft hat, weiter und weiter in die Zukunft hineinzuwirken. So ist die Anthroposophie, das anthroposophisch verstandene Christentum keine Lehre, kein Dogma, keine Sektiererei, sondern es ist etwas anderes, es ist Leben, es ist etwas in die Zukunft hineinweisendes, es ist etwas, was das Herz höher schlagen macht im besten Sinne des Wortes, es ist etwas, was die Seele erhebt zu den größten Aufgaben der Gegenwart, weil die größten Aufgaben allein dem segensreichen Hoffen für die Zukunft entsprechen können. Dann werden wir das Christentum begriffen haben, wenn es uns Leben gibt für die Zukunft. Dann verstehen wir die hohen Geister recht, wenn sie unsere Lehrer werden für die Zukunft. Wir werden ihre richtigen Schüler sein, wenn wir nicht in autoritativer Weise dasjenige fortpflanzen wollen, was sie selbst gesagt haben, sondern wenn ihre Worte, ihre Taten die Energie geworden sind für das Neue, was wir schaffen. Das ist das große Geheimnis, die große Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit, die wir im Fortgang der Menschheitsentwicklung haben, die uns erfüllen sollen, die unser Leben im höchsten Sinne des Wortes ausmachen sollen. Das ist die wahre Erziehung der Menschheit, daß wir aus einer wirklichen Erkenntnis der großen Taten unserer Vorfahren die Kraft zum Schaffen in die Zukunft und die Hoffnung auf eine segensreiche Wirkung in der Zukunft empfangen.

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WIEDERVERKÖRPERUNG UND KARMA Berlin, 19. Februar 1906

Es gibt Rätsel der Welt, welche denjenigen interessieren, der tiefer eindringen will in das Gefüge, in das Gewebe unseres Daseins. Solche Rätsel der Welt sind zum Beispiel diese: Woher kommen Stoffe und Kräfte, woher kommt das Leben in der Welt? Woher die Zweckmäßigkeit in der Natur, woher dasjenige, was wir Bewußtsein nennen? Wie haben wir die Frage nach dem Ursprung der Sprache zu bewerten, wie die Frage nach dem Rätsel des freien Willens? Das sind alles Fragen, die dem, der tiefer in das Verständnis des Daseins eindringen will, sich gewiß aufdrängen, Fragen, die einer fortgeschrittenen, gebildeten Intelligenz nicht fernliegen können. Aber vor diesen Fragen gibt es näherliegende, große Menschheitsfragen, die zunächst keinen theoretischen, keinen wissenschaftlichen Wert haben, die sich aber auch aufdrängen, welche uns von den Arbeiten und Mühen des Lebens aufschauen lassen zu dem, was wir das Unvergängliche nennen wollen gegenüber dem Vergänglichen. Diese Fragen hängen zusammen mit dem, was uns auf Schritt und Tritt begegnet, mit dem, was uns überall in der Welt als Rätsel entgegentreten muß. Es sind Fragen, von deren Beantwortung nicht nur die Befriedigung unseres theoretischen oder wissenschaftlichen Interesses abhängt, sondern von denen es auch abhängt, ob wir Kraft, Mut und Sicherheit im Leben haben, ob wir Hoffnung haben für eine gedeihliche Zukunft des Menschengeschlechts und des Einzelmenschen.

Solche Lebensfragen werfen sich uns auf, wenn wir den Blick auf das unmittelbare Dasein des Menschen richten,

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wenn wir sehen, wie der eine bei seiner Geburt mit einer geringen Fähigkeit und Kraft ausgestattet und durch diese geringfügigen Anlagen und Talente so veranlagt ist, daß wir voraussehen können, wie er zu einem elenden, ärmlichen Dasein verurteilt ist, das er fortschleppen muß zwischen Geburt und Tod. Er kann in eine Familie so hineingeboren sein, daß er schon durch die Umstände und Tatsachen ohne seine Schuld zum Elend verurteilt erscheint. Der andere ist in eine Familie bineingeboren, die von vornherein sicherstellt, daß er ein glückliches, freudevolles Dasein haben wird; er hat Talente und Fähigkeiten, daß wir sagen können, er wird Großes und Bedeutsames im Leben vollbringen. Das alles und anderes, das uns jeden Tag, jede Stunde und jeden Augenblick, wenn wir das Leben, wie es uns entgegentritt, unbefangen betrachten, schließt die großen und unmittelbaren Rätsel ein. Die großen Weltanschauungen und Weltanschauungsverkündiger waren von jeher bemüht, den Menschen diese Daseinsrätsel zu lösen. Aber in jeder neuen Zeit bedürfen die Daseinsrätsel einer neuen Lösung. Nicht als ob etwa die alten Wahrheiten nicht mehr wahr wären, darum handelt es sich nicht, sondern darum, daß Denken und Empfinden der Menschen anders wird, daß das Empfinden der Seele sich mehr ändert, als man gewöhnlich glaubt, daß man nicht andere Fragen aufwirft, wohl aber die alten Fragen in anderer Weise aufgeworfen werden. Die theosophische oder geisteswissenschaftliche Lebensanschauung, seit dreißig Jahren in gebildeten Kulturen sich ausbreitend, versucht, in solcher Weise die Daseinsrätsel zu lösen, daß der moderne Mensch Befriedigung gewinnen kann durch eine solche Lösung.

Da sind es zwei, die geisteswissenschaftliche Weltanschauung durchziehende Begriffe, die den Gegenstand unseres heutigen Themas bilden und Antwort geben sollen auf die

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aufgeworfenen Fragen: die beiden Ideen von der Wiederverkörperung oder von den wiederholten Erdenleben des Menschen und von Karma oder dem großen Schicksalsgesetz des Daseins. Die geisteswissenschaftliche Weltanschauung will durch diese beiden Ideen auf die Rätsel fragen des Daseins so antworten, wie der Naturforscher, der Forscher überhaupt, aus der Erkenntnis, aus dem Wissen heraus, nicht aus einem bloßen Glauben, Antwort gibt auf seine Fragen. Keinen andern Charakter trägt das, was die geisteswissenschaftliche Weltanschauung geben will, als dasjenige, was die übrige Forschung bieten will, nur daß der einzige Unterschied vielleicht der ist, daß zum Begreifen, zum Auffassen der wissenschaftlichen Wahrheiten Vorbedingungen bestimmter Art gehören. Eine gewisse wissenschaftliche Grundlage gehört auch fast zu der ganzen populären wissenschaftlichen Darstellung. Richtig verständlich aber wird die theosophische oder geisteswissenschaftliche Weltanschauung für jeden Menschen sein, Befriedigung wird sie jedem Menschen gewähren, vom einfachen, naiven Gemüt, das nur imstande ist, mit Empfindung und Gefühl den Fragen und Antworten zu folgen, bis hinauf zu dem gelehrtesten Weisen, der mit dem größten Zweifel zunächst an diese Dinge herangeht und der, wenn er nur Geduld und Ausdauer hat, sich in diese Dinge hineinzuarbeiten, seine Befriedigung dabei findet. Sie alle werden nicht nur Befriedigung finden, nicht nur jenes erlösende Gefühl bekommen, welches uns dann in die Seele tritt, wenn wir erwartungsvoll lange uns gesehnt haben, eine Antwort zu bekommen auf irgendeine Frage - wer dieses Gefühl kennt, weiß etwas von dem intimen Glücksgefühl der Seele -, sondern auch in bezug auf die Lebensfrage gibt sie noch etwas ganz anderes. Da kommt nicht etwa in Betracht, was unseren Wissensdurst befriedigt, sondern etwas, was uns Sicherheit gibt für das Leben, etwas,

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was nicht bloß für einzelne, sondern für alle Seelenkräfte Antwort geben soll.

Weil wir heute so wichtige, so wichtige und grundlegende Fragen behandeln, lassen Sie mich gleich sagen, in welchem Sinne die geisteswissenschaftlichen Antworten auf der Grundlage des Lebens aufzufassen sind. Vielfach wird, aus einem vollständigen Mißverständnis heraus, dem Geisteswissenschafter entgegnet: Bringe uns die Beweise für dasjenige, was du da behauptest, wenn wir dir glauben sollen, was du uns erzählst von höheren, geistigen Welten und von Dingen, die zunächst den gewöhnlichen Sinnen der Erfahrung unzugänglich sind. - Sachgemäß kann der Geisteswissenschafter nur das eine antworten: Niemand braucht mir zu glauben, von niemandem verlange ich mehr als das Vertrauen zu meinen Behauptungen, denn solche Beweise, wie man sie gewöhnlich verlangt, kann es für geisteswissenschaftliche Wahrheiten nicht geben. Wer sie verlangt, versteht nicht den Charakter und den Sinn der geisteswissenschaftlichen Wahrheiten. Die Beweise für die geisteswissenschaftlichen Wahrheiten liefert das Leben und das Leben liefert sie nicht nur dann, wenn wir es sinnlich betrachten hier innerhalb dessen, was uns unsere eigenen Augen und Ohren und unser Tastsinn lehren, sondern das Leben im weitesten Umfang bis hinauf zu den höchsten geistigen Partien des Lebens. Wenn jemand kommt und sagt: Was du da erzählst, glaube ich nicht, denn das kann etwas sein, was du ausgedacht hast, das können Phantastereien sein -, da kann man antworten: Gut, glaube das, glaube daß die Geisteswissenschafter die größten Schwindler der Welt sind. Es gibt aber etwas anderes, das zwischen Glauben und Nichtglauben liegt. Das ist das unbefangene Zuhören. - Nehmen Sie einen drastischen Beweis. Nehmen Sie eine Karte von Kleinasien. Ein Mann sagt, das ist nicht eine Karte von Kleinasien, das

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hast du dir so ausgedacht. - Man kann ihm nur antworten: Schön, das macht nichts, aber merke dir, was ich dir darauf gezeigt habe, nimm Notiz davon und präge es dir ein. Wenn du dann nach Kleinasien kommst, wirst du sehen, daß es so richtig ist. - Ebenso ist es auch mit den geisteswissenschaftlichen Lehren. Kein Mensch braucht sie zu glauben. Wenn wir nur aufmerksam und unbefangen beobachten wollen, so gibt es Beweise genug dafür im Leben, auch für das Leben, wenn wir durch die Pforte des Todes geschritten, im Jenseits sind.

In neuer Weise müssen die alten Fragen beantwortet werden. Noch im 17.Jahrhundert war es nicht bloß Aberglaube der großen Masse, sondern eine gemeinsame Überzeugung aller gelehrten Leute, die glaubten, etwas von der Naturwissenschaft zu verstehen, daß aus gewöhnlichem Flußschlamm nicht nur ganz niedere Tiere, sondern sogar Regenwürmer herauswachsen können. Das hat man allgemein geglaubt. Man hat nicht die Überzeugung gehabt, daß ein Regenwurm von einem Regenwurm kommen muß, sondern man hat geglaubt, daß er aus dem Schlamme heraus entstanden ist. Der italienische Naturforscher Redi hat den Satz aufgestellt: Lebendiges kommt nur von Lebendigem. Niemals kommt Lebendiges aus Leblosem. Der Regenwurm entsteht nicht aus dem Schlamm, sondern durch Fortpflanzung eines Regenwurms. - So jung ist diese Überzeugung! So schreitet das Menschengeschlecht fort in bezug auf die Wahrheit. Heute würde jeder für einen Toren angesehen werden, der glaubte, daß Regenwürmer aus dem Schlamm herauswachsen können. Was damals Redi ausgesprochen hat - der dafür mit knapper Not dem Schicksal entgangen ist, dem Giordano Bruno verfallen ist -, das gilt heute für die geisteswissenschaftliche Weltanschauung. So wie es den damaligen Denkgewohnheiten ganz zuwider war, zuzugeben,

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daß Lebendiges aus Lebendigem stammen muß, so ist die Lehre von der Wiederverkörperung den Denkgewohnheiten der Gegenwart zuwider. Manche werden von den geisteswissenschaftlichen Wahrheiten geradezu wild, wie dazumal die Menschen wild geworden sind, als behauptet wurde, daß die Regenwürmer nicht aus dem Schlamm herauswachsen. In demselben Sinne, wie das, was ich jetzt behauptet habe, sagt die geisteswissenschaftliche Weltanschauung: Geistig-Seelisches kommt nur aus Geistig-Seelischem. - Wenn nicht die Torheit über die Vernunft siegt, dann ist es zweifellos, daß in weiteren zwei Jahrhunderten, genau ebenso wie die naturwissenschaftliche Wahrheit, die geisteswissenschaftliche Weltanschauung alle Kreise ergriffen haben wird.

Was heißt es, Geistig-Seelisches kommt nur aus GeistigSeelischem? Geistig-seelisch ist es, wenn uns das Schicksal des Menschen entgegentritt, wie es abhängt von äußeren Tatsachen, von Anlagen und Fähigkeiten, von dem ganzen Charakter. Nur derjenige, der nicht die feinen, intimen Eigenheiten einer menschlichen Seele in ihrem Werden zu beobachten vermag, nur derjenige, der bloß einen Sinn hat für das grobe Physische, kann leugnen, daß wir im Kinde etwas heranwachsen sehen, was ebensowenig erklärt werden darf aus einem Nichtseelischen, einem Nichtgeistigen wie der Regenwurm aus dem Schlamm. Schillers Nase, Schillers rote Haare und manches andere in seiner Physiognomie sind gewiß erklärlich durch leibliche Vererbung, genau wie die Kohlenstoffteile und die Sauerstoffteile im Regenwurm von andern Kohlenstoff- und Sauerstoffteilen der Umgebung herkommen. Die leblosen Teile des Regenwurms kommen von den leblosen Teilen der umliegenden Natur und so kommen auch die physischen Teile unseres Leibes aus der physischen Umgebung. Aber Schillers Fähigkeiten und Talente

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können wir aus der Umgebung ebensowenig erklären wie die Regenwürmer aus dem Schlamm. Aber nicht auf Schiller kommt es an. Nur als ein radikales Beispiel sei er angeführt. Für jeden Menschen, auch für den einfachsten, gilt es, daß er sich allmählich aus dem herausbildet, was in ihm gattungsmäßig ist.Es ist unmöglich, das Individuelle aus der physischen Vererbung herzuleiten. Selbst im Groben ist das leicht einzusehen. Versuclien Sie einmal zu verstehen, wie GoetheAussprtich hier gilt: «Geheimnisvoll am lichten Tag, läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben, und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.» Für Zange und Mikroskop ist das also nichts. Sehen Sie sich das Kind an, wie es Ihnen in den ersten Monaten und Lebensjahren entgegentritt. Auf dem Gesicht drückt sich aus, was es von Vater, Mutter und Ahnen hat. Es drückt sich aus das Allgemein-Menschliche, das Gattungsmäßige, der Stammescharakter, der Familiencharakter. Wir sagen oft, der milde Zug des Kindes kommt vom Vater, von der Mutter, von Onkel oder Tante. Dann aber, wenn wir das Kind heranwachsen sehen, geht mit ihm eine merkwürdige Veränderung vor, die für einen feineren Sinn durchaus sichtbar ist. Was wir als den Zusammenfluß von Vater, Mutter, Großmutter und so weiter wie einenAbdruck wahrnehmen können, das wandelt sich und nimmt Gestaltung von dem inneren Wesen heraus an. Und das, was im Innersten lebt, was nicht von Vater und Mutter abgeleitet werden kann, das drückt sich allmählich aus in den Gesichtszügen. Je mehr Individuelles, je mehr über das Gattungsmäßige Erhabenes in der Seele lebt, desto mehr schafft die Seele in dem Leibe von Innen heraus und gestaltet ihn um. Und wo ließe sich das Antlitz einer großen Denkerpersönlichkeit, eines großen Weltwohltäters, der aus seinem Inneren wirkt und die Welt mit Neuem bereichert, wo ließe

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sich das aus Vererbung erklären? Aus dem Antlitz können Sie sehen, wie der Mensch hinauswächst über das bloße Gattungsleben. In jedem Menschen offenbart sich eben ein geistiger Wesenskern, der nicht herausgeboren ist aus der physischen Vererbung, sondern hineingeboren ist in sie. Wenn Sie diesen geistigen Kern nicht auf Vater und Mutter, Ahnen und Urahnen zurückführen können, so müssen wir ihn auf etwas Geistiges zurückführen können. Geistig-Seelisches stammt von Geistig-Seeliscbem. Da gibt es nur die Idee der Entwickelung, die Idee der wiederholten Verkörperung. Das Wesen, das dem Kinde seine Züge eindrückt, war schon da, war wiederholt schon da im Körper. Da finden Sie eine Erklärung für das Geistig-Seelische genauso, wie Sie für den Regenwurm eine Erklärung finden, wenn Sie sagen, der Regenwurm ist aus einem Regenwurm entstanden und nicht aus Schlamm oder Sand. Einmal war etwas Unvollkommenes da, auf das wir aber in diesem Vortrage nicht eingehen können.

Wie erklärt nun die Geisteswissenschaft das Vollkommene und das Unvollkommene auf dem seelisch-geistigen Gebiet? So wie das kleine Plasmodientier - nach Haeckelscher Manier - durch einfache Lebensbedingungen entstanden ist, und wie sich das folgende Tier nach und nach durch Entfaltung der äußeren physischen Gestalt gebildet hat, so können wir von einer vollkommenen Seele sagen, sie hat sich aus einer unvollkommenen Seele, die allmählich vollkommener geworden ist, nach und nach gebildet. Der unvollkommene Wilde mit seiner kindlichen Seele hat uns diejenige Gestalt unserer Seele bewahrt, durch die wir durchgehen mußten, um uns zu der geistigen Gestalt unserer Seele hinaufzuheben. Oder vergleichen Sie die Seele eines europäischen Durchschnittsmenschen mit der Seele eines Menschen, wie ihn Darwin noch getroffen hat. Die Seele eines heutigen

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Menschen hat Begriffe von Gut und Böse, von Recht und Unrecht, von Falsch und Wahr. Darwin wollte einmal einem Wilden, der noch Menschenfresser war, klarmachen: Du darfst nicht Menschen fressen, das ist schlecht, das darf man nicht tun. - Da schaute ihn der Wilde kurios an und sagte: Ja, woher kannst du das wissen, du müßtest ihn doch erst gefressen haben. Wenn wir ihn gefressen haben, dann wissen wir, ob er gut oder schlecht war. - So haben Sie eine unvollkommene Seele, die sich durch die Entwickelung immer vollkommener und vollkommener gestalten wird. Unsere Seele kommt nicht bei jedem einzelnen als Baby zur Welt, sondern diese Seele hat sich erst in unvollkommenen Verkörperungen entwickelt, wo sie nichts anderes begriffen hatte von Gut und Schlecht als das Angenehme und das Unangenehme für den Gaumen und dergleichen. Durch solche Stufen hindurch hat sie sich entwickelt und ist durch viele Verkörperungen immer lernend bis zu unserer Stufe heraufgeschritten. Wir tragen unsere Seele in uns mit den Fähigkeiten und Kräften, die wir haben, mit dem Schicksal, das sie erleidet. Wir werden genauer sehen, wenn wir wiederkommen in einer andern Verkörperung auf der Erde; wir werden immer vollkommener auf der Erde erscheinen, bis jene Stufe kommt, auf der wir geeignet sind, zu einem höheren und göttlicheren Dasein aufzusteigen, von dem wir heute nicht zu sprechen brauchen. Es gibt gewiß noch andere Erklärungen des Daseins als die Lehre von der Wiederverkörperung, aber diese einzig und allein kann dem Menschen die Daseinsrätsel lösen. Ein Daseinskern tritt uns entgegen in jenem Menschen, von dem wir sagen, daß er durch viele Leben, durch wiederholte Leben durchgeht. Während der materialistisch Gesinnte uns sagt, Geist und Seele seien nur ein Anhängsel zum Körper, seien nur aus dem Körper herausgebildet, die Gedankenvorstellungen und die Sprache

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seien nur eine höhere Ausbildung dessen, was auch im Physisch-Tierischen uns entgegentritt, während der Materialist uns klarmacht, daß unsere erhabensten sittlichen Ideale, unsere heiligsten religiösen Gefühle nichts anderes seien als die Ergebnisse unserer physischen Organisation, zeigt uns die geisteswissenschaftliche Weltanschauung, daß dies alles, was in unserer Seele ruht, unser ewiger Wesenskern ist, der sich im Gegenteil von Stufe zu Stufe seinen Körper gestaltet und gebildet hat. Das Körperlich-Physische stammt aus dem Geistig-Seelischen: das ist die Lehre der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung, die immer klarer und klarer werden wird, je tiefer Sie sich in diese Weltanschauung hineinleben. Sie ist eine Lehre, die nicht auf dem blinden Glauben beruht, obwohl, wenn man sie in einer kurzen Stunde populär darstellen will, man sie nur kurz skizzieren und nicht weitläufig in dieselbe einführen kann. Sie ist aber eine Lehre, die ebenso sicher und fest begründet ist wie nur irgendeine wissenschaftliche Lehre. Mit denselben Methoden, nur auf geistigem Gebiete, arbeitet sie, mit denen die sinnliche Wissenschaft auf dem physischen Gebiete arbeitet. Die Geisteswissenschaft spricht davon, daß der Mensch aus einer höheren und niederen Natur besteht, und daß seine niedere Natur, wenn er durch die Pforte des Todes schreitet, denjenigen Elementen zurückgegeben wird, denen sie zugehört. Der Körper wird der Erde übergeben, andere Teile werden andern Elementen übergeben. Aber ein ewiger Wesenskern ist in dem Menschen, der immer neue Menschengestalt und -form annimmt, wie die Lilie als Gattungswesen immer neue Formen annimmt, indem sie immer wieder durch das Samenkorn durchgeht, um zu einem neuen lebendigen Dasein zu kommen.

Diese Lehre von der Wiederverkörperung des Wesens, welche uns die Entwickelung auf geistigem Gebiet zeigt als

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das höhere Gegenbild der Entwickelung auf dem sinnlichen Gebiete, führt uns dazu, jene feineren, intimeren Dinge am Menschen zu sehen. Wir sprechen davon, daß dieser Wesenskern des Menschen eine dreifache Grundwesenheit enthält, daß er dreifacher Natur ist, wir sprechen davon, daß im tiefsten Inneren des Menschen etwas sitzt, was heute, so wie es bei den normal gebildeten Menschen unter uns lebt, bei den meisten noch ganz unentwickelt ist, nur keimhaft vorhanden ist. Diesen inneren tiefsten Wesenskern des Menschen nennen wir Atma oder den Geistesmenschen. Er ist bei der Mehrzahl der Menschen heute noch nicht einmal für einen seelischen Blick sichtbar.

Ein zweites Glied dieses geistigen Wesenskernes des Menschen ist die Buddhi. In unserer deutschen Sprache würden wir sagen, der Lebensgeist. Dieses zweite Element in der menschlichen Seele ist etwas, was bei den Höchstentwickelten, bei den Führern, den Leitern der Menschheit in einer gewissen Weise zum Ausdruck kommt. Wir können in gewisser Weise beschreiben, was dieser Lebensgeist ist. Diese Buddhi in höchster Glorie und Erhabenheit ist es, die bei den alten Religionsstiftern, bei Hermes, Buddha, Zarathustra und im höchsten Maße bei dem Christus Jesus im Innern gelebt hat. Soll ich klarmachen, was diese Buddhi bedeutet im geistigen Gebiete, so kann ich das nur durch ein Gleichnis tun. Man muß das Geistige entweder sehen, oder man muß, wie Goethe, der sagt «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis», Ewiges, Unvergängliches in ein Gleichnis fassen. Ein solches Gleichnis möchte ich anführen für Buddhi. Wenn Sie sich die gewöhnliche produktive Kraft im gewöhnlichen sinnlichen Leben vorstellen, gepaart mit Liebe, aber nicht als empfangende Liebe, sondern als eine ganz und gar gebende Liebe: das ist Buddhi. Es gibt in der Natur kaum ein anderes Gleichnis als die Henne, die auf dem Ei sitzt, mit der

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eigenen Lebenswärme neues Leben hervorzaubernd, das eigene Dasein in einer Liebeseigenschaft hinopfernd für das neue Leben. Nun denken Sie sich das ins Geistige umgesetzt, denken Sie sich eine Individualität, welche die großen, treibenden Kräfte in der Menschennatur, das was Impuls ist in unserer menschlichen Fortentwickelung, in geistiger Weise so hervorbringt, wie das eben geschildert worden ist, dann haben Sie es. Oder war nicht etwa das, was seit zwei Jahrtausenden als der Gemüts- und Gefühlssegen, der durch die abendländischen und amerikanischen Herzen flutet und uns mit Seligkeit erfüllt, war das Element des christlichen Fühlens und Empfindens nicht eine Grundkraft, nicht etwas, das von Christus hervorgebracht und in Christus vorhanden war? Und wurde es nicht in diese Welt hereingebracht in höchst glorienhafter Weise, im Geiste darstellend das, was im Sinnlichen lebt, die hingebende Liebe, die hervorbringt - die nicht hervorbringt ein menschliches Wesen, sondern eine geistige Liebe, die die Weltenweisheit, die durch die Jahrhunderte fortzeugt, schafft? Denken Sie sich dieses Element in der Menschennatur, dann haben wir das, was wir in der christlichen Mystik den Christus, in der griechischen Mystik den Chrestòs, in der morgenländischen Mystik die Buddhi nennen, den Lebensgeist in seiner höchsten Potenz. Ein jeder, der etwas fühlt davon, was es heißt, geistig zu produzieren, was als Kraft der Menschheitsentwickelung einverleibt wird, was Impulse im geistigen Leben gibt, ein jeder, der davon etwas fühlt, der hat in geistiger, heller, lichter Klarheit ein Gefühl ähnlich dem, das sich hier unten durch ein Gleichnis ausdrückt, das wahre Wonnegefühl, mit dem das Huhn auf dem Ei sitzt. Das ist die Buddhi. In einem gewissen Maße ist sie bei jedem einzelnen Menschen vorhanden, wenigstens in der Anlage.

Die dritte Kraft der Seele ist diejenige, durch die wir die

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Welt begreifen, die Weit auffassen. Es wäre im höchsten Grade töricht, zu glauben, daß man Wasser aus einem Gefäß herausholen könnte, wenn kein Wasser darin ist. So töricht sind aber diejenigen, welche sagen, daß sie Weisheit aus der Welt holen können, wenn keine darin ist. Der Astronom sucht die Weisheit in der Welt zu berechnen und zu begreifen. Nur durch die Weisheit ist die Welt zu begreifen. Wäre es nicht die größte Torheit, Weisheit schöpfen zu wollen aus der Welt, wenn nicht Weisheit darinnen wäre? Wenn nicht die Weisheit gegeben wäre, nimmermehr könnten wir die Weisheit da holen. Durch dieselbe Weisheit, mit der wir die Welt begreifen wollen, ist die Welt gemacht. Das ist das dritte Element, das alle Welt durchfiutet. Das ist das Manas. Ins Deutsche wird es am besten übersetzt, indem man sagt: Die Weisheit wird herausgeboren aus der Welt. - Unser Geistselbst ist dieses dritte Element. Wenn Sie diese drei Dinge: Atma, Buddhi, Manas nehmen, dann haben Sie den tiefsten Wesenskern des Menschen, dann haben Sie das, was von Wiederverkörperung zu Wiederverkörperung geht, das, was von dem Wilden, wo diese Dreiheit auch vorhanden ist auf niederen Stufen, nur unvollkommen gestaltet wird, bis herauf, wo wir es beim jetzigen normalen Menschen, bis herauf, wo wir es beim großen Führer der Menschheit sehen. Von Wiederverkörperung zu Wiederverkörperung geht der Mensch, vom geistig Gebildeten bis zum geistig nicht nur idealen, sondern heiligen Führer der Menschheit, bis zu Franz von Assisi, Bernhard oder andern. Der Schüler kann sich an der Art und Weise, wie die Menschen in dieser Entwickelung nebeneinander stehen, den Durchgang durch die wiederholten Erdenleben völlig klarmachen.

Dem, der intimer sieht, drückt sich im ganzen Menschen aus das, was ich angeführt habe. Ich habe gesagt, dieser Wesenskern des Menschen ist nur in der Anlage beim normal

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gebildeten Menschen vorhanden. Er wird immer vollkommener und vollkommener werden. Aber was wir heute aus unserem Wesenskern herausgestalten, das hat von Anfang an uns selbst gestaltet und geschaffen. So sehen wir, wie dieses dreigliedrige Wesen, dieser Wesenskern zunächst auf unbewußte und dann auf bewußte Weise im Menschen arbeitet. Vorhin habe ich nur ein Beispiel erwähnt, wie sich die innere Wesenheit des Menschen in der Physiognomie des Denkers ausdrückt. Nicht nur in der bleibenden Physiognomie, sondern auch in der Geste und in der Beweglichkeit der Gesichtszüge drückt sich der Wesenskern aus. Sie werden nach und nach, je nachdem der Wesenskern herauswächst beim Kinde, dementsprechend gestaltet. Das, was man eigentlich Geistesforschung, Okkultismus nennt, gibt Ihnen den Zusammenhang zwischen dieser dreigliedrigen Wesenheit des Menschen und dem, was äußerlich in seinem Körper, in seinem Instrumente zum Ausdruck kommt. Der sogenannte Okkultist sagt, beim Manne drückt sich zunächst, was wir Manas nennen, das Geistselbst, in den Zügen des Ges ichtes aus. Dasjenige, was wir die Buddhi nennen, gestaltet sich in seinem Sprachorgan, lebt in seiner Stimme, vorbereitend und vorbezeichnend künftige Stufen. Das dritte, was wir Atma nennen, lebt beim Manne in der Geste, in der Bewegung der Hand. Ich sagte, im Sprachorgan und in der Stimme lebt das zweite Glied, die Buddhi oder, wie Sie vorhin gesehen haben, der Christus. Die christliche Mystik hat das in tiefster Weise zum Ausdruck gebracht im JohannesEvangelium, wo zu lesen steht: «Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und ein Gott war das Wort.» Die Sprache wird von Johannes direkt als der Christus bezeichnet. In der weiblichen Natur ist es etwas anders. Damit ist selbstverständlich nichts gesagt gegen die in der Theosophie geübte absolute Gleichstellung der Geschlechter. Atma,

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Buddhi, Manas ist dasselbe beim Manne und beim Weibe. Sie haben nichts mit dem Geschlecht zu tun, wohl aber mit der äußeren Gestalt. Bei der Frau kommt Manas in der Sprache zur Geltung, Buddhi in der Geste der Hand, und das Atma kommt im ganzen Leibe zum Vorschein. Das sind die sogenannten okkulten Unterschiede zwischen der männlichen und der weiblichen Gestalt, nicht zwischen dem Wesenskern von Mann und Frau.

Was ist nun dieser Idee der Wiederverkörperung gegenüber das Gesetz von Karma? Karma kommt von oder hängt wenigstens zusammen mit dem Sanskritwort Karnoti, das heißt tun, machen, wirken. Es ist genau derselbe Stamm wie im lateinischen creare, schaffen. Creare, machen und schaffen, ist also genau dasselbe. Karma und Schaffen ist dasselbe, nur in zwei verschiedenen Sprachen ausgedrückt. Nun wollen wir uns klarmachen, was Karma heißt. Karma heißt, deutsch ausgedrückt, Tätigkeit, Werden, Handeln. An einem einfachen Beispiele lassen Sie mich noch klarmachen, was Karma heißt. Denken Sie sich, Sie arbeiten von morgens bis abends an irgend etwas. Sie gehen dann schlafen, schlafen die ganze Nacht hindurch und stehen am Morgen wieder auf. Wenn Sie sich jetzt sagen: Was ich gestern gearbeitet habe, das geht mich nichts an, ich fange heute von Frischem an -, da wären Sie doch töricht. Das einzig Mögliche ist doch nur das, daß man das, was man am Abend verlassen hat, am Morgen wieder aufnimmt, indem man sagt, dies ist mein Werk und wo ich gestern aufgehört habe, da muß ich heute wieder anfangen. Was heißt das? Das heißt doch nur, durch mein Werk von gestern ist mein Schicksal von heute bestimmt. Ich habe mir gestern mein Schicksal für heute geschaffen. Damit ist der ganze Begriff vom Karma gegeben. Ein jedes Wesen zimmert sich sein Schicksal für die Zukunft.

Nehmen Sie ein anderes Beispiel. Tiere wanderten ein in

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flnstere Höhlen. Es tritt etwas Eigentümliches mit diesen Tieren ein. Sie verlieren das Augenlicht. Die Nahrungssäfte ziehen nach andern Teilen des Körpers, die sie notwendiger brauchen als das Sehvermögen. Die Folge davon ist: Das Augenlicht tritt zurück, die Tiere werden blind. Was haben wir da vor uns, wenn wir sehen, wie diese Tiere wieder iind wieder blinde Generationen hervorbringen? Da müssen wir sagen, in der Blindheit der Tiere haben wir die Wirkung der Tatsache, daß die Tiere hineingezogen sind in finstere Höhlen. Wodurch haben diese Tiere ihre jetzige Gestalt hervorgebracht? Durch ihre vorhergehende Handlung. Nichts anderes ist Karma, als wenn man durch sein Wirken in der Vergangenheit sein Schicksal für die Zukunft vorbereitet. Ursache und Wirkung hängen immer zusammen. Wenn der Mensch ein Erdenleben zwischen Geburt und Tod durchläuft, begeht er eine Anzahl von Handlungen. Er geht in der Zwischenzeit durch Tod und neue Geburt hindurch und tritt dann in ein neues Leben ein. Es ist so, wie wenn wir aufwachten und wieder aufnähmen, was wir am Abend hinterlassen haben. Was wir in vergangenen Erdenleben gesät haben, das ernten wir als Frucht im neuen Erdenleben. Ha- ben wir uns im vergangenen Leben ein böses, widerwärtiges Schicksal zusamrnengezimmert, dann tritt uns die Wirkung unserer eigenen Taten im neuen Erdenleben entgegen. Wenn wir einem Menschen Böses zugefügt haben, dann wird er uns im neuen Leben wieder erscheinen und wird uns ausgleichend Böses zu fügen. Von einem Menschen, der mir entgegentritt und Böses verübt, kann ich annehmen, daß ich schon in früheren Erdenleben mit ihm zusammen war und selbst die Ursache gelegt habe zu dem, was er mir jetzt an- tut. So wird das Schicksal des einzelnen durch das große Gesetz von Karma durchsichtiger und erklärbar, und das größte Lebensrätsel, das uns auf Schritt und Tritt entgegentritt,

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erhält Licht und Lösung. Jetzt wird mir die Erklärung zuteil, warum der eine in tiefste Not und tiefstes Elend hineingeboren wurde und warum ihm ein so widerwärtiges Schicksal scheinbar unverdient hier im Leben entgegentritt. Es ist hier so wie bei demjenigen, der gestern seine Arbeit nicht ordentlich gemacht hat. Er wird durch die schlechte Vorbereitung von gestern dazu verurteilt sein> heute wieder schlechte Arbeit zu verrichten. So ist es auch, wenn ich sage, der, welcher Not und Elend jetzt hat, hat sich das im früheren Leben zusammengezimmert. Ich weiß auch, daß nichts ohne Wirkung bleibt. Was ich jetzt begehe an gutem und bösem Schaffen, hat seine Wirkung im kommenden Leben. Die Wirkung in der Welt hängt zusammen mit der Ursache, was man belehrend an den Sternen und der Sonne wahrnimmt. So ist es auch in der geistig-seelischen Welt. Was wir uns jetzt zusammenzimmern, das wird in einem späteren Leben seinen Ausgleich finden. Richtig ist das biblische Wort: Gott läßt seiner nicht spotten, das, was ihr säet, das werdet ihr auch ernten. - Paulus als Eingeweihter wußte wohl, warum er ein solches Wort besonders aussprach. Das ist das große Weltgesetz, das das menschliche Schicksal lenkt.

Nun weiß ich wohl, daß es auch notwendig ist, ein wenig eine Vorstellung davon zu bekommen, wie dieses Gesetz wirkt, und darüber möchte ich noch einige Worte sagen. Wer schon andere Vorträge von mir gehört hat, weiß schon, was ich hiermit andeuten will. Wenn wir mit geistigem Sinn den Menschen betrachten, so steht er nicht als dieser physische Körper vor uns, sondern wir wissen, daß dieser physische Körper nur ein Teil der großen Wesenheit ist, daß hinter ihm etwas ist, was Paulus den geistigen Leib und was der Geisteswissenschafter den Ätherleib nennt. Wie ein Abbild des physischen Leibes ist der Ätherleib, oder besser umgekehrt, der physische Leib ist ein Abbild des Ätherleibes. Das

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ist das zweite Glied der menschlichen Wesenheit, der Ätherleib. Das dritte Glied ist der Astralleib, dasjenige, was der Mensch in sich trägt als Lust und Leid, Freude und Schmerz, Instinkte, Triebe, Leidenschaften und Begierden, alles, was vor uns steht, wenn ein Mensch vor uns steht, was wir aber nicht mit sinnlich-physischen Mitteln sehen, wahrnehmen können. Was sehen wir, wenn ein Mensch vor uns steht? Wir sehen die Haut, deren Farbe und so weiter. Der Anatom kann mit physischen Mitteln noch Knochen, Muskeln, Nerven und so weiter betrachten, aber Lust und Schmerz, Instinkte, Begierden und Leidenschaften, die auch in demselben Raume sind, sind nicht sinnlich wahrnehmbar. Das nennt man den Astralleib und darin sitzt erst die geistige Wesenheit des Menschen, die wir unser Ich nennen, die wir den Träger unseres Selbstbewußtseins nennen. Indem wir dieses haben, werden wir unsererseits wieder Träger von Atma, Buddhi, Manas, von dem, was ich beschrieben habe als Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch.

Den Astralleib hat schon das Tier. Es hat Lust, Freude und Schmerz. Was aber in der höchsten Ausgestaltung bei den Führern der Menschheit und in der Anlage bei allen Menschen vorhanden ist, das ist der ewige Wesenskern des Menschen, der von Verkörperung zu Verkörperung fortschreitet. Wenn der Mensch nun stirbt, was bleibt da vorhanden und was vergeht? Der physische Körper, das was man mit Augen sieht und mit Händen tasten kann, das wird der Erde übergeben. Der Ätherleib geht im allgemeinen Lebensäther auf, und zwar kurze Zeit, nicht lange nachdem wir durch den Tod gegangen sind. Das dritte ist der Astralleib, dasjenige, an dem der Mensch schon gearbeitet hat. Nehmen Sie eine solche Seele, die im Kulturmenschen lebt, da haben Sie den inneren Wesenskern und dann die Summe der Triebe und Leidenschaften. Beim Wilden, auf der ersten

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Stufe der Verkörperung, haben Atma, Buddhi, Manas wenig an den Instinkten gearbeitet. Daher sind sie auch noch tierisch. Was tut der geistige Wesenskern? Er arbeitet fortwährend, indem er die tierischen Leidenschaften veredelt. Dadurch unterscheidet sich der Kulturmensch von dem Wilden, daß der Astralleib bei ihm nicht mehr tierisch ist. Dann stirbt der Mensch und geht in die geistig-seelische Welt. Da sieht man, was noch in ihm war als Trieb aus der erstmaligen Verkörperung. Tritt der Mensch zum ersten Male in die Verkörperung, so sind die tierischen Leidenschaften ungeläutert. Er verzehrt seine Mitmenschen und so weiter. Dann treten die Folgen auf. Da fängt er an, im gröbsten etwas zu begreifen. Wir nehmen den radikalen Fall an, daß er sich sagt, wenn ich den andern verzehren kann, kann der andere auch mich verzehren. Er begreift, daß er vielleicht auch aufgefressen werden kann. Es wird ihm im letzten Moment klar, wozu es führt, und da dämmert in ihm sein erstes sittliches Bewußtsein auf, ganz dämmerhaft. Da läutert er dann seinen Trieb durch das Urteil, das er sich gebildet hat, und dieses Urteil kommt aus seinem geistigen Wesenskern. Was er als Urteil ausgebildet hat, tritt bei der zweiten Verkörperung als Anlage auf. Er ist ein wenig edler geworden. Und jetzt läutert er immer mehr und mehr seine Leidenschaften und Triebe. Er erhöht sie von Verkörperung zu Verkörperung. Das ist es, was wirklich geschieht, wenn der Mensch stirbt. Der physische Leib wird der Erde übergeben, der Ätherleib geht in dem Lebensäther auf. Was geschieht nun mit dem Menschen, was tritt jetzt ein?

Nicht bloß das Vermögen, hellseherisch in die Welt zu sehen, schon der Verstand könnte den, der tiefer nachdenkt, lehren, was geschehen muß. Der Mensch ist jetzt entkörpert, er hat keinen physischen Körper. Was hat er aber das ganze Leben hindurch getan? Er hat sein Leben hindurch sich durch

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den Geschmackssinn die Annehmlichkeiten des Essens verschafft. Diese Annehmlichkeit des Essens, das Leckere der Speisen, der Gaumengenuß ist seelisch. Der Gaumen selbst ist physisch. Hätte der Mensch nicht das Physische, so könnte er sich den seelischen Genuß nicht verschaffen. Hätte er kein physisches Ohr, so könnte er nicht hören, hätte er kein physisches Auge, so könnte er nicht sehen. Alles was wir wahrnehmen> nehmen wir zunächst mit den physischen Sinnen wahr. Der heutige Mensch kann nichts ohne seine physischen Sinne wahrnehmen. Er ist daran gebunden und daran gewohnt. Er ist gewohnt, solche Wünsche zu befriedigen, die durch die sinnlichen Organe befriedigt werden können. Die Gewohnheit, Wünsche zu haben, Genüsse zu haben, bleibt, die Mittel, durch die er sie befriedigen kann, fallen ab; Zunge, Augen und Ohren fallen ab. Die hat er nicht mehr. Jetzt fehlt ihm das nach dem Tode. Er lechzt noch nach dem Genuß, der nur durch das sinnliche Organ verschafft, befriedigt werden kann. Die Folge davon ist, daß der Mensch nach dem Tode in einen Bewußtseinszustand kommt, der im wesentlichen darin besteht, sich abzugewöhnen, nur durch die sinnlichen Organe befriedigt zu werden. Die Seele muß sich abgewöhnen, nach sinnlicher Befriedigung zu verlangen, muß sich hinausläutern über das, was sie auf der Erde befriedigt hat und nur durch sinnliche, physische Mittel befriedigt werden kann. Das heißt Kamaloka in der theosophischen Weltanschauung. Es lebt in der Form des Purgatoriums, des Läuterungsfeuers bei uns. Man kann das, was der Mensch da erlebt, nicht unzutreffend mit einem brennenden Durstgefühl, mit einer Art brennender Entbehrung vergleichen. So ist dieser Zustand nach dem Tode. Sinnlichphysisch ist das entsprechende Mittel nicht da nach dem Tode; das Organ ist nicht da, durch welches die lechzende Seele befriedigt werden kann. Wenn eine Seele im Verlaufe

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der Jahre im Kamaloka diesen Zusammenhang mit dem Physischen sich abgewöhnt hat, dann lebt sie in der geistigen Welt, der sie als Seele zugehört. Und das nimmt sie mit in die geistige Welt. Diese geistige Welt nennt die geisteswissenschaftliche Weltanschauung Devachan oder das Geisterland. Was nimmt die Seele mit? Die geläuterten Begierden und Leidenschaften. Die sind jetzt vergeistigt und herausgeläutert aus dem Physischen. Wenn der Mensch auf der Erde verkörpert war, dann nimmt er das, was er sich erobert hat, ins Devachan herüber und verarbeitet es da für eine neue irdische Verkörperung. Es muß da aus einer Erfahrung, die er gemacht hat, eine Kraft des Lebens werden. Es ist nicht genug, daß der Mensch eine Erfahrung macht. Fassen Sie genau den Unterschied zwischen Erfahrung und Kraft des Lebens ins Auge. Wenn eine unentwickelte Seele durch Konsequenz erfährt, daß es unmöglich ist, seinen Mitmenschen zu fressen, ohne sich selbst in Gefahr und in Schaden zu bringen, wenn das als Erfahrung vor die Seele tritt, so ist das die Erfahrung, die sich umwandeln muß in Kraft, so daß eine innere Stimme vorhanden ist: Du darfst einen Menschen nicht fressen. - Dann wird das Wille, die Stimme des Gewissens, die immer vollkommener und vollkommener werden wird, je mehr Verkörperungen wir durchgemacht haben. Erfahrung verwandelt sich in Wille, in Gewissensstimme im Laufe der Verkörperungen. Und jetzt wissen Sie, was der Mensch im Devachan macht. Im Kamaloka läutert er sich, im Devachan verwandelt er die Erfahrungen, die er macht, in Kraft für das nächste Erdenleben, um als kraftvolle, innere, individuelle Natur aufzutreten. Daher können Sie es sehen, wenn eine unentwickelte Seele im Wilden auftritt; das ist in seinen Gesten und Gesichtszügen, in seinen Handbewegungen als etwas Gattungsmäßigem zu erkennen. Je mehr Inkarnationen durchge-

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macht sind, desto mehr tritt das Individuelle hervor. UnJ was ist das, was ausgestaltet wird? Es sind die Erfahrungen seiner früheren Inkarnationen, die zum Charakter werden.

Nun können Sie noch die Frage aufwerfen: Ja warum erinnert sich der Mensch an die früheren Verkörperungen nicht? - Diese Frage hat so, wie sie gestellt ist, wenig Sinn. Das werden Sie gleich ersehen. Es ist so, wie wenn jemand kommt und sagt: Die Menschen nennen sich Menschen, und ein vierjähriges Kind steht vor uns, das nicht rechnen kann-, und nun sagt er: Dieses Kind kann nicht rechnen, es ist aber ein Mensch, also können die Menschen nicht rechnen. - Es ist dies aber eine Frage der Entwickelung. Jeder Mensch kommt einmal dahin, wo einige Fortgeschrittene schon hingelangt sind, die sich an die früheren Erdenleben erinnern können. Wenn er sich nicht erinnern kann, so liegt es daran, daß er sich diese Fähigkeit erst erwerben muß, wie das Kind die Fähigkeit des Lesens, Rechnens und Schreibens sich erwirbt. Der Mensch darf nicht in Dumpfheit das Schicksal an sich vorübergehen lassen, wenn er sich durch diese Erlebnisse zu dem Standpunkt emporschwingen will, sich an seine früheren Erdenleben zu erinnern. Wie tritt nun dieses Erinnern an die früheren Erdenleben auf?

Dieses Leben ist gebunden daran, daß der Mensch möglichst viel von seinem inneren geistigen Wesenskern entwickelt hat. Je freier und unabhängiger der Mensch in diesem Leben geworden ist von der Sinnlichkeit, je mehr er in der Seele lebt, je weniger er angewiesen ist auf dasjenige, was er an Genüssen durch die Sinne vermittelt erhält, desto mehr nähert er sich dem Zustande, wo er sich in den früheren Zuständen erkennt. Wie sollte aber ein solcher Mensch sich an frühere Erdenleben erinnern? Man untersuche nur einmal, was einen gewöhnlichen Menschen gewöhnlich erfüllt. Nur das, was die sinnliche Auffassung bietet! Das ver-

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schwindet natürlich, denn eine Erinnerung an frühere Erdenleben ist dabei nicht möglich. Erst wenn der Mensch ein Leben führt in seinem göttlichen Selbst, dann erinnert er sich in demselben Maße an das, was er in den früheren Inkarnationen erlebt hat, und diejenigen, welche sich in das geistige Leben vertiefen, werden sicher mit einer Rückerinnerung an das geistige Leben wiederverkörpert werden.

Ein anderer Einwand wird gewöhnlich gemacht gegen die Lehre vom Karma. Man sagt, nun ja, es ist das alte Schicksalsgesetz. Aber jetzt wird gesagt, der Mensch habe sich in den früheren Erdenleben alles zubereitet. Schicksal und Charakter seien dadurch unabänderlich bestimmt. Da gibt es keine Freiheit und keinen freien Willen mehr. Da stehen wir unter einem Fatum. - Wenn jemand so sagen würde, so wäre das ebenso klug, wie wenn jemand sagen wollte: Hier habe ich ein Kassenbuch. Links habe ich alle Sollposten, rechts alle Habenposten. Wenn ich beide Seiten addiere, so kommt ja eine bestimmte Zahl heraus. Subtrahiere ich beide Zahlen, so ergibt sich der Gewinn oder der Verlust. Füge ich diesen der einen Seite wieder hinzu, so haben wir eine Bilanz. - Gewiß, das ist ebenso bei einer Lebensbilanz. Die guten Taten stehen auf der einen Seite, die bösen und dummen Taten auf der andern. Da gibt es auch ein Lebenskonto mit der Lebensbiianz, wie es Konten und Bilanz in der kaufmännischen Buchhaltung gibt. Denken Sie sich nun einen Kaufmann, der sagte, mein Jahresabschluß ist gemacht, ich darf nichts mehr eintragen, ich darf keine neuen Geschäfte mehr machen, denn alles, was ich noch machen darf, ist durch die früheren Eintragungen vorherbestimmt. - Dasselbe wäre es, wenn der Mensch sagte, ich darf keine neuen Taten mehr begehen. Die Eintragungen und der Abschluß verbieten ihm das nicht. Ebensowenig wie die Buchhaltung

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dem Kaufmann verbietet, neue Geschäfte zu machen, ebensowenig verbietet ihm das Karma gute oder böse Taten. In jedem Augenblick können wir neue Posten eintragen, in jedem Augenblick können wir die Soll- und die Habenseite vermehren. Manche sagen auch: Wenn ich einem in Not und Elend Befindlichen helfe, so greife ich ja in sein Karma ein. Das darf ich aber nicht. - So ist es nicht. Sie können dem Menschen helfen, neue und gute Posten in sein Karma einzuschreiben und dadurch, sein Lebenskonto zu einem günstigen zu gestalten. Was Sie an Faulem, Lässigem und Fatalistischem da hineinschreiben, ist nicht so positiv mit dem Karmagesetz verbunden. Mit dem Karmagesetz ist aber etwas anderes verbunden.

Wenn Sie einen Chemiker in sein Laboratorium hineingehen sehen, wird er vielleicht mit der bestimmten Idee hineingehen: Wenn ich Schwefel, Sauerstoff und Wasserstoff in einer gewissen Weise zusammenbringe, so entsteht Schwefelsäure nach einem unabänderlichen Gesetz. Gegen dieses Gesetz ist nichts einzuwenden. Aber der Chemiker kann es auch unterlassen, die Mischung vorzunehmen, er kann sie machen oder nicht machen. Das Gesetz beeinträchtigt seinen freien Willen gar nicht. Aber das Gesetz gibt ihm die Sicherheit, daß das, was eintreten soll, auch wirklich eintreten wird, wenn es eintreten soll. Es gibt nicht aus derselben Mischung das eine Mal Kohlensäure und das andere Mal Schwefelsäure. Das Gesetz läßt uns auf eine bestimmte Wirkung bauen. Ebenso ist es auch mit dem Karma. Von keiner Tat kann uns das Gesetz vom Karma abhalten, aber es gibt uns die Sicherheit, daß ein richtiger und gerechter Ausgleich stattfinden muß im Leben, daß jede gute Tat ihre gute Wirkung und jede gescheite Tat ihre entsprechende Wirkung haben muß. Daß alles nach einem geistigen Gesetze geschieht, das gibt uns die Sicherheit, das zeigt uns, daß nichts,

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was wir tun, dem Zufall anheimfällt, sondern daß alles, was wir tun, so getan ist, daß wir bauen können auf einen richtigen Weltenzusammenhang.

So ist dieses Gesetz vom Karma nicht bloß ein wissenschaftliches Gesetz, nicht etwas, was bloß das theoretische Interesse befriedigt, sondern etwas, was die Lösung des Lebensrätsels, des Weltenrätsels birgt. Es gibt Kraft und Sicherheit im Leben, es wirkt so, daß wir wissen, daß alles in diesem Leben zusammenhängt nach einem Gesetz, das immer mehr und mehr erkannt wird, das wir zunächst unbewußt und dann immer bewußter deuten. Nicht bloß der Wissenstrieb wird durch die geisteswissenschaftliche Weltanschauung befriedigt. Noch etwas anderes wird durch sie gegeben, nämlich Kraft und Mut und Sicherheit. Nicht allein wird uns etwas gesagt über unsere Bestimmung, sondern es wird uns zu gleicher Zeit die Möglichkeit gegeben, im Sinne dieser unserer Bestimmung zu leben, so zu leben, daß wir einem immer vollkommeneren und vollkommeneren Dasein zuschreiten. So ist nicht dogmatisch und lehrhaft, sondern lebensvoll und gemütsdurchtränkt die Lösung des Lebensrätsels durch die beiden Tatsachen der Wiederverkörperung und des Karmagesetzes.

Alle diejenigen, welche einen tieferen Blick in die Natur getan haben, in die Natur des geistigen Lebens, kamen mehr oder weniger auf dieses Schicksalsgesetz und auf das Gesetz der Wiederverkörperung. Giordano Bruno war ein Anhänger des Gesetzes, und als aus einer Dumpfheit heraus wieder eine neue Geisteskultur geholt worden ist, da war es Lessing, der seine Weisheit hat ausklingen lassen in der Lehre von der Wiederverkörperung. Ich weiß, daß viele Lessing zu tadeln unterlassen. Wenn es aber einem gefällt, ihn zu loben, da werden sie nicht mitgehen. Es ist aber sonderbar einem großen Manne gegenüber, daß man von ihm

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nur das annimmt, was einem paßt. Und ebenso ist es bei Giordano Bruno und Goethe, bei denen man diese Ideen als Altersschwäche oder ähnliches ansieht. Wir werden sehen, daß auch unsere deutsche Theosophie tief durchdrungen ist von dieser Anschauung. Aber erst heute, erst seit einigen Jahrzehnten ist es möglich, von dieser Anschauung wiederum öffentlich Mitteilung zu machen. Durch die Jahrhunderte der neuen Entwickelung war das nicht möglich, weil die Menschheitskultur eine andere Aufgabe hatte, wie ich das schon auseinandergesetzt habe. Dämmerhaft kamen die Lehren von der Wiederverkörperung und von Karma herauf, und auch diese großen Geister konnten so manches nur bildlich, in Sinnbildern verkündigen, lebensvoll faßten sie sie auf. Da wo ihnen das Leben in seinen tiefsten Tiefen erklärlich werden konnte, deuteten sie oft mit großem Lebenshumor auf diese Wahrheiten hin, auf dieses ewige Gesetz von der Wiederverkörperung, das das bestimmt, was wir jetzt erleben zwischen Geburt und Tod. Darauf deutete Goethe hin, als er sich seine tiefe innere Seelenfreundschaft zu Frau von Stein erklären wollte, indem er sagte: «Ach, du warst in abgelebten Zeiten, meine Schwester oder meine Frau.» Aber auch das Gesetz, welches als das Karmagesetz über uns waltet, drückt Goethe aus wie andere große Geister. Daß wir in die Welt hereintreten nach unserer Anlage, wie wir sind, dem Gesetze von Ursache und Wirkung folgend, wie alles in der Welt, das drückt er aus in den schönen Worten:

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,

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So sagten schon Sibyllen, so Propheten,
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Aber das Tiefste, was er zu sagen hatte, das sagte er im Bilde, unter anderem in dem schönen Gedicht, wo er die Seele des Menschen vergleicht mit dem Wasser und das Schicksal des Menschen mit dem Wind, die Seele als dasjenige, was von Verkörperung zu Verkörperung dahinfließt im Lebensstrom und das Schicksal mit dem Winde, das diese Seele auf und ab wogen läßt in immerwährenden Wellen. Und wie jede folgende Welle in ihrer Gestalt abhängig ist von der vorhergehenden, so ist die Seele abhängig von ihrer vorigen Gestalt, und so wie der Wind immer neu wird, so wird in das Lebenskonto des Menschen immer Neues einziehen, immer Neues eingetragen. «Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser, Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind», so sagt er am Schlusse des Gedichtes, wo er geradezu die Wiederverkörperung im Erdenleben darstellt. «Des Menschen Seele gleicht dem Wasser, vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es, und wieder nieder zur Erde muß es, ewig wechselnd.» So stellt Goethe die Seele dar. Sie kommt aus der geistigen Welt, steigt zur Erde nieder, geht zurück zum Himmel und kommt wieder in neuer Verkörperung:

Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muß es,
Ewig wechselnd.

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Strömt von der hohen,
Steilen Felswand
Der reine Strahl,
Dann stäubt er lieblich
In Wolkenwellen
Zum glatten Fels,
Und, leicht empfangen,
Wallt er verschleiernd,
Leis` rauschend
Zur Tiefe nieder.

Ragen Klippen,
Dem Sturz entgegen,
Schäumt er unmutig
Stufenweise
Zum Abgrund.
Im flachen Bette
Schleicht er das Wiesental hin,
Und in dem glatten See
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne.

Wind ist der Welle
Lieblicher Buhler;
Wind mischt vom Grund aus
Schäumende Wogen!
Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind.

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LUZIFER Berlin, 22. Februar 1906

Die persische Sage spricht von zwei einander entgegenstrebenden Gottheiten, von Ormuzd, dem guten Gotte, und von Ahriman, dem bösen Gotte. Die beiden Gottheiten kämpfen um den Menschen, überhaupt um all dasjenige, was hier auf der Erde sich als Leben und Streben entfaltet. In Aussicht gestellt ist, daß die gute Gottheit einstmals den Sieg über die böse Gottheit davontragen wird.

Wie man auch über diese Sage denken mag, ein Abbild dieser Sagenidee sieht jeder in der Natur, in der uns umgebenden Welt selbst. Betrachten Sie, um ein Beispiel zu haben, auf der einen Seite das Feuer. Dem Feuer verdanken wir unsere Kultur, unsere Behaglichkeit und unser Fortkommen hier innerhalb unseres Lebens, und betrachten Sie auf der andern Seite die zerstörende Gewalt der Mächte, die auch in irgendeiner Beziehung zum Feuer stehen, wie zum Beispiel die Erdbeben und die Vulkanausbrüche. In der Natur selbst also walten wohltätige, erhaltende, Leben fördernde und Leben spendende Mächte, und auf der andern Seite Leben zerstörende und feindliche Mächte. Der Schauplatz, auf dem sich die Kämpfe dieser beiden Gewalten abspielen, ist nicht nur der äußere Mensch, sondern auch der innere. Die Seele des Menschen wird hin- und hergerissen von feindlichen Gewalten: auf der einen Seite von Schmerz, Übel und Leid, und auf der andern Seite von den wohltätigen Mächten des Daseins, von Freudevollem, Erhabenem, Herzerhebendem und demjenigen, das uns in die geistigen Himmelssphären hineinweist. Tiefere Naturen haben

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immer die Einheit, im Grunde genommen doch die Harmonie zwischen diesen zwei einander entgegenstrebenden Mächten eingesehen. Ich brauche nur an etwas ganz Bekanntes zu erinnern, so werden Sie sich vor die Seele rufen, wie ein auserlesener Geist unserer eigenen deutschen Kultur die Einheit und Einheitlichkeit der beiden einander widerstrebenden Mächte zum Ausdruck gebracht hat. Schillers «Lied von der Glocke» enthält gerade in dieser Hinsicht die schönen Worte:

Wohltätig ist des Feuers Macht,
Wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht,
Und was er bildet, was er schafft,
Das dankt er dieser Himmelskraft;
Doch furchtbar wird die Himmelskraft,
Wenn sie der Fessel sich entrafft,
Einhertritt auf der eignen Spur,
Die freie Tochter der Natur.

Eins und dasselbe unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten!

Betrachten wir so den Menschen äußerlich und innerlich, überall werden wir in dem Menschen widerstrebende Mächte erblicken. Eine von diesen Gewalten, von der seit uralten Zeiten Weise und Unweise gesprochen haben, soll Gegenund unserer heutigen Betrachtung sein: diejenige Gewalt, die man von jeher bezeichnet hat mit dem Namen Luzifer. - Nicht von dem Standpunkte der wissenschaftlichen, geschichtlichen Betrachtung etwa bloß, sondern von dem Standpunkte innerlicher, sogenannter esoterischer Betrachtung wollen wir uns heute mit diesem Thema befassen.

Dem Worte nach bedeutet Luzifer: Lux - das Licht, fer, ferre - tragen, der Lichtträger. Wenn wir uns dieses Wort vor Augen halten, dann müssen wir uns schon sagen: Diejenigen,

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welche dieser Gewalt den Namen gegeben haben, können unmöglich bloß das gemeint haben, was verschiedene positive religiöse Überzeugungen zusammenfassen in der zerstörenden, Leid und Verderben bringenden Macht, die sie im Symbol um der Schlange und des bösen Drachen sehen. - Dennoch klingt das in Europa bekannteste Religionssystem, das christliche, mit dem zusammen, was man im Volksmunde den Teufel, Satan nennt, den man als die lebenzerstörende oder herabziehende Macht ansieht. Die Schlange ist Ihnen allen bekannt als der Verführer der Menschheit. So steht es im Beginne der Genesis, der Bibel, und so lebt es auch im Bewußtsein vieler. Nicht immer und nicht in allen Religionsbekenntnissen gilt die Schlange als das Symbolum des Bösen, der herabziehenden und verderbenden Macht. Wenn wir die christlich-jüdische Mythe selbst betrachten, so kann es uns nicht ganz so erscheinen. Denn wer wollte heute diejenige Macht, welche den Menschen die Erkenntnis des Guten und Bösen gebracht hat, diejenige Macht, von der gesagt wird, daß sie dem Menschen die Augen aufgeschlossen hat, unbedingt zu den feindlichen Mächten rechnen? Eine große Wandlung ist vor sich gegangen gerade in dem letzten Jahrhundert.

Wir brauchen nur an den Namen des großen Genius Goethe zu erinnern, um zu sagen, welche Wandlungen sich im Laufe der letzten Jahrhunderte vollzogen haben. Ihnen allen ist bekannt, daß Goethe die Faustsage des Mittelalters umgewandelt hat, nicht nur neu behandelt hat. Wenn Sie diese Faustsage des Mittelalters verfolgen, so steht Faust da als der Repräsentant und Typus des menschlichen Strebens, des Strebens, das auf Freiheit und Selbständigkeit und auf Wissenschaft gebaut ist, nicht desjenigen, was auf Offenbarung, auf Glaube gebaut sein soll. Im 16. Jahrhundert noch hat der Volksgeist diesen Faust, diesen Genius des

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freiheitlichen menschlichen Erkenntnisstrebens so hingestellt, daß er unbedingt verfallen muß den bösen, lebensfeindlichen Mächten. Faust muß untergehen aus dem Grunde, weil er sich abgewandt hat von dem Glauben, von der Überlieferung der Jahrtausende, von der Offenbarung. Von ihm wird gesagt, daß er kein Theologe mehr sein wollte, es wird von ihm gesagt, daß er die Bibel hinter eine Bank gelegt habe und Weltmensch geworden sei. Unter einem Weltmenschen verstand man einen solchen Menschen, der auf Freiheit und Selbständigkeit sein Dasein begründen will, auf eigene Kenntnis und auf das Durchschauen der Kräfte. Ein solcher Mensch mußte notwendigerweise den bösen Kräften verfallen nach der damaligen Anschauungsweise. Goethe stellt uns diesen Kampf neuerdings dar. Und wie läßt er dieses Schicksal ausgehen? «Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen», läßt er den Chor der Engel singen. Faust geht auch hier den Pakt ein mit den Mächten, die an Mephistopheles geknüpft sind, aber er wird erlöst, trotzdem er sich auf Freiheit und Selbstbestimmung gründet. Faust gelangt zur Befriedung seines Daseins. Das ist eine Seelenwandlung, die sich da vollzogen hat. Luzifer wird nicht mehr in der alten Weise als durchaus Verderben bringend erkannt.

Wenn wir uns in den alten Religionen umschauen, so war Luzifer nicht immer der Verderbenbringende. In den alten indischen Religionen werden die Weisen, die Führer, diejenigen, welche die Menschen mit dem Geist erleuchten, Schlangen genannt. So ist es in vielen Religionen. Warum ist das so? Was stellt im Sinne dieser alten Religionen Luzifer dar? Was stellt er endlich dar? Dies und ähnliches soll uns heute beschäftigen. Was stellt er dar im Sinne der Okkultisten, der Erforscher der in der Natur schlummernden Daseinskräfte, der tieferen Naturkräfte, die im Sinne dieser

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Erkenntnis von Luzifer sprechen als von demjenigen, weicher das Licht bringen soll dem auf sich selbst gestellten Menschen, der nicht auf Offenbarung und Glaube, sondern auf Erkenntnis und Wissenschaft baut? Wenn wir in diese Sache eindringen wollen, so müssen wir etwas berühren, was uns in weit entlegene Fernen des Menschendaseins führt, sozusagen an den Ausgangspunkt der menschlichen Entwi&elung. Vollständig wird uns die Frage, die hier eingangs nur berührt werden kann, erst da beschäftigen können, wo wir von der Planetenentwickelung sprechen. Aber unseren Ausgangspunkt müssen wir schon heute von diesem Zeitpunkte menschlicher Entwickelung nehmen. Entwickelung ist dasjenige, was uns heute wie ein Zauberwort erscheint und das menschliche Dasein begreiflich machen will, das, was uns heute in gewisser Vollkommenheit und Vollendung entgegentritt und von dem wir hoffen, daß es immer größeren und größeren Vollkommenheitsgraden sich zuneigen wird. Alles, was um uns herum lebt, schreiben wir einer Entwickelung zu vom Unvollkommensten zum Vollkommenen. Und so auch beim Menschen, bei dem Menschen, der nach einer tieferen Entwickelungslehre ins Dasein tritt vor uralten Zeiten, in welchen unsere Erde selbst noch ganz anders aussah als heute und in welchen die auf ihr befindlichen Naturkräfte und -mächte in einer ganz andern Weise wirkten. Im Sinne dessen, was man theosophische oder geisteswissenschaftliche Weltanschauung nennt, sprechen wir auch von diesem Ausgangspunkte aus von einer Entwickelung des Menschen, aber wir sprechen von einer Entwickelung, die uns zurückführt in noch weitere Fernen und zu Ausgangspunkten, die vor unserer Erdenbildung selbst liegen. Das kann nur angedeutet werden.

Als der Mensch ins Dasein trat, war er ein Wesen, das sozusagen mit und unter den Naturreichen allein auf der Welt

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war. Wenn wir den Menschen so betrachten, so erscheint er uns gegenüber den übrigen Naturreichen, gegenüber dem Mineral-, Pflanzen- und Tierreich zunächst als das höchste Glied, das Endglied derjenigen Entwickelungskette, die durch diese Naturreiche hindurchgeht. Aber ebenso töricht, wie es wäre, wenn eine Pflanze, ein Stein oder ein Tier spräche: Bei mir hört die Entwickelung auf-, ebenso töricht und unsinnig wäre es, wenn der Mensch von sich spräche: Bei mir hört die Entwickelung auf, ich bin das höchste der Wesen, die hier auf der Erde möglich sind. - Hinaufblicken müssen wir zu andern Wesen, die wir nicht mit den sinnlichen Augen erreichen können, die wir aber erreichen, wenn die tieferen, in uns schlummernden geistigen Kräfte erweckt werden, wenn die geistigen Augen freigelegt werden. Die theosophische oder geisteswissenschaftliche Weltanschauung ist eine solche, welche wieder ein Bewußtsein bringen soll von diesen weiterentwickelten Wesen, die zu den Menschen so stehen wie der Mensch zu den unteren Naturreichen. Als der Mensch hier ins Dasein trat, war er nicht aus dem Nichts heraus geschaffen, sondern er entstand aus früheren, viel früheren Entwickelungsgliedern. Aber auch andere Wesen haben solche Entwickelungen durchgemacht. Sie standen über den Menschen. Die Religion, auch die Bibel spricht von diesen Wesenheiten. Sie spricht von Wesenheiten, welche sich damals, als der Mensch den Ausgang in seiner Entwickelung auf der Erde nahm, ungefähr so vollkommen fühlen konnten, wie der Mensch selbst sich einstmals fühlen wird, wenn er das Ende der Entwickelungsphase, in der er gegenwärtig ist, erreicht hat. Wir sagen in der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung: im Menschen, in seinem tiefsten Inneren lebt ein werdender Gott. Und mit den christlichen Mysterien des Mittelalters sprechen wir, daß der Mensch sich erheben kann in Reiche, die über denen stehen, in welchen

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er heute wohnt. Schön sagt das der christliche Mystiker Angelus Silesius: «Wenn du dich über dich erhebst und läßt Gott walten, so wird in deinem Geist die Himmelfahrt gehalten.» Dann ist er nicht bloß zwischen den Mächten, die schaffen, mitten drinnen der Genießer wie heute, sondern der Mensch wird stehen als ein Schaffender, als ein Vergeistigter und Vergöttlichter.

Und am Ausgangspunkte, wo die Kräfte, die heute schon gewisse Vollkommenheitsgrade erreicht haben, noch in der Kindheit lagen, da waren neben ihm Wesenheiten, die schon solche Stufen durchgemacht hatten, die er heute zu absolvieren hat. Sie waren, wenn wir die Bibel recht innerlich verstehen, das, wovon die Götter abstammen. Auch die Götter haben sich, selbst im Sinne der Bibel, entwickelt. Die Elohim sind nicht etwas, was einfach dasteht, sondern sie sind etwas, was geworden ist und sich zu jener Höhe hinaufentwickelt hat. Sie standen in der Vergangenheit vor dem Auge des forschenden Menschen auf der Höhe, zu der er sich selbst einst entwickeln wird. Eine gewisse Vollendung haben sie erreicht, diese Götter. Aber so wie auf den Stufen unseres heutigen Daseins neben vollkommener entwickelten Menschenindividuen auch solche stehen, die erst einen geringeren Grad der Vollkommenheit erreicht haben, die hinter ihren Mitbrüdern etwas zurückgeblieben sind, so standen auch damals noch Wesenheiten zwischen Menschen und Göttern, die höher waren als der Mensch, aber tiefer als die, welche als schaffende Götter bezeichnet wurden. Ich weiß, wie mißverständ!ich solche Dinge sind, auch wenn sie ernst genommen, ernst aufgefaßt werden. Ich weiß, daß die materialistische Weltanschauung geradezu verbietet, weil sie es als einen Aberglauben betrachtet, von Stufenfolgen in der Entwickelung solcher Wesenheiten zu sprechen. Das aber kann nicht hindern, der Wahrheit ins Antlitz zu schauen

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und von Stufenfolgen über den Menschen hinaus zu sprechen. In erhabener Höhe waren also die Götter über den Menschen, und unmittelbar über diesen waren Wesenheiten, die in ihrer Entwickelung zwischen den Göttern und Menschen standen, sie aber damals nicht zu Ende führten und dann ihre Entwickelung zwischen den Menschen durchmachten, weil sie dem Menschen näherstanden. Diese Wesenheiten holten gewissermaßen auf unserer Erde innerhalb ihrer Entwickelung das nach, was sie früher versäumt hatten. Dasjenige, was man Geheimlehre, Okkultismus nennt, befindet sich in Eintracht mit den alten Religionen und den tieferen Weisheiten unserer Zeit. Da werden diese Mächte zusammengefaßt unter dem Namen des Luzifer. Und ebenso wie durch die theosophische Weltanschauung es klar wird, daß ein Gott in dem Menschen lebt, der ihn hält und trägt und der sich ausspricht in den schlummernden Anlagen, die aber dereinst göttliche Anlagen sind, die der Mensch entwickelt haben wird am Ziele der Entwickelung, ebenso lebt aber auch das luziferische Prinzip im Menschen und gehört zu seiner eigenen Seele, wie diese zu den Göttern.

Nachdem wir dieses uns vor Augen geführt haben, dürfen wir wohl ebenso, wie der Physiker von Elektrizität und Magnetismus spricht, von Göttern und luziferischen Mächten, vom göttlichen und vom luziferischen Prinzip in uns sprechen. Die Götter standen als erhabene Wesen da. Beide - Götter und luziferische Mächte - müssen wir uns nun als das große Gesetz klarmachen, das in aller Entwickelung lebt und wirkt. Betrachten Sie einmal die Natur um sich herum. In einer Stufenfolge tritt uns entgegen als Tiefstes die leblose Welt des Mineralischen, dann das Pflanzen-, dann das Tier- und endlich das Menschenreich; und noch weiter hinauf dann die Reiche der höheren Wesenheiten. Wenn die Pflanze die Augen auftun und mit heller klarer Erkenntnis

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um sich blicken könnte, dann würde sie sich sagen: Diesem Mineralreich, das um mich herum lebt, ihm verdanke ich mein Dasein; wäre es nicht, nimmermehr könnte ich sein. Aus ihm ziehe ich meine Lebenskraft. Dieses Reich bildet den Boden, aus dem meine Wurzeln ersprießen. Ohne dieses Reich könnte ich nimmermehr dasein. - Und wiederum, wenn das Tier in derselben Weise die unteren Naturreiche betrachten könnte, es würde ebenso sein. Und es müßte hinunterblicken in das niedere Pflanzenreich und sagen: Aus ihm bin ich herausgewachsen, ihm verdanke ich meine Nahrung; wäre das Pflanzenreich nicht, so wäre ich nicht. - Und weiterhin ist es ebenso beim Menschen. Auch er muß sich sagen: Herausgewachsen bin ich aus diesen unteren Naturreichen, diesen verdanke ich mein Dasein; wären sie nicht, so wäre ich nicht. Da tritt wiederum das höhere Naturreich dem niedereren gegenüber und hilft ihm sozusagen, sein Dasein weiterzubringen. Denken Sie sich nur einmal, es hätte sich nur ein mineralisches Reich auf der Erde entwickelt! Was wäre aus der Erde geworden? Ein starrer, lebloser Körper, der durch den Weltenraum eilte. Wie in einem Grabe schlummernd wäre das Leben geblieben im mineralischen Reich. Dieses Leben hat sich nun sozusagen in ein höheres Reich hinaufgeflüchtet, in das Pflanzenreich, und durch das Pflanzenreich wird wieder das mineralische Reich auf der Erde zu einem lebendigen gemacht. Das Mineralische hält und trägt das Pflanzenreich, das Pflanzenreich wandelt das Mineralische fortwährend um im lebendigen Kreislauf. Bedenken Sie, was die Pflanze macht mit den mineralischen Kräften auf der Erde! Gäbe es keine Pflanzen auf der Erde, die Stoffe des Mineralreiches ruhten im toten Gestein. So aber, da es ein Pflanzenreich gibt, saugt es die Stoffe auf, belebt sich selbst damit und gibt sie wieder zurück. Das niederere Reich bietet die Grundlage und Kräfte fürs höhere,

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und das höhere Reich hilft wieder mit, das Dasein des niedereren zu erhalten. Und so ist es mit jedem nächsthöheren Reiche. Das tierische Reich lebt einträchtiglich mit dem Pflanzenreich zusammen, es atmet Sauerstoff ein und Kohlensäure aus; die Pflanze baut sich aus dem Kohlenstoff ihren Körper auf und gibt dafür Sauerstoff ab. Und der Mensch? Auch er lebt durch die niederen Naturreiche. Da kommen wir schon allmählich herauf zu dem sich dem Geiste nähernden, von dem Geiste sich nährenden Menschen; und gehen wir zu den geistigen Mächten über, da ist ungefähr zwischen den Göttern und Menschen ein ebensolches Verhältnis wie zwischen den niederen Reichen des Universums, ein Verhältnis, ähnlich dem zwischen den Pflanzen und den Mineralien oder dem zwischen den andern sich auftürmenden Reichen des Universums. Wissen wir, was die Pflanze zur Bildung und Belebung des mineralischen Reiches tut, was tun denn die geistigen Reiche, was tun die Götter mit dem Menschen am Ausgangspunkte der Entwickelung und im Fortschritt derselben? Was taten sie mit dem Menschenreich?

Die Götter haben ihre Entwickelung vollendet. Sie haben, wenn wir hier einleuchtend, wenn auch nicht ganz zutreffend sprechen wollen, kein unmittelbares Interesse an dem Menschenreich.Aber sie haben ein mittelbares; sie geben ihm die Kräfte, das im Menschen schlummernde und erstarrte Leben wieder zum Dasein zu bringen, so wie die Pflanze dem toten Steine das Leben gibt. Nun sehen Sie sich das mineraiische Gestein reich, das Pflanzenreich und das Tierreich an. Wie stehen sie einander gegenüber? Der Okkultist, das heißt derjenige, der die tieferen Kräfte der Natur erforscht, sagt: Das mineralische, das pflanzliche und das tierische Reich stehen sich gegenüber wie Weisheit, Leben und Liebe. - Versuchen wir das zu begreifen!

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Wenn Sie das mineralische Reich ansehen, wie es uns entgegentritt in der Natur: überall suchen Sie es zu begreifen mit dem Verstand und mit der menschlichen Weisheit. Sie erforschen die Gestirne in ihren Bahnen, das was als Naturgesetz in der mineralischen Welt lebt. Die Pflanze, sie zieht die Weisheit und die Weltgesetzlichkeit aus der mineralischen Welt heraus. Wir sagen daher: Es ruht die Weisheit, die Gesetzmäßigkeit im mineralischen Reich; verkörperte Weisheit ist dieses mineralische Reich. Aber arm und nüchtern und tot wäre dieses mineralische Reich mit seiner Weisheit, wenn nicht die Pflanzenwelt hinzugetreten wäre und das belebende Prinzip, das sprießende und sprossende Leben in dieser schlummernden Weisheit geweckt hätte. Liebe und Weisheit tauschen miteinander die Kräfte, indem die Pflanzen und Mineralien miteinander in Wechselwirkung treten. In einer ähnlichen Art ist es auch zwischen den Göttern und Menschen. So wie der Mensch war, als er seine Entwickelung begann auf der Erde, da ruhte in ihm zunächst das Leben; die Götter fachten es wieder an zu einer neuen irdischen Entwickelung. Diese irdische Entwickelung, woran ist sie geknüpft? Wiederum verhalten sich hier Menschenreich und Götterreich, wenn wir sie miteinander in ein Verhältnis setzen, wie Weisheit und Liebe. Daher spricht der Okkultismus, sprechen alle tieferen Religionsbekenntnisse - auch das Christentum - davon, daß Gott oder die Götter die Liebe sind, das belebende, das sprossende Prinzip. Zuerst bringt das sprießende und sprossende Prinzip die Sinnenliebe auf. Daher wird in der jüdischen Religion des Alten Testamentes Jehova als der Spender des sinnlichen Triebes hingestellt, als der Geber von Wachstum und Vermehrungstätigkeit. In dem sinnlichen Trieb liegt das Prinzip der Fortentwickelung, das vom Unvollkommenen zum Vollkommenen treibt, das die Entwickelung ist von der Tierheit bis her-

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auf, wo die Liebe Staaten begründet. In dieser Liebe, die sozusagen im Menschen zu Gemeinschaften aufruft, die das- jenige, was im Menschen verhärtet ist, so mit sprießendem und sprossendem Leben durchquillt, wie die Pflanze den Stein aufruft zum Leben, in ihr haben wir zunächst die sich offenbarende, ursprüngliche Gottheit. So ist es in allen Religionen und auch in dem, was wir Geheimwissenschaft nennen. Und nun müssen wir uns klar sein darüber, daß wir also hier in der menschlichen Entwickelung die göttlichen Triebkräfte zu sehen haben, die göttliche Macht. Der Mensch mußte immerdar dasjenige, was ihn vorwärtstreibt, was ihn aufwärtsbringt, als eine Gabe, als Offenbarung eines göttlichen Prinzips ansehen.

Zwischen ihn und die Götter tritt das luziferische Prinzip mitten hinein. Dadurch wird er instand gesetzt, dasjenige, was als göttliches Prinzip in ihm unbewußt lebt, in seinem unbewußten Fortpflanzungs- und Entwickelungstrieb, in seine eigenen Hände zu nehmen. Dadurch wird er zu Selbständigkeit und Freiheit in seiner Entwickelung aufsteigen. Und warum das? Weil dasjenige, was in Luzifer lebt, ihm nähersteht, sozusagen ein jüngerer Bruder des göttlichen Prinzips ist. Damals, als die Entwickelung noch in einer älteren Phase war, da waren die Götter selbst auf der Stufe der Menschheit, da suchten sie selbständig innerhalb der Menschheitsstufe ihre eigene Entwickelung. Jetzt aber, da sie sich entwickelt haben, ist der Mensch ein Geschöpf unter ihnen; jetzt beherrschen sie den Menschen und wirken im Menschen. Das Luziferische tritt nun hinzu. Und das hat noch ein familiäreres und intimeres Verhältnis zum Menschen; das ist noch nicht ganz hinausgewachsen über die Stufe, die man als Menschlichkeit bezeichnet. Es ist etwas, was sich über den gegenwärtigen Standpunkt der Menschheit erhebt, aber im intimen Zusammenhang steht, so daß es mit den

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Menschen mehr zusammenschmilzt und als ein eigener Trieb im Menschen wirkt, sich vorwärtszubringen. Das sind die drei Stufen, die im Menschen selbst wirken als seine Entwickelungskräfte: seine Menschlichkeit, das luziferische Prinzip und die Göttlichkeit. Wenn wir den Menschen, so wie er vor uns steht auf der gegenwärtigen Stufe der Entwickelung, begreifen wollen, dann müssen wir im Sinne der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung sehen, daß er die sogenannten vier unteren Prinzipien ausgebildet hat. Ich setze dabei etwas voraus von dem, was die theosophische Weltanschauung lehrt. Nur eine kurze Erklärung will ich dazu geben.

Zunächst haben wir den physischen Leib des Menschen, dann das Prinzip des Ätherleibes, das belebende, das formende, dann seine Triebe, Begierden und Leidenschaften, das Tierische in ihm; das ist zur Selbständigkeit erwacht durch das vierte Prinzip, durch das eigentliche Ich des Menschen, wodurch er über das Tier hinausgewachsen ist. Dieses Ich des Menschen ist es, was sich eigentlich weiterentwickelt. Dieses Ich lebt in den drei unteren Prinzipien. Es ist das vierte. Und innerhalb dieses vierten Prinzips wirken die göttlichen Mächte, die in ihrer Entwickelung das vierte Prinzip bereits überschritten haben und es von oben herunter beherrschen. Auch noch halb darinnen, noch verbunden mit dem vierten Prinzip, haben wir die luziferischen Mächte. Die Götter sind von der Ichheit zur Selbstlosigkeit, zur Hingabe und zur Überwindung alles Sonderdaseins aufgestiegen. Das Luziferische im Menschen ist mit dem größeren Teil seines Wesens noch innerhalb des Ich eingeschlossen, das liegt noch innerhalb der menschlichen Interessen selbst. So sehen wir, daß alles dasjenige, was als Selbstlosigkeit und Opferwilligkeit im Menschen lebt, göttliches Prinzip im Menschen ist, und daß neben diesem göttlichen Prinzip

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eine andere Triebkraft in ihm ist. Derjenige, der wahre Selbstbeobachtung übt, lernt das andere Prinzip erkennen. Es ist das Luziferische. Es ist dasjenige, das nicht allein in völliger Hingabe mit Aufgabe des Selbstes zur Göttlichkeit hinstrebt, sondern, mit Enthusiasmus zwar, aber gerade aus tiefstem Interesse des Selbstes heraus, hinaufstrebend zu den hohen Stufen der Vollkommenheit, sagt: Nicht bloß weil ich sie liebe, sondern weil die höhere Vollkommenheit mit dem zusammenfällt, was ich lieben muß, will ich als Mensch in göttlicher Freiheit dahin streben. Die göttlichen Mächte trachten nicht nach dieser Vollkommenheit. Durch das luziferische Streben aber mache ich die göttliche Vollkommenheit zu meinem eigensten Wesen.

Deshalb können wir sagen: Wenn dieses luziferische Prinzip im Menschen nicht wäre, so würde der Mensch in einer gewissen Passivität, in einer gewissen Untätigkeit, von den Göttern getragen, zur Vollkommenheit geführt. Er wäre sozusagen vollständig der Gotteskindschaft hingegeben. Zwar strebte sein Wesen zur Vollkommenheit, aber nicht er wäre es, der so strebte, sondern der Gott in ihm. - Dazu kommt die andere Kraft, die wir als luziferische betrachten. Diese macht dieses Streben zu einer ureigenen Angelegenheit. Die setzt sich selbst dieses Ziel der Vollkommenheit. Das ist auch in wunderbarer Weise in der biblischen Mythe dargestellt. Da sind Adam und Eva hervorgegangen aus der Hand der Götter, dazu bestimmt, ohne ihr Zutun durch die göttlichen Mächte hingeführt zu werden zur göttlichen Vollkommenheit, weil der Gott in ihnen sie führt. Weil aber nun die Schlange kommt, welche die Erkenntnis gibt und die Freiheit und dadurch auch den Hinblick und die Möglichkeit zur Vollkommenheit, so bringt sie auch die Möglichkeit des Bösen. Da nun die Entscheidung zwischen Gut und Böse in des Menschen eigene Hand und eigene Erkenntnis

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gelegt wird, so wird der Trieb, die Liebe, zum Träger gemacht eines unbewußten, aber göttlichen Vollkommenheitsstrebens. Alles das, was leben und sprießen soll in diesem Vollkommenheitsstreben, das soll durchglüht werden von dieser Liebe, von dem, was sich dem Menschen offenbart in dieser Liebe. Auf der andern Seite tritt dem entgegen jene Macht, welche den Menschen führt, indem sie sich dieses vierten Prinzips, des Ich bemächtigt hat, es zu eigener Wahl auferweckt, zu eigener Erkenntnis ihm Licht gibt, so daß er im Lichte wandelt zu der Vollkommenheit hin. So haben wir den Liebesträger, so den Lichtträger als die zwei im Menschen waltenden wirklichen Kräfte.

Das ist in einer modernen Form ausgesprochen dasjenige, was in allen Religionsbekenntnissen, in allen okkulten Weltanschauungen als das Prinzip des Gottes und das Prinzip des Luzifer sich findet. Nur jene Religionsbekenntnisse, welche immer mehr und mehr dazu übergegangen sind, bloß auf die Offenbarung, bloß auf den Glauben sich zu begründen, haben das, was im Menschen wirkt und als das eigene Vervollkommnungsprinzip lebt, als den Träger des Bösen empfunden. So kommt es, daß Luzifer, der Lichtträger, aus dem, was den Menschen zur Freiheit, zur Selbständigkeit, zur hellen, klaren Erkenntnis aufruft, geworden ist zu dem, was ihn verführt. Das ist die eine Seite. Alle jene Religionen, die ihren Ausgangspunkt verlassen haben - denn alle haben an ihrem Ausgangspunkt die richtige Anschauung von Gott und Luzifer -, die nur auf der einen Seite den Gott suchen, der die Menschen in Unbewußtheit führt zur Seligkeit, alle empfinden zu gleicher Zeit das, worin der Gott selbst wirkt, auch als etwas Verderbliches. Die Natur empfinden sie als Sünde; den Geist, die helle, lichte, klare Erkenntnis empfinden sie als den verderblichen Luzifer. Das hat Goethe schön ausgesprochen: «Natur ist Sünde, Geist

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ist Teufel, sie hegen zwischen sich den Zweifel, ihr mißgestaltet Zwitterkind.» Ja, wahr ist es, durchaus wahr, daß der Zweifel mitten drinnensteht zwischen dem, was göttliche Offenbarung, und dem, was freiheitliches Streben ist. Aber wahr ist es auch, daß dieser Zweifel dem Menschen notwendig ist, wenn er wirklich aus seinem eigenen Ich hinausstreben will durch sein eigenes Verdienst zur Gottseligkeit. Wir müssen durch den Zweifel hindurchgehen, und erst, wenn wir alle Wahrheiten bezweifeln können, sind wir auch imstande, uns die Wahrheit wirklich zu unserem Besitztum zu machen. Wer nie gezweifelt hat, weiß nicht, wie der Mensch mit der Wahrheit verbunden ist. Wer aber den Zweifel überwindet, der hat eine höhere Erkenntnis gewonnen, als wenn sie sein Besitz geworden ist aus der blinden Offenbarung heraus. Das ist der erzieherische Wert des Zweifels. Deshalb steht er mit Recht zwischen dem, was göttlich ist, dem, was nicht getrennt werden kann von der Natur und zur Sünde gemacht wird, zwischen dem, was teuflisch, luziferisch ist und der Stufe der Vollkommenheit.

So betrachtet, erscheint uns die menschliche Entwickelung wie in ein gewisses Licht gerückt. Es erscheint uns die ganze alttestamentliche Entwickelung als eine solche, in welcher der Gott als Liebe in dem Fortschreiten des menschlichen Geschlechts waltet, in der sinnlichen Liebe und in alledem, was sie begründet: Blutsverwandtschaft, Familie, Stamm und so weiter. Das Vollkommenste haben wir bei dem jüdischen Volke in Jehova. Dieser ist nichts anderes als die personifizierte Naturkraft, wenn man beachtet, wie er waltet im Mineralreich, im sprossenden Pflanzenreich, in dem Lust und Leid empfindenden Tierreich, und im Menschen selbst. Der Mensch-Gott, der Christus-Einschlag ist es, der das Mineral zum Kristall aufschließen läßt, der die Pflanze

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sprießen und die Tiere durch das Triebleben hindurchgehen läßt, und auch den Menschen vom Unvollkommenen zum Vollkommenen führt. Stiege auch der Mensch herauf zu den höheren Gebieten, so würde er ein bloßes Naturwesen bleiben, wenn nicht der andere Geist, aber der dem Menschen wohltätige Geist, Luzifer, in ihm waltete, der die Selbstsucht zwar, aber auch die Selbständigkeit und Freiheit wachruft, der den Menschen zu einem Eigenen, zu einem Sonderwesen macht, ihn aber dadurch auch erhebt über die bloße Naturgewalt. So wahr es ist für das Empfinden der Jehovadiener, daß Jehova selbst die Grundlage der Menschenwelt, die Gottheit ist, so wahr ist Luzifer derjenige, der sich empört, auflehnt gegen diese Naturgewalt, der den Menschen in ein Wissen führt, ihn aufruft zu einem klaren Bewußtsein.

So hebt sich der Mensch zur Selbständigkeit herauf. Er macht sich los aus den Banden der Blutsverwandtschaft, aus den Banden des Stammes und des Volkes. Er wird allmählich zur Persönlichkeit, allerdings zur selbstsüchtigen Persönlichkeit. Da tritt ihm aus demselben Geist heraus der Jehova, der Ordner des höheren Lebens entgegen, der nur die Entwickelung regelt durch das Gesetz, durch das Gebot. Haben wir in der Natur den durch die sinnliche Liebe mit Notwendigkeit wirkenden Gott, so haben wir ihn jetzt in dem Gesetzgeber, in dem Gotte der Zehn Gebote. In ihm haben wir den Jehova, der den Menschen ein Gesetz gibt, dem sie sich zu fügen haben, das Ordnung in die erwachende Persönlichkeit hineinbringen soll, das sie zusammenfassen soll in Harmonie und Ausgleich. Was unten sinnliche Liebe ist, das ist oben Gebot der Sittlichkeit, das ist Gesetz, das ist Gebot. Heraufgehoben soll auch dasjenige werden, was nicht nur als Naturgewalt, als Gebot wirkt, was nicht nur aus der Göttlichkeit zur Vollkommenheit strebt, sondern

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es soll auch das menschliche Selbst heraufgehoben werden. So ist es denn - nennen Sie es nun mit einem mehr oder weniger treffenden Ausdruck - von der allgemeinen Naturgesetzlichkeit, von der Notwendigkeit gegeben, daß sich die bloße Gewalt der Liebe umwandelt in das Prinzip der geistigen Liebe, daß aus dem Sinnen-Jehova der Christus wird, die veredelte, die vergeistigte Liebe, die nicht mehr bloß im Naturtrieb wirkt, sondern das Leben, das früher nur von dem Gesetz beherrscht werden konnte, durchglüht und vergeistigt. So wird der Christus zu dem Begründer des Gesetzes, das nicht wie das gewöhnliche Gesetz von außen an den Menschen herantritt, sondern das wie der innerste Trieb zur Sittlichkeit, zu einer Kraft der Seele selbst wird. Gibt Jehova ein Gebot, so gibt Christus Kraft, zu wirken. Bestimmt der Jehovagott, was gut ist, so gebiert der im Menschen waltende Christus das Gute aus der Kraft im Menschen selbst. Die Naturgewalten sind zur Seele heraufgehoben, das was sinnliche Liebe war, wird zur geistigen Liebe, zu dem, was der Christus gemacht hat. Das Gesetz selbst wird durchglüht von dem Göttlichen, es wirkt in der Welt selbst als ein Göttliches, als die Gnade, wie es mit einem christlichen Ausdruck genannt wird.

So sehen wir mit dem großen Fortschritt an der Wende unserer Zeit, daß die sinnliche Liebe, das Prinzip der bloß göttlich gedachten Naturkraft, veredelt und vergeistigt wird zur seelischen Liebe, zu der Macht, die nicht mehr auf dem Naturplan, sondern auf dem moralischen Plane wirkt. So ist zunächst die christliche Caritas, die christliche Liebe die veredelte Gewalt, die Gewalt, welche unter den Menschen einen den Menschen durchglühenden moralischen Zusammenhang hervorbringt, der die Menschen streng als Menschen betrachtet, der alle Menschen gleich sein läßt gegenüber der höchsten Vollkommenheit, der die Sittlichkeit in

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Liebe getaucht sein läßt, wie die Natürlichkeit früher in Liebe getaucht war. Das ist die erste Zeit des Christentums. Die christliche Tugend wurde daher zu den Tugenden der Gemeinschaft, zu den Tugenden des Zusammenklangs der menschlichen Seelen. Der Gott, der die Menschen zusammenführt, wollte ein solcher sein, der in seelischer Liebe wirkt, und dies ist das Prinzip der christlichen Religion. Wie sich früher Leib zu Leib im natürlichen Prinzip gefunden hat, so findet sich im Christentum Seele und Seele durch das Christusprinzip in der höheren Liebe zusammen. Wie das Jehovaprinzip menschliche Gemeinschaften auf der Grundlage des Blutes geschaffen hat, auf der Grundlage von Familie, Stamm und Volk, so war der Christus berufen, zu bewirken, daß ohne Vermittlung des Blutes Seelen zu Seelen sich finden lassen. Die sinnliche Liebe wird zur opferwilligen Hingabe veredelt, die Naturgewalt wird veredelt zur sittlichen Gottestat. So wie im Laufe des Alten Testamentes das andere Prinzip gewirkt hat, das luziferische Prinzip, als eine den Menschen durchwallende göttliche Naturkraft, welche Selbständigkeit und Freiheit den Menschen gebracht hat, so durchwaltet in den neueren Zeiten dieses Prinzip die menschliche Entwickelung als Träger des Lichtes, als Träger der Freiheit. Es ist nicht der Gegner, es ist die notwendige Ergänzung des Christusprinzips. Es ist mit diesem Christusprinzip in einer Einheit verbunden, so wie alle scheinbar einander widerstrebenden Naturgewalten in einer Einheit verbunden gedacht werden von denen, welche die Natur und das Universum durchschaut haben. So wie Schiller davon spricht: «Wohltätig ist des Feuers Macht, wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht, ... doch furchtbar wird die Himmelskraft, wenn sie der Fessel sich entrafft», so ist es auch hier. Als Einheit waltet auf der einen Seite die christliche Caritas, die Liebe, das Göttliche, das Seele zu Seele

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führt, und auf der andern Seite der Träger des Lichtes, der Träger der Selbständigkeit und Freiheit.

Auch durch die Seelenliebe würde die Menschheit nur in einer mehr oder weniger unbewußt gehaltenen Vervollkommnung leben. Dadurch aber, daß das Seelische durchtränkt und durchglüht wird, durchhellt wird von der hellen, klaren Erkenntnis, durchglüht von dem Lichte des Geistes, dadurch daß im Menschen der Träger des Lichtes lebt und wirkt, dadurch wird die christliche Liebe für des Menschen freie Entwickelung auch in der Zukunft wirken. So stehen die beiden Mächte - geoffenbarte Weisheit und menschlich errungene Wissenschaft - einander gegenüber. Seele und Bewußtsein stehen einander so gegenüber: die Seele erglüht in der geistigen Liebe, und das Bewußtsein durchstrahlt und durchleuchtet diese geistige Liebe mit dein Prinzip der Klarheit und Freiheit. So lebt der Mensch zwischen diesen beiden Polen seines Seins, so wirkt und lebt er zwischen diesen beiden Mächten mitten drinnen. So wird für denjenigen, der die Dinge tiefer betrachtet, Luzifer, der Lichtträger, keine feindliche Gewalt, so wird er - selbst wenn er sich der Fesseln entraffen und einhertreten sollte auf eigner Spur, als freier Wille der universellen Macht -, so wird er, um mit Goethes Worten zu sprechen, wenn er auch das Böse wollen sollte, immerdar doch das Gute schaffen können. Luzifer stellt sich uns damit als dasjenige, was ein anderes Prinzip im Menschen ergänzen muß, notwendig entgegen. Er erweist sich als der vertraute Freund des Menschen, der ihm gegenübersteht als ein Bruder, während auf der andern Seite der Mensch hinaufblickt zu den erhabenen Göttern, denen er sich fügt in stiller Andacht, die ihn tragen in ihrer Liebe. So erscheint also wirklich das Leben wie ein Kampf zwischen dem Licht und der Liebe. Und das ist es auch in seiner gegenwärtigen Stufe der Entwickelung. So wie die Physiker

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positive und negative Elektrizität, positiven und negativen Magnetismus als die zwei Pole hinstellen, die notwendig zusammengehören, so gehören Licht und Liebe auf dem höheren Gebiete des menschlichen Lebens zusammen als die zwei Pole des menschlichen Daseins. Niemals entsteht bloß eine Art von Elektrizität; wenn Sie eine Glasstange reiben, wird sie positiv elektrisch, das Reibzeug wird dagegen negativ elektrisch. So ist es überall. Niemals kann in der Entwickelung des Lebens bloß das eine wirken, immer muß als notwendige Ergänzung das andere hinzutreten. Und im menschlichen Leben sind die zwei Pole Liebe und Licht. Eines ist nicht möglich ohne das andere.

Und so wie das alte Gesetz, die Gebote des Jehova, die symbolisch auf Sinai gegeben sind, sich verwandelt haben durch die Erscheinung des Christus Jesus auf der Erde, so verwandelt sich auch die Liebe. Die Liebe ist ein Seelisches, wie sie aufgetreten ist als höhere Stufe der Naturgewalt in der sinnlichen Liebe. Und so ist es auch möglich, daß auf der höheren Stufe etwas Klareres, die Erkenntnis, auftritt. Was war die Erkenntnis? Sie war, wenn Sie zurückblicken, etwas, was ähnlich ist dem Jehovagesetz, den Zehn Geboten, und umgeschmolzen muß sie werden. Wie durch Christi Leidenstod umgeschmolzen worden ist die Liebe von der sinnlichen Stufe auf die seelische Stufe, so muß auch umgewandelt werden das Prinzip der bloßen Erkenntnis, der Erkenntnis des Luzifer, in ein höheres. In dieser Umwandlung sind wir heute mitten drinnen. Und in gewisser Beziehung erleben wir so eine Erneuerung dessen, was sich im Christentum vollzogen hat. Wie das Gesetz sich in Gnade verwandelt hat, so wird die Wissenschaft sich in Weisheit verwandeln müssen. Wie die Gnade durch die eigene Seele geboren werden muß, so wird die Weisheit aus des Menschen eigener Seele geboren werden müssen. Wie der Christus der Gott

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ist, der auch im Menschen walten kann und es dem Menschen möglich macht, eigener Gesetzgeber in der Gnade zu werden, so wird die Weisheit aus der menschlichen Wissenschaft geboren. Und wie unsere Wissenschaft als Wissenschaft auf äußere Erfahrung gebaut wird, die von außen gegeben ist wie den Juden das Gebot auf Sinai, also wird diese Wissenschaft geboren werden in der Weisheit, wie das Gesetz geboren worden ist neu durch und in Christus. Das ist das geisteswissenschaftliche Streben. Wissenschaft von außen gegeben, durch die Sinne gegeben, das haben wir bisher und das hat in gewisser Beziehung die höchste Stufe in unserem Kulturleben erreicht. Diese Wissenschaft als des Menschen ureigenster Besitz aus dem Inneren herausgebärend, den Luzifer zu dem machen, was aus dem Menschen heraus wirkt und lebt, das ist das, was die Zukunft bringen muß. Die Geisteswissenschaft will nichts anderes als eine solche Vertiefung des Wissens, eine solche Vertiefung der Erkenntnis. Genau ebenso wie das Gesetz oder Gebot innerlich geworden ist in der christlichen Tugend und wie in der Christus-Tugend die menschliche Entwickelung in der Liebe fortschreitet auf seelischem Gebiet, so wird unsere materielle Wissenschaft seelisch fortschreiten, wenn sie wieder- geboren wird eben aus der Seele heraus. Und diese Wiedergeburt ist es, was durch die Geisteswissenschaft angestrebt werden soll.

Ein ganz analoges Ereignis für die menschliche Entwickelung: sittliche Tugend anstelle der bloßen Naturgewalt in der Liebe, hat bisher das Christentum gesetzt. Innere Tugend - durch das Wachrufen innerer, verborgen er Kräfte im Menschen - wird die Entwickelung der Zukunft bringen. Wie wir zurücksehen in einer Entwickelung, die Verinnerlichung, Beseligung gebracht hat, auf ein Gesetz, so sehen wir zurück im äußeren wissenschaftlichen Betrieb auf ein

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wissenschaftliches Streben, das Verinnerlichung bringen wird. Wie das Gesetz zur Gnade vertieft worden ist, so wird die Wissenschaft zur Weisheit vertieft werden. Das heißt aber, innere Entwickelung suchen. In Seele verwandelt, umgeschmolzen, wurde das Gesetz durch die christliche Gnade. Umgeschmolzen wird unsere Wissenschaft werden aus der Kraft der eigenen Seele in menschliches Können und Vollbringen. Die Wachrufung innerer, schlummernder Fähigkeiten wird durch die Geisteswissenschaft erstrebt.

Wirkt der Christ gegenüber dem alten Jehova-Diener aus der Liebe seiner Seele heraus, so wird in der Zukunft der Erkennende aus der Weisheit seines Herzens heraus wirken und damit eine noch weitergehendere Vertiefung der menschlichen Entwickelung erlangen. Entwickelung auch des äußeren seelischen Lebens verspricht das Christentum. Ein Bürger des Geistes, wie er Mensch und Mensch äußerlich verbindet ohne Unterschied von Rasse und Geschlecht, das ist es, was das Christentum verheißt. Es wird das Zukunftsstreben den Menschen zu einem solchen Bürger in den höheren geistigen Welten durch innere okkulte Entwickelung machen.

Das ist das Verhältnis zwischen der Geisteswissenschaft und dem äußeren Christentum: Das äußere Christenwm sucht äußere Tugend, um damit das Geistige zu erringen; der Okkultist wird innere Tugenden, die im Menschen schlummernden Fähigkeiten erwecken, um den noch tieferen Sinn der höheren geistigen Welten zu erringen. Das, wovon wir hier reden, ist nur eine Vertiefung des Christentums selbst. Vertieft wurde das Gesetz durch das christliche Prinzip, vertieft wird die Wissenschaft werden durch das geisteswissenschaftliche Prinzip.

So haben wir in der ganzen menschlichen Entwickelung das luziferische Prinzip hingestellt nicht als einen Feind,

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sondern als einen notwendig zu einem andern hinzugehörigen Pol. Zu dem Christentum, wie es bisher war, haben wir es hingestellt. Aber gerade da haben wir erkannt, daß sich das Prinzip des Lichtträgers mit dem Prinzip der Liebe zu einer höheren Einheit zusammenschließen wird. Wenn durch dieEntwickelung der bloß äußeren christlichen Tugenden innere geistige Fähigkeiten treten, dann werden wir ein noch tieferes Christentum haben, ein Christentum, das nicht durch die Kirche vorgeschrieben werden kann, sondern das jeder durch die in ihm heute noch schlummernden Fähigkeiten entwickeln wird. Ein jeder wird den Gott durch die eigene Kraft entwickeln, und zusammenwirken werden alle Seelen in völlig freiem Streben. Zur Liebe und Güte wird hinzugebracht haben Luzifer die Freiheit, die Wissenschaft und die Selbständigkeit. Nur derjenige, welcher bei einer Epoche der menschlichen Entwickelung stehenbleiben will, kann es über sich bringen, den Blick wegzuwenden von dem, was in dieser Zukunftsperspektive Verheißungsvolles liegt. Jede Vergangenheit wäre unfruchtbar, wenn sie nicht eine neue, höhere Zukunft in sich trüge. Das ist es, was bei der wirklich richtig verstandenen Geisteswissenschaft des Menschen Herz höher schlagen machen muß, was das Menschenherz erfüllen muß mit einem ganz andern Enthusiasmus. Dasjenige, was durch die äußeren Einrichtungen bis heute erzielt werden konnte, aufgezwungen werden konnte dem Menschen auf edle, aber doch äußere Art, das wird einst der Mensch aus der Kraft der eigenen Seele gebären, das wird er aus sich selbst hervorbringen. Eine innere Kirche wird es geben, einen inneren Tempel, der den äußeren erst zur richtigen Verklärung, zur richtigen Vergeistigung bringen wird. Christ wird ein jeder sein, weil der Christus in ihm erwachen soll, weil der innere Christus in ihm leben wird und hinzutreten wird zu dem Christus, der die Menschheit als

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Ganzes erlöst hat. Als Ganzes hat Christus diese Menschheit erlöst; dies wird der Mensch verstehen, wenn er innerlich frei und erlöst sein wird, wenn er nicht nur an die Erlösung glauben, sondern selbst diese Erlösung nachleben wird.

Immer erinnern uns die, welche uns hinweisen wollen auf das Christentum: Ihr strebt die Selbsterlösung an, aber ihr verkennt, was der Christus getan hat. - Es ist nicht richtig, was da der Geisteswissenschaft entgegengebracht wird. Die Geisteswissenschaft ist nicht Gegner, sondern Freund und Mitarbeiter des Christentums; nicht des Christentun~s der vergangenen Zeit, sondern des Christentums, das weiß, was Jesus gesagt hat: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt», des Christentums, das sich entwickelt zu höherer und immer höherer Vollkommenheit. Die Geisteswissenschaft ist nicht feindlich dem Erlösungsprinzip des Christus, weil sie nicht auf dem einseitigen Standpunkt steht, daß jeder Mensch nur für sich selbst etwas tun soll. Das wäre der wüsteste Egoismus, selbst wenn der Mensch nur in sich selbst zu den edelsten Kräften streben wollte. Die Menschheit ist ein Ganzes, und wenn ein einzelner - der Christus - den Tod, den Erlösungstod vollbringt, so ist dies der Erlösungstod für die ganze Menschheit. Aber durchdrungen muß dies werden durch das Bewußtsein, es muß nachgelebt werden von dem einzelnen. Die Erlösung muß selbst in Freiheit wiedergeboren werden. Auch hier gilt das Prinzip des Johannes-Evangeliums von der neuen Wiedergeburt des Menschen. Der ist kein wahrer Mensch, der nicht wiedergeboren ist im Geiste und in der Wahrheit. Das sagte der Christus Jesus. Und heute, da er noch lebt nach seinem Ausspruch, sagt er klar und deutlich in bezug auf den eigenen Erlösungstod: Zwar bin ich einstmals gestorben für die ganze Menschheit, um der Menschheit die Gewißheit zu bringen, daß der Tod besiegt werden kann von dem Leben,

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aber wiedergeboren werden muß dieser Tod in der Seele des einzelnen Menschen. Der erlöste Mensch ist erst dann wahrhaft erlöst, wenn er auch die Erlösung in sich wiedergeboren hat.

Das ist das lebendige Christusprinzip, das durch die Geisteswissenschaft vertiefte Christusprinzip. So steckt in jedem einzelnen Menschen die Seele, welche Liebe entfaltet mit den edelsten Idealen der Menschheit, diese Liebe, welche zur bloßen Sinnlichkeit als geistige Liebe hinzutritt und den Menschen zur göttlichen Vollkommenheit führt; auf der andern Seite steht das Luziferprinzip, das von Wissenschaft, Freiheit und Selbständigkeit durchleuchtet ist. Die Liebe in heller Klarheit, das Bewußtsein tritt zur Seele hinzu. Die Seele bringt die Kraft der Liebe, und das Bewußtsein durch- strahlt und durchleuchtet diese Kraft der Liebe mit heller, lichter Klarheit. Und durch die Seele und das Bewußtsein schreitet der Mensch selbst zur Vollkommenheit. ZumDurchgang durch eine ihm nicht klare Liebe würde er zur Göttlichkeit emporschreiten, wenn er bloß eine fühlende Seele wäre; zur kalten, bloß vernünftigen Vollkommenheit würde er aufsteigen, wenn er bloß Bewußtsein wäre. Aber die Seele und das Bewußtsein werden sich da immer durchdringen müssen. Deshalb blickt der geisteswissenschaftlich Strebende zurück und blickt auch vorwärts. Er blickt auf die Seele mit ihrem Gefühl und ihrer Empfindung, und er blickt auf das Bewußtsein mit seinem Licht und seiner Weisheit und sagt sich: Nicht der in Dumpfheit lebende Mensch, sondern der in heller, lichter Klarheit gedeihende Mensch ist es, der angestrebt werden soll. - Und zu allen andern Tugenden müssen hinzutreten die Tugenden, die da liegen in der Wissenschaft, in der Freiheit und in der Selbständigkeit. Aber die Freiheit muß vertieft werden durch die Liebe, sonst wird sie Willkür und führt den Menschen nur dem Triebe näher.

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Auf der andern Seite muß die Wissenschaft vertieft werden durch die Liebe: dann wird sie zur Weisheit, zur wahren, von der Tat getragenen Geistigkeit. Sonst wird sie kalt und öd und abstrakt. Und auch die Selbständigkeit muß sich verbinden mit der Liebe, sonst wird sie zum blinden Egoismus, sonst führt sie zur Verhärtung in sich selbst. Das ist die tiefere Lebenswahrheit der auf Geisteswissenschaft gegründeten Weltanschauung und Lebensführung, daß wieder gestaltet werden müssen ganz und gar, als die notwendigen Prinzipien der menschlichen Seele, die drei großen Tugenden: Wissenschaft, Freiheit und Selbständigkeit, daß aber vertieft werden müssen diese drei Tugenden durch die Kraft der Liebe. Und dann wird diese verwandeln die Wissenschaft in Weisheit, die Freiheit in Opferwilligkeit, Hingabe und Verehrung des Göttlichen und die Selbständigkeit in Selbstlosigkeit, in dasjenige Prinzip im Menschen, das das Sondersein überwindet, das aufgeht im All und auf diese Weise in Freiheit die Göttlichkeit erringt.

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DIE KINDER DES LUZIFER Berlin, 1. März 1906

Vor acht Tagen durfte ich hier vor Ihnen über die Idee des Luzifer sprechen. Heute obliegt es mir, in Anknüpfung an jenen Vortrag, über diese selbe Idee und ihre Bedeutung für die menschliche Entwickelung einiges auszuführen, und ich darf dabei anknüpfen an ein hervorragendes Kunstwerk, an «Die Kinder des Lucifer» von Edouard Schuré.

Wer in der Theosophie nur eine Summe von Lehren und Dogmen sieht oder in der Tbeosophischen Gesellschaft nur eine Sekte, die sich mit ganz bestimmten religionsphilosophischen oder sonstigen Ideen befaßt und eine dahingehende Lebensführung bezweckt, der wird sich vielleichtüuber das Thema des heutigen Vortrages etwas wundern können. Wer aber in der Tbeosophie etwas sieht, was wie eine Vertiefung unseres ganzen geistigen Lebens, ja noch mehr, wie eine Vertiefung unserer ganzen Kultur anzusehen ist, der wird es begreiflich finden,daß diese Theosophie nicht nur in den engen Grenzen, die soeben angedeutet worden sind, gesucht wird, sondern in allen Gebieten, in allen Zweigen des Lebens und daher vor allen Dingen auch in der Kunst.

Gar viele stehen ja auf einem Standpunkt, der sie in dem Glauben läßt, daß die Theosophie etwas Weltfremdes, ja sogar etwas Lebensfeindliches sei. Diejenigen, die so glauben, haben wohl die eigentlichen Grundlagen der theosophischen Weltbewegung noch nicht zu den ihrigen gemacht. Und gerade ein Kunstwerk wie Edouard Schurés «Die Kinder des Lucifer» zeigt uns, daß das lebendige

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Schaffen und Wirken des Künstlers nicht nur nicht beeinträchtigt wird durch die theosophische Vertiefung, sondern daß die wahre Theosophie und das wahre theosophische Leben gerade der Kunst einen im eminentesten Sinn hohen Flug und außerordentlich kräftige Impulse zu geben in der Lage ist.

Zwar möchte ich nun anknüpfen an dieses Drama «Die Kinder des Lucifer», aber wenn wir uns ein wenig einlassen gerade auf die Entstehungsweise dieser dramatischen Dichtung in unserer Zeit und auf das eigenartige Gefüge des Geistes, aus dem dieses Kunstwerk hervorgegangen ist, so werden wir zu gleicher Zeit in der Lage sein, manchen tiefen Blick in dasjenige zu tun, was man im wahren Sinne des Wortes theosophisches Leben nennen kann.

Edouard Schuré hat wohl die besten Kräfte seines Wirkens gerade aus der theosophischen Weltanschauung gezogen, und er gehört zweifellos zu den auserlesensten Schriftstellern auf dem theosophischen Gebiete. Wer von irgendeinem weiteren Gesichtspunkte aus als demjenigen der bekannten Kompendien und kleineren Handbücher Eingang finden will in das theosophische Leben, der kann es vor allen Dingen durch die Werke Edouard Schurés, des bedeutenden französischen Schriftstellers. Schon die Eigenart, wie Schuré zu dem gekommen ist, was seinen Geist beflügeln sollte, künstlerisch zum Ausdruck zu bringen, was wir in den «Kindern des Lucifer» vor uns haben, ist theosophisch höchst interessant. In dem schönen Denkmal, das er einer Persönlichkeit gesetzt hat, die auf sein Seelenleben den denkbar tiefsten Einfluß genommen hat, wird uns das erzählt. Da kommen wir auf eine höchst interessante Tatsache des modernen Geisteslebens. Edouard Schuré hat ein Buch herausgegeben und mit einer Einleitung versehen, welches von einer Persönlichkeit ist, die tief in die Geheimnisse

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des Daseins hineingeschaut hat. Es ist ein Buch, dem man den Künstler ansieht. In diesem Buche atmet ein Geist, der sich unterscheidet von dem, welchen wir sonst in ähnlichen Schriften finden können, ein Geist, der unmittelbar wirkliche Theosophie in sich als Leben verarbeitet und aufgenommen hat. Die Persönlichkeit, die über Corregio geschrieben hat und Margherita Albana heißt, nennt Schuré seine Führerin zur Zeit ihres Lebens, er nennt sie den Geist seiner Seele nach ihrem Tod. Und man kann sich, wenn man in die Psychologie von Schurés Schaffen hineinsieht, nicht leicht treffender ausdrücken, als er es getan hat.

Es ist im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine solche Zeit gewesen, in der es einigen tiefer veranlagten Naturen gegönnt war, wieder einmal einen Blick hineinzutun in wahres Geistesleben, nachdem man lange Zeit unter Geist kaum etwas anderes verstanden hat als eine Summe von abstrakten Begriffen, nachdem man lange Zeit mit dem Worte Geist nicht eigentlich etwas Wirkliches verbunden hat. Wir werden, wenn wir uns vertiefen auf der einen Seite in Schurésches Schaffen und auf der andern Seite uns vertiefen in den Geist derjenigen Persönlichkeit, die er seine Führerin nennt, unmittelbar erinnert an dasjenige, was innerhalb der griechischen Mysterienanschauung in der Morgenröte unseres abendländischen Geisteslebens unter dem Begriff Gott und göttliches Leben verstanden worden ist. Das Wort Theosophie ist später erst entstanden. Zuerst wurde es gebraucht von dem Apostel Paulus. Es ist aber ein gemeinsames Eigentum aller tiefer Erkennenden gewesen, und wir brauchen uns nur einzulassen auf dasjenige, was innerhalb des vergeistigten Christentums als Theosophie vorhanden war, als göttlicher Begriff, als Begriff vom göttlichen Leben, und Sie werden die Tatsache des Geistes gleich in einer ganz andern Weise erfassen können, als das mit den heutigen Begriffen,

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wie sie noch gang und gäbe sind, möglich ist. Der Grieche verstand unter Gott, unter dem göttlichen Wesen noch nichts anderes als ein solches Wesen, das zwar hinsichtlich seiner Eigenschaften, hinsichtlich seiner Fähigkeiten weit über das Maß des Menschlichen hinausragt, das aber trotzdem gleichartig ist mit dem Menschen. Und er nennt den Menschen einen werdenden Gott, und einen jeglichen Gott faßt er so auf, daß er einst die Schule der Menschheit durchgemacht hat. Sah der Grieche zu seinem Gotte auf, so sagte er sich: Die Leiden und Freuden, die Erfahrungen des Lebens, die ich jetzt durchzumachen habe, die haben die Götter einst ebenso durchgemacht wie ich selbst. Sie sind früher durch diese Schule des Lebens durchgegangen, die ich jetzt absolviere, und ich werde später mich aufgeschwungen haben zu jenen Sphären des Schaffens, zu jenen Sphären des Wirkens, auf denen heute die Götter stehen. - Ältere Brüder in der ganzen kosmischen Entwickelung nennt der Grieche seine Götter, und im Menschen selbst sah er eine Anlage, die einstmals dasselbe werden soll, was heute die Götter sind.

Das gibt ein anderes Verhältnis zu dem Göttlichen, als dasjenige ist, das nur aufblickt zu etwas Göttlichem, bloß erahnt etwas im Jenseits. So wie sich hier in der physischen Welt für den Griechen aufbaut die Welt der äußeren Naturreiche, der sinnlichen Naturreiche, vom Mineralischen durch das Pflanzliche und Tierische bis hinauf zum Menschlichen, so stand über dem Menschlichen die Hierarchie, die Reihenfolge der Götter. Tatsächliche, über dem Menschenreiche liegende Reiche waren ihm die Welten, welche die Götter ausmachten. Und dasjenige, was der Grieche erleben sollte in denjenigen Schulen, die zu gleicher Zeit Kultstätten waren, die man Mysterien nannte, das bezeichnete er nicht als ein abstraktes, bloß wissenschaftliches Erkennen irgendwelcher höherer Prinzipien, irgendwelcher Naturgewalten. Nicht in

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einem symbolischen Sinn, sondern in einem wirklichen Sinn verstand es der Grieche, um was es sich da handelte: daß der Mensch in den Schulen wirklich Umgang pflegte mit den Göttern. Nicht anders kam sich der Mysterienschüler den Göttern gegenüber vor, wie sich das Kind vorkommen muß, wenn es heute noch klein und unentwickelt hinaufsieht zu dem Erwachsenen, der das schon erreicht hat, was es selbst in einer künftigen Lebensepoche erreichen wird. Etwas ganz Reales und Wirkliches waren diese Erlebnisse für die Griechen. Daher war die Theosophie für diejenigen, die zuerst das Wort prägten, nicht ein Wissen von den Göttern, sondern ein Wissen, das auf diese eigentümliche Art gewonnen war durch den Umgang mit höheren geistigen Wesenheiten. Nicht bloß Kenntnisse gewann derjenige, der in die Mysterien eingeweiht wurde, sondern möglich wurde es ihm gemacht, umzugehen mit den Göttern, oder sagen wir mit den Geistern, so wie er hier auf unserer Erde mit Menschen umgeht. Und dasjenige Wissen, welches der Mensch erwirbt durch die Vermittlung der Sinne, das nannte man natürliches Wissen. Das Wissen aber, das man von den Göttern selbst empfing, das nannte man ein göttliches Wissen: Theosophie.

Ich weiß sehr gut, daß die meisten derjenigen, die aus der heutigen Anschauungsweise heraus denken, in einer solchen Redewendung, wie sie eben von mir gebraucht worden ist, nichts weiter sehen können als ein bloß poetisches Bild, als ein Sinnbild oder etwas höchst Phantastisches und Abergläubisches. Es ist nicht das eine, wie auch nicht das andere; es ist etwas, was der Mensch wirklich und wahrhaft erleben kann. Wirklich und wahrhaft kann es der Mensch dazu bringen, daß er, wie er den Blick auf die sinnliche Wesenheit richtet, ebenso den Blick hinaufrichten kann zu den über ihm stehenden geistigen Wesenheiten, die sich dem sinnlichen Auge, wie allen Sinnen, entziehen, aus dem Grunde,

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weil sie die Stufen der Geistigkeit durchgemacht haben und nicht mehr ein Dasein für die Sinne haben. Das war es, was in den Mysterien der Griechen angestrebt worden ist: eine Entwickelung des Menschen zum Umgang mit den höheren Wesenheiten.

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war es, wie ich sagte, wieder einigen tieferen Naturen gegönnt, etwas zu verstehen von dem, was eigentlich mit einer solchen Sache gemeint ist. Vor allem gehörte eine Persönlichkeit wie Margherita Albana dazu. Ich möchte aber sagen, eine solche Persönlichkeit war nicht durch jene große geistige Kunst eingeweiht, welche derjenige durchmachen mußte, welcher innerhalb der griechischen Mysterien den Umgang mit den Göttern pflegen wollte. Eine solche Persönlichkeit war eine Natureingeweihte, wie es Naturdichter gibt. Darauf kann ich mich aber nicht weiter einlassen, daß eine Seele, die auf natürliche Art eingeweiht ist in frühere Daseinsstufen, bereits Erlebnisse hinter sich hat, so daß das, was sie jetzt erlebt, nur Erinnerungen sind an frühere Daseinsstufen. Was aber vor allen Dingen einer so geistigen Persönlichkeit, wie sie Margherita Albana war, zugrunde liegt, das ist die Möglichkeit, durch Verwandlung ganz bestimmter niederer Kräfte unseres Daseins hineinzuschauen in die höhere Welt. Was heißt das?

Alle höheren Erkenntnismittel des Menschen sind im Grunde genommen Umwandlungen untergeordneter Kräfte. Dasjenige, was noch der unentwickelte Mensch in weit entlegener Vorzeit als unentwickelte dumpfe Sinne hatte, kann umgewandelt werden zu dem Auge, das uns die Herriichkeit des Sonnenlichtes erschließt. Oder vergegenwärtigen Sie sich einmal, wie unvollkommen das Organ des Ohres ist auf den unteren Entwickelungsstufen! Alles was höhere Organe sind, alles was der Mensch in sich hat, auf daß ihm

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die herrliche Natur rings um ihn herum aufgeschlossen wird in der herrlichsten Weise, alles das sind Umgestaltungen, Metamorphosen niederer Kräfte. Ebenso können auch Kräfte, welche der Mensch heute hat, umgestaltet werden zu höheren Sinnesorganen.

So sind einige Menschen eben mit höheren Sinnesorganen gerade im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts ausgestattet gewesen. Dadurch öffnete sich für sie der Blick in die geistige Umwelt. Was andere Menschen nur in abstrakten Begriffen oder Ahnungen haben, die Wirklichkeit des göttlichen Daseins, war ihnen dadurch eine ebensolche Gewißheit, wie für die andern Menschen die sinnlichen Dinge eine wirkliche Gewißheit sind. Kunde und Mitteilung von höheren Welten konnten solche Persönlichkeiten geben. Und die empfängliche Natur von Edouard Schuré konnte angeregt und inspiriert werden zu dem Schönsten und Größten gerade durch solche Menschen. Edouard Schuré vereinigte gerade in diesem Drama, das Sie in einer Übersetzung von Marie von Sivers hier erhalten können, Seele und Geist und tiefes esoterisches Wissen, wahrhafte geistige Erkenntnis mit einer wirklich Schillerschen Diktion und Kraft der Sprache. Und das macht das Drama der «Kinder des Lucifer» zu einem solchen, das nicht bloß etwa aus dem Geist der Gegenwart, wie er in wenigen sich jetzt verkörpert, sondern das geradezu aus dem Geist der nächsten Menschheitszukunft heraus geschaffen wurde, zu einem Werk, in dem sich diejenigen, die Anlage und Begabung dazu haben, für sich etwas hinaufentwickeln können zu den höchsten und bedeutsamsten theosophischen Ideen. Gerade das ging Edouard Schuré auf, was sich in den griechischen Mysterien und in jenen Weihekulten abspielte.

Sie wissen alle, daß auch innerhalb des deutschen Geisteslebens im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts ein Hauch zu

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verspüren war, der ausging von einer Art von Verständnis für das, was in den griechischen Mysterien vorliegt. Alles was sich um den Namen Richard Wagner auslebt, war in gewisser Weise inspiriert von dem Geist des griechischen Mysterienwesens. Wir werden in den nächsten Vorträgen noch manches über dieses Kapitel zu sprechen haben. Sie wissen ferner, daß einer derjenigen Geister, die mit Richard Wagner eng verbunden waren, Friedrich Nietzsche, sein erstes Werk über die griechische Tragödie verfaßt hat und daß er darin zeigen wollte, wie aus einem uralten Geistesleben heraus diese griechische Tragödie erwachsen ist. Nicht so weit wie Edouard Schuré, nicht hinein in die Mysterien, wohl aber bis zu den Pforten, bis an die Tür der Mysterien führte Friedrich Nietzsche dazumal sein Weg, als er das Werk verfaßte: Die Geburt der Tragödie aus dem Geist des griechischen Geisteslebens.

Zwei Worte sind es, die vor seinem Geiste gestanden haben: das Apollinische auf der einen, das Dionysische auf der andern Seite. Was meinte Nietzsche mit diesen beiden Worten? Er verstand darunter zwei Geistesströmungen. Das Dionysische, sagt er, ist dasjenige, was ganz und gar in jenem Element des menschlichen Geisteslebens lebt, das sich eins weiß mit dem ganzen kosmischen Geiste ringsum. - Das Dionysische ist für Friedrich Nietzsche ein Rausch, den der Mensch durchlebt, wenn er sich ganz und gar durchdringt, seinem Wesen nach durchsetzt mit jenem Kern des höchsten Geisteslebens, das den ganzen Kosmos durchflutet. Nietzsche ahnte so etwas von dem, was die Pythagoräer Sphärenmusik nannten, etwas von jenem Urchor, von dem auch Goethe spricht, indem er seinen «Faust» beginnen läßt mit den Worten:

Die Sonne tönt nach alter Weise
In Brudersphären Wettgesang,

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Und ihre vorgeschrieb`ne Reise
Vollendet sie mit Donnergang.

Von jenem geheimnisvollen Hören und Hinhorchen auf das, was den Kosmos durchströmt, was die Planeten um ihre Sonne tanzen macht, was die Sphären belebt, von dem ahnte Nietzsche und er ahnte davon, daß in diesem Sphärentanz sich ein Göttliches auslebt und daß die Menschen sich durchdringen können mit dem Hauch des Göttlichen, und daß der Mensch dann sich eins fühlt mit dem ganzen Weltenall. Dann, meint Nietzsche, lebt der Mensch in einer Art von Rauschgefühl, dann lebt er nach, was das ganze Weltenall durchströmt, dann lebt in ihm ein Nachhall jenes Gottes, den der Grieche den Dionysos nennt.

Das ist derjenige Gott für Nietzsche, der ausgeströmt ist in die ganze materielle Welt um uns herum, der in der materiellen Welt begraben liegt und der dann in dem menschlichen Geist, in der menschlichen Seele seine Auferstehung feiert. So daß der Dionysos-Jünger, der, welcher von dem Dionysos ergriffen wird, unter dem Einfluß dieses Gottes seine Gesänge, seine Inspirationen vollbringt und dasjenige ausfließen läßt, was man die unmittelbare, aus dem Göttlichen hervorgegangene dionysische Kunst nennt. So war der Dionysos-Tänzer und Dionysos-Sänger der Repräsentant des dionysischen Gottesprinzips in der Welt. Dieses Dionysos-Drama ist Nietzsche das Urdrama, und das spätere Drama ist nur dadurch entstanden, daß ein Abbild geschaffen worden ist, ein ruhiges, traumhaftes Abbild des ursprünglichen Dionysos-Rausches. Was der Dionysos -Jünger empfängt, was vor seinen Sinnen aufsteigt, das kann er in abgeklärter apollinischer Art wiedergeben. So ist die apollinische Kunst etwas, was hinterher geschaffen worden ist als Abbild der dionysischen Kunst. Es ist das Abbild, der

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Zugang, die Ahnung von etwas, was im alten Griechenland lebte. Nietzsche wies schon hin auf die Urzeit, in der tatsächlich die Dionysos-Jünger nicht bloß sprachen von dem Gott, sondern in ihren Bewegungen, in ihrer Stimme und in ihrem Wirken das Göttliche darlebten als die ursprünglichen Künstler. Alle spätere Kunst erschien Nietzsche nur wie ein später Nachklang dieser Urkunst. Alle Wissenschaft erschien ihm nur wie ein schattenhaftes Abbild jenes von den Menschen hervorgerufenen Darstellens der Kräfte selbst.

In Richard Wagners Kunst sah Nietzsche eine Erneuerung jener großen Kunst, die den Menschen wiederum verbindet mit dem Göttlichen. Deshalb war es für Nietzsche klar, daß Richard Wagner nicht menschliche Gestalten auf die Bühne bringen konnte, sondern daß er übermenschliche Gestalten brauchte, die nicht bloß dasjenige, was in dieser Welt geschieht, darstellten, sondern auch dasjenige, was hinter dieser Welt im Geiste wirkt. So wie im Dionysos-Drama der griechische Künstler es konnte, so mußten im Sinne Nietzsches auch Richard Wagners Gestalten, auf die Bühne heruntergestellt, hinausgewachsen sein über das gewöhnliche Menschliche, damit sie etwas verkörpern können, von dem der Mensch sagen kann, sie sind da zu dem, was einst kommen wird. In seinem Buche «Das musikalische Drama» hat Schuré ebenfalls aus diesem Geiste, der um Wagner herum war, geschaffen, und er hat in großartiger Weise die Idee des musikalischen Dramas hingestellt; denn er ist durch die im Jahre 1887 verstorbene Margherita Albana in die wahre geistige Welt, in die geistige Wirklichkeit eingeführt worden. Aus der Ahnung ist für ihn Realität geworden, und damit konnte er den Schlüssel finden zu dem Inneren der griechischen Mysterien. Besser als irgendeiner vermochte es Edouard Schuré, hineinzuleuchten

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in das, was innerhalb der heiligen Mysterien Griechenlands vorging. In seinem Werk «Die Heiligtümer des Orients» hat er mit großer Genialität das sogenannte griechische Urdrama wieder aufzubauen verstanden. Was war nun das eleusinische Urdrama? Nichts anderes als eine Wiedergabe eines Erlebnisses, das überhaupt nicht innerhalb der sinnlichen Welt erlebt werden kann, das nur dann erlebt werden kann, wenn der Mensch sich hinaufentwickelt dahin, wo höhere Sinne ihm erwachen, wo er sich klar darüber wird, daß alle Naturgesetze, die er kennenlernt, nicht abstrakte Begriffe sind, sondern wirkliche Gedanken von Wesenheiten, die eben die griechischen Götter genannt worden sind. So wie der Mensch heute mit seinen Gedanken schafft, und wie er in seine Werke seine Gedanken hineinlegt, so haben seine älteren Brüder, die Götter, ihre Gedanken hineingelegt in die Welt des Daseins.

Versetzen wir uns in den Geist eines solchen griechischen Mysterienschülers, der eingeweiht worden ist. Er sagte sich, wenn er mit unseren Worten hätte sprechen können: Seht euch ein Kunstwerk, eine Maschine an, was sind sie? Werke sind sie von Menschen, nach menschlichen Gedanken geformt. Steht ihr vor dem Kunstwerk, vor der Maschine, so seht ihr durch das Werk auch den Künstler, den Mechaniker, und ich verstehe das Werk, wenn sich mir die Gesetze enthüllen. Und was sind diese Gesetze? Sie sind das, was zuerst gelebt hat im Kopfe, im Geiste eines Menschen. Wie kristallisiert sind die Gedanken des Mechanikers, des Künstlers in dem materiellen Werkzeug, in dem marmornen Kunstwerk. Und wie ich vom Kunstwerk und von der Maschine zum Künstler und zum Mechaniker hinschaue, so schaute der griechische Künstler von der Erde zu den höheren Wesen hin. Wenn er die Gesetze durchdringen wollte, durch die ein Tier aufgebaut war, dann sagte er sich, Gedanken von

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Wesenheiten göttlicher Natur sind dadrinnen. Wie in der Maschine der Gedanke des Mechanikers, so ist im Tier, im Kristall, im Sternenhimmel der Gedanke eines Schöpfers, eines Gottes. - Dieser Gott ist ihm ein Wesen, mit dem er sich selbst verwandt fühlt, ein Wesen ist er ihm, das auf einer Stufe steht, die der Mensch selbst einstmals erreichen wird. Ein Wesen, das hervorgegangen ist aus einer menschlichen Stufe> ist dem Griechen der Gott, und ein Wesen, das einst hinkommen wird zu einer göttlichen Stufe, ist ihm der Mensch. So verkehrte er in den Mysterien mit den Göttern. Er verkehrte mit den Göttern wie mit älteren Brüdern oder wie ein Kind mit Erwachsenen, und das Gefühl, das sich darin ausdrückt, ist etwas ganz Natürliches. Man muß sich erst hineinleben in eine solche Art des Denkens. Von einer solchen Art des Denkens blickt der Mysterienschüler auf zu jenen Wesen, die gleichsam schlummernd oder verkörpert sind in ihren Gedanken in der ganzen Natur, die uns umgibt. In aller Natur erblickten die Mysterienschüler die schlummernden Gottesgedanken. Da hinein ist ausgeflossen das Wesen der Gottheit, und der Mensch ist nur da, damit in ihm diese Gottgedanken wieder zu einem ureigenen Dasein gelangen können. Alle die Gedanken in der Seele des Menschen sind eine Auferweckung des Gottes in der Welt. So hineingestellt in den Kosmos, erscheint das eigene menschliche Leben als ein Nachbild des Heruntersteigens, des Leidens und Sterbens der Gottheit und des Begrabenwerdens der Gottheit in der Materie. Der Mensch ist dazu berufen, die Götter wieder zu erlösen aus der Materie. Das ist der Dionysos-Weg, der Weg, den alle Götter genommen haben. So leben die Götter in ihren Gedanken.

Den Letztgeborenen der Götter nennt man in der Theosophie den Dionysos. Sie wissen, in der Sage wird von ihm gesprochen als von einem Sohne des Zeus mit einer sterb-

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lichen Mutter, der Semele. Es wird gesagt, daß er der Mutter entrissen wurde von seinem göttlichen Vater, als diese von dem Blitzstrahl des Zeus getroffen worden war. Dann aber entbrannte die Eifersucht der Göttermutter Hera auf dieses nicht von ihr stammende Kind. Sie hetzte die Titanen auf das Kind, die es zerrissen und die Stücke in alle Welt zerstreuten. Nur das Herz rettete Pallas Athene und brachte es dem Zeus, der von neuem den Dionysos daraus formte.

Es wird uns klar, daß dieser Gott vorher schon da war, und es wird uns auch klar, daß diese Gottheit ein besonderes Verhältnis zur Welt hat. Was ist sie? Dargestellt wurde sie in den Mysterien als die Schöpferin desjenigen im Menschen, wozu es die Menschheit am spätesten gebracht hat. Nicht wahr, der Mensch ist, wenn er uns im Leben entgegentritt, teilweise wie aus der Hand der Götter selbst entstanden. In den ersten Jahren seines Lebens tritt er uns auch so entgegen, da er noch nicht ein eigenes Dasein selbst geformt, selbst gebildet hat. Allmählich reift er heran und wird selbständig. Dann arbeitet und formt er an seinem eigenen Dasein. Mehr und mehr erwacht in ihm die Kraft, die ihn zum Schöpfer seines innersten Wesens, zum Bildner seiner Seelen- und Geisteskraft macht. Nun sagt man innerhalb der Mysterienlehren, daß gleichsam der letzte Schritt ins Leben, das der Mensch von der Natur oder von Gott empfängt, zusammenhängt mit dem Gotte Dionysos. Und da berühren wir eines der tiefsten Geheimnisse des griechischen Mysterienwesens, nämlich dasjenige, was man die Geschlechtsreife des Menschen nennt. Der Zeitpunkt, wo er heraustritt aus dem undifferenzierten Geschlechtsleben zu dem differenzierten des Mannes und des Weibes, ist noch der letzte Schritt, den die Natur mit dem Menschen vollbringt, indem sie ihn zu dieser Reife führt, ihn bis dahin bringt, daß in ihm der Trieb erwacht zu dem andern Geschlecht. Was er dann aus

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diesem Trieb macht, wie er ihn veredelt, wie er ihn mit Seele durchdringt, und was in geistiger Beziehung aus der Liebe gemacht wird, das ist dann des Menschen eigenes Werk. Der letzte Schritt, den die Götter mit dem Menschen vollbringen, ist der, daß sie ihn zum Jüngling, zur Jungfrau in der Geschlechtsreife sich heranentwickeln lassen. Die Kraft, die nun sich für den Mysterienzögling ausdrückt in aller Natur, in aller Erkenntnis, in aller Sinnlichkeit und in allen seelischen Kräften auf den verschiedenen Stufen, die erkennt er nun auch in dieser Hinneigung des einen Geschlechtes zu dem andern.

Wodurch, so sagt sich der griechische Mysterienschüler, nimmt der Mensch überhaupt wahr? Wodurch nimmt irgend ein Wesen überhaupt wahr? Wenn wir uns ein Tier denken, wenn es instinktiv die Pflanzen frißt, die für sein Gedeihen notwendig und nützlich sind, so ist es eine Art von Wahrnehmung. Aber eine höhere Stufe des Wahrnehmens ist es, wenn unser Auge sich hinausrichtet auf das Licht und das Licht gleichsam einsaugt. Ein Wahrnehmen ist die Sinnlichkeit, ist das Sehen, und ein Wahrnehmen ist es auch noch, wenn das eine Geschlecht zu dem andern sich hinneigt. Dann kommt die Umwandlung der niederen Kräfte in höhere und immer höhere. Der letzte Schritt, den die Natur, oder Gott, im freieren Sinne gesprochen, mit dem Menschen unternommen hat, kann ebenfalls umgewandelt werden. Die Sinnlichkeit verwandelt sich in Liebe. Sie vergeistigt sich, sie beseelt sich. Und der Gott, der für den Griechen des Mysteriums nahe war dieser Kraft der Geschlechtsreife, das war ihm Dionysos. Dionysos hatte damit nicht nur diese eine Funktion, denn die Geschlechtsreife hängt noch mit etwas ganz anderem zusammen. Dionysos wird damit erst als der Letztgeborene der Götter verstanden.

Wenn wir den Menschen betrachten, wie er heute vor uns

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steht, so haben wir ein Wesen vor uns, in dem der Tieferblickende - und derjenige, der sich auf die theosophische Weltanschauung einläßt, wird zu diesem tieferen Blick nach und nach geführt - etwas sieht, was nach und nach zu dem Mann und zu dem Weib geworden ist. Sie brauchen nur, um die griechische Art der Anschauung zu verstehen, Plato zu lesen und ernst zu nehmen, und Sie werden finden, wie er auf eine Zeit hinweist, in der es noch nicht Mann und Weib gab, indem der Mensch noch Mann und Weib zugleich war. Es deutet ja auch die biblische Sage auf ein solches undifferenziertes Menschengeschlecht hin, und der Sündenfall ist im Grunde genommen nichts anderes als die symbolische Darstellung der Geschlechtsdifferenzierung. Wenn wir uns klarwerden, daß der Mensch, wie er vor uns steht, aus einem zweigeschlechtlichen Wesen heraus entstanden ist, so werden wir uns sagen: Im Laufe der Entwickelnng hat sich der Mensch sein einseitiges Geschlecht erworben. Er hat sich von der Doppelgeschlechtlichkeit zur Eingeschlechtlichkeit hinentwickelt. Er hat die Hälfte seiner Produktionskraft verloren. Und diese Hälfte ist auf der andern Seite erwacht als die Kraft unserer Seele, als die Kraft unseres Geistes. Damit, daß der Mensch eingeschlechtlich geworden ist - das zeigt uns ein tieferer Blick in die Natur -, ist der Mensch geistig-seelisch produktiv geworden, weil er die Hälfte der physischen Produktionskraft hingegeben hat. Dadurch ist dem Menschen das möglich geworden, was wir im gegenwärtigen Sinne sein Selbstbewußtsein nennen, was wir die Fähigkeit nennen, daß er zu sich «Ich» sagen kann, daß er ein selbständiges Wesen ist, daß er, wenn wir uns bildlich ausdrücken dürfen, aus der Hand der Götter entlassen worden ist und sein eigener Bildner geworden ist. So hängt es in der Entwickelung zusammen, daß der Mensch diejenige Kraft fühlt, die zwar die Grundlage seines Egoismus bildet,

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die ihn aber zu einem freien, selbstbewußten Wesen macht. So wiederholt sich auf jeder Stufe, wo das Geschlechtliche in irgendeiner Weise seine weitere Entwickelung findet, dieses Selbständigwerden, Freiheitlicherwerden des Menschen.

Der Gott Dionysos ist der Letztgeborene der Götter, das heißt, er ist derjenige, von dem sich die Griechen vorstellten, daß er den Menschen heraufgebracht hat bis zu seiner gegenwärtigen Selbständigkeit. Zeus, Kronos, die älteren Götter, haben den Menschen geschaffen bis dahin, wo er ein doppelgeschlechtliches Wesen war, das in einem dumpfen Bewußtsein lebte, nicht in der Lage war, zu sich Ich zu sagen, ohne Selbstbewußtsein und ohne Freiheit. Der Schöpfer der Selbständigkeit ist Dionysos. Damit war das göttliche Prinzip als ein einheitliches in die ganze Natur ausgeflossen bis zu dem Punkte, wo der Mensch selbständig geworden ist. Dann tritt es uns als Mensch in unzähligen Individuen entgegen.

Lassen Sie mich dies einmal recht anschaulich machen. Versetzen wir uns zurück in den Zeitpunkt, wo der Mensch noch nicht selbständig war, wo er noch ein doppelgeschlechtliches Wesen mit dämmerhaftem Bewußtsein war. Da könnte man sagen, so wie etwa meine Hand ein Glied meines eigenen Organismus ist, so war dazumal der Mensch ein Glied in der ganzen Gottheit. Sein Bewußtsein ruhte noch lm Schoße des göttlichen Bewußtseins. Man konnte noch die Menschen durchschauen bis zur göttlichen Seele hin. Jetzt, wo der Mensch selbständig geworden ist, losgetrennt von dem göttlichen Bewußtsein, da ist diese Seele zerstückelt in ebenso viele Individuen, als es Menschen gibt. Das wurde in großartiger Weise symbolisiert in dem zerstückelten Gott Dionysos, der von den Titanen zerstückelt worden war. Die Weisheit des Menschen symbolisierte man in der Pallas Athene. Sie war wie ein rettendes, mit unserem höheren Geist, mit unserem Herzen gefühltes Einheitsbewußtsein

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der ganzen Menschheit. Indem wir uns wieder eins fühlen, einen gleichartigen Geist in der ganzen Menschheit entwickeln, wird das Herz des Gottes Dionysos gerettet und wieder hinaufgetragen zu der Wohnstätte der Götter selber. So stellte sich der Grieche vor, daß der Gott Dionysos die Menschen heraufgeführt hat bis zu der Geschlechtstrennung und endlich bis zur Geschlechtsreife. Und in dem Hinneigen des einen Geschlechtes zu dem andern sah man eine der vlelen Kräfte, die aus dem Gotte Dionysos stammen. Da wlrken dann auf den Menschen, der also in der Welt steht als Geschöpf des Gottes Dionysos, zwei geistige Strömungen, welche der Ausgangspunkt unserer eigenen Kultur sind.

Die eine Strömung ist diejenige, wo in der äußeren, abgeklärten Form und in der Weisheit der Geist wirkt, um in dem sinnlichen Triebe die Schönheit der äußeren Form und der Ordnung zu entfalten. Nicht wild, stürmisch, ungeregelt und ordnungslos soll der Trieb wirken, durch den Dionysos den Menschen bis zur gegenwärtigen Stufe gebracht hat, sondern in Harmonie und Ordnung soll er sich fügen. Dieses Prinzip der äußeren formalen Gestaltung des Dionysos sieht man am besten in der hellenischen und römischen Kunst, in der griechischen Schönheit und in der römischen Staatskunst. Ordnung und Schönheit wurde durch sie hineingebracht in das Zusammenleben der von dem Gotte Dionysos zu selbständigen Wesen geschaffenen Menschen. Und die Seele, die diesen Trieb belebt, die diesen Trieb durchseelt, diese Seele ist zu einer Veredlung, zu einer Vergöttlichung dieses Triebes gebracht worden durch das Christentum; alles dieses, was den Menschen zum Menschen zieht, alles, was die menschliche Gemeinschaft so regelt, daß nicht blinde Begierde, sondern veredelte, vergeistigte, vergöttlichte Begierde waltet, alles dieses wird durch das richtig

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verstandene Christentum bewirkt. Geist und Liebe sind die zwei Strömungen in der Menschheitsentwickelung.

So etwa steht die gegenwärtige und die in den letzten Jahrtausenden verflossene menschliche Entwickelung vor dem Dichter der «Kinder des Lucifer». Er sieht in dein, was hellenischer Geist und römische Staatskunst geschaffen haben, das eine lebendige und erhebende Prinzip des dionysischen Menschen und auf der andern Seite im Christentum die Vertiefung des Prinzips der Liebe. Jetzt werden wir auch verstehen, wie Edouard Schuré dazu gekommen ist, diese Ideen in einem Kunstwerk zu verarbeiten, das er «Die Kinder des Lucifer» genannt hat.

In einer Stadt Kleinasiens spielt sich das ganze ab. Dionysia hatte einen Kult, der dem Gotte Dionysos gewidmet war. Diese dionysischen Mysterien werden gefeiert in Dionysia und haben dort eine Mysterienstätte gehabt. Dann ist diese Dionysos-Strömung mit einer zweiten Strömung durchsetzt worden. Es war im 4. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung. Auf der einen Seite war die romische Weltherrschaft und machte diejenigen, die Dionysos-Verehrer waren, die gewußt haben, daß ein Funke einer göttlichen Seele in ihnen lebt, zu Gliedern der römischen Staatskunst. Und nun treten der griechische Geist und der römische Staatsgeist in Widerspruch. Der ursprüngliche Geist muß revoltieren. Und warum muß er revoltieren? Darum muß er revoltieren, weil die äußere Form das Selbständige eingiiedern will. Das kann leicht zu einer äußeren Ordnung werden. Es wird leicht aus dem, was Ordnung, Harmonie und Einheit schaffen soll, zu dem, was die menschliche Freiheit und Selbständigkeit wieder unterdrückt und unterjocht. So ist es auch mit dem römischen Geist - der selbst aus dem dionysischen Geist herausgeboren war - im 4. Jahrhundert gewesen. Und so stehen

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uns in Dionysia die zwei Strömungen des Menschengeistes gegenüber: auf der einen Seite der Geist, auf der andern Seite der starr gewordene Staatsforrnalismus. Das sind die zwei Strömungen, die sich ausdehnen über die Dionysos-Mysterien in das Christentum, das vergeistigen sollte den Zug des Menschen zum Menschen, das die Taten des Dionysos veredeln und in ein höheres Licht hinaufrücken sollte, indem es den bloßen Trieb zur Reinheit urngestalten sollte. Es ist aber in jener Zeit, im 4. Jahrhundert, zu einem äußeren Formalismus ausgeartet, der dasjenige entwickelte, was er hätte veredeln sollen, und dasjenige, was er hätte entfalten sollen, unterjocht und unterdrückt hat. So steht auf der einen Seite der knechtende Cäsar und auf der andern Seite der knechtende christliche Priester, der die Liebe nicht herausholt, um sie zu veredeln, sondern sie herausholt, um sie zu ertöten. So sehen wir denn, wie uns in Edouard Schurés Drama zwei Individualitäten als Repräsentanten des hellenisch-römischen Geistes entgegengeführt werden, auf der einen Seite in dem Jüngling, der zuerst Theokles und dann Phosphorus genannt wird und dann in der Jungfrau, die im Dienste des Christentums als reine Opferjungfrau geweiht worden ist. Wir sehen, wie revoltiert Phosphorus, der dem Erstarrenden, dem Cäsarenprinzip gegenüber den dionyslschen Menschen in höchster Veredelung zum Dasein rufen will, und auf der andern Seite die christliche Jungfrau, die nicht so vergeistigt ist, daß es sie der Welt entrückt, sondern so vergeistigt, daß sie selbst aufgerufen wird zum Wirken und Schaffen in dieser unmittelbaren Welt. Gegenseitig vertiefen sich diese zwei Individualitäten. Wie schön und groß und gewaltig ist das dargestellt, wie sich diese beiden Individualitäten entwickeln. Phosphorus wird geführt, nachdem er sieht, wie seine Vaterstadt auf der einen Seite vom Cäsarischen, auf der andern Seite vom Christlichen unter-

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jocht wird - auf der einen Seite sieht er den göttlichen Cäsar, auf der andern Seite den aller Welt entrückten, bloß guten Hirten und jene, die ihn anbeten sollen -, er wird geführt vor einen andern Älteren, vor jenen Älteren, den man in der Sprache Griechenlands nennt den Alten des unbekannten, des unbestimmt sich offenbarenden Gottes.

Es ist eine große Umwandlung, die da unser Phosphorus durchmacht. In einer fernen Bergschlucht sucht er nach einem Anhaltspunkt, und er trifft da auf einen der Tempel, die als Einweihungstempel gegolten haben. Er trifft da auch einen alten Priester, einen der Weisen des unbekannten Gottes. Welchen Gottes? Etwa desjenigen, den man nicht bekennt, nicht unter dieser oder jener Gestalt verehrt? Desjenigen, bei dem man, wenn man danach frägt, keine Antwort erhält, weil jeder sich selbst antworten muß, was nicht in Worte zu fassen ist, was aber als Funke in jedem Menschen lebt? So wahr es ist, daß der Mensch des göttlichen Funkens sich bewußt werden kann, so kann er auch sich bewußt werden, daß sein ganzes Leben ein Hingehen ist zu dem großen Gott, der zugrunde liegt dem, was in den Sternen lebt, was in der Menschenbrust ist, und was noch zugrunde liegen wird alledem, was der Mensch auf seiner höheren Stufe selbst leisten wird, weil er nicht ein Gott der Vergangenheit, sondern ein Gott der Zukunft ist, nicht ein Gott des Gedankens des Vergangenen oder des Gegenwärtigen, sondern ein Gott der Gedanken, die der Mensch einst wird denken können als das Höchste auf der jetzigen Entwickelungsstufe. Deshalb heißt er der unbekannte Gott, weil der Mensch nicht dienen kann einem Gott, der sein Dasein als ein fertiges in der Hand hält, sondern weil er einem Gotte dienen will, der erst in der Zukunft in vollendeter Gestalt dastehen kann. Deshalb hält sich der freie Mensch an den göttlichen Funken in seiner Brust, deshalb hält er sich an dasjenige,

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was als der zerstückelte Dionysos zunächst in der Welt draußen zerstreut ist. Dann kann er nicht aus irgend etwas anderem als aus diesem ab getrennten Gottesfunken die Kraft zur Aufwärtsentwickelung finden, dann weiß er aber auch, daß diese Aufwärtsentwickelung verbunden ist mit dem Durchgang durch Erkenntnis und Leiden, mit dem Durchgang durch das Böse, weil der Mensch abgelöst ist, seiner inneren Geistigkeit nach, vom Göttlichen. Deshalb müssen in ihm freie Kräfte aufsprießen, um diesen Funken zurückzuführen zur Göttlichkeit. Wären wir im Schoße der Götter geblieben, ohne zersplittert zu sein 1m Sinne der Dionysos-Sage, dann würde uns die Gottheit selbst hinführen zur Gottseligkeit. Aber so nehmen wir uns wie ab- gefallene Gottessöhne aus. Und diese Kraft in uns, die uns als Dionysos-Söhne hinführen soll zu dieser Gottseligkeit, diese Kraft in uns ist die Luziferkraft, das luziferische Prinzip, jenes Licht, das der Mensch in Freiheit in sich entzündet, um als ein Teil der göttlichen Wesenheit den ganzen Gott einst zu finden.

Diese Kraft, die in ihm arbeitet, ist das Licht. Und was in ihm dieses Licht trägt, und was in der ganzen Menschheit dieses Licht trägt, der Lehrer und Führer, das ist Luzifer, der Lichtträger. Alle diejenigen, die eine solche Gesinnung entwickeln wie Phosphorus, sind die Kinder des Luzifer. Sie sind deshalb nicht antichristiich. Sie sind so gesinnt, daß sie sagen: In Christus erschien der menschgewordene Gott, der heruntergestiegen ist und sich auslebte in dem menschlichen Leibe. Aber der Mensch muß sich hinaufentwickeln, so daß er den Gott in sich selber so entfalten wird, daß der gottgewordene Mensch sich begegnet mit dem menschgewordenen Gott, daß der Mensch, der von unten aufsteigt, ein ihm gleichgeartetes Wesen findet. Ist Christus nun der, welcher am tiefsten heruntergestiegen ist von oben als der sich

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offenbarende Gott, so ist der Gott, dem der gottgewordene Mensch begegnen wird, Luzifer. Christus und Luzifer gehören, im richtigen Sinne verstanden, zusammen. So finden wir Phosphorus, indem er durch keinen Cäsarismus, durch keine Weltunterdrückung des freien Dionysos-Prinzips sich abhalten läßt, hineilen zu dem Tempel des unbekannten Gottes, um dort das Licht zu empfangen, das ihn hinaufträgt, um so selbst zu einem Sohne des Luzifer zu werden.

Wie Phosphorus diesen Weg verfolgt und dabei seinen Geist hinaufhebt zu derjenigen Anschauung, die Luzifer als das Entwickelungsprinzip anerkennt, so entwickelt sich Kleonis von einer christlichen Jungfrau zu einem universellen Prinzip. Ihre Liebe soll einzig und allein dem menschgewordenen Gotte gelten. Sie entwickelt sich dahin, wo ihr die Ahnung aufsteigt, daß sich die Liebe im Menschen so veredeln kann, daß die göttliche Liebe im menschgewordenen Gotte sich verbindet mit der menschlichen Liebe in der menschlichen Natur selbst. So schwingt sich die christliche Jungfrau hinauf bis zu dem Punkte, wo sie sich treffen kann mit dem unbekannten Gott. Der Christus ist in der christlichen Jungfrau lebendig geworden dadurch, daß sie sich nicht nur in der Anschauung und Verehrung mit dem Göttlichen vereint, sondern dahin kommt, daß sie sich zur christlichen Liebe emporhebt. Phosphorus ist hinaufgestiegen bis zu dem Punkte, wo ihm der Geist im Lichte entgegenstrahlt. So ist der Geist im Mann und die Seele im Weibe auf einer und derselben Stufe. Und nun wirken sie zusammen auf derselben Stufe, und zwar so, daß immer statt Dionysos zunächst das freie Menschenpaar steht, welches die Ahnung einer Zukunft verkörpert, die erst noch erstehen soll. Das Christentum und der Cäsarismus haben sich zu dem entwickelt, was in Dionysia sich entfaltet hat: dieses unterjochte und knechtete die Menschen. Aufrecht und frei stehen

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die beiden aber da. Vertrieben werden sie. Sie können das alte Dionysia nicht retten. Der alte Dionysos, der im Romanismus und im äußeren christlichen Formalismus zunächst untergeht, kann auch diese beiden, die sich befreit haben, nicht beherbergen; sie werden hinausgetrieben. Indem sie in der Gegenwart das Leben einer Zukunft darstellen, müssen sie in der Gegenwart leben. Sie finden wieder den Weg zu dem unbekannten Tempel hin. Da wo Phosphorus geweiht worden, da wo ihm der Stern des Luzifer erschienen ist, da erscheint ihnen in der Todesstunde, beide Wege vereinend, der lichtvolle Stern des Luzifer, der die Menschen in Freiheit hinaufführt zur höchsten Entwickelung, und das Kreuz Christi, das Symbol der Erlösung, das wir erringen, wenn sich der menschgewordene Gott mit dem gottgewordenen Menschen berührt.

So müssen die beiden, die sich befreit haben, mit dem Tode dasjenige, was sie errungen haben, retten. Dionysia können sie nicht retten. So geht es in der menschlichen Entwickelung. Das war im Grunde genommen etwas, was so in den griechischen Mysterien in einem höheren Leben schon erlebt worden ist, daß das Leben immerdar den Sieg über den Tod davonträgt, daß der Tod nur etwas Scheinbares beim einzelnen Menschen ist und auch etwas Scheinbares in der ganzen menschlichen Kultur. So geht uns am Schluß des Schure`schen Dramas die Ahnung davon auf, daß das, was die beiden, hinsterbend, in sich errungen, in sich entfaltet haben, über den Tod herüber eine ewige Bedeutung hat. In grandioser Weise tönt das ganze Drama aus, in der sicheren Gewißheit, daß der Geist über die Materie Siegen muß.

So wie hier der Tod als Sieger über das Leben dasteht, so kann man es nur hinstellen, wenn man etwas weiß von dem wahren und wirklichen Leben des Geistes und weiß, daß aller Tod nur etwas Scheinbares ist. Derjenige, der nicht

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weiß, daß alles Tote etwas Scheinbares ist, der nicht anerkennen will, daß der Geist etwas Wirkliches ist, der muß sich sagen: Wenn dem edlen Paar, das sich die Freiheit dadurch errungen hat, daß es znletzt verstoßen und hinausgejagt worden ist von dem versklavten Dionysia, der Tod etwas Wirkliches wäre, so ginge das, was die beiden mitgenommen haben, zugrunde. Denn alle diejenigen, welche in Dionysia geblieben sind, verfallen einer hinsterbenden Menschheitsepoche. Scheinbar bleibt also nichts übrig. Wäre dieser Sdiein eine Wirklichkeit, nimmermehr könnten wir irgendwie daran glauben, daß es eine Bedeutung hat, wenn jemand mit dem Tode ein höheres Leben erkauft hat. Denn dann wäre es ein Nichts, womit dieses Drama schließt. Einzig und allein der Glaube und die Erkenntnis, daß das Geistige eine Wirklichkeit ist, trägt dieses Drama, und daß aus dem Tod des befreiten Paares heraus eine wirkliche geistige Blüte sprießt, die später in der Menschheit, die geblieben ist, wirkt und lebt, die eingesenkt worden ist in die ganze geistige Menschheitsentwickelung. Aus dem Tode von Kleonis und Phosphorus ersprießt eine geistige Menschheitsblume, die dann da ist.

Was der Mensch durch das Licht erlebt und was der Mensch erkennt, lebt weiter. Daß er diese Gewißheit hatte, verdankt Schuré der Tatsache, daß in ihm durch Margherita Albana auferstanden war die frühere griechische Welt. Und dem Christlichen verdankt er, daß er nicht bloß ein äußerer Künstler war, sondern auch einen tiefen Blick in den geistigen Entwickelungsgang der Menschheit tun kann. Diesen Blick hat er gezeigt in seinem Buche «Die großen Eingeweihten», das demnächst auch in deutscher Übersetzung zu haben sein wird. Da hat er das ganze geschichtliche Tableau der Menschheit von Rama, Krishna, Hermes, Plato und weiter über die andern Eingeweihten bis zum Christus Jesus ausgebreitet.

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Dieses Menschheitstableau, diesen geistigen Entwickelungsgang hat er dargestellt. Damit hat er eine Geschichtsbetrachtung geliefert, die im eminentesten Sinne theosophisch ist und die Unzählige in Europa zur theosophischen Weltanschauung hin geleitet hat. Aus dem Geiste seiner Betrachtung sind dann «Die Kinder des Lucifer» heraus geschaffen, dieses herrliche dramatische Werkchen, in dem in jeder Zeile und in jeder Szene theosophischer Geist lebt. So wird die theosophische Weltanschauung zum Leben, so wird die Kunst zum Ausdruck des theosophischen Geistes, wenn die Wahrheit des Geistes uns in der Schönheit widerstrahlt.

Dreierlei, sagt Edouard Schuré, ist es, was die Menschen zunächst schaffen können. Zunächst haben wir es zu tun mit der Ontologie. Die führt uns zu den großen Gesetzen der Welt, aber wir sehen sie nun, wenn wir theosophisch vertieft sind, nicht als tot an, sondern als abstrakte Gottesgedanken. Dann haben wir es zu tun mit der Mystik, die uns hinführt zu den Göttern und höheren Wesenheiten, die wir als unsere älteren Brüder erkennen. Und dann haben wir es noch zu tun mit der Symbolik, die uns die Gottheit im äußeren sinnlichen Abbild zeigt und als schattenhaften Abglanz in der Kunst. So ist Edouard Schuré ein echter Theosoph und ein echter Künstler und zeigt daher mehr als alle theosophische Dogmatik, was theosophische Weltaufgabe ist.

Es ist charakteristisch, daß unter dem Titel «Luzifer» das erste theosophische Journal erschienen ist, das wir erneuert haben in unserer deutschen Zeitschrift «Lucifer-Gnosis», wo die ganze Denkweise, die ganze Zukunftsaufgabe der theosophischen Weltauffassung klar zum Ausdruck gekommen ist, wie sie künstlerisch lebt in dem Drama, das den Titel trägt «Die Kinder des Lucifer». Nur diejenigen, welche in der Kunst etwas Äußerliches sehen, werden verkennen, daß

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in diesem Kunstwerk etwas im höchsten Grade Lebendiges lebt, das durch die Tiefe in der Gestaltungskraft keineswegs zu kurz gekommen ist. Wird so der Künstler durch dieses Drama vollständig befriedigt, so fließt aus diesem Drama auch noch etwas ein von jenem Aufschwung zu dem unbekannten Gott, der in uns allen wirkt und von dessen allgemeiner werdenden Erkenntnis die Theosophie gerade ihren Namen trägt. So ist denn dieses Drama der Ausdruck jener theosophischen Gesinnung, die aus der wahren Vertiefung und der menschlichen Freiheit Ernst macht.

Frei kann kein Mensch im höchsten Sinne des Wortes sein, der nicht das Göttliche in sich selbst findet, der nicht ein Bundesgenosse, nicht ein Bruder der göttlichen Wesenheit ist. Wenn der Mensch das wird, dann wird er selbst zu einem Teil von jener Kraft, die ein Träger des Lichtes ist, die ein Luzifer ist. Dann wird er zu einem Kinde des Luzifer. Diejenigen, welche etwas verstehen von der geheimnisvollen Kraft, die im Weltenall wirkt, die nicht bloß mit Augen gesehen und mit Instrumenten wahrgenommen werden kann, von den Kräften, die das moralisch-sittliche und religiöse Leben durchfluten und in unserem ganzen Kosmos wirken, diejenigen, welche etwas davon wissen, sprechen von den Kräften, die man das Astrallicht nennt. Die Kundigen beschreiben es so, daß es wie andere Kräfte, etwa wie die Schwere, den Raum durchströmt und auf die Wesen wirkt. Es durchströmt das Astrallicht alle Wesenheiten, es lebt in den höheren Tieren und im Menschen überhaupt. Wenn der Mensch etwas tut und sagt, ich handle, oder ich werde durch den lnstinkt getrieben - so ist es in Wahrheit das Astrallicht, das in ihm wirkt und lebt. Er kann sich diesem Astrallicht hingeben, unbewußt, mit dämmerndem Bewußtsein, und das geschieht immer, wenn, der Mensch sich niederdrücken läßt von Leidenschaften und Instinkten. Das

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geschieht aber nicht, wenn der Mensch sich zum Träger des eigenen Lichtes macht, wenn er sich verbindet mit der Luziferkraft. Dann macht er dieses Astrallicht, diese schöpferische Kraft in der Weit, zu einer bewußten, schöpferischen Kraft in sich selbst. Dann wird er Bürger in höheren geistigen Welten. Überläßt er sich dem Astrallicht mit herabgedämpftem Bewußtsein, dann kann er sagen: Gewiß leben die Götter, und sie durchströmen und durchfluten mich, aber ich bin dazu berufen, herauszutreten aus der Unbewußtheit, das Licht als etwas Freies erscheinen zu lassen, selbst zu beleuchten meine Taten mit göttlicher Kraft. - Alles, was aus dem Dämmerdunkel des Bewußtseins entsteht, was nicht vom Träger des Lichtes bewirkt wird, ist dasjenige, was unsere Entwickelung hemmt. Was zum Ziel und zum wahren Menschenideal hin führt, ist das, was aus dem Licht, aus der wirklichen Erkenntnis heraus stammt. Deshalb darf der Mensch erst dann sich wirklich hineinwerfen in den Strom des Lebens, wenn er den Gott in sich selbst erfaßt hat, wenn der Gott in ihm sein Führer ist. Gottesbewußtsein in sich selbst erwecken und dann Erdenbürger werden an Hand der Kräfte, die in der eigenen Brust ersprießen, das ist theosophische Gesinnung. Diese Gesinnung drückt Margherita Albana, die Edouard Schuré seine Führerin nennt, in einem kurzen Spruch aus, der als Motto gelten könnte für die theosophische Lebensführung und der auch unsere Betrachtungen heute beschließen soll:

Vertraue auf den Gott in deiner Brust, und dann überlasse alles, was in dir ist, dem Strom des Lebens.

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GERMANISCHE UND INDISCHE GEHEIMLEHRE Berlin, 5. März 1906

Des öfteren habe ich schon an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß es ein Vorurteil ist, wenn man die gegenwärtige theosophische Bewegung im strengen Sinne des Wortes als eine buddhistische, oder wie man noch sagt, neubuddhistische bezeichnet. Nicht darum handelt es sich in der Theosophie oder Geisteswissenschaft, eine fremde, eine außerhalb unserer Kultur selbst liegende Weltanschauung nach Europa hereinzupflanzen, sondern darum, auch innerhalb unserer europäischen Kultur zu zeigen, wie dem suchenden Streben der Menschheit tiefere Weisheitslehren zugrunde liegen, die sich in der verschiedenartigsten Weise zum Ausdruck bringen. Das nächste Mal wird es mir gestattet sein zu zeigen, wie in einer neueren Epoche des deutschen Geisteslebens theosophisches Fühlen und Denken in einem ganz außerordentlichen Maße, ich möchte sagen, in seiner denkerischen Reinheit um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert zum Ausdruck gekommen ist. Heute aber möchte ich, soweit es sich in einen eInzigen Vortrag hineindrängen läßt, zeigen, wie innerhalb der germanisch-deutschen Volkskultur ein Einschlag vorhanden ist, der zu Anschauungen zurückführt, denen wir in der Theosophie begegnen. Ein vorsichtiger Vergleich zwischen dem, was den europäischen, den mitteleuropäischen Religions- und Weltanschauungsvorstellungen seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden zugrunde liegt, mit dem, was drüben im Morgenlande in einer so eigenartigen, spirituellen Weise zum Ausdruck gekommen ist, wird uns zeigen können, wie wenig das Mißverständnis

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berechtigt ist, als ob die theosophische Geistesströmnng etwas ganz Fremdes dem europäischen Leben aufpfropfen wollte. Wir werden, wenn wir diesen Vergleich wirklich durchführen wollen, wenigstens mit ein paar Worten die Grundanschauung der sogenannten theosophischen Weltanschauung voraussenden müssen. Nur ganz flüchtig lassen Sie uns einmal die hier oft und oft besprochene Grundanschauung der theosophischen oder geisteswissenschaftlichen Weltanschauung vor unsere Seele hinstellen.

Der Mensch ist, nach dieser theosophischen Weltanschauung, zunächst ein Wesen, dem eine zweifache Natur zugrunde liegt, nämlich ein vergänglicher sogenannter Hüllenteil, ein äußeres Glied seiner Natur, und ein unvergänglicher ewiger Wesenskern. Der äußere Hüllenteil ist gleichsam die Umkleidung oder das Werkzeug des Menschen, mit dem sein unsterblicher Wesenskern in dieser Welt wirkt und sich betätigt. Diese Umhüllung gliedert sich deutlich in vier Unterabteilungen. Die erste Unterabteilung ist der sogenannte physische Leib, der Leib, den man mit den Augen sehen und mit den andern Sinnen wahrnehmen kann. Das zweite Glied ist der sogenannte Ätherleib. Das ist der Körper, in dem das Leben wohnt. Er ist ungefähr von derselben Gestalt wie der physische Leib, aber als Träger des Lebensprinzips ist er das, was dem physischen Körper zugrunde liegt. Das dritte Glied ist der Träger der Gefühle von Lust und Leid, von den Instinkten und Leidenschaften. Wir nennen ihn den Astralleib, und zwar deshalb, weil die Kräfte, die in ihm wirksam sind, für denjenigen, der tiefer in die Welt hineinzuschauen vermag, sich als die Kräfte erweisen, die draußen im Sternenraum, im Astralen, leben und wesenhaft sind. Das vierte Glied bezeichnen wir als das eigentliche menschliche Ich. Wir bezeichnen es so, weil die drei andern Glieder, physischen Leib, Ätherleib und Astralleib, der

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Mensch mit den übrigen Wesen, die um ihn herum sind, gemeinschaftlich hat. Jedes Mineral hat einen physischen Leib. Die Pflanzen haben physischen Leib und Ätherleib, die Tiere haben physischen Leib, Ätherleib und Astralleib. Der Mensch hat außerdem ein viertes Glied, um innerhalb dieser Welt zu leben, welches ihm ermöglicht, zu sich selbst «Ich» zu sagen. Nun ist dieses Ich das Endglied, der Schlußpunkt der Entwickelung der drei andern eben genannten Leiber, zu dem sie alle seit Urzeiten hingestrebt haben. Dieses Ich ist zugleich der Ausgangspunkt einer neuen göttlichen Entwickelung. Dieses Ich, das in den drei Hüllen wohnt, die es aber nicht wie Zwiebel schalen umgeben, sondern die gesetzmäßig ineinander wirken, kraftvoll sich durchdringen und sich gestalten, ist zu gleicher Zeit der Träger desjenigen, was heute nur als Anlage in der Mehrzahl der Menschen enthalten ist, der Träger einer höheren dreigliedrigen Natur, die wir deutsch am besten bezeichnen mit den Ausdrücken: Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch. Das Geistselbst des Menschen wird mit einem der morgenländischen Mystik entlehnten Wort bezeichnet als Manas. Das zweite ist der Lebensgeist, den bezeichnet man nach morgenländischer Ausdrucksweise als die Buddhi. Das höchste, das eigentlich innerste Glied des Menschen ist Atma. Es ist der eigentliche Geist des Menschen, der innerste Wesenskern, das UnsterbIiche innerhalb der menschlichen Natur. Das gibt für uns, wie die sieben Töne oder wie die sieben Farben im Regenbogen, sieben Glieder der menschlichen Natur. Die drei unteren Glieder sind ein Zusammenfluß, ein Extrakt der drei Reiche, die uns umgeben: Mineralreich, Pflanzenreich und Tierreich. Die drei oberen Glieder: Manas, Buddhi und Atma sind drei Glieder, die nicht mit den Sinnen wahrzunehmen sind, drei Glieder, welche göttlicher Natur sind. Diese drei Glieder hat der Mensch ebenso mit höheren

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Reichen des Daseins gemeinschaftlich, wie er seine unteren Glieder, den physischen Leib, den Ätherleib und den Astralleib mit den drei in unserer irdischen Sphäre uns umgebenden Reichen gemeinschaftlich hat. Ragt er mit diesen drei unteren Leibern in das irdische Dasein hinein, so strebt er mit den höheren geistigen Gliedern seiner Natur hinauf in die Reiche des Göttlichen, das ebenso dreistufig ist, wie das Mineral-, Pflanzen- und Tierreich hier unten dreistufig ist. So ist der Mensch mit seinen Wurzeln in das Irdische gesenkt und ragt hinauf mit seinen Zweigen in die geistig- göttliche Welt. Und wie er sich herausentwickelt hat aus niedrigen Anfängen aus der irdischen Welt, so entwickelt er sich geistig hinauf, indem er immer ähnlicher wird den höheren geistigen Wesenheiten. Deshalb können wir auch sagen, der Mensch gliedert sich im wesentlichen in drei Teile: Indem wir die drei unteren Glieder und die drei oberen verbinden, haben wir in der Mitte das Ich. Das Ich ist das, was an beiden, dem Irdischen und dem Göttlichen, Anteil hat. Das durchdringt den Ätherleib und den Astralleib. Dieses Ich bezeichnen wir als Seele. Das eigentliche unsterbliche Innere des Menschen, Atma, Buddhi, Manas, bezeichnen wir als Geist. Durch diese drei Glieder seiner Natur ist der Mensch ein Bürger von drei Welten zugleich. Er ist ein Bürger der gewöhnlichen physischen Welt hier. Wenn er die physische Welt hier verlassen hat, wenn also sein physischer Körper von ihm abgestreift ist, auch der Ätherleib, so betritt er eine andere Welt, eine Art Zwischenwelt, eine astrale Welt, wie wir sagen, die seelische Welt. In dieser hat er, zunächst unmittelbar nach dem Tode, eine Reihe von Jahren hindurch, sich zu reinigen, zu läutern von dem, was ihm noch anhaftet von dem Zusammenhang mit der irdischphysischen Welt. Wir nennen diesen Zustand Kamaloka oder Aufenthalt in der Astralwelt. Das ist kein Ort, sondern

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ein Zustand. Der entkörperte Mensch, solange er noch gewisse Wirkungen seiner physischen Natur an sich hat, hält sich in der seelischen Welt auf und steigt dann hinauf in eine noch höhere Welt, die wir nennen das Devachan oder die Welt des Geistigen.

Nun wissen Sie, daß die theosophische oder geisteswissenschaftliche Weltanschauung nicht bloß einen einmaligen Aufenthalt des Menschen in dieser physischen Welt annimmt, sondern daß sie sich klar darüber ist, daß der Mensch wiederholte Erdenleben durchzumachen hat, daß sein unsterblicher Wesenskern sich nur dadurch immer mehr vergöttlichen kann, in geistige Regionen hinaufsteigen kann, daß er wiederholt Erfahrungen, wiederholte Lektionen im Erdenleben durchmacht. Und so kehrt der Mensch, wenn er durch das seelische und geistige Reich durchgegangen ist, zurück in die physische Welt, dann wieder zurück in die geistige und so weiter. Diese wiederholten Verkörperungen werden zusammengehalten nach dem sogenannten Gesetz von Karma, nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Wenn ein Mensch, nachdem er wiederholte Erdenleben durchgemacht hat, wieder erscheint, wird er geboren mit Anlagen und Fähigkeiten, die er in den früheren Leben durch Erfahrung sich angeeignet hat, auch mit der Schuld, die er in früheren Leben auf sich geladen hat. So erscheint der eine glücklich, der andere unglücklich und elend, weil er sich das selbst erarbeitet, zugearbeitet hat. Was wir Menschen hier erarbeitet haben, wird in den künftigen Erdenleben wieder auftreten. Der Mensch ist dadurch in einem Auf- und Abstieg, in einem Hin- und Hergang zwischen den drei Welten: Physische Welt, Astralwelt und Devachanwelt.

Der Mensch ist nicht nur selbst ein Wesen, das diesen drei Welten angehört, sondern er hat auch Genossen in diesen drei Welten. Derjenige, der im Sinne der Geisteswissenschaft-

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lichen Weltanschauung sich einen Einblick verschafft in die andern Welten, nicht nur in die physische Welt, die der Mensch mit seinen Sinnen wahrnehmen, mit Händen greifen kann, der weiß, daß es nicht nur solche Wesenheiten gibt, die die drei Glieder der menschlichen Natur: Leib, Seele und Geist haben, sondern daß es auch Wesen gibt, die tieferstehend als der Mensch, und Wesen, die höherstehend als der Mensch sind. Die Wesen, welche tieferstehend als der Mensch sind, wie haben wir sie uns vorzustellen? Wir haben sie uns so vorzustellen, daß sie nicht wie der Mensch als Höchstes einen geistigen Kern haben, sondern nur einen seelischen. So wie der Mensch Geist, Seele und Leib hat, so würden die tieferstehenden Wesen nur Seele, Körper und etwas, was tiefersteht als der Körper, haben. Nennen wir diese Welt, das Unbekannte, was das dritte ausmacht, meinetwillen die Unterwelt, so würden wir sagen können: SolcheWesenheiten haben ebenfalls eine dreigliedrige Natur, deren unterstes Glied die Unterwelt, deren mittleres Glied die physische Welt und deren oberstes Glied die Seelenwelt ist. Es gibt aber auch Wesen, welche zwei Glieder im Geistigen haben und deren drittes Glied über die Sphäre des Devachan, über die Sphäre des Geistigen hinaufragt. So sehen Sie, daß Sie eine ganze Reihe von Wesenheiten sich konstruieren können. Und solche Wesenheiten sind wirklich vorhanden, wie die Erfahrung zeigt. Der Mensch gehört drei Welten an. Solche Wesenheiten würden auch drei Welten angehören und so wie der Mensch in Entwickelung begriffen ist, sich selbst herausentwickelt hat von einer Stufe, auf welcher seine Seele seine oberste Wesenheit war, in die der geistige Kern gesenkt worden ist, so sind auch diese andern Wesenheiten in einer fortwährenden Fntwickelung begriffen. Sie sehen, daß diejenigen, welche eine Erfahrung haben von solchen Dingen, sich sagen müssen, daß der

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Mensch, wenn er diesen physischen Leib abgelegt hat, da er aufsteigt in die seelisch-geistige Welt, eben der Genosse anderer Wesenheiten sein wird, von Wesenheiten, deren unterstes Glied die seelische Natur ist.

Das ist so der Grundriß der Weltanschauung, die nun aber nicht bloß über irgendeinen Teil der Erdkultur verbreitet ist, sondern die allen tieferen Religionen zugrunde liegt und die durch die theosophische oder geisteswissenschaftliche Weltanschauung nur erneuert werden soll. Das ist aber auch zu gleicher Zeit eine Weltanschauung, die in fortwährender Entwickelung begriffen ist, nicht eine Weltanschauung, die man einmal als abstrakt festgelegt zu betrachten hat, sondern eine Weltanschauung, welche durch die verschiedenen Stufen der menschlichen Entwickelung sich hindurchgestaltet in der verschiedensten Weise. Wie der Mensch auf der Leiter der Entwickelung immer reifer wird, so zeigt sich diese auch in verschiedener Weise ausgestaltet. Nun nimmt aber der Mensch nicht nur teil an dieser Entwickelung, sondern die Grundlehre aller Weltkultur zeigt, daß bestimmte einzelne menschliche Individuen eine schnellere Entwickelung durchmachen können, daß sie rascher aufsteigen können zu höheren Stufen der Vollkommenheit, daß sie ihren Mitwesen sozusagen voraneilen können. Dann erlangen sie, während sie noch im sinnlichen Leibe sind, schon einen Einblick in diejenigen Welten, welche der Mensch betritt, wenn er sonst die Pforte des Todes überschritten hat. Alle Kulturen, alle Religionskulturen bewahren dies als Geheimnis, daß die Möglichkeit besteht, daß der Mensch hineinzuschauen vermag in die Welten, die ihm verschlossen liegen, wenn er im sinnlichen Leibe wohnt. Der Mensch kann aber schon in diesem Leben die Pforte des Todes überschreiten und eine Anschauung erhalten von denjenigen Welten, die er bei der Aufwärtsentwickelung später zu betreten

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hat. So wie der Mensch dem Tiere voraneilt, so eilen solche Individualitäten der übrigen Menschheit voran. Alle tieferen Lehren der Weltkultur haben solche Individualitäten, die der übrigen Menschheit vorangeeilt sind, angenommen und bezeichnen sie als Eingeweihte. Sie sehen, da bekommen wir ja wirklich die Stufenleiter, von der ich schon das letzte Mal bei dem Vortrage über Luzifer sprechen durfte. Wir bekommen eine ganze Stufenleiter von Wesenheiten, welche den Menschen wunderbar aber begreiflich in die ganz natürliche geistige Welt hineinstellt. So Iiegt einer jeden Religion und jeder größeren Weltanschauung das Prinzip zugrunde, daß es neben und über den Menschen göttliche Naturen gibt, daß aber diese göttlichen Naturen in längst vergangenen Zeiten selbst die Stufen durchgemacht haben, die die Menschen heute durchmachen, sie durchgemacht haben unter andern Bedingungen und auf andere Weise; denn nichts wird im Universum wiederholt.

So können wir sagen: Diejenigen, welche heute Götter sind, waren einmal Menschen, und der Mensch wird in der Zukunft sich zu göttlicher Natur hinaufentwickeln. Der Mensch ist ein werdender Gott und die Götter sind nichts anderes als vervollkommnete Menschen. Das ist die Grundlage aller Geheimwissenschaft, wie man sie nennt. Und die- sen Satz in seinem vollen Umfange verstehen, bedeutet eben «Eingeweihter» sein. Man muß das aber nicht bloß abstrakt mit dem Verstande verstehen, sondern in der Erfahrung. Dazu gehört die Erkenntnis des dem Menschen jetzt zugänglichen Strahles des Geistes. Dann erst weiß man, was für eine große, unendliche Bedeutung dieser Satz aller Geheimlehre hat, dieser Satz, der bis heute sozusagen als Leitmotiv durch alle Weltanschauungen hindurchgeht.

Nun lassen Sie mich einen Blick werfen darauf, wie er durch die verschiedenen Vorstellungen der germanischen

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und deutschen Vorzeit durchgeht, zum Teil bis in die gegenwärtige Zeit herein erhalten, und wie wir ihn zu finden haben. Da darf ich wohl anknüpfen daran, daß von der Wissenschaft leider wenig berücksichtigt wird, wie diese Dinge sind. Es war am Ende der achtziger Jahre, da erschien von meinem lieben Freunde Ludwig Laistner ein Werk - es heißt «Das Rätsel der Sphinx» -, ein schönes, zweibändiges Werk. Es handelt nicht von irgendwelchen außerordentlich hohen Lehren, sondern geht vom Allereinfachsten aus. Es geht aus zunächst von einer ganz einfachen Tatsache, die sich innerhalb unseres gegenwärtigen Volkstums noch in zahlreichen Formen abspielt. Es lebt zum Beispiel bei den Wenden noch die Volkssage von der Mittagsfrau. Sie heißt ungefähr so: Wenn gewisse Leute, die auf dem Felde draußen arbeiten, zur Erntezeit nicht ordentlich Mittag machen, also zwischen zwölf und zwei draußen bleiben auf dem Felde, da kommt die Mittagsfrau, und die gibt ihnen Fragen auf. Sie frägt zum Beispiel den Flachsbauer über das Leinwandweben oder irgend etwas anderes. Diese Fragen müssen die Leute beantworten. Wenn sie bei einer Frage stocken, so ist es um sie geschehen. Bis zwei Uhr müssen sie mit der Antwort durchkommen. Wenn sie nicht richtig Antwort geben können, dann würgt sie die Mittagsfrau, oder sie schneidet ihnen den Kopf mit ihrer Sichel ab. Die Bauern benützen nun verschiedene Mittel dagegen. Der Betroffene muß das Vaterunser von rückwärts nach vorwärts beten können. Kann er das, dann läßt ihn die Frau, sonst aber tötet oder beieidigt sie ihn.

Sie sehen, hier geht ein Sagenforscher, Ludwig Laistner, von einfachen Sagen aus. Nun untersucht er ähnliche Sagen. Sie sind noch heute in unserer Volkskultur zu finden. Er sucht sie in den mannigfaltigsten Gegenden auf und findet zu gleicher Zeit, daß dies ein einfaches Beispiel ist von der

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sogenannten Fragepein, von der Verlegenheit, in die der Mensch kommt dadurch, daß ihm von geistigen Wesen Fragen aufgegeben werden, die er zu beantworten hat. Nun zeigt er, wie in andern Sagenformen dieselbe Sache immer komplizierter und komplizierter wird, bis man aufsteigt zu dem Rätsel, das die kadmeische Sphinx den Menschen aufgegeben hat und dazu, wie es Ödipus gelöst hat. Das ist schön auseinandergesetzt bei Laistner, wo er zeigt, wie sich das verhält. Wie das Abc zur hohen Wissenschaft, so verhält sich die Sage von der Mittagsfrau zu der komplizierten Frage von dem Menschenrätsel, von der Sphinx.

Dann zeigt Laistner aber noch etwas anderes. Ich muß dies erzählen, weil Sie daraus sehen werden, wie außerordentlich wichtig es ist für die Theosophie. Er ist ausgegangen, wie die meisten Sagenforscher, von den verschiedenen Gottesvorstellungen, und ist dazu gekommen, in ihnen Symbole zu sehen. Sie wissen, daß einige Göttergestalten aufgefaßt werden als symbolische Darstellung der Wolken, der Sonne, des Mondes und so weiter. Das ist eine weitverzweigte Anschauung, die Sie überall finden können. Aber sie ist von solchen aufgestellt - das hat Laistner dazumal an seiner eigenen Persönlichkeit genau kennengelernt -, welche nicht in Wirklichkeit wissen, wie die Phantasie des Volkes arbeitet, welche nicht wissen, daß es der Phantasie des Volkes fernliegt, aus Wind und Wetter, aus Blitz, Donner, Sonnenschein und Regen sich selbst Götter zu dichten. Laistner hat das auch schon eingesehen, als er noch abhängig war von der zünftigen Forschung, daß davon keine Rede sein kann. In dem Buche von der Sphinx hat er nun gefragt: Was liegt eigentlich vor, wenn die Mittagsfrau kommt und jeden in Fragepein versetzt? - Da liegt vor - und Ludwig Laistner hat es fast in exakter Weise bewiesen -, daß diese Dinge hervorgegangen sind aus einem andern Bewußtseinszustand,

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dem Traumzustand. Nachgewiesen hat er, daß die Mittagsfrau nichts anderes ist als das Produkt eines Traumerlebnisses, das diejenigen gehabt haben, welche während der Mittagsstunde auf dem Felde geschlafen haben. Nicht das Tagesbewußtsein phantasierte, sondern der Traum ist zum Symbol geworden. Laistner unterscheidet Schlafen in der Stube und Schlafen auf freiem Felde. So wie der Mensch träumen kann mit der Bettdecke in der Hand von einem Frosch, den er in der Hand hält, so symbolisiert sich die Außenwelt in der Mittagsfrau. Diese ist aus einem Traumerlebnis hervorgegangen. Laistner versuchte diesen Gedanken auszubauen. Er hat noch nicht die Geisieswissenschaft gekannt. Er mußte daher darauf hindeuten, wie wichtige Bestandteile unserer Sagendichtung aus wirklichen Traumerlebnissen hervorgegangen sind.

Nun sind aber Traumerlebnisse nur Rudimente von einem andern Bewußtseinszustand. Diesen andern Bewußtseinszustand kann derjenige erreichen, der eine gewisse innere Entwickelung, über die wir noch sprechen werden im zwölften Vortrag am 1. April, durchmacht. Derjenige, welcher diese Vorträge besucht hat, weiß, daß, wenn er gewisse Übungen durchmacht, geistig sich schult, er dann die sonst chaotische, ungeordnete Traumwelt verwandeln kann in eine ganz regelmäßige Welt, die ihm dann nicht bloß Teile der gewöhnlichen Wirklichkeit als Reminiszenzen zeigt, sondern ihn auch einführt in die höhere geistige Welt, die er dann herübernehmen kann in die Wirklichkeit. Das ist der höhere Bewußtseinszustand, das ist das astrale oder imaginative Bewußtsein. Es beginnt damit, daß das Traumerlebnis regelmäßig wird und daß der Mensch sich eines Tages darüber klar wird, daß er eine neue seelische Wirklichkeit erlebt. Dann kann er sich zu einer noch höheren, einer geistigen Wirklichkeit erheben. Daß der Mensch voraneilt

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seinen Mitmenschen, heute schon erreichen kann, was allen in der Zukunft beschieden sein wird, daß er hineinsehen kann in die geistig-seelische Welt, das war in gewisser Weise schon vorhanden in den vergangenen Zeiten. Denn des Menschen Entwickelung besteht darin, daß er von Bewußtseinsstufe zu Bewußtseinsstufe sich entwickelt. Dieses Bewußtsein, das der Mensch jetzt hat, wo er mit äußeren Sinnen wahrnimmt und mit dem Verstande die Sinneseindrücke bearbeitet, dieses Bewußtsein ist erst entstanden aus einem Bewußtsein, das nicht gleich, aber ähnlich war dem Traumbewußtsein. Nur war dieses Bewußtsein, welches ich in «Lucifer-Gnosis» genannt habe das traumartige Biiderbewußtsein, etwas dunkler. Der Mensch nahm aber nicht unmittelbare Abdrücke, sondern Sinnbilder wahr, und auch das, was im Leben vorging, drückte sich für den Menschen in Bildern aus. Der Mensch hat dieses Bewußtsein verloren und dagegen das klare Tagesbewußtsein erkauft. Damals hatte er nicht das heutige klare Bewußtsein. Er konnte nicht mit den Sinnen wahrnehmen, auch nicht das Tageslicht schauen. Er hat dieses Bewußtsein in Finsternis hinuntersinken sehen müssen, um das heutige Bewußtsein des hellen Tages zu erreichen. In der Zukunft wird er ein Bewußtsein erreichen, wo er beides haben wird, das Bilderbewußtsein, das ihn in die seelische Welt hineinführt, und das helle, klare Tagesbewußtsein daneben. Das ist der Inhalt aller Geheimlehren, der allen Kulturen zugrunde liegt.

So vermag der Mensch hineinzublicken in eine Zeit, in der er sich sagen kann, damals habe ich die Weit um mich gesehen als eine Welt des Seelischen. Sie bewirkte in mir ein bildhaftes Bewußtsein. Das war innerlich hell und klar. Keine äußere Sonne schien dem äußeren Auge, aber ein inneres Licht beleuchtete das Seelische ringsherum, und dieses innere Licht ist hinuntergestiegen in die Finsternis, und

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das äußere Licht, das der Mensch mit den äußeren Sinnen wahrnimmt, ist aufgestiegen. Wie von allen Dingen Reste, Rudimente zurückbleiben, so sind bei denjenigen Bevölkerungsschichten, die mehr zurückgeblieben sind, die nicht so sehr ihren Verstand geschärft haben, nicht so sehr das zurückgedrängt haben, was ihnen das Bilderbewußtsein geantwortet hat, die weniger kombinierend, weniger verständig sind, noch jetzt Reste jenes uralten Bewußtseins vorhanden. So ist ihr Traumbewußisein viel heller. Da erleben sie nicht nur chaotische Träume, sondern sie erleben auch höhere Wahrheiten, über die sie sich vielleicht nicht richtig Rechenschaft geben können. Sie erleben genauso wie der Hellseher, und sie erleben, wenn das innere Bewußtsein erwacht ist, eine ganz andere seelische Welt. Sie lernen dort Wesenheiten kennen, die es hier nicht gibt und die eine gewisse Beziehung haben zu des Menschen innerer Natur. Dem gewöhnlichen Volk ist es mehr oder weniger klar, und es erlebt nur das Bild der Mittagsfrau. Andere dagegen haben ein ausgebildeteres Bilderbewußtsein. Sie erleben noch mehr. Auf diese Weise haben sich selbst in primitiven Sagen von heute Reste eines uralten astralischen Bewußtseins erhalten. Wir blicken zurück auf eine menschliche Vergangenheit, insbesondere hier in Mitteleuropa und in Westeuropa, auf eine Vergangenheit, in der, je weiter wir zurückgehen, immer mehr vorhanden ist von jenem Bewußtsein, das ersetzt worden ist durch das gegenwärtige helle Tagesbewußtsein. Alles was dem Volk als Erinnerung geblieben ist von größerer oder geringerer Deutlichkeit, ist das Hineinschwin - den des astralen Bewußtseins in eine dunkle Vergangenheit, in eine dunkle Finsternis. Ich sage natürlich nicht: die Gedanken des Volkes, aber ich sage: etwas, was im Volke lebt und was ich nur in Gedanken fassen will. - Das ist das, was der Mensch im Volke sich sagt, ohne sich klar darüber zu

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werden: Heute muß man das Bewußtsein herausrücken aus der Tagesanschauung; ich muß schlafen, dann gewinne ich wiederum ein bißchen Einlaß in diejenige Welt, die meine Vorfahren erlebt haben, in eine Welt, die für die Menschen untergegangen ist. Ich erlebe sie nicht als eine deutliche Vorstellung, sondern als eine dunkel zusammengefügte Erinnerung. - So etwas lebt im Volke, und daher weiß das Volk auch, daß die astralen Erlebnisse reicher und immer reicher waren, je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht. Und was da das Volk erlebt hat, wovon es heute nur noch spärliche Reste hat wie das Fragen bei der Mittagsfrau, was ist das? Das ist die Erinnerung an Wesenheiten, welche die astrale Welt bewohnen, das ist die Erinnerung an die alten Götter. Da sind die alten Göttervorstellungen hervorgeholt.

Nun erinnern Sie sich, daß ich als besonders bemerkenswert hervorgehoben habe, daß man das Vaterunser in umgekehrter Folge beten soll. Diejenigen, welche mich häufiger hier gehört haben, werden wissen, daß man im Astralen alles umgekehrt lesen muß. Die Zahl 341 muß man in der Welt des Bilderbewußtseins 143 lesen, also umgekehrt. So ist es auch mit unseren Leidenschaften. Leidenschaften, die von uns ausgehen, erscheinen, wenn uns die Astralwelt eröffnet wird, als Wesenheiten, die auf uns zueilen. Das ist sehr schmerzlich für diejenigen, welche nicht vorher vorbereitet worden sind. Alles, was von uns ausströmt, strömt scheinbar auf uns zu. Sie sehen daher Tiere und alle möglichen Wesenheiten auf sich zustürzen. Bei pathologischen Zuständen, zum Beispiel bei Wahnsinn, werden Sie gewahr, daß da plötzlich Wesenheiten auftreten in Gestalt von Tieren. Das sind Wesenheiten, die in dem Menschen leben, die von ihm ausströmen und wie gespiegelt in der Form der Tiere erscheinen. Was in der sinnlichen Welt sich von rückwärts nach vorn bewegt, das bewegt sich in der Astralwelt

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umgekehrt. Man muß also, um die Mittagsfrau zu befriedigen in der Weit, in der sie ist, das Vaterunser von hinten nach vorn beten. Sie können sehen, wie die Sage das festhält.

Nun könnten wir die ganze germanische Götterwelt durchgehen und wir würden finden, daß sich in ihr das- jenige spiegelt, was ich am Eingange des Vortrags als die Geheimwissenschaft aller Kulturen dargestellt habe. Das, was ich am Eingange des Vortrages, in großen Gedanken und Umrissen gesehen, dargestellt habe als Welten, die sich scheinbar übereinandertürmen - in Wahrheit sind sie ineinander -, das alles spiegelt sich volkstümlich ab in der germanischen Götterwelt. Als der Mensch einstmals in einer Welt gelebt hat, in der er noch ein Bilderbewußtsein hatte, in der er noch nicht vorgerückt war zu dem gegenwärtigen kombinierenden Verstande, da war sein Ich noch nicht von der Mächtigkeit wie heute. Er dachte und handelte zwar nicht wie ein Tier, aber es waren in ihm vorherrschend die drei unteren Glieder: physischer Leib,Ätherleib und Astralleib. Das Ich war noch nicht sinnbegabt. Es lebte noch ein inneres Leben; dadurch hatte es noch Macht über das äußere. Es war eine ganz andere Form von Menschen, es waren Menschen, die noch nicht denken konnten in dem Bewußtseln, wie wir es heute haben. Viel unvollkommener waren die Menschen als die heutigen, aber sie waren in bezug auf die unteren Glieder vollkommener. Diese hatten sie mächtiger und mannigfaltiger ausgebildet. Sie gehörten daher noch nicht der geistigen Welt an. Es waren in gewisser Beziehung Seelenwesenheiten, deren höchstes Glied einer seelischen Welt angehörte, deren mittleres Glied auch seelisch war, und noch tiefer war das dritte Glied. Solchen Wesen begegnet das Bilderbewußtsein auf dem astralen Plan, dort entdeckt es ihren höchsten Wesenskern. Diese Wesenheiten, in gewisser Beziehung Vorfahren der Menschen, spiegeln

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sich in dem germanischen Volksbewußtsein als die Riesen. Sie sind nichts anderes als Vorgänger der Menschen. Dann entwickelte sich die Welt weiter. Die Menschen entwickelten sich hinauf in höhere Sphären. Sie erhielten ihr Denken und wurden dadurch Genossen von geistigen Wesenheiten, die in gewisser Beziehung feiner organisiert sind als die Riesen, weil sie teilnahmen an den höheren geistigen Welten. Diese Wesenheiten spiegeln sich im germanischen Volksbewußtsein als die Asen. Nichts Wunderbares sah die ursprüngliche germanische Mythologie in alledem, sondern sie sah in ihm dasjenige, was ein Ausdruck war des Satzes, den ich angeführt habe: Der Mensch ist ein werdender Gott und die Götter sind dasjenige, was man vollendete Menschen, Götter gewordene Menschen nennen kann. Götter sind Wesenheiten, die ihre Menschheitsstufe in längst verflossener Vergangenheit durchgemacht haben. So sehen Sie, daß sich die Stufenfolge der Wesenheiten auch in der germanischen Mythologie ausdrückt in dem Unterschied zwischen den Riesen und den Asen.

Aber noch mehr drückt sich darin aus. Es drüekt sich darin aus, daß die Entwickelung von solchen Wesenheiten durchaus in demselben Sinne geschieht wie die menschliche Entwickelung. Die heutigen Menschen - so faßt es die germanische Mythologie auf - haben das, was sie gelernt haben, von Wotan gelernt. Wer ist aber nun ursprünglich Wotan gewesen? Wir hören, daß unsere Vorfahren gelernt haben von Wotan die Kunst der Runenschrift, die Kunst der Dichtung und noch anderes. Das hat man aber von jeher den großen Eingeweihten zugeschrieben. So drückte sich in Wotan eine Individualität aus, die wir vorhin im Sinne der Geheimlehre nennen mußten einen großen Eingeweihten, eine Wesenheit, die der Menschheit vorangeeilt ist und die Stufen bereits durchgemacht hatte, welche die Menschheit

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erst jetzt durchmacht. Und wie wurde Wotan der große Lehrer der Vorzeit? Gar nicht anders als andere Eingeweihte in den andern Geheimlehren. In allen Geheimlehren gibt es Eingeweihte. Heute erleben diese genau dasselbe wie damals, indem sie über ihr niederes Ich hinauswachsen, den geistigen Wesenskern in sich entwickeln und in diesem Leben schon Bürger einer höheren Welt werden. Zu gleicher Zeit aber wird uns klargemacht, daß in einer gewissen Stunde die ganze niedere Natur vor sie hintritt. In jedem Menschen ist eine Summe von Leidenschaften, Begierden und Wünschen, die seiner niederen Natur anhängen. Aus alledem muß der Mensch erst heraus. Dann tritt es wie eine Wesenheit vor ihm auf. Steigt der Mensch hinauf in seine höhere Natur, dann ist seine niedere Natur wie etwas, was außer ihm ist, während er sonst drinnensteckt in den Trieben, Begierden und Leidenschaften. Ebensowenig wie jemand sein Gehirn auf einen Teller legen und es ansehen kann, ebensowenig kann man sein inneres Leben, seine innere niedere Natur sehen. Man nennt diese abgelöste Wesenheit den Hüter der Schwelle. Als eine Wesenheit steht neben dem Menschen seine niedere Natur, und er muß sich einmal sagen: Das bist du! Das mußt du ablegen! - Das nennt man bei allen Einweihungen die Höllenfahrt. Man hat da Genosse zu werden der höllischen Mächte, hinunterzusteigen in die Tiefen der Welt, weil der Mensch einfach drinnenste&t und seine höhere Natur nur halb in ihm lebt. Den Hüter der Schwelle nennt man diese Wesenheit, weil die Menschen, die sich nicht Mut und Geistesgegenwart aneignen, nicht darüber hinauskommen. Diejenigen, welche diese Schwelle überschritten haben, nennt man Eingeweihte. Stufenweise macht der Mensch die Entwickelung durch. Es wird zunächst eine Stufe überwunden, auf der der Mensch seine niedere Natur gewahr wird. Während er sonst drinnensteckt,

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sich mit ihr identifiziert, tritt sie jetzt wie etwas anderes ihm gegenüber, so wie der Tisch jetzt vor mir steht. Diese Stufe nennt man in allen Einweihungen die Kreuzigung oder das Hängen an dem Holz. Der Mensch wird gekreuzigt in seinem eigenen Leib, weil der ihm so gleichgültig ist wie ein äußeres Kreuz, an das er festgenagelt ist. Hat der Mensch diese Stufe überwunden, dann steigt er höher hinauf. Er ist dann weise geworden. Ihn nennt man mit einem sinnbildlichen Ausdruck «Schlange», aus demselben Grunde, weil überhaupt die Schlange das Symbol der Weisheit ist. Da trinkt er aus den Quellen der Weisheit in der Welt.

Dann macht er noch eine dritte Stufe durch. Diese Stufe wird in den verschiedenen Religionen in der verschiedensten Weise zu durchlaufen sein. Betrachten wir Wotan. Was wird uns von ihm dargestellt? Es werden uns dargestellt diese drei Stufen der Einweihung. Es wird uns da zuerst erzählt, Wotan hätte einmal hängen müssen an dem heiligen Holz.

Neun Tage lang hat er da gelitten und die Leiden der Welt auf sich genommen. Da kam der Riese Mimir zu ihm und hat ihm einen Trunk gereicht aus dem Becher der Weisheit. Da wurde er befreit von dem heiligen Holz. Das war die erste Einweihung des Wotan. Nachdem er diese durchgemacht hatte, bekam er die Sehnsucht, selbst den Becher zu finden, aus dem der Trank fließen kann, den ihm sein Oheim Mimir gereicht hatte am Galgenholz. Dann heißt es aber weiter, daß dieser Weisheitsbecher gehütet wird in den Klüften der Berge und daß sich Wotan in der Gestalt einer Schlange durch die Klüfte zu Gunnlod schlich, um sich den Weisheitsbecher zu erobern. Das war die zweite Einweihung. Und die dritte ist die, wo uns erzählt wird - und das ist etwas sehr Bedeutsames -, daß Wotan sich hinbegeben hat zu der Quelle derjenigen Weisheit, die die Weisheit der

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Gegenwart ist und die zu finden ist bei derjenigen Quelle, die an der Wurzel der Weltesche Yggdrasil ist. Da hauste selbst der Riese Mimir. Hier erlangte Wotan die Einweihung, die ihn fähig machte, der Lehrer der Vorzeit zu sein, nämlich die Gegenwartsweisheit. Früher hatte er die Weisheit erlangt aus den Klüften der Berge, von den höheren Welten. Aber er soll derjenige werden, der in unserer Weisheit Lehrer werden kann, in der Weisheit, die durch die Sinne erobert und durch den Verstand gewonnen wird. Die Macht dazu erwirbt er sich hier. Das ist in einem schönen Sinnbild zum Ausdruck gekommen. Es wird erzählt, daß er hier ein Auge lassen mußte. Was ist das Auge, das er zurücklassen muß, zurücklassen muß, um die gegenwärtige Weisheit zu finden? Das ist das astrale Auge. Jetzt, da er die Weisheit der Runen, die Weisheit der Gegenwart aufnehmen soll, jetzt muß er das astralische Auge lassen, damit er Führer sein kann auf dem sinnlichen Plan, zu dem sich die Menschheit hinentwickelt hat. Das sind Dinge, die Ihnen klar und deutlich zeigen, wie in den drei aufeinanderfolgenden Bildern, die Geheimlehre, die allen Religionen zugrunde liegt, auch in der germanischen Mythologie zum Ausdruck kommt.

In anderer Weise kommen tiefe Wahrheiten zum Ausdruck, wenn wir zum Beispiel die Sage von Baldur betrachten, der auf die Veranlassung seines Gegners Loki erschlagen wird mit dem Mistelzweig von dem blinden Hödur. Wenn wir diese Sage betrachten, so bemerken wir, daß viele sagen, Baldur bedeute die Sonne, die untergehende Sonne. Sie sagen das, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß kein Volk so dichtet. Das Volk erlebte in den Urzeiten auf dem astralen Plan in Bildern dasjenige, was wir als die Grundlage der Geheimlehre kennengelernt haben am Eingange des Vortrages. Was erlebte das Volk in dieser Beziehung? Ich

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habe schon hingewiesen auf die Vorstellungen, welche wie dunkle Erinnerungen, aber nicht im klaren Bewußtsein, aufsprießen, hingewiesen auf das Hinabsinken des Astrallichtes in die Finsternis, damit das gegenwärtige Sinnenleben heraufkommen kann. Von dem, was gegenwärtig Finsternis, seelische Finsternis ist,` von dem gegenwärtigen sinnlichen Anschauen, das unter Hödur verbildlicht wird, wird das ehemalige astralische Bewußtsein, der Baldur, getötet, und zwar auf Anstiften des Loki. Und wer ist Loki?

Loki hängt schon dem Namen nach mit dem Feuer zusammen. Was aber ist das Feuer in der Geheimwissenschaft? Es ist nicht dasjenige, was im physischen Leben das Feuer ist. Das physische Feuer ist nur der äußere Ausdruck eines inneren, für dasjenige, was die Geheimlehre als die Seele des Feuers kennt. Das lebt auch im Menschen in gewisser Weise als seine Triebe, Begierden und Leidenschaften. Nur hat sich bei der weiteren Entwickelung dasjenige, was im Menschen lebt als Triebe, Begierden und Leidenschaften, abgetrennt. Es ist nicht mehr mit dem äußeren Feuer in Verknüpfung, aber die Geheimlehre weist darauf hin. Sie werden das immer mehr und mehr kennenlernen, wenn Sie sich auf die okkulte Seite der Theosophie oder Geisteswissenschaft einlassen. Sie zeigt, wie Leidenschaften und Begierden in ähnlicher Weise mit dem Feuer zusammenhängen wie der positive und der negative Pol eines Magneten: die Leidenschaften sind der eine Pol und das physische Feuer der andere, sie gehören aber zusammen. Bei dem Eisen haben Sie die beiden Pole ungetrennt. Das erscheint grotesk für die materialistische Weltanschauung, das weiß ich wohl. Aber so erscheint alles für denjenigen, der sich nicht einlassen will auf die Tiefen der okkulten Wissenschaft. Auf jene Zeiten geht der Blick zurück, wenn von Gestalten gesprochen wird, wie Loki eine ist. Das ist eine Wesenheit, die ein ursprüngliches

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Dasein und eine gewaltige Kraft gehabt hat, als die Leidenschaft und das Feuer noch nicht getrennt waren, als die Leidenschaft noch das brodelnde Feuer durchströmt hat. Ein solches Feuerwesen war Loki. Und dann hat sich die Welt weiter so entwickelt, daß sich aus Loki, dem Feuer, die niedere Natur bildete und aus den Asen die höhere Natur. Aus Lokis Natur ist beides hervorgegangen. Das liegt der germanischen Sage zugrunde. Das ist das Geheimnis der germanischen Götterlehre, daß, indem sich die Wesen hinaufentwickelten, die Götterwelt hervorging, die auch ihren Ursprung in den leidenschaftlichen Urgründen hat wie auch in dem Geistigen. Da wird uns gesagt, wie diese drei die Kinder des Loki sind. Das erste Kind ist der Fenriswolf, das zweite die Midgardschlange und das dritte die Totengöttin Hel, die auf der einen Seite hell ist und auf der andern Seite einen schwarzen Leib hat. Was stellt sie dar? Sie stellt die untere menschliche Natur dar, die Geburt und Tod bewirkt. Daher erscheint die Hel schwarz und weiß. Die Midgardschlange, die in der gegenwärtigen Welt um die Kontinente herurngeschlungen ist, stellt den Ätherleib dar, der an die gegenwärtige niedere Menschennatur gefesselt ist. Das dritte Glied stellt das vor, was aus den niederen Leidenschaften hervorgegangen ist. Loki ist aus einer früheren Entwickelung übriggeblieben. Er mußte seine Kinder abgeben, damit die gegenwärtige Welt entstehen konnte, die dadurch zum Widerstand getrieben wird und dem zum Opfer fällt, was die Anschauung der früheren Welt war.

Baldur muß hinunter zur Hel, in die Tiefe. Die Tiefe symbolisiert die gewöhnliche körperliche Menschennatur. Was ist Baldur? Baldur ist als Unterbewußtsein vorhanden, wenn zum Beispiel im Trance das gewöhnliche Oberflächenbewußtsein ausgelöscht und das alte Bewußtsein wieder auferweckt wird. Für uns ist Baldur jetzt getötet. Aber bei

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der Hel ist er noch wie die Kraft, die an die Natur des Feuers gebundene Leidenschaftskraft, vorhanden.

So könnten wir jedes Glied der germanischen Götterwelt als äußeren Ausdruck dieser Geheimlehre bezeichnen und Sie würden sehen, wenn wir fünfzig Vorträge statt einen hätten, daß das alles bis in die Einzelheiten hinein in wunderbarer Weise stimmt, daß wir es wirklich zu tun haben mit einer Geheimlehre, welche den bildlichen Vorstellungen der germanischen Mythologie zugrunde liegt. Auch hier waren es Eingeweihte, Weise, die das gewußt haben, was wir an die Spitze des Vortrages stellten. Das Volk aber hat erfahren in seinen verschiedenen Bewußtseinsresten von Wesenheiten aus andern Welten, und diese Volksgeister, Volkswesenheiten, haben sie in eine Ordnung eingereiht, in die Welt der alten Götter. So erscheint die germanische Mythologie wie aus dem Volksbewußtsein herausgeboren. Wie nun Siegfried, der überwunden wird, sein höheres Selbst findet, das stellt sich uns allen dar als ein Ausdruck tiefer Geheimlehren. Nicht gekünstelt ist das, sondern in dem, der in solcher Weise zurückzugehen vermag in die geistigen Tiefen der Vorzeit, wird es zur vollständigen Gewißheit, daß es so ist. Wenn wir also die germanische Mythologie durchgehen, bekommen wir einen bildhaften Eindruck.

Blicken wir nach dem Orient, so sehen wir dieselbe Geheimlehre, wie sie an die Spitze des Vortrages gestellt wurde, wir sehen sie aber dort etwas anders ausgebildet. Mit wenigen Sätzen können wir sie kennzeichnen. Nicht auf den Buddhismus und nicht auf den Hinduismus wollen wir uns einlassen. Wir brauchen nur zu wissen, daß sie das Brahma als geistiges Urwesen verehren, das allem zugrunde liegt. Die Hauptfähigkeit von Brahma ist das schaffende Wissen. Vidya heißt schaffendes Wissen. Denken Sie sich einen Menschen neben einer Maschine stehend, der die Maschine studiert,

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der hat ein empfangendes Wissen. Denken Sie sich aber den Erfinder, der die Maschine ursprünglich gemacht hat, sie aus einzelnen Teilen zusammengesetzt hat, bei dem war das Wissen zuerst ein schaffendes Wissen. Ein solches schaffendes Wissen, ausgedehnt auf die uns umgebende Welt, das ist Vidya, und das empfangende Wissen, das ist Avidya. So gibt es verschiedene Abstufungen von Vidya und Avidya. Brahma ist aber der Besitzer von allem, was in Vidya und Avidya zusammengefaßt ist. Aus dem Gedanken ist alles herausgeboren und der Mensch selbst ist daraus heraus- geboren. Aber er soll sich wieder zurückentwickeln zu Vidya, zu dem schaffenden Wissen. Das ist der Sinn der menschlichen Entwickelung. Und wiederum wird der Mensch durch drei Orte geführt, welche die indische Lehre Loka nennt. Wenn der Mensch gestorben ist, muß er eine Zeitlang in Bhurloka sein, dasselbe wie Kamaloka. Die höchste Welt ist die geistige Welt, Svargaloka, das ist Devachan. Von da geht er wieder zurück in die Bhurloka und zurück zur physischen Welt. So sieht man, wie er in der physischen Welt die verschiedensten Kräfte und Stoffe aufnimmt. Diese sind aus dem Vidya des umfassenden Brahma hervorgegangen. Da haben wir oben die feinste stoffliche Welt, die Welt des Akasha. Akasha ist nur ein stofflicher Ausdru& für Indra, der &e Seele dieser Welt ist. Dann kommen wir zur Welt des Feuers, zu Agni. Das ist der stoffliche Ausdruck für den Gott Agni> und dieser ist für die indische Geheimlehre dasselbe wie der Gott Loki in der germanischen, nur in etwas anderer Abschattierung. Dann kommen wir herunter zur Luft, Vayu, dann zum Wasser und endlich bis zum Festen. So denkt sich die indische Lehre den Aufbau der äußeren Welt. Und dasjenige, was wir indischen Kultus nennen, das sind äußere symbolische Ausdrücke für diese geheimen Wahrheiten. Wenn wir uns nun fragen, welche Eigentüm-

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lichkeit hat denn die indische Geheimlehre, daß sie sich ausbildet in andern Bildern, so können wir sagen, daß sie weniger einen symbolischen Charakter, sondern einen mehr begrifflichen trägt. Das ist überhaupt der Unterschied zwischen der indischen und der germanischen Geheimlehre. Innerlich sind sie gleich, äußerlich aber ist ein Unterschied, weil die äußeren Religionen in Europa einen bildhaften, mehr von den Wesenheiten des astralen Planes sprechenden Charakter angenommen haben, während das indische Volk eine Stufe weitergekommen ist und ihnen einen mehr schon an äußere sinnliche Eindrücke anknüpfenden Charakter gab. Das müssen wir als Unterschied der germanischen und indischen Lehre angeben, daß die germanische Lehre dem Astralen nähersteht, die indische aber dem Denken. Daher ist es auch klar, daß die indische Lehre demjenigen, was die Menschen heute als innerstes Eigentum betrachten, nähersteht, daß man sie leichter versteht als die in das Nichtmehr-Bekannte hinabgesunkene Welt der germanischen Götter.

Diese Lehren haben eine verschiedene Ausgestaltung erhalten. Wie wir zwei Ausgestaltungen in Europa und Indien sehen, so sehen wir noch eine andere, in der Mitte sozusagen in Griechenland. Wir können sehen, daß durch zwei ganz verschiedene Kräfte in der Natur die indische und die germanische Eigenart bedingt ist. Die indische Eigenart ist eine mehr nach dem heutigen Ich hingehende, nach dem Ich des Menschen hingehende. Der Inder hat daher sein höheres Bewußtsein gesucht in der Versenkung in das eigene Innere. Er hat gesucht hinanfznkommen von Avidya zum Vidya, von dem empfangenden Wissen zu dem schaffenden Wissen. Eine Wissenslehre, eine höhere Lehre als eine astrale Bilderlehre ist die indische Anschauung, und eine astrale Bilderlehre ist dasjenige, was in der germanischen Mythologie zum

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Ausdruck gekommen ist. Und warum ist das so? Darauf gibt uns die germanische Mythologie selbst eine große und schöne Antwort. Immer wird in allen Geheimlehren das höhere Bewußtsein, das der Mensch erlangen soll, dargestellt als das Weibliche, als die Seele. Dasjenige, was von außen aufgenommen wird, was die Seele befruchtet, das wird als das Männliche dargestellt. Wir haben da also die weibliche Seele, die befruchtet wird von der Weisheit, von dem Geist der Außenwelt. So rückt der Mensch auf, wenn er sich geistig entwickelt, bildlich gesprochen, zu dem höheren Weiblichen in seiner Natur. Das ist das, was Goethe meint, wenn er sagt: «Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan». Das darf nicht in kleinlicher Weise aufgefaßt werden, denn es steht im «Chorus mysticus». Wenn wir das so auffassen, dann werden wir verstehen, was der Germane meint, wenn er sagt: Wenn der Krieger auf dem Schlachtfeld fällt, dann kommt ihm die Walküre entgegen, da erreicht er das höhere Seelische. - Das Seelische eines kriegerischen Volkes und das, was man nennt: durch die Pforte des Todes schreiten und ein höheres Bewußtsein erlangen, das wird bezeichnet und symbolisiert durch das Entgegenkommen der Walküre, das Aufnehmen der Seele in Walhall, die Verbindung mit dem höheren Bewußtsein, mit der Walküre. Der höchste Gott ist im Urgermanischen der Gott Ziu, von dem der Dienstag seinen Namen hat. Das ist derselbe Gott, der in der römischen Mythologie Mars und in der griechischen Ares heißt. Mardi ist der Tag, der dem Kriegsgotte Mars geweiht ist. Eine Kriegsreligion war dies und die unterscheidet sich von der inneren Religion des Inders. Wer in der inneren Welt lebt, entwickelt weniger die Leidenschaften, die in der Astralwelt leben und in ihr zum Ausdruck gelangen. So spiegelt sich das Bewußtsein, die eigene kriegerische Natur der Germanen in ihrer Götterwelt. In natürlicher Weise ist

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die Walküre das höhere Bewußtsein. Weil die Leidenschaft des Krieges hier der Schöpfer der Mythologie war, deshalb kam die Götterwelt in astralen Bildern zumAusdruck;weil drüben in Asien, in Indien, der nach dem Inneren gewandte Sinn der Schöpfer war, deshalb kam eine mehr geistige Religion zum Ausdruck. Ihre höhere Einheit, ihre Harmonie haben diese beiden Weltanschauungen gefunden, als durch das Christentum dem Germanischen zum Äußeren das Innere gegeben worden ist.

So sehen Sie, daß der Menschheitsentwickelung ein tiefer innerer Sinn zugrunde liegt, und daß man diesen tiefen inneren Sinn suchen muß. Dann kommt man auf die Weisheiten in der Weltentwickelung, und dann wird man auch nicht bei abstrakten Begriffen stehenbleiben so, als ob eine einzige Gestalt der Menschheit zugrunde läge, sondern man wird sehen, daß es eine Weisheit ist, die vielgestaltig ist. Anders mußte in Indien und anders in Europa, anders bei dem sinnenden, anders bei dem kriegerischen Volke und anders in Griechenland, bei dem kunstbegabten Volke, die Geheimlehre sein. So entwickelt sich die Menschheit durch die verschiedensten Formen des Kulturdaseins, der Gang immer nach vorwärts in dieser Weltentwickelung und zu gleicher Zeit immer nach aufwärts.

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DEUTSCHE THEOSOPHEN VOM ANFANG DES 19. JAHRHUNDERTS Berlin, 15. März 1906

Es ist ja eine oft und oft bemerkte Tatsache, daß es außerordentlich schwierig ist, in bezug auf die geisteswissenschaftliche Bewegung bei unseren gelehrten Führern in wissenschafflichen Kreisen irgendein Verständnis zu gewinnen. Das ist auf der einen Seite eine sehr fatale Tatsache, daß in unserer Gegenwart die Wissenschaft von einem so großen Autoritätsglauben umgeben ist und alles, was wissenschaftlich ist, eine so imponierende Gewalt nach allen Seiten ausübt, daß eine geistige Bewegung, die eingreifend sein soll und sein will, es natürlich sehr schwer hat, wenn der weitaus überwiegende Teil der Gelehrten, man kann sagen, fast ausnahmslos alle Gelehrtenkreise, eine solche Bewegung wie unsere geisteswissenschaftliche so behandeln, als wenn sie Dilettantismus, blinder Aberglaube und so weiter wäre.

Es ist vielleicht betrübend, aber jedenfalls verständlich, wenn man die Urteile solcher gelehrter Kreise über die Theosophie oder Geisteswissenschaft hört. Wenn man sie aber dann durchnimmt, so zeigt sich, daß sie zu den Urteilen gehören, die mit Ausschluß einer jeglichen Sachkenntnis gefällt sind. Wenn wir dann noch die sogenannte öffentliche Meinung, wie sie in unseren Journalen zum Ausdruck kommt, befragen, so brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn auch diese der theosophischen Bewegung nicht gerade verständnisvoll gegenübersteht. Denn diese öffentliche Meinung steht ja ganz und gar unter der imponierenden Gewalt der wissenschaftlichen Autorität und ist ganz und gar von ihr abhängig.

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Betrübend mag das sein, verständlich ist es aber durchaus. Es gibt verschiedene Gründe, die uns das verständlich machen. Einen dieser Gründe in bezug auf das deutsche Geistesleben können wir einfach in der Tatsache erblicken, daß ein wichtiger Einschlag unseres deutschen Geisteslebens, eine Höhe unserer tiefsten Versenkung in den Gedanken, von unserem Gelehrtenleben eigentlich ganz und gar unberücksichtigt gelassen worden ist. Zwar finden Sie in jedem Handbuch der Philosophie, in jeder Literaturgeschichte einige Notizen über das, um was es sich da handelt; aber ein wirklich eindringendes Verständnis über diese bedeutsamste Seite unseres Geisteslebens und über das, was um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert die bedeutungsvollsten deutschen Denker geleistet haben, ist nicht vorhanden. Namentlich fehlt es an einem Verständnis, wie diese Ergebnisse des deutschen Gedankenlebens wurzeln im allgemeinen deutschen Geistesleben vor etwa hundert Jahren. Wäre diese Tatsache nicht so, sondern würden sich unsere gelehrten Kreise mit jener Vertiefung des deutschen Gedankenlebens um die Wende des 18. zum i9.Jahrhundert wirklich befassen, gäbe es zum Beispiel unter unseren Philosophen ein Verständnis für das große Gedankenleben Fichtes, Schellings und Hegels, enthielten die Kompendien der Philosophie nicht nur einzelne unzulängliche Auszüge aus den Werken, sondern wüßte man, was überhaupt jener Gedanke in Deutschland geleistet hat, dann würde man auch vom Standpunkte der Gelehrsamkeit den Einlaß finden in die geisteswissenschaftliche Bewegung.

Von allen Vorschulen zur Theosophie oder Geisteswissenschaft, die man heute durchmachen kann, ist diese Schule des deutschen Gedankens von der Wende des 18. Zum 19.Jahrhundert für die gegenwärtigen Menschen die allerbeste. Zwar ist sie nicht für jeden zugänglich, denn wie sollten die

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größeren Volkskreise die großen deutschen Denker wirklich verstehen, wenn die Universitätskreise, die akademischen Kreise so wenig in diesem Verständnis vorangehen, wenn sie so wenig tun, um eine wirkliche Popularität dieser Denker herbeizuführen. Dem großen Publikum, denen, die sich der Theosophie zuwenden sollen, ist kein Vorwurf zu machen, daß sie es nicht können. Denen aber, deren Beruf es wäre, die Geistesschätze des Abendlandes einfließen zu lassen in die ganze Volkskultur, denen muß gesagt werden, daß sie in dieser Beziehung ihre Obliegenheiten ganz und gar nicht erfüllen.

Ich werde Ihnen keine unbekannten Namen zu sagen haben, aber ich werde vielleicht die eigentümliche Tatsache zu vertreten haben, daß man Namen, die in jedem philosophischen Kompendium stehen, mit der Theosophie in Zusammenhang bringen kann. Es ist eigentümlich, man spricht so gern davon, wie unsinnig es doch sei, irgendwie den Titel «Geheimlehre» zu gebrauchen. Abendländische Forscher zum Beispiel, die sich mit Buddhismus befaßt haben, haben wiederholt die Behauptung getan, es sei ein Unsinn, daß der Buddhismus eine Geheimlehre, etwas, was über das hinausginge, was in den Büchern steht, enthalte. Daß solche Gelehrtenkreise derartige Behauptungen tun, ist nicht besonders zum Verwundern. Denn daraus, daß sie das machen, folgt eben, daß ihnen die wichtigsten Dinge selbst eine Geheimlehre geblieben sind. Wie sollten sie wissen, daß es eine Geheimlehre gibt, da sie niemals den Zugang dazu gefunden haben! Im Grunde genommen ist das Wichtigste, was anschließend an den großen deutschen Denker Johann Gottlieb Fichte geleistet worden ist, für die Mehrzahl auch heute noch eine gründlich tiefe Geheim lehre. Es ist wahr, so betrübend es erscheinen mag, herausgewachsen ist dieses deutsche Geistesleben von der Wende des 18. Zum 19. Jahrhundert

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aus der sogenannten Aufklärung. Diese Aufklärung, wir können sie mit ein paar Worten bezeichnen. Sie war ein notwendiges Ereignis in der ganz modernen Geistesentwickelung. Sie ist dasjenige, was die bedeutsamsten Geister des i8.Jahrhunderts auf ihre Fahne geschrieben haben. Kant sagt, Aufklärung heiße einfach das, was in den Satz zusammengefaßt werden könne: «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.» Diese Aufklärung war nichts anderes als eine Emanzipation der Persönlichkeit, ein Heraustreten der Persönlichkeit aus den Traditionen und Überlieferungen. Was man jahrhundertelang geglaubt hat, was jeder aufgenommen hat aus der gemeinsamen Geistsubstanz des Volkes heraus, das sollte geprüft werden. Nur dasjenige sollte gelten, zu dem die Einzelpersönlichkeit ja sagt. Sie wissen, große Geister haben ihre Entwickelung aus dieser Aufklärung heraus genommen. Man braucht nur an den Namen Lessing zu erinnern, um einen der besten zu nennen. Im Grunde genommen ist auch das, was sich an den Namen Kant knüpft, nichts anderes als ein Ergebnis dessen, was man Aufklärung nennt.

Einer nun, der in ganz eigenartiger Weise gebrochen hat mit dieser Aufklärung, ist Johann Gottlieb Fichte. Wenn ich sage, er hat in eigenartiger Weise gebrochen mit dieser Aufklärung, dann glauben Sie ja nicht, daß ich Fichte als einen Gegner der Aufklärung hinzustellen gewillt bin. Er hat in der Weise gebrochen, daß er alle Ergebnisse der Aufklärung untersucht und auf ihrem Grund weitergebaut hat, aber über das, was bloß Aufklärung ist, über das Triviale, über das ist Fichte in einer ganz gründlichen Weise hinausgegangen. Gerade Fichte gibt dem, der die Möglichkeit hat, sich in seine großen Gedankengänge zu vertiefen, etwas, was man unter den neueren Geistern nur durch ihn gewinnen kann.

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Nachdem wir viele rein populäre Vorträge gehört haben, wollen wir heute einen Vortrag hören, der scheinbar abliegt von dem gewöhnlichen Wege, den unsere geisteswissenschaftlichen Vorträge in diesem Winter nehmen. Es soll mein Bemühen sein, so leichtfaßlich als möglich ein wenig zu zeigen, was damals, um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, im deutschen Gedankenleben eigentlich geschehen ist. Nur skizzenhaft wird manches sein können, was ich zu sagen habe. Dieses deutsche Gedankenleben hat zunächst den Zugang zur eigentlichen geistigen Welt und dann auch zum lebendigen und unsterblichen Wesenskern des Menschen erschwert. Ich kann heute nicht eingehen auf den Wert und auf den Unwert der Kantschen Philosophie. Die offizielle Philosophie nennt Kant den Alleszermalmer und betrachtet sein Lehrgebäude als eine philosophische Tat allergrößten Ranges. Ich möchte heute nur an ein Wort erinnern, das vielleicht auch bei denen bekannt ist, die nicht Gelegenheit haben, tiefer einzudringen in die Sache, an das Wort vom «Ding an sich».

Das menschliche Erkenntnisvermögen im Sinne der Kantschen Philosophie ist begrenzt. Zum «Ding an sich» kann es nicht vordringen. Welche Vorstellungen und Begriffe wir uns auch bilden, was wir auch erfahren in der Welt, wir haben es im Sinne der Kantschen Philosophie mit Erscheinungen zu tun, nicht mit dem wahrhaften «Ding an sich». Das verbirgt sich immer hinter den Erscheinungen. Damit ist vielleicht einer blinden Spekulationssucht Vorschub geleistet - und wir haben es an der Geistesentwickelung Deutschlands zur Genüge gesehen -, die das menschliche Erkenntnisvermögen nach allen Seiten abzirkeln und einengen möchte. Zu gleicher Zeit sollte aber der Tendenz des Menschen, zum Wahren vorzudringen, in die Tiefen des Daseins hineinzuforschen, ein Riegel vorgeschoben werden.

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Es sollte gezeigt werden, daß der Mensch nicht so ohne weiteres sich den Urquellen des Daseins nähern könne. Nun mag es wahr sein, daß solches bei dem Gang des Geisteslebens im 18.Jahrhundert notwendig war. Aber im großen, umfassenden Stile gesehen, hat die Kantsche Philosophie doch auch ein großes Hemmnis für die Weiterentwickelung des Geisteslebens geboren. Ich weiß zwar sehr gut, daß es Menschen gibt, die sagen: Was hat Kant im Grunde genommen anderes getan als alle diejenigen großen Geister, die immer betont haben, daß wir es mit Erscheinungen zu tun haben, daß wir zum «Ding an sich» nicht kommen können! - Das ist scheinbar richtig, in Wahrheit aber falsch. In ganz anderer Art behaupten die wirklichen Geistesforscher aller Zeit, daß die Welt nur aus Erscheinungen besteht. Kein wahrer Geistesforscher hat es jemals in Abrede gestellt, daß so, wie wir die Welt mit Sinnen erforschen, mit dem Verstande begreifen, sie uns nur Erscheinungen bietet, daß aber in uns höhere Sinnesorgane zu erwecken sind, die über das Gewöhnliche hinausgehen, die tiefer eindringen in die Quellen des Daseins und langsam und allmählich aber sicher zum «Ding an sich» hinführen können und auch hinführen müssen. Keine morgenländische Philosophie, keine platonische Philosophie, keine sich selbst verstehende, in den Geist dringende Weltanschauung hat jemals in einem andern Sinne von der Welt als einer Maja gesprochen. Nur immer so haben sie gesagt: Für das niedere menschliche Erkennen ist ein Schleier vor dem «Ding an sich», für das höhere menschliche Erkennen ist es so, daß dieser Schleier zerrissen wird, der Mensch kann eindringen in die Tiefen des Daseins. Die Aufklärung ist in der Behandlung der Frage in gewisser Beziehung durchaus in eine Sackgasse gekommen, und diese charakterisiert sich am besten in einem Ausspruch, den Sie in der Vorrede zur zweiten Ausgabe zu Kants Hauptwerk

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«Kritik der reinen Vernunft» finden, und bei dem sich die Aufklärung ertappen läßt bei ihrer Mutlosigkeit, weil sie nicht weiterkommen will. Da steht: «Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.» Das ist der Nerv der Kantschen Philosophie und jenes Denkens, zu dem das i8.Jahrhundert gekommen ist, und über das unser philosophisches Forschen noch immer nicht hinausgekommen ist, an dem es noch immer krankt. Solange es an dieser Krankheit leidet, wird die Philosophie nimmer berufen sein, die Theosophie zu verstehen. Was heißt das: «Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen»? Kant sagt: Das Ding an sich bleibt verborgen, folglich auch das Ding in unserer Brust. Wir wissen nicht, was wir selbst sind, wir können nie zur wahren Gestalt der Dinge kommen.Wie aus unbestimmten Welten tönt der sogenannte kategorische Imperativ herein: Du sollst dies oder jenes tun. - Wir hören es, beweisen können wir es aber nicht. Wir müssen es eben glauben. Ebenso hören wir von dem göttlichen Wesen. Wir müssen dasselbe glauben. Ebensowenig wissen wir von dem Schicksal der Seele, von der Unsterblichkeit und von der Ewigkeit. Wir müssen sie glauben. Für diese Dinge, die den Menschen mit dem Göttlichen verbinden, gibt es nur Glauben, da kein Wissen in das Göttliche hineindringen kann. Der Mensch glaubt das Wissen, wenn er sich vermißt, in das Göttliche hineinzudringen. Dieses Göttliche wird dadurch verfälscht, durch wüste Spekulation in ein unrichtiges Licht gestellt. Deshalb wollte Kant alles Geistige hübsch für den bloßen Glauben retten und Erkennen - das, was man wissen kann - beziehen nur auf die äußeren Eindrücke, die Erscheinung. Was Sie sonst auch immer lesen und studieren können über diese Kantsche Philosophie, dieser Gedanke ist das Wesentliche, worauf es ankommt. Dieser Gedanke wurde zum Wesent-

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lichen im weiteren Ausbau des Kantschen Gedankens. Der aber, der entschieden gebrochen hat mit diesem Gedanken, der aus einer kühnen inneren Geistesverfassung heraus gebrochen hat mit diesem Gedanken, ist Johann Gottlieb Fichte.

Es ist eine eigentümliche Sache, daß unter den theosophischen Denkern des modernen Indiens, unter den Wiedererneuerern der Vedantaphilosophie in der letzten Zeit eine ganz merkwürdige Entdeckung gemacht worden ist - die namlich, daß die Deutschen einen großen Denker haben und daß der Johann Gottlieb Fichte heißt. Das sagt ein Inder, der unter dem Namen Bhagavan Das schreibt. Ich habe deutsche Theosophen kennengelernt, die durch ihn erst erfahren haben, daß Johann Gottlieb Fichte ein tiefer deutscher Denker ist.

Es kann einem in dieser Beziehung viel passieren. Vor Wochen war ich in einer süddeutschen Stadt. Da sagte mir einer der theosophischen Freunde: Wir haben jetzt hier einen Universitätsdozenten, der meint, es wäre gut, wenn die Leute Fichte studierten, denn - meinte er - er sei darauf gekommen, daß in Fichte viele tiefe Gedanken sind. - Ein merkwürdiges Geständnis eines deutschen Universitätsprofessors! Wenn mehr als ein Jahrhundert nach Fichte ein deutscher Universitätsprofessor auch ein bißchen die Entdeckung machen kann, daß Fichte etwas Großes geleistet hat, so wirft das ein eigentümliches Licht auf diese Art deutscher Gelehrsamkeit. Fichte hat nämlich nicht aus der Spekulation heraus, sondern aus der ganzen Tiefe seines Wesens, im letzten Jahrzehnt des i8. Jahrhunderts, unter seinen Jenenser Studenten die Lehre von dem Ich, von dem menschlichen Selbstbewußtsein vertreten. Er hat sie nicht genau so vertreten, wie wir sie heute vom geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkt aus vertreten, aber er hat sie so vertreten, daß, wenn durch seine Art eine Anzahl Menschen

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ihindurchgegangen wären, wenn sie sich selbst erzogen hätten an seinen großen gedanklichen Forderungen, sie dann in einer gesunden, in einer hellen, das eigentliche Innere beleuchtenden Art zur Theosophie gekommen wären. Nicht umsonst wirkten dazumal die Reden Johann Gottlieb Fichtes begeisternd auf die Jenenser Studenten. Denn in ihm lebte das Folgende. Trotzdem er auf den Höhen des Gedankens wandelte, trotzdem er in den reinsten, kristallklarsten und logisch schärfsten Gedanken sprach, drückte sich in diesen Gedanken zugleich eine ganz warme und tiefe unmittelbare Persönlichkeit und Wesenheit aus. Als das, was ihn am tiefsten selbst charakterisiert, hat er das Wort ausgesprochen, daß ein jeder eine Philosophie hat, je nachdem, was er für ein Mensch ist. Wenn man das trivial ausdrückt, so könnte man sagen: Gar nicht darauf kommt es an, ob einer gut oder schlecht logisch denken kann, denn man kann eine hohle Philosophie sehr gut logisch begründen, auf den Scharfsinn kommt es nicht an, sondern auf die innere Erfahrung, auf das, was man erlebt, was man mit seinen ganzen Seelenkräften ergründet hat. Das drückt sich in der Sprache aus. Ist einer auch ein flacher Materialist, so kann er doch ein scharfer Logiker sein, und es kann anderseits einer Spiritualist und ein schwacher Logiker sein. Man beweist nicht eine Weltanschauung, sondern die Weltanszauung ist der Ausdruck des innersten Menschen, der inneren Erfahrung. Das ist dasjenige, was Fichte nicht nur ausgesprod~en hat, sondern was er dargelebt hat. Angeregt worden ist er durch Kant. Aber wie man angeregt wird durch das, wozu man die Gegenseite, die Kehrseite hinzufügen kann in seinem Inneren - denn da gehen dem Menschen die tiefsten Organe auf -, das war Fichte doch klar.

Nun folgen Sie mir, ich möchte sagen, für einen kurzen Augenblick in die eisigen, aber nicht minder wichtigen Gedankenregionen.

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aus denen Fichte das Wesen des Selbstbewußtseins geholt hat. Ich schildere nicht mit seinen eigenen Worten, denn das würde hier zu schwer sein, aber doch mit Andeutungen, die deshalb nicht weniger die Wahrheit enthalten. Ich möchte das sagen, was er seinerzeit vor seine Jenenser Studenten hingezaubert hat: Eines gibt es für jeden, worin ihm sich das «Ding an sich» ankündigt, worin er sich zum Ausdruck bringt, das ist das eigene Innere. Blicke da hinein und du wirst etwas entdecken, was du zunächst sonst nirgends entdecken kannst. - Wir sehen, daß Fichte wußte, daß nicht ein jeder das entdeckt, was er da zu entdecken hat, denn er sagt ein sehr schönes, wenn auch für die meisten Menschen grobes Wort. Er sagt: Wenn die Menschen wirklich zur Selbsterkenntnis kommen könnten, so würden sie das Bedeutsamste in sich finden. Aber es gibt wenige, die dazu kommen, denn sie halten sich lieber für ein Stück Lava auf dem Monde als für ein selbstbewußtes Wesen. - Was ist für unsere Zeit das Selbstbewußtsein? Der eine stellt es dar als ein Konglomerat von Gehirnatomen. Aber darauf ausgehen, sich selbst zu erkennen, das tut er nicht. Es macht nicht viel Unterschied, ob man sagt, Konglomerat von Gehirnatomen oder Molekülen oder ein Stück Lava auf dem Monde. - Hier macht Fichte klar darauf aufmerksam, daß jene Erkenntnis des Inneren, welche bloß beobachten will, wie es ist, nicht die richtige Erkenntnis des Inneren ist. Denn das Sein des Menschen in seinem Inneren unterscheidet sich von jeglichem andern Sein. Wodurch unterscheidet es sich? Es unterscheidet sich dadurch, daß zum Sein des Menschen Entschluß gehört, Tat gehört. Das ist eisige Gedankenregion, aus der wir bald in blumige Gefilde kommen wollen. Fichte nennt Selbsterkenntnis nicht ein Brüten in sich hinein, nicht ein Sich-Anschauen, nein, sie ist für Fichte Tat, Tathandlung. Das ist ein Wort, das einen

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von der falschen Selbsterkenntnis hinführt zur wahren Selbstentwickelung. Der Mensch kann nicht einfach in sich hineinschauen, um zu erkennen, was er ist. Er hat sich das selbst zu geben, was er werden soll. Er hat sich in das Göttliche der Welt hineinzuversenken und aus dem Wesen der Gottheit die Funken zu holen, durch die er sein eigenes Selbst fortwährend anzufachen hat. Einen Stein betrachten wir. Er ist, was er ist. Wir erkennen ihn. Die Pflanze betrachten wir. Sie ist, was sie ist. Selbst unseren eigenen Leib, unseren Äther- und Astralleib betrachten wir. Sie sind ebenso das, was sie sind. Der Mensch ist erst das, was er selbst aus sich macht, und eine intime Tätigkeit, nicht eine tote Erkenntnis ist die Selbsterkenntnis. Indem Fichte das Wort Tathandlung gebraucht, sagt er etwas, was in dieser bedeutungsvollen Art nur noch von der alten Vedantaphilosophie gesagt ist. Er hat den Punkt erreicht, der eben von den Theosophen wieder gesucht wird. Oft und oft habe ich es hier gesagt, daß die Theosophie zeigen will, wie der Mensch sich hinaufringt zum Göttlichen, wie sie die im Menschen selbst schlummernde göttliche Kraft anregen soll, womit dann der Mensch auch das Göttliche um sich herum gewahr wird. Ganz dasselbe erstrebt Fichte. Die falsche Selbsterkenntnis, sagt er, bestünde darin, daß man sagt: Blicke in dich hinein, in dir findest du den Gott. - Die richtige Selbsterkenntnis sagt etwas anderes. Sie sagt: Wenn du in dich hineinbrütest, so wäre es so, wie wenn du in dein eigenes Auge hineinschautest. Das ist aber nicht die Aufgabe des Auges. Wir lernen das Licht durch das Auge kennen. So lernen wir auch durch die Seele das Licht des Ich kennen. Mit dem Auge läßt sich das Erwecken des inneren Selbst vergleichen. Ebensowenig wie Sie in dem Organismus die Seele finden, in dem Auge das Licht, ebensowenig finden Sie in sich selbst den Gott. Aber wir finden die Möglichkeit, die

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Organe auszubilden, um diesen Gott zu finden. Die Tätigkeit im Ich, die unsere Geistorgane ausbildet, das ist das Sein, das sich der Mensch selbst gibt. Das ist die Tathandlung, das ist Fichtes Selbsterkenntnis. Von diesem Punkte geht es von Stufe zu Stufe bei Fichte hinauf. Lebt man sich ganz ein, erzieht man sich zu seinen Gedanken, dann findet man einen gesunden Einlaß in die Theosophie, und keiner wird es jemals zu bedauern haben, wenn er in die kristallklaren Gedankengänge Johann Gottlieb Fichtes sich einlebt, denn er findet den Weg zum geistigen Leben.

Nun gibt es aber eine merkwürdige Tatsache: Johann Gottlieb Fichte fehlt gerade da, wo er in diese Ätherhöhen des Gedankens hinaufgestiegen ist, diejenige Anschauung, zu der er damals nicht gekommen ist, welche aber durch die geisteswissenschaftliche Weltanschauung wie eine Lösung des Welträtsels wiedergebracht worden ist: die Lehre von Karma und Wiederverkörperung. Man braucht das nur einzusehen, dann wird man es auf seinen eigenen Entwickelungsgang anzuwenden verstehen. Die Menschen möchten gern alle Zeiten nach derselben Scbablone beurteilen. Aber der menschliche Geist ist in fortwährender Entwickelung, und jedes Zeitalter hat andere Aufgaben. Jenes Jahrhundert, dessen Abschluß in gedanklicher Beziehung Johann Gottlieb Fichte bildet, hatte die Aufgabe, die menschliche Persönlichkeit zu emanzipieren. Das war die gute Seite der Aufklärung. Die Persönlichkeit aber ist dasjenige Glied in der menschlichen Natur, welches gerade nicht wiederkehrt, so wie es ist. Unser tiefster Wesenskern, der innerhalb der Persönlichkeit sich zum Ausdruck bringt, der kehrt wieder in den verschiedenen Erdenleben. Aber das einzelne Erdenleben, das drückt sich in der Persönlichkeit aus.

Fassen wir nun einmal richtig das Wesen der Persönlichkeit ins Auge. Wir haben im Grunde genommen vier menschliche

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Hüllen, die aber nicht etwa wie Zwiebel schalen vorzustellen sind: den physischen Leib, den Ätherleib, den Astralleib und darinnen dasjenige, was sich der Mensch selbst erarbeitet, seinen veredelten Astralleib, das, woran das Ich des Menschen schon gearbeitet hat. Diese vier Hüllen haben wir. Darin steckt aber erst der unvergängliche ewige Wesenskern des Menschen, die sogenannte geistige Dreiheit: Manas, Buddhi, Atma - Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch. Diese gehen von Erdenleben zu Erdenleben und gehen dann zu höheren Daseinsstufen hinauf. Die letzte äußere Hülle ist dasjenige, was in der Persönlichkeit zum Ausdruck kommt. Sie hat noch eine andere Bedeutung und die hat sie immer mehr in der Menschheitsentwickelung erhalten. Wenn wir in die alten Zeiten zurückgehen, finden wir, daß die Menschen in den früheren Jahrhunderten immer weniger auf die Individualität gaben, dafür wurde die Persönlichkeit immer mächtiger und mächtiger. Man verwechselt heute leicht die Begriffe von Individualität und Persönlichkeit. Die Individualität ist das Ewige, das sich von Erdenleben zu Erdenleben hindurchzieht. Persönlichkeit ist dasjenige, was der Mensch in einem Erdenleben zu seiner Ausbildung bringt. Wenn wir die Individualität studieren wollen, so müssen wir auf den Grund der menschlichen Seele sehen, wollen wir die Persönlichkeit studieren, so müssen wir sehen, wie sich der Wesenskern auslebt. Der Wesenskern wird in das Volk, in den Beruf hineingeboren. Das alles bestimmt die innere Wesenheit, das verpersönlicht sie. Bei einem Menschen, der noch auf untergeordneter Stufe der Entwickelung ist, wird man wenig von der Arbeit an seinem Inneren bemerken können. Die Ausdrucksweise, die Art der Gesten und so weiter ist eben so, wie er sie von seinem Volke hat. Diejenigen sind aber die fortgeschrittenen Menschen, die sich die Ausdrucksweise und Gesten aus ihrem

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Inneren heraus geben. Je mehr das Innere des Menschen an seinem Äußeren arbeiten kann, desto höher entwickelt das den Menschen.

Man könnte nun sagen, so kommt also die Individualität in der Persönlichkeit zum Ausdruck. Derjenige, der seine eigenen Gesten, seine eigene Physiognomie, selbst in seinem Handeln und in bezug auf die Umgehung einen eigenartigen Charakter hat, hat eine ausgesprochene Persönlichkeit. Geht das nun beim Tode alles verloren für später? Nein, das geht es nicht. Das Christentum weiß ganz genau, daß das nicht der Fall ist. Was man unter der Auferstehung des Fleisches oder der Persönlichkeit versteht, ist nichts anderes als die Erhaltung des Persönlichen in alle folgenden Inkarnationen hinein. Was der Mensch als Persönlichkeit errungen hat, bleibt ihm, weil es einverleibt ist der Individualität und diese es fortträgt in die folgenden Inkarnationen. Haben wir aus unserem Leib etwas gemacht, was einen eigenartigen Charakter hat, so steht dieser Leib, diese Kraft, die da gearbeitet hat, wieder auf. So viel wir an uns selbst gearbeitet haben, so viel wir aus uns selbst gemacht haben, ist unverloren an uns. Diese Erkenntnis dem Menschen ganz zum Bewußtsein zu bringen, das ist etwas, was noch nicht geschehen ist. Das wird durch die Theosophie geschehen. Aber es zu einem unbestimmten Gefühl zu bringen, das war die Aufgabe der Aufklärung. Gezeigt hat sie die Aufgabe der Persönlichkeit. In einem kristallklaren Ideengebäude hat Johann Gottlieb Fichte die Idee der Persönlichkeit in ihrer ewigen Bedeutung hingestellt. Und da ergibt sich unmittelbar das Richtige für die Epoche der Erfassung des Ewigen in der Persönlichkeit, des Unvergänglichen in der Persönlichkeit. Das ist durch Fichte geschehen. Oft hat man gesagt, die großen Menschen haben die großen Fehler ihrer großen Tugenden, und weil Fichte in einzigartiger Weise die Persönlichkeit

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mit dem Gedanken auszumessen verstanden hat, drang er nicht bis in die Individualität hinein; auch seine Nachfolger nicht. Aber sie haben den Gedanken eingesenkt in die Persönlichkeit, und wer ihn da findet, der wird ihn, wenn er an die Geisteswissenschaft herantritt, auch in gesunder Weise durch die wiederholten Erdenleben hindurchtragen. Nicht auf Dogmen kommt es an, sondern auf die Erziehung, die wir in seinem Geiste gewinnen können. Und ein Erzieher im eigentlichen Sinne kann Johann Gottlieb Fichte werden.

Es kommt nicht darauf an, daß wir sklavische Schüler eines solchen Mannes werden, sondern daß wir durch die Kraft, durch die er gegangen ist, auch hindurcbgehen. Wir werden dann durch seine Kräfte in einem andern Zeitalter vielleicht zu andern Gedanken kommen.

Das ist die Art, wie man sich einem solchen Geiste gegenüberstellt. Das hat zu seiner Zeit einen bestimmten Ausdruck gefunden. Was er für ein Mensch war, das kann uns erziehen und in ferner Zeit einen schönen Ausdruck finden. So wenig dogmatisch ist die Geisteswissenschaft, daß sie hin- führt zu den großen Individualitäten und zeigt, daß wir aus ihnen noch mehr lernen können, als was sie gesagt haben. Der Ausdruck von dem, was sie sind, ist die Sprache. Aber es lebt in jedem Menschen mehr als der Ausdruck, es lebt in ihnen die unsterbliche Seele und zu der können wir uns erheben als zu dem wahren Wesenskern. Deshalb war Fichte schon im höchsten Grade anregend für solche, die damals, am Ende des i8. Jahrhunderts, zu seinen Füßen gesessen und zugehört haben, wie er mit weltumspannenden Gedankenfäden die menschliche Persönlichkeit ausgemessen hat, und dadurch angeregt wurden, in Gedanken vorzudringen zur Seele und aus ihr noch ganz andere Schätze herauszuholen, als Fichte selbst es getan hat.

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Einer von denen, die dagesessen haben zu Fichtes Füßen und verehrungsvoll zu ihm aufgesehen haben, einer von denen, durch welche so die philosophischen Ideen heraus- geholt worden sind, das war der jung verstorbene deutsche Theosoph Novalis. Er starb um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, noch nicht dreißig Jahre alt. Wer sich in seine Werke vertieft, wird durch die schönste Schulung für die Theosophie hindurchgehen. Vielleicht könnte es für den, der in der abendländischen Wissenschaft erzogen ist, zu- nächst eine viel bessere Elementarschulung sein, durch Novalis` gewaltige Lichtblitze hindurchzugehen, als durch die im Abendlande doch mehr oder weniger fremd bleibende Bhagavad Gita oder ähnliche orientalische Schriften. Gerade jetzt ist es möglich, sich ganz hineinzuversenken in das, was diese große Seele geleistet hat. Es ist ein Buch von ihm herausgekommen, in dem er schildert, wie ein junger Mensch, der durch große Geologen und mineralogische Werke eingeführt wird in den Weltenbau unter der Erde, in die geologischen Schichten der Gesteine und Mineralien, sogleich Gedanken bekommt wie: Euch, ihr Gesteine, suche ich nur, was ihr aber sagt, suche ich unaufhörlich. - Runen, Buchstaben, Worte waren ihm die Steine, die er als Bergmann unter der Erde prüfte, für geistige Wesenheiten, die in der Erde schaffen und jedes einzelne Gestein hervorbringen. Geist und Seele sah er in der Erde, und jeder Stein war ihm der Ausdruck für das, was ihm die Erde zu sagen hat. Eine Runen- kunde wurde ihm die Mineralogie und Geologie, und zu dem Geiste der Erde suchte er vorzudringen, während sein großer Lehrer ihm die Schichten und Ähnlichkeiten der Gesteine klarmachte. Gerade die in der tiefen Erde Arbeitenden werden häufig zu tieferen Weltanschauungen geführt. Nicht zum wenigsten waren es Bergleute, die tiefe Blicke in die geistige Welt getan haben. Das Verweilen unter der

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Erde hat eine eigentümliche Wirkung auf die geistige Erfahrung.

Aber noch etwas trat bei Novalis hervor. Um es zu verstehen, brauchen wir uns nur zu erinnern, daß an der Eingangspforte der Schule Platos die Worte standen: Keiner soll hier Einlaß finden, der nicht durch die Geometrie oder die Mathematik hindurchgegangen ist. - Die platonische Schule legte ihre elementaren Kenntnisse in geometrischen Formen dar, und Novalis, der in so großen Lichtblitzen hineingeleuchtet hat in die Geheimnisse des Daseins, verehrte die Mathematik wie eine Religion. Ihm ist sie etwas Heiliges. Nehmen Sie dieses als psychologisches Phänomen eigentümlicher Art. Es sind merkwürdige Menschen, die bei den abstrakten Linien der Mathematik und Geometrie etwas Heiliges und etwas wie Musik zu empfinden vermögen. Wie sich Kreise und Winkel zusammen gruppieren, wie sich die verschiedenen Formen: Polyeder, Dodekaeder und so weiter aufbauen - wenn man das nicht so aufnimmt wie in unseren Schulen, sondern sich hineinzuvertiefen verinag in die innere Musik des Raumes, dann kann man etwas herausfühlen von dem, was von Novalis kommt, wenn er über Mathematik spricht. Für ihn ist sie der Zugang zur unendlichen Wahrheit.

Dann hörte er Fichte, und von ihm die großen Wahrheiten über das Ich als Persönlichkeit. Sodann sehen wir, wie sich in diesem merkwürdigen Geist in gewisser Weise fast der ganze Okkultismus spiegelt. Für den, der in dieser Beziehung Kenntnisse hat, ist Novalis eine eigenartige Persönlichkeit. Er ist eine Persönlichkeit, die in früheren Inkarnationen bereits die tiefste Einweihung erfahren hatte. Alles war Erinnerung, was er in dem letzten, dem dritten Jahrzehnt seines Lebens durchgemacht hat. Das zeigt sich an seinem Leben, daß es mehr Erinnerung an frühere Inkarnationen

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als an die jetzige war. Das zeigt sich an seiner Phantasie. Ganz Phantasie sind die früheren Inkarnationen in Novalis geworden, weil die früheren Inkarnationen ihre Schatten warfen und hier als Kunstwerke ihren Ausdruck fanden. So müssen wir Novalis verstehen als ein eigenartiges, zartes und intimes Wesen. So steht er vor uns. Wenn Fichte uns seine messerscharfen Gedanken hinstellt und uns mitreißt durch diese Schärfe, dann ist Novalis wunderbar zart und abgetönt und zeigt das Geistesleben von einer ganz andern Seite. So ist er die notwendige Ergänzung für den, der die deutsche Vorstufe für die Theosophie durchgehen will. Unsere Besten haben diese Vorschule dazumal selbst durchgemacht. Viele Namen können wir nennen, die in ihrer Art, nach ihrem Charakter dazumal einzudringen versuchten in die Wahrheiten, die die Geisteswissenschaft heute der Menschheit wiedergibt. Es sind lauter Namen, die mehr oder weniger bekannt sind, deren Träger man aber tiefer betrachten muß.

Zunächst haben wir Schelling. Wenn wir seine Jugendschriften, da wo er selbständig geworden ist, auf uns wirken lassen, so wirkt er so stark auf den, der sich mit ihm einläßt, weil er einen Gedanken des Paracelsus in der damals üblichen Weise zum Ausdruck brachte. Dieser Gedanke kam nicht nur bei Schelling, sondern auch bei dem großen Steffens, und namentlich bei dem Naturforscher Oken, dem großen Vorgänger der modernen Entwickelungslehre und Begründer der deutschen Naturforscherversammlung, zum Ausdruck. Dieser Gedanke ist ein eminent theosophischer. Er war in der Naturwissenschaft üblich, auch in der Philosophie eines Schelling und Steffens, auch in derjenigen des Novalis. Es sagten diese Denker: Wenn wir hinausschauen in die Welt, so sehen wir eine Anzahl von Tieren. Jedes Tier stellt uns gewisse menschliche Eigenschaften in einer

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einseitigen Ausbildung dar. Was die Amphibien haben, was die Schnecken haben, es findet sich auch im Menschen. Jene Schnecken, Amphibien und so weiter haben physisch etwas Einseitiges. Wenn man aber ein Ganzes daraus macht, dann bekommt man den harmonisch ausgebildeten Menschenleib, der alles, was draußen ausgebreitet ist, zusammenfaßt. Wie Paracelsus sagt, finden wir draußen in der Natur Buchstaben, und wenn wir diese zusammensetzen, ergeben sie ein Wort und dieses Wort ist der Mensch. Ein großer Theosoph - nicht ein deutscher - des 18. Jahrhunderts hat gerade dieses Prinzip zur Grundlage seines ganzen theosophischen Forschens gemacht. Deshalb ist er soweit gekommen, zu sagen: Wenn wir den Menschen anschauen, so sehen wir im Grunde genommen die ganze übrige Tierwelt. Das ist das entgegengesetzte Prinzip von dem, wie man heute diese Dinge studiert. Die Entwickelungstheoretiker der damaligen Zeit sagten anderes als die der heutigen Zeit. Sie sagten: Wenn du hier einen Menschen stehen hast, von dem du nicht weißt, daß er zum Beispiel ein großer Uhrmacher ist, dann wirst du den Menschen nicht erkennen können. Du müßtest dich zunächst einmal vertiefen in seinen Scharfsinn, der ihn dazu bringt, das zu schaffen, was er hervorbringt. Das, was er hervorbringt, darauf kommt es an. Die Natur hat aber als Schlußstein den Menschen hervorgebracht. Da hast du das Kompendium der ganzen Natur. Wenn du das so auffaßt, dann wirst du die Natur verstehen. - Man muß die übrige Natur aus dem Menschen erkennen und nicht den Menschen aus der Natur. Führt man das wirklich durch, dann versteht man auch, wie es in einer gewissen Spiegelung bei Schelling und Oken hat auftreten können. Bei Schelling und Oken können Sie es lesen: Die Schnecke ist das Tast-Tier, das Insekt ist ein Licht-Tier, der Vogel ein Hör-Tier, das Amphibium ein Gefühls-Tier, der Fisch ein Riech-Tier.

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Dadurch drücken sie aus, wie sich die Sinne auf die einzelnen Tiere verteilen. Im Menschen sind sie harmonisch enthalten. Man braucht die Eigenschaften des Menschen nur aufzuteilen, dann versteht man die übrige Natur.

Im Jahre 1809 veröffentlichte Schelling eine Schrift, die für die Theosophie von großer Bedeutung ist. Er hatte nämlich die Bekanntschaft mit dem tiefen deutschen Denker Jakob Böhme gemacht. In ihn hat er sich vertieft, und so hat er die Natur des Bösen und ihren Zusammenhang mit der Freiheit kennengelernt. Das finden Sie in seiner «Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit». Da zeigt er, daß Gott das Licht ist und daß aus dem Licht alles kommt, was leuchtet, daß aber das Licht in die Finsternis hineinscheinen muß und daß überall, wo Licht ist, Schatten entsteht. Nur durch diesen Vergleich kann man sich klarmachen, was in dieser Schrift steht. Wenn Sie die Sonne in eine Finsternis hineinscheinen lassen, so entsteht Schatten; Schatten muß kommen, wenn das Licht da ist, aber das Licht erzeugt ihn nicht. Daher sagt er, aus dem göttlichen Urgrund des Lichtes kommt alles Große in der Welt. Aber so wie dem Lichte die Finsternis entgegensteht, so steht dem Urgrund der Ungrund gegenüber, und aus diesem kommt der Schatten des Guten: das Böse. Das ist die Andeutung einer unendlich tiefen Auseinandersetzung. Und wiederum kann man sich heranerziehen zum theosophischen Leben, wenn man das in sich aufnimmt. Noch eine andere Schrift von Schelling ist bedeutsam: «Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge». In schöner Dialogform, wie bei Plato, wird hier über den Zusammenhang des Seelischen und Geistigen im theosophischen Sinne abgehandelt. Deshalb wäre Schelling imstande, selbst Theosoph zu werden. Er hat es verstanden, inneres Schauen zu üben. Schelling war zuerst auch begeisterter Lehrer an der

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Jenenser Hochschule, hat dann noch an andern Stätten gewirkt und zog sich endlich ganz zurück. In München lebte er lange Zeit und war lange mit dem Geiste zusammen, der Jakob Böhme in so schöner Weise im 19. Jahrhundert wieder erneuert hat: mit Baader. Anregen hat sich Schelling lassen durch Baader. Nur wenig hat er in der Zeit geschrieben. 1809 ist seine Schrift über die Freiheit entstanden. Dann hat er fast nichts mehr geschrieben bis zu seiner Berufung nach Berlin durch den König Friedrich Wilhelm IV., der nach bestimmten Richtungen angefochten werden kann, der aber da, wo es sich um Einsichten in große, tiefe und innere geistige Zusammenhänge handelt, noch immer nicht genügend erkannt ist. 1841 wurde Schelling also nach Berlin berufen. Er sollte das, was er so lange durchlebt hat, vor den Studenten darstellen. Zwei Vortragsreihen hat er gehalten: über «Philosophie der Mythologie» und über «Philosophie der Offenbarung». Da führte er hinein in das Wesen der alten Mysterien und zeigte, wie aus ihnen heraus das Christentum entstanden ist und worum es sich beim Christentum handelt. Man kommt dann ganz von selbst heute, wo wir mehr als ein halbes Jahrhundert später leben, zu Reinkarnation und Karma. Wenn man sich in die Philosophie der Mythologie und in die Philosophie der Offenbarung vertieft, so findet man: das ist Theosophie. Aber alle die Flachlinge jener Zeit haben sich aufgehalten darüber. Sie konnten nicht verstehen, was Schelling damals vortrug. Wenn sich die Theosophen einmal in diese Schriften vertiefen wollten, sie würden sehen, aus welchen Tiefen das alles geschöpft ist.

Fichte durfte, weil er einer derjenigen war, die den Menschen die Augen eröffnen wollten, von einem besonderen geistigen Sinn sprechen. Im Grunde genommen hat Fichte schon im Jahre 1813 die Definition der Theosophie gegeben. Er sagte: Trete als ein Sehender in eine Welt von lauter

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Blinden und sprich ihnen von Farben und Licht. Entweder du redest ihnen von nichts - und dies ist das Glücklichere, wenn sie es sagen, denn auf diese Weise werdet ihr bald den Fehler merken und das vergebliche Reden einstellen - oder die Geistvolleren werden sagen, ihr seid Phantasten. - So geht es allen denen, die mit einem besonderen Sinn begabt sind. Sie treten wie unter Blinde. Aber bei allen kann dieser Sinn wachgerufen werden, bei dem einen langsam, bei dem andern schneller. Durch den besonderen Sinn zeigt Fichte ganz klar, daß er wußte, worauf es in der Theosophie ankommt. Das war die wirkliche Definition von der Theosophie. Auch andere haben aus solchen Quellen geschöpft, aus solchen Strömungen des Seelen- und Geisteslebens.

Sodann möchte ich aber vor allen Dingen noch an Hegel erinnern. Ich kann mich nicht darauf einlassen, Ihnen noch die eigenartige Anschauung Hegels auseinanderzusetzen. Und erinnern möchte ich auch an den Namen einer außerordentlich liebenswürdigen Persönlichkeit, an Gotthilf Heinrich von Schubert, der Bücher geschrieben hat über das Wesen der Seele. Schelling schrieb noch im Jahre 1850, als die sechste Auflage eines Buches über das Wesen der Seele erschienen war, an Schubert: Sie sind es, der eigentlich in einer glücklicheren Lage ist, als ich. Ich muß mich einlassen auf die weltumspannenden Gedanken, die in das geistige Leben hineinführen. Sie aber leben die intime Seite, die dem Menschen aufstößt, wenn er die Seele nach allen Intimitäten erforscht. - Das Leben und Weben der Seele hat Schubert studiert, das auf dem Grenzgebiet liegt zwischen Bewußtsein, Halbbewußtsein und Unbewußtsein, aber auch an der Grenze zwischen Alltagsbewußtsein, Traum und Hellsehen. Bei Schubert finden Sie schon Ausführungen über das Gesetz, das die Traumwelt beherrscht. Darüber können Sie

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vieles bei ihm finden. Er hat den Swedenborg studiert in der Zeit, in der es durch große Gedanken möglich war, in gesunder Weise hinzuweisen auf diese Eigenarten des menschlichen Geisteslebens. Er hat die Anschauung vertreten, daß es einen Ätherkörper gibt und daß es einen noch höheren Ätherkörper gibt als denjenigen, der sich nach dem Tode bei jedem Menschen auflöst. Auf das, was die Vedantaphilosophie den «feinen Leib» nennt, hat schon Schubert hingewiesen. Er hat eine sehr schöne Auseinandersetzung über diesen höheren Leib des Menschen geschrieben. Sie können da schöne Bemerkungen bei ihm finden.

Wie damals schon die einzelnen Strömungen ineinandergeflossen sind, das können Sie sehen hei einem Dichter, der diese Dinge in seine Dichtungen hineingeflochten hat, bei Heinrich von Kleist, der in dem «Prinzen von Homburg» einen eigentümlichen Prinzen hingestellt hat und der auch «Das Käthchen von Heilbronn», eine so eigenartige Gestalt, geschaffen hat. Angeregt dazu war er durch Vorträge über den Somnambulismus und über ein höheres Geistesleben geworden.

Von einem Vorwesen der Seele spricht Schubert; er erörtert auch die Frage der Reinkarnation. Sie erschien ihm damals noch nicht christlich. Aber er spricht von einem Vorwesen, dessen Schicksal er genau verfolgt. Aus diesem heraus entsteht dann das geistvolle Buch von Justinus Kerner: «Die Seherin von Prevorst». Als im 18. Jahrhundert das Buch über diese eigenartige Frau erschien, da hatte er für die Erklärung außerordentlich viel Theosophie. Vor allen Dingen schon in der Grunddefinition, die er über diese Seherin gibt, erkennt der Okkultist den Sachverständigen in Justinus Kerner. Er war es, weil er in der Zeit lebte, die solche Gedanken hatte, wie ich sie kennzeichnete. Er sagt von der Seherin von Prevorst, nachdem sie zwei Kinder hatte und

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somnambul im höchsten Grade war, daß die seelisch-geistige Welt rings um sie herum offen war und daß sie die geistige Seite der Menschen beobachten konnte. Er schildert sie so: Denke dir jemand im Momente des Todes festgehalten, so daß der eigentümliche Zustand einige Jahre lang anhält; das Heraustreten des Ätherleibes und die eigentümliche Beziehung des Astralleibes zum Ätherleib, das dauerte jahrelang. Dadurch, daß ihr seelischer Zustand so war, konnte sie, zum Beispiel wenn jemand ein Glied verloren hatte, den Ätherleib desselben, der noch vorhanden war, genau sehen. Sie konnte auch sonst viele Dinge wahrnehmen. Kerner gibt, wenn auch nicht auf der Höhe unserer Zeit stehend, so doch schöne, sachgemäße Erklärungen. Aufklärungen können Sie auch finden bei dem im Jahre 1803 verstorbenen Eckartshausen, der auch für die innere geistige Entwickelung geschrieben hat. «Kostis Reise» oder auch «Die Hieroglyphen des Menschenherzens» sind Schriften, die geeignet sind, die menschliche Seele für ein höheres Schauen aufzuschließen. Er hat auch das, was er Seelenleib nennt, sachgemäß und in schöner Weise beschrieben. Manchmal recht anregend ist ein anderer: Ennemoser - der auch Theosophie geschrieben hat, viel über Lebensmagnetismus mitgeteilt und auch über das Mysterienwesen einiges sehr Schönes in seinen Werken dargestellt hat, und der auch viel dazu getan hat, die griechische Mythologie im richtigen Lichte zu zeigen. - So sehen Sie ein Gemälde von der ersten Zeit des 19. Jahrhunderts, von den ersten Gedanken, die erzieherisch für den Menschen wirken können, bis zu den Tatsachen, die die Theosophie mit unmittelbaren spiritualistischen Erfahrungen zusammenbringt. Alles das finden Sie damals in einer reinen und manchmal edleren Weise zum Ausdruck gebracht, als das später von den einschlägigen Schriftstellern dargestellt worden ist. Viel mehr kann man

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da lernen über magisches Geistesleben als in dem, was von Schindler oder Albertus erschienen ist.

Später ging das Interesse mehr und mehr über in ein Interesse, das ähnlich ist der Neugierde, dem bloßen Wissenstrieb. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war selbst bei solchen Geistern, die nicht sehr tief gegangen sind, der Trieb der Seele hinaufzusteigen in geistige Höhen, innere Seelenorgane zu entwickeln, ein Wissen davon, worauf es bei der Selbsterkenntnis und Selbstentwickelung ankommt, vorhanden. Novalis hat in wunderbaren Tönen im «Heinrich von Ofterdingen» über alles das zu sprechen gewußt. Den großen Schatz ehemaliger Einweihungserinnerung stellte er hin in dem, was er wie eine Erinnerung an frühere Leben hat. In «Die Lehrlinge zu Sais» stellt er dar, wie Hyazinth das Mädchen Rosenblüth kennenlernt. Nur die Tiere des Waldes wissen etwas von dieser ungemein feinen Liebe. Ein Weiser kommt und erzählt vom magischen Leben, von geistigen Geheimnissen. Der Hyazinth und auch sie bekommen Sehnsucht, hinzuwandeln zum Einweihungstempel der Isis. Aber niemand kann Aufschluß geben, welches der richtige Weg ist zum Einweihungstempel. Er wandert und wandert. Da läßt er sich ermüdet nieder unter schönen Naturgebilden, namentlich auch um dessentwillen, was die Natur zu ihm spricht. In geisterhafter Weise versinkt er in einen Traum. Der Tempel ist um ihn herum. Der Vorhang wird hinweggehoben von dem verschleierten Bild, und was sieht er? Rosenblüth. Liebenswürdig schildert er, wie Rosenblüth jenes Einheitsgefühl ist, die einheitliche Idee der ganzen Natur, wie sie sich erweitert zur ganzen Natur und wie er das verborgene Geheimnis sucht, das uns oftmals das Leben darstellt, das wir nur zu verstehen brauchen. So wird das wunderbar schön angedeutet. Und so können Sie bei Novalis wirklich

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wunderbar schürfen, wenn Sie sich darauf einlassen, wie intim er die Erfahrungen der damaligen Welt zum Ausdruck brachte.

Über Goethe, Herder und Schiller habe ich hier sprechen und zeigen dürfen, wie sie Theosophen waren. In denkbar wirklich theosophischester Weise spricht gerade Novalis das aus, was wie ein schöner Zug durch die ganze Zeit ging, was diese wie ein theosophisches Motto geistig beherrschte. Es Ist in den Worten enthalten: «Einem gelang es, er hob den Schleier der Göttin zu Sais. - Aber was sah er? Er sah - Wunder des Wunders - sich selbst.»

So tritt der Mensch, nachdem er die Organe des Geistes in sich entwickelt hat, heraus und sucht sich in der ganzen Welt. Nicht in sich sucht er sich, in der Welt sucht er sich und damit sucht er den Gott. Und dieses Suchen des Gottes in der Welt, wie es auch so schön bei diesem Geiste zum Ausdruck kommt: das ist Theosophie.

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SIEGFRIED UND DIE GÖTTERDÄMMERUNG Berlin, 22. März 1906

Es war eine Art Überraschung, als im 18.Jahrhundert die deutschen Gebildeten die Sage der Vorzeit, die Nibelungensage entdeckten. In der Tat war diese Sage, welcher wir die Gedanken der europäischen Völker über ihre Herkunft, über ihren Ursprung verdanken, Jahrhunderte hindurch wie vergessen. Kaum wußte man, was sich die Deutschen in alten Zeiten über die Morgendämmerung ihres Daseins erzählten, kaum wußte man davon etwas vom 12. bis ins 18. Jahrhundert hinein, und Geister, die in der Lage waren, die ganze Bedeutung eines solchen Fundes für das Seelenleben des deutschen Volkes zu erkennen, wie Goethe, schrieben insbesondere der Nibelungendichtung die größte Bedeutung zu. Dann lernte man kennen, wie das, was aus Handschriften des 12., 13. Jahrhunderts herausgeholt wurde, nur spätere Gestaltungen einer noch viel älteren Volksdichtung waren. In den Eddaliedern fand man diese älteren Gestalten der deutschen Sage aus der Vorzeit, die sich gleichsam nach Norden hinaufgeflüchtet haben, dann aber wieder den Weg zurück - zunächst durch die Gelehrsamkeit - machten und nun in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Grundlage abgaben für die wirklich große Erneuerung der Kunst durch den Dichtermusiker Richard Wagner. Richard Wagner suchte die Erneuerung der Kunst dadurch herbeizuführen, daß er Gestalten, die er die tiefste Grundlage vom menschlichen Schicksal aussprechen ließ, oder die uns durch ein besonderes, über das alltägliche hinausreichende Schicksal Interesse abgewinnen könnten, nicht aus dem Alltagsleben

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nahm, sondern er nahm dafür die ins über- menschliche idealisierten Gestalten der Vorzeit. Er wußte wohl, daß, was das menschliche Herz, die menschliche Seele an Geheimnissen birgt, sich nicht mit Gestalten oder Ereignissen der Alltäglichkeit sagen läßt, er wußte, daß gerade der Mythos, die Sage, eine Widerspiegelung dessen sein kann, was im Inneren der Menschenseele vorgeht. Das alltägliche Leben schon zeigt uns, wie jeder Mensch eigentlich ein Rätsel ist und unendlich viel mehr birgt, als wir mit den gewöhnlichen Sinnen und dem Verstande wahrnehmen können. Wir wissen, daß wir die Verpflichtung haben - wenn wir solche ideale Verpflichtung anerkennen -, die Menschen wie ein solches Rätsel zu betrachten, niemals mit unserem Urteil ihnen gegenüber abzuschließen. Wenn wir in uns nachwirken lassen, was ein Mensch in uns angeregt hat, dann wächst in der Tat seine Gestalt ins Übermenschliche. Darstellen können wir sie nur dadurch, daß wir die Züge vergrößern, und zwar in der richtigen Weise vergrößern, daß wir das Charakteristische herausstellen, ohne es zur Karikatur zu verzerren. Darin besteht die richtige Kunst innerer Menschencharakteristik.

Wie Wagner sich klar war, daß die Menschheit einmal - heute allerdings noch nicht - imstande sein kann, durch die gewöhnliche Sprache das Allerhöchste auszudrücken, wie er sich klar war, daß man zum gehobenen Element des Ausdruckes, zur Musik greifen muß, um das Tiefste der Seele hervorzubringen, so war er sich auch klar, daß er über das Alltagsleben hinaussteigen muß zu dem Mythischen. Welche Kraft, inneres Fühlen und Realität in diesem Mythos lebt, tritt uns in diesem Erneuerer der Kunst in überraschender Weise entgegen. Gerade durch Wagners Kunst ist vieles für die Vertiefung dieser Sagenwelt geschehen. Auch heute werden wir versuchen, vom geisteswissenschaftlichen Standpunkt

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in die Wirklichkeit dieser scheinbar unwirklichen Welt einzudringen, und Sie werden sehen, daß die Theosophie oder Geisteswissenschaft manches über den tieferen Kern dieser Sagen zu sagen haben wird. Denn von Nietzsche angefangen bis zu den andern Wagner-Erklärern ist mancher in der symbolischen Auffassung der Sage steckengeblieben. Das rührt davon her, daß es in unserer Zeit des materialistischen Denkens eigentlich schon etwas recht Großes ist, in dem Mythos sinnbildliche Hindeutungen auf große innere menschliche Wahrheiten anzuerkennen. Es ist natürIich unmöglich, daß ich heute die ganze Frage des Siegfried-Mythos vor Ihnen aufrolle; nur einige Gesichtspunkte werde ich angeben können, um zu zeigen, wie vom Standpunkte einer vertieften Geisteserkenntnis aus dieser Mythos Leben und Wirklichkeit gewinnt.

Die Siegfried-Gestalt ist ja zunächst aus der deutschen Fassung des Nibelungeniiedes bekannt. Sie wissen, Siegfried war imstande, sich unsichtbar zu machen. Er war im Besitze des Nibelungenhortes, des Goldes, an das viel gebunden ist: das äußere irdische Glück, aber zu gleicher Zeit auch ein gewisser Fluch, ein Verhängnis. Sie wissen auch, daß er sich Brünhilde anverlobt hat. Das ist ein Zug, der im deutschen Mythos nicht steht, ohne den aber der deutsche Mythos kaum verständlich wird. Sie wissen, daß er, indem er seinen Ehebund mit Kriemhilde eingegangen ist, er für Gunther gerade dann Brünhilde durch eine Täuschung erwirbt, nämlich dadurch, daß er in Gestalt eines andern erscheint, was dann zu seinem Verhängnis wird und zu seinem Tode führt. Sie wissen, daß Siegfried durch seine Gemahlin am Hunnenhofe bei Etzel oder Attila gerächt wird.

Das sind so die Hauptzüge der Siegfried-Gestalt. Die Züge in der deutschen Sage finden eine wesentliche Vertiefung in der nordischen, die uns noch etwas ganz anderes

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sagt. In der deutschen Sage finden wir Siegfried im Besitze der Tarnkappe, durch die es ihm möglich war, sich unsichtbar zu machen. In der nordischen werden wir von der Gestalt des Siegfried oder Sigurd hineingeführt in die GötterweIt. Dieser Göttermythos ist voll von Mysterien und Geheimnissen. Da erfahren wir - und ich kann nur die alleräußersten Umrisse andeuten -, daß die Götter selbst gezwungen waren, das Gold, das sie von den Nibelungen erworben haben, den Riesen zu übergeben als Entgelt für eine Schuld, die sie begangen haben. In Gestalt eines Lindwurms bewacht nun ein Riese diesen Schatz. Das ist ein bedeutsamer Zug, daß Siegfried, der Sprößling der alten Götter und sozusagen mit Wotan selbst verwandt, in seiner Jugend berufen ist, den Lindwurm, den Hüter des Goldes, zu überwinden. Dadurch wird ihm die Kraft, durch die er seine Macht erlangt. Durch wenige Tropfen vom Blute des Lindwurms, die er an seine Lippen bringt, ist er imstande, die Sprache der Vögel zu verstehen; er vermag also einen tiefen Blick in die Natur zu tun und verborgene Weisheit in sich aufzunehmen. Durch diese Vervollkommnung ist er imstande, sich der von Feuer und Flammen umgebenen Walküre Brünhilde zu nähern und sich ihr anzuverloben, er, der sich selbst den Nibelungenschatz im Kampfe gegen den Lindwurm erobert hat.

Dieser Siegfried ist ein Sagentypus, der uns vielfach in den Dichtungen der Weltliteratur entgegentritt. Er ist der Überwinder eines Drachen, der in das Blut des Drachen ein getaucht wird und dadurch besondere Vollkommenheiten erringt, der sich die Macht erwirbt, sich unsichtbar zu machen und sich einer Frauengestalt zu nähern, zu der man nur durch Feuer und Flammen dringt. In den einzelnen Abstammungsphasen von den Göttern liegen ganz bedeutsame uralte Anschauungen verborgen, die sich zum Teil

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sogar einer jeden öffentlichen Erörterung entziehen, weil sie in Gebiete hinein führen, die zu den allertiefsten des Okkultismus gehören.

Gelehrsamkeit hat vielfach in Siegfried das Symbol eines Sonnenhelden gesehen, und zwar so, wie die Gelehrsamkeit solche Symbole eben auffaßt: Die Sonne als Wolkenüberwinder und so weiter. Ich habe schon vor vierzehn Tagen darauf hingewiesen, wie wenig der Sache entsprechend eine solche äußere Symbolik sein kann, wie gerade durch die Forschungen Ludwig Laistners über das Rätsel der Sphinx klargeworden ist, daß das Volk in einer solchen Weise nicht symbolisiert. Wir verstehen die germanische Götterwelt und die Siegfried-Sage nur dann, wenn wir auch hier voraussetzen, daß in all diesen Beziehungen Erfahrungen der Götter zum Ausdruck kommen.

Vor vierzehn Tagen haben wir gesehen, daß in der deutschen Vorzeit etwas vorhanden war von einer Erfahrung höherer seelischer und geistiger Welten und wie gerade die Entwickelung der Menschen darin bestanden hat, daß sich der Mensch von dem astralen Sehen der Vorzeit, von dem Hineinschauen in die geistige Welt, entwickelt hat zu unseren gewöhnlichen Alltagsanschauungen, welche die Dinge mit den äußeren Sinnen betrachtet. Wie eine Erinnerung war es für unsere Vorfahren in Mitteleuropa, daß einstmals die Menschen hineingesehen haben in die geistige Welt, die aber jetzt in Dunkel und Finsternis eingetaucht ist, nachdem das äußere physische Sehen sich immer mehr in der Menschheit vervollkommnet hat. Was heute noch als Sage und Mythos lebt, ist der Rest einer solchen höheren geistigen Anschauung. Die Götter sind höhere Erfahrungen, sind wirkliche Gestalten derjenigen Welt, in welche der Mensch sich hinein lebt, wenn er höhere Sinne errungen hat. Eine gerade Linie geht vom Traum bis zu den höchsten astral-

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geistigen Erlebnissen der Seele. Damit uns das nicht zu unklar ist, wollen wir einen Blick werfen auf den Unterschied zwischen dem sogenannten Nacht- und Tagbewußtsein.

Das Tagesbewußtsein des normalen Menschen, durch das die Kultur geschaffen worden ist, ist erworben. Es kommt dadurch zustande, daß die Seele durch die Sinne die Außenwelt wahrnimmt, sie mit dem Verstande und der Einbildungskraft verarbeitet. Wenn aber die Seele des Nachts sich von dem Körper freimacht, die Tore der Sinne geschlossen sind, die Seele in sich selbst ist, dann lebt sie zwar in einer andern geistigen Umgebung, aber sie kann nicht wahrnehmen, weil sie keine Sinne dafür hat, ebenso wie ein Mensch, der Augen, Ohren, überhaupt alle Sinne verloren hat, zwar noch leben könnte, aber nichts von der Umgebung wahrnehmen würde. Einstmals hatte die Seele die Fähigkeit, in die Welt hineinzuschauen, in welche der Mensch hinabrückt, wenn er sich dem Schlafe überläßt. Er sah in die geistige Welt, und die Abbilder der geistigen Welt liegen im Mythos, sind wirkliche Erfahrungen. Deshalb kam es den Menschen in Mitteleuropa so vor, daß sie einstmals ein Licht wahrgenommen hätten, das jetzt in das Dunkel der Nacht hinuntergesunken ist. Es gibt ein Licht, das die Nacht erhellen kann, ein Licht, das macht, daß man geistige und seelische Wesenheiten zu sehen vermag, jene Dinge also, die man in den mythologischen Sagen verzeichnet findet. Dieses Hinuntersinken des astralen Bewußtseins wird schön und gewaltig in der Gestalt des Baldur dargestellt. Es ist nur eine Phantastik der deutschen Gelehrsamkeit, wenn behauptet wird, daß Baldur die Sonne sei. Baldur ist das alte astrale Licht, das hineinschaut in die geistig-seelische Welt, das aber im Verlaufe der Entwickelung erstarb, als ein Geschlecht heraufkam, für das das Geisteslicht in Dunkel getaucht war. Dieses Geschlecht, von dem wirklich die alten Deutschen

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hätten sagen können: Die Lichter scheinen zwar in der Finsternis, aber die Finsternisse kennen die Lichter nicht -, ist das Geschlecht der Nibelungen, der Bewohner von Nifelheim. Was ist mit diesem Geschlecht, für das das Geistige finster und nur das Sinnliche hell ist, gemeint? Was hat sich mit ihm verwandelt?

Die alten Kräfte, welche den Raum durchglühten und in allem lebten, die Kräfte der Liebe, aus denen alles hervorgegangen ist, sie waren - so erinnerte man sich - der tiefere Lebensquell zu dieser Zeit, in der man noch in die geistige Welt hineinschauen konnte, in der man überhaupt ganz anders lebte. An die Stelle der Liebe, die alles regierte, die allen Verkehr zwischen den Wesen erhöhte, die Wesen zu Wesen führte und alle Verhältnisse zwischen ihnen begründete, trat mit dem Heraufkommen der äußeren Sinnenwelt der Egoismus. Ein Geschlecht, das noch hinein gesehen hat in die geistige Welt, hing jetzt seinen Sinn an rein äußeres Physisches, physischen Besitz, physisches Eigentum: das Umfassenwollen irgendeines Stückes der Sinnenwelt. Das ist das «Gold», der äußere, physische Besitz. Es war im deutschen Volke selbst in kleinen Verhältnissen immer etwas Erinnerung daran vorhanden, an jene Zeit, in welcher der Grund und Boden noch der ganzen Dorfgemeinde gemeinschaftlich gehörte. Da waren noch die, welche auf einem solchen Besitze saßen, natürlich verbunden, das Blut begründete damals noch die Verwandtschaft. Nun kam eine andere Zeit. Der gemeinsame Besitz, der zu gleicher Zeit einen gewissen Gemeinsinn, eine gemeinsame Liebe erzeugte, ging über in Privatbesitz, in den Drang und Trieb zum Besitz. Diese Entwickelung, die fast alle Völker durchmachten, haben auch die alten Deutschen durchgemacht. So empfanden sie die neuen Verhältnisse als Gegensatz zu den alten, wie wenn an Stelle des Inneren das Äußere getreten wäre>

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wie wenn man früher in seinem Tun dem Triebe, der im Inneren lebte, der Liebe, gefolgt wäre und jetzt dem Egoismus. Jetzt mußte auch das, was die Menschen zusammenführte, durch Verträge und gesetzliche Bestimmungen geregelt werden, anstatt wie früher durch natürliche Verwandtschaftsgrade. Da kam eine neue Weltordnung mit den neuen Göttern, die der äußeren sinnlichen Wirklichkeit angemessen sind. Das war unser Göttergeschlecht der alten Zeiten. Diese Götter erschienen aber auch wieder in neuer Gestalt, gleichsam als diejenigen, die den besseren Teil, den Extrakt aus dem alten noch herausgezogen haben, wie übersinnliche Mächte über der sinnlichen Zeit.

Die Menschen erschienen verstrickt in die Sinnlichkeit. Der aber, der ein Führer, ein Lenker in der Menschheit sein wollte, der war auch innerhalb der germanischen Vorzeit ebenso wie sonst überall, ein Eingeweihter, der tiefer hineinsah in die Quellen des Daseins und bis zu den göttlichen, schöpferischen Kräften vorzudringen vermochte. Ein solcher Eingeweihter muß das überwunden haben, was den Menschen mit der Sinnlichkeit verbindet, er muß imstande sein, sein ganzes Sinnen und Trachten nur an das Bleibende zu hängen, an das, was hinter den sinnlichen Dingen ist. Er muß sich herausheben aus dem Kampfe des Alltags. Nun ist jeder Mensch in diesem Kampfe des Alltags drinnen mit Begierden und Alltagsvorstellungen. Alles das muß er überwinden; vorher ist eine wirkliche tiefere Einsicht in die Dinge nicht möglich. Weil man das heute sowenig einsieht, kann man nicht begreifen, was wirkliche und wahre Weisheit ist, sonst wüßte man auch, daß es notwendig ist, bevor man zu dem Wissen hinaufdringt, sich zuvor des Wissens würdig zu machen, zu fühlen, daß das, was Verstand und Vernunft erfassen können, was wir denken können, daß das Gottesgedanken sind, nach denen die Welt aufgebaut ist.

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Nicht darauf kommt es an, was die Eingeweihten wissen, sondern wie sie es wissen, und sie werden wissend, weil sie das Niedere im Menschen überwunden haben. Durch dieses Wissen> das mit der Verwandlung der ganzen Seele verknüpft ist, wird das Wissen zur Weisheit.

Die Völker hatten nach ihrem jeweiligen Charakter verschiedene Eingeweihte. Das verstehen wir, wenn wir den Sinn der Einweihung begreifen. Was hat der Eingeweihte eigentlich für eine Aufgabe? Vor allem waren es die Eingeweihten, die den Völkern die Gewißheit von der Unsterblichkeit der Menschenseele gegeben haben. Zur Weisheit sich aufschwingen heißt, die Erfahrung machen, daß die Seele Wirklichkeit ist. Man lernt sie wirklich kennen, wenn man hineinsieht in die Welt, die von dem astralen Licht erhellt ist. Da erweist sich die Unsterblichkeit der Seele als eine Eigenschaft der Seele. Weil der Eingeweihte diese Welten, in denen es ein ewiges Leben gibt, schon in diesem Dasein betreten kann, deshalb kann er Kunde geben von dem Schicksal des Menschen vor der Geburt und nach dem Tode. Wie sich die Seele heraushebt aus dem vergänglichen sinnlichen Dasein, darüber Klarheit zu schaffen, ist die Aufgabe der Eingeweihten zu allen Zeiten gewesen. Überall, wo ein auf tiefer Erkenntnis und Erfahrung beruhen der Glaube vorhanden ist, sagt man etwas Ähnliches wie das, was in neuerer Zeit zum erstenmal wieder durch die theosophische oder geisteswissenschaftliche Bewegung gesagt wird. Je mehr der Mensch durch Entwickelung der verschiedensten Tugenden und Fähigkeiten das sinnliche Dasein umgestaltet, desto mehr leitet er hinüber in ein anderes Dasein, das unvergänglich ist. Die Griechen haben die Seele eine Biene genannt, welche hinfliegt, Honig sammelt und dann wieder in den Bienenstock zurückkehrt. Ganz so ist es mit der Seele. Sie fliegt in der physischen Welt, sammelt Erfahrungen und

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bringt sie zurück in die geistige Welt, wo sie zu ihrem bleibenden Besitz werden. Überall, wo mystische Tatsachen zugrunde liegen, hat man sich die Seele als etwas Weibliches vorgestellt, so zum Beispiel Goethe als das «Ewig-Weibliche», die Seele, die immerfort aufnimmt von der Umgebung und von ihr befruchtet wird. Der Kosmos dagegen ist männlich, wenn man ihn mit Rücksicht auf die Seele betrachtet. Bei ihrem Umgang mit der Außenwelt ist für die Seele ein jedes Ereignis eine Befruchtung. Daher erscheint dem Menschen, der das anschauen kann, das Sich-Hinaufschwingen der Seele zur Unsterblichkeit wie eine Vereinigung, denn sie verbindet sich mit ihrer höheren Natur, die ihr gleichsam entgegenkommt, wenn sie sich zu dieser höheren Stufe hin aufgearbeitet hat. So erschien im germanischen Mythos, weil dem Germanen die Tapferkeit die höchste Tugend war, die Erwerbung der Unsterblichkeit, für den auf dem Schlachtfelde fallenden Krieger, in dem Entgegenkommen der Walküre; die Walküre ist nichts anderes als die unsterblichei Menschenseele. Wenn der Krieger die Tugend geübt hat, die zur Unsterblichkeit führt, dann vereinigt er sich mit der Walküre; wer nicht auf dem Schlachtfelde fiel, der starb den Strohtod und mußte hinunter in das Reich der HeI, wo nicht das geistige Licht schien.

Ein Eingeweihter ist nun ein solcher, der schon im Leben die Begegnung mit der Seele hat. So ist Siegfried der Eingeweihte der germanischen Vorzeit, der die niedere Natur, den Drachen überwindet, der hinaufsteigt und sich das Anrecht erwirbt, wie jeder Eingeweihte hineinzusehen in die Welt, welche die Menschen betreten werden, wenn sie die Pforte des Todes durchschreiten. Solche Eingeweihte waren immer für das physische Auge der Menschen unsichtbar; sie hatten immer eine Tarnkappe auf. Es ist für jeden ohne weiteres ersichtlich, daß wenn heute in irgendeiner modernen

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Stadt ein Eingeweihter wie zum Beispiel der Christus Jesus aufträte, er als solcher ziemlich verborgen bliebe. Denn würde man ihn auch nicht einsperren, so würde man doch das, was nur mit geistigem Auge wahrzunehmen ist, mindestens als etwas ganz Unerhörtes empfinden. So ist es mit allen Eingeweihten, auch mit Siegfried. Wer zu einer höheren Erkenntnis der Weisheit hinaufdringt, der muß nicht nur den Drachen überwinden, sondern auch zu einem höheren Bewußtsein durch mancherlei Gefahren hindurchschreiten. Die Flammen und die Feuer, von denen die Walküre umgeben ist, sind durchaus Wirklichkeiten. Bevor der Mensch in die höhere Welt zu schauen vermag, ist die höhere Natur immer mit der niederen gemischt, sie hält die niedere im Zaum und hütet das, was aus den niederen stürmischen Leidenschaften herauskommen will. Wenn aber die höhere Natur sich heraushebt, dann ist die niedere Natur zunächst allein gelassen. Daher sind die, welche vorher den Charakter nicht gründlich gestärkt haben, aber zu hellseherischem Vermögen gelangen und in die geistige Welt aufsteigen wollen, oft einer Verwandlung nach dem Schlechten hin ausgesetzt. Da fängt leicht das Feuer der Leidenschaften an zu brennen. Durch das höhere Bewußtsein entsteht die Flammenbildung, und durch diese Flammenbildung muß der Eingeweihte erst hindurch. Hier haben Sie die Einweihungszeremonien des Siegfried. Solche Eingeweihte gab es dazumal; es waren alte Priesterweise, welche die Tapferkeit und die Weisheit in sich vereinigten, Könige und Priester zugleich waren. Das war das Ideal des Menschen, das im Gedächtnis des alten Deutschen lebte und vor seiner Seele stand in dem Zeitpunkt, als gerade diese Dichtung wie eine Erinnerung entstand. Das hatte sich jetzt geändert. Die Tapferkeit ist nicht mehr der Einweihung unterstellt und die Weisheit ist einem weltlichen Stande zuerteilt; anstelle eines Kriegertums, das

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zu gleicher Zeit ein priesterliches Rittertum war, hat man nun eine Priesterschaft, der nichts mehr von Einweihungen bekannt ist.

Die Erreichung dieses höheren Bewußtseins der eingeweihten Priesterweisen wird dargestellt in der Tatsache, daß Siegfried, der schon verbunden, verlobt war mit der Walküre Brünhilde, den Vergessenheitstrank trinkt, das heißt, selbst hineingestellt wird in die Welt, die nichts mehr weiß von den alten Zeiten, und daß er die Brünhilde für einen erwirbt, der nicht mehr ein Priesterweiser ist, der die eine Seite, die Tapferkeit, abgelegt hat, also das, mit was die höhere Seele erworben wird. Brünhilde sollte für den erworben werden, der nicht mehr ein alter Göttersprosse, das heißt, ein Eingeweihter war.

So ist die Entwickelung der geistigen Kultur in wunderbarer Weise in der Siegfried-Sage zum Ausdruck gekommen. Die Zeiten sind vorüber, in denen Tapferkeit und tiefste Weisheit in den Eingeweihten zusammen war. Die Vereinigung mit der Walküre ist nicht mehr an eine Einweihung gebunden; es sind in gewisser Weise von der Vorzeit Abgefallene, die jetzt durch die Tapferkeit Unsterblichkeit erreichen. So ging der Zusammenhang mit der alten Götterwelt verloren; bloß das sinnliche Leben, das an das Gold gebunden ist, war geblieben. Für eine solche Zeit - soviel ist wiederum für das mystische Denken in dieser Zeit doch klar gewesen - bedeutet das höhere Bewußtsein etwas Gefährliches. Bei dem Eingeweihten, der den Drachen besiegt hat, ist die Möglichkeit vorhanden, daß er sich mit dem höheren Bewußtsein vereinigt und sich von ihm erfüllen lassen kann. Die niedere Natur kann ihn nicht mißleiten, da er sie abgelegt hat. Bei dem aber, der das noch durchmachen muß und die niedere Natur nicht überwunden hat, kann dasselbe gefährlich werden. Das sollte den alten Deutschen

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vor die Augen geführt werden. Denn die Vereinigung mit der Walküre wirkt zerstörend, wenn sie nicht mit innerer Würdigkeit verknüpft ist. Sie wird zur verderblichen Macht, wenn sie für sich auftritt. So tritt Brünhilde für sich auf, indem sie dem Manne gehören mußte, der nicht durch die Einweihung durchgegangen war, dem sie unrechtmäßigerweise zugeteilt worden ist. Daher muß das höhere Bewußtsein verderblich wirken. Damit haben wir auch erklärt, was für Brünhilde zuletzt den Untergang herbeiführt. Brünhilde, das von den alten Göttern stammende höhere Bewußtsein, muß die alten Götter selbst mit sich ins Verderben hineinziehen. Der Göttersproß war ihr ein ebenbürtiger. In alter Zeit war es richtig, daß Walküren auf die Krieger herabkamen, weil Eingeweihte darunter waren, die durch ein siegvolles Leben das Recht auf die Vereinigung mit Brünhilde sich erworben hatten. Dieses Bewußtsein, die Gabe der alten Götter, die sie ursprünglich den Eingeweihten gegeben haben, war nachträglich aber auch auf die gekommen, die keine Eingeweihten waren> wo sie zerstörend, auflösend wirken konnte, und dann notwendig die alte Götterwelt selbst hinunterziehen mußte: die Götterdämmerung.

Nicht zufällig, sondern aus tiefster Weisheit heraus, taucht auch in der deutschen Gestalt des Nibelungenliedes, da, wo das Volk hinunterzieht an den Hof des Königs Etzel, um dem Untergang entgegenzugehen, das neue Christentum auf. Es scheint das Christentum hinein in die alte Welt. Ausgegangen ist die Welt von der Liebe. Man erinnerte sich symbolisch an eine alte Liebe, die ersetzt worden ist durch die Satzungen, die im Golde begründet worden sind. Die Zeit des Goldes hat es dahin gebracht, daß das höhere Bewußtsein der Brünhilde zerstörend gewirkt hat. Und der Zeitpunkt, wo die alten Götter hinuntergesunken sind, ist

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kosmisch mit der Zeit dargestellt, wo das astrale Schauen dem physischen Schauen gewichen ist, das dadurch ein Abbild des kosmischen Vorganges wird.

Die Liebe statt der Satzungen soll als neues Element auferstehen. Sogar das deutet der Mythos sinnbildlich an, und in dieser Tatsache tritt er noch intimer hervor: Als Siegfried verraten werden sollte, bezeichnete sein Weib die Stelle, wo er verwundet werden konnte, mit einem Kreuz. Seelisch unverwundbar durch das irdische Sinnliche ist jeder Eingeweihte, wenn auch sein Körper in Stücken von ihm gerissen wird. Die Seele hat sich in das höhere Leben hinein- gelebt. Eines hat aber der Eingeweihte noch nicht erreichen können. Siegfried ist an der Stelle verwundbar geblieben, wo die ins Göttliche geläuterte moralische Gesetzlichkeit in Liebe aufflammen soll. Dieses Aufflammen der sich vergöttlichenden Moral in Liebe ist das Wesen des Christentums. Das gehörte noch nicht zur Einweihung des Siegfried. Nachdem die Götterdämmerung vorbei ist, tritt unter die alten Kämpfenden ein anderer Held hinein, der höher steht als Siegfried, der unverwundbar ist an der Stelle, wo Siegfried noch verwundbar war. Das Kreuz, das Kriemhilde nur hin zeichnen kann, das hat der Große auf seinem Rücken getragen. - Sie sehen, welch tiefer Untergrund, welch geistiges Lebensbild in dieser Sage der Vorzeit vorhanden ist. Das Rätsel der Menschheit tönt uns da überall entgegen.

Sie wissen alle, daß sich Richard Wagner nicht begnügt hat mit der Siegfried-Gestalt des Nibelungenliedes, sondern daß er zur nordischen Sage zurückgriff, wenn er auch die einzelnen Motive und Persönlichkeiten etwas änderte. Er stellt Siegfried dar als die Seele, die durch die Tötung des Lindwurms durch die Einweihung hindurchgegangen ist, als eine Wesenheit, die die Sprache der Vögel versteht, die also nicht allein durch die Tore der Sinnenwelt sieht und hört.

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Und in der Götterdämmerung läßt er uns den Zusammenhang erschauen, der in Brünhilde symbolisiert ist als die alte Götterwelt, die hinuntertaucht in die Tiefen, aus der dann die christliche Liebe sicli erhebt, die an die Stelle der alten Götterwelt getreten ist.

Ich möchte nicht behaupten, daß Richard Wagner in abstrakter Weise diese Gedanken gehabt hat; aber das braucht ja beim Künstler gar nicht der Fall zu sein. Man spricht so leichthin von dem «unbewußten» Schaffen des Künstlers. Das ist kein gutes Wort. Denkt der Mensch in abstrakten Begriffen, in schattenhaften Vorstellungen, so wirkt der Künstler im Gestalten. Es ist mehr eine höhere Ungezogenheit der Eitelkeit des Gelehrtentums und des Verstandes, wenn man dieses Leben und Weben in der Imagination und im Gestalten mit «unbewußt» bezeichnet. Hier liegt vielmehr etwas anderes zugrunde. Was ist die Kunst mit ihrem schaffenden Gestalten, mit ihrem Hereinleuchtenlassen einer höheren Welt? Es ist tief bedeutsam, daß gerade durch die Erneuerung des Mythos auch wieder eine Erneuerung der Kunst herbeigeführt worden ist. Wenn für den gewöhnlichen Menschen der Mythos nur Symbol ist, so ist er für den Eingeweihten geistige Wirklichkeit, der Ausdruck der Erfahrung einer höheren geistigen Welt. Es ist ein so volles Bewußtsein, daß das gewöhnliche helle Tagesbewußtsein es nicht zu erfassen vermag. Ein schattenhafter Abglanz davon ist im Mythos geblieben, und ein Ähnliches haben wir auch, wenn wir uns vorstellen, wie ein Eingeweihter seine Schüler in die alten Mysterien einführte, seien es griechische, persische, ägyptische, oder die, von denen uns eine deutsche Urgeschichte erzählt. Da haben wir den Eingeweihten, der die Macht hat, die Augen seiner Schüler für diese höhere Welt zu öffnen. Da schauen sie hinein in diese geistige Welt; es spielen sich vor ihnen Szenen einer höheren Erfahrung

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ab, nicht zwischen Menschen, sondern zwischen Göttern. Eine spätere Zeit hat die Form dieses Abspielens von Szenen wie in einem Scbattenbilde festgehalten, und zwar in der Kunst. Die Kunst ist wie ein Traum oder wie ein Schattenbild als Erinnerung an ein früheres Hellsehen und eine Prophetie für ein späteres Hellsehen der ganzen Menschheit.

Eine große Epoche war es, als das letzte Nachklingen jener alten Zeit im deutschen Mythos durch Richard Wagner wieder herausgeholt wurde, um wieder den Zusammenschluß zwischen Kunst und Schauen zu finden. So haben die Erzeugnisse der Kunst Richard Wagners eine prophetiscbe Bedeutung. Sie sind ein großes, eminentes Erziehungsmittel der neuesten Zeit, sie werden dem Menschen durch den Klang der Musik und durch das vor seinen Augen sich abspielende Übermenscbliche den Mythos erneuern und die Seelenkräfte wachrufen helfen. Und die theosophische oder geisteswissenschaftliche Weltanschauung, die auf jene Zukunft der Menschheit hinarbeitet, darf diese aus dem Mythos heraus wiedergeborene Kunst als eine echte Schwester betrachten. So ist es in gewisser Weise möglich, aus der Geisteswissenschaft eine weitere Vertiefung der Kunst Richard Wagners zu gewinnen. Das Lebendige des geistigen Eindringens, das die Geisteswissenschaft anstrebt, wird an die Stelle der bloßen abstrakten Gelehrsamkeit, die sich der alten Sagen und Mythen bemächtigt hat, treten müssen. Der Mythos ist eine Darstellung von tiefen Wahrheiten, von hohen geistigen Erlebnissen, und indem die Geistesforschung, die eine andere Forschung ist als die gewöhnliche, das Bewußtsein dieser geistigen Erlebnisse erweckt, wird sie auch den Mythos in seinen Tiefen wieder verständlich machen. Dann werden die Sagen von der Morgendämmerung der Menschheit in ihrem Wesenskern wieder lebendig werden können.

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In den verschiedensten Formen haben die Menschen die Wahrheit zum Ausdruck gebracht. Der aber versteht die Form der Wahrheit, wer einen Sinn hat für den Kern und den lebendigen Quell der Wahrheit. Den Kern dieser Wahrheit zu suchen, ist die Aufgabe der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung, und durch diese Gesinnung, die das Wesentliche auf dem geisteswissenschaftlichen Gebiete ausmacht, wird uns gerade von den vergangenen geistigen Schätzen der Menschheit das Beste an die Oberfläche des heutigen Bildungslebens treten können.

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PARZIVAL UND LOHENGRIN Berlin, 29. März 1906

Heute vor acht Tagen durfte ich zu Ihnen sprechen über den esoterischen Kern, über den geistigen Inhalt jener großen Sagendichtungen, in denen sich ausdrückt deutsches oder uberhaupt mitteleuropäisches Denken und Fühlen im ersten Drittel des Mittelalters, durch deren Erneuerung Richard Wagner zu gleicher Zeit etwas wie Prophetisches für unsere Kunst geleistet hat. Heute wird uns ein anderer Sagentypus zu beschäftigen haben, zwei Sagen, die ebenfalls durch Richard Wagner eine Erneuerung gefunden haben und der Kunst in unseren Tagen in bedeutungsvoller Weise erobert worden sind. Heute soll uns die Parzival- und die Lohengrin-Sage beschäftigen. Mit diesen beiden Sagen berühren wir ein etwas anderes Land, als dasjenige war, das uns vor acht Tagen beschäftigt hat. Ich will Ihnen in ein paar Worten noch einmal charakterisieren, was eigentlich an die Siegfried- und an die Nibelungen-Sage anknüpft und was in ihnen lebt. Es drückt sich darin aus das Bewußtsein der mitteleuropäischen Bevölkerung von einer alten geistigen Erfahrung der Vorfahren, die hinuntergesunken ist in das Dunkel der Zeit und die ersetzt worden ist in der Epoche, in der diese Sagen entstanden sind, eigentlich schon ersetzt war durch die gewöhnliche alltägliche Sinnesanschauung, eine alte geistige Erfahrung, die noch wie ein Nachklang lebte, eben als Götter- oder Sagenwelt.

Ist so die Sage von den Nibelungen und von Siegfried ein Nachklang an die uralte Heidenzeit mit ihren Geheimlehren,

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mit ihren Anschauungen von der Einweihung der alten Führer des Volkes, und haben wir in Siegfried selbst einen solchen großen Eingeweihten im Stile, sagen wir des alten Germanentums gefunden, so haben wir in Lohengrin und Parzival Individualitäten ganz anderer Art. Wir betreten mit ihnen diejenige Zeit, in welcher das Christentum, eine für die Gegend Mitteleuropas ganz und gar neue Weltanschauung, Verbreitung gefunden und Einfluß gewonnen hat. Das ganze Wesen des neu aufgehen den Christentums und alles dasjenige, was sich als Folge, als Konsequenz an dieses neu aufgehende Christentum anknüpft, lebt nun in diesen beiden Sagen, in der Parzival- und in der Lohengrin-Sage. Wir wollen uns einmal vor die Seele rufen, wie das Wesen mittelalterlich-europäischer Entwickelung sich zunächst in dieser Sagenwelt zum Ausdruck bringt. Wir haben vor acht Tagen betont, daß uns die Siegfried- und die Nibelungen-Sage hinweisen auf eine uralte Vorzeit, in der eine Art natürlicher Bande der Liebe die einzelnen Stämme, die einzelnen Bevölkerungsteile verband. Es ist etwas wie ein Nachklang an diese Zeit vorhanden in dem, was Tacitus mitteilt, wenn er sagt, daß die Deutschen noch einen alten Stammesgott verehrt haben, zu dem sie aufblickten wie zu einem Vater, mit dem sie durch Familienbande, die sich bis zur Stammesgemeinschaft ausdehnten, verbunden waren. Die Liebe, die diese Bande knüpfte, war durch das Blut, durch die natürliche Verwandtschaft gegeben. Jeder einzelne Stamm hatte eine solche Stammesgottheit, die wiederum eine Art Ahnherrn hatte. Diese natürliche Liebe, die eine Folge der Blutsverwandtschaft ist, liegt wie ein Hauch über diesen alten Zeiten, und gerade die Erinnerung an diese alten Zeiten und Stammesgemeinschaften, an diese aus dem Blute stammende alte Liebe, ist es, die in dem Sagentypus von den Nibelungen zum Ausdruck kommt. Gesehen haben

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wir, daß das Charakteristische gerade das ist, daß dieses Nibelungenlied, dieser Sagentypus entstanden ist in einer Zeit, in der die Stammesliebe schon zurückgetreten war. Etwas anderes ist an deren Stelle getreten: die Sucht nach Besitz, alles das, was durch das Gold symbolisiert ist, was mit Egoismus zusammenhängt und darin begründet ist.

Nicht mehr die alte, auf Blutsverwandtschaft begründete Liebe war maßgebend, sondern neue Zusammenhänge, die sich auf Satzungen, Verträge und Gesetze gründeten. Dieser Umschwung spiegelt sich ganz genau in dem ab, was in der Nibelungensage lebt.

Es verging wiederum eine Zeit, da traten andere Ziele an die Stelle dieser alten Gemeinschaften, die, sagen wir auf Gold, Besitz und bloße kriegerische ritterliche Tapferkeit gebaut waren, die da mit dem Besitze rechneten. Da traten nach und nach andere Ziele, andere Ideale auf. Mit dem Christentum traten sie auf. Es ist vielleicht nirgends so gewaltig und grandios zum Ausdruck gekommen, was das innerste Wesen des Christentums ist, als in den Sagen, in die wir uns allmählich einleben und in denen sich die Aufgabe des Christentums innerhalb Mitteleuropas sinnbildlich abspielt: in der Lohengrin-Sage und in der Parzival-Sage.

Was hatte denn das Christentum als sein Lebenselixier? Die absolute Gleichheit aller Menschen. So wurde wenigstens das Christentum in der damaligen Zeit empfunden. Freiheit, Gleichheit gegenüber dem Höchsten, das der Mensch sich denken kann, das empfand man als das Kleinod, als die eigentliche Sendung und Mission des Christentums. Auf den Namen der Vorfahren, auf den Namen eines Stammes oder auf einen Familiennamen waren in den alten Zeiten die Vorfahren der Germanen stolz. Darauf beriefen sie sich, wenn sie sich in der Welt einen Wert zuteilen wollten. Auf das Gesetz, auf Titel und Namen beriefen sie sich in

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der Zeit, welche die Stammesliebe abgelöst hat. Jetzt sollten beide nicht mehr gelten, sondern nur der Mensch schlechtweg, der in seinem Innersten sich wesenhaft fühlte. Der Mensch ohne Titel, ohne Name war das christliche Ideal. Etwas Großes war damit gesagt. Das drückt sich aus in der Lohengrin- und in der Parzival-Sage.

Inwiefern kommt das in diesen beiden Sagen zum Ausdruck? Wenn wir die Parzival-Sage nehmen, so brauchen wir uns nur die Struktur der Parzival-Sage vor Augen zu rücken, wie sie im Mittelalter gelebt hat, gelebt hat in Wolfram von Eschenbach. Wir haben es da zu tun mit einem jungen Menschen, der aufwächst, herausgerissen aus aller Gemeinschaft, herausgerissen aus dem, was in jener Zeit den Menschen Wert und Gewicht gegeben hat. Die Mutter Herzeloide hat es erfahren, daß Leiden, Schmerzen verbunden sein konnten mit der alten Ordnung, die auf Titel, Würden und Namen sich gründete. In der alten Ordnung wurde ihr Mann nach dem Orient hin geführt, wo er verunglückte. Sie will nun ihren Sohn aufziehen fern von allem, was gilt. Er sollte nichts wissen von dem Streben der weltlichen Ritter. Aber er sieht eines Tages solche weltlichen Ritter. Da beschließt er, selbst auszuziehen, und nun geht er auf seine Wanderung. Wir wissen, daß diese Wanderung ihn an zwei Orte bringt, die wir als etwas ganz besonders Wichtiges für die geistige Vorstellung in der Mitte des Mittelalters betrachten müssen.

Der erste der Orte, in welche der Parzival kommt, ist die Tafelrunde des Königs Artus; der andere Ort ist die Burg des Heiligen Gral. Was sind diese beiden? Die Tafelrunde des Königs Artus bedeutet für das Vorstellungsleben des Mittelalters eine Gemeinschaft, von welcher alle geistige Kraft ausgeht für dasjenige, was eben im Mittelalter vor dem Einiluß des Christentums als weltliche Ritterschaft,

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überhaupt als alles Weltliche, vorhanden war. Wir werden zurückgeführt auf uralte Zeiten, auf jene Zeiten, auf die wir schon das letzte Mal im Vortrage über das Nibelungenlied hinweisen konnten. Wir wissen ja, daß die Germanen, die Vorfahren der deutschen und angelsächsischen Völkerschaften in Europa, ein Gebiet eingenommen haben, das in Urzeiten von andern Volksstämmen, von den Kelten bewohnt war. Die Kelten: Wenig wird historisch von ihnen gewußt; die Geschichte erzählt nur wenig von jenen fernen vergangenen Zeiten Europas, in welchen dieses merkwürdige Volk großen Einfluß hatte, das dann von den vordringenden Germanen nach dem Westen gedrängt worden ist, aber auch da als Volk zurückgedrängt worden ist. Als Volk sind die Kelten zurückgedrängt worden. Ihr Einfluß ist geblieben. Ein geistiger Bodensatz ist in Europa aus dieser alten Keltenzeit. Diese Keltenzeit, in der die Leute noch hellseherisch hineingesehen haben in die geistigen Gebiete, war es, von welcher die Vorstellungen über die geistige Welt geblieben sind.

Unter den Kelten war es vorzugsweise, wo das alte Hell- sehen heimisch war, das unmittelbare Bewußtsein, daß man Erfahrungen haben konnte in der göttlich-geistigen Welt. Die Erzählungen und dramatischen Handlungen sind im wesentlichen ein Nachklang der Unterweisung, welche die eingeweihten Keltenpriester ihren Schülern und durch die Schüler dem ganzen Volke gegeben haben. Da werden wir zurückgewiesen in jene Urzeiten Europas, wo es auf europäischem Boden wirkliche Eingeweihte gegeben hat, Eingeweihte des alten keltischen Heidentums.

Das, was ich Ihnen erzählt habe über die Einweihung des Siegfried, des Wotan und so weiter, das alles führt zurück auf die alten Initiationen oder Einweihungen durch die alten keltischen Priester. Diese alten keltischen Priester

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waren im wesentlichen dasselbe vom Geiste aus, wie im alten Ägypten, im alten Chaldäa oder alten Persien die Priesterweisen als Herrscher waren. Sie haben hier die Herrschaft ausgeübt. Alles was im Weltlichen geschah, was zur äußeren Organisation gehörte, das wurde unter den Angaben der Priesterweisen gemacht. Nichts Staatliches, nichts Gemeinschaftliches gab es, das nicht der Weisheit dieser Urgelehrten Europas unterstand.

Der König Artus, von dem man sagt, daß er sich mit seiner Tafelrunde nach Wales zurückgezogen hat und dort wohnte und thronte, war nichts anderes als der gelehrte Herr dieser Weisen, die einen geistigen Mittelpunkt, eine Art geistige Monarchie bildeten. Man empfand, daß dieser geistige Mittelpunkt, ich möchte sagen «Urgelehrter», mit seiner auserlesenen Schar, die man gewöhnlich als zwölf angab, sich wirklich da befand. Daß dies so ist, hat seine guten Gründe. So sagt man, daß König Artus in Wales nichts anderes gewesen ist als der Nachfolger jenes dirigierenden Gelehrten der alten Keltenpriester. Und damit stehen wir unmittelbar vor der Erkenntnis, daß es im alten Europa das gegeben hat, was wir in der geistigen Forschung eine sogenannte Große Loge nennen.

Machen wir uns jetzt einmal den Begriff einer Großen Loge klar. Nicht wahr, Sie wissen - und da hier so oft über geisteswissenschaftliche Dinge gesprochen wird, 50 darf ich auch wohl hier über intimere Dinge sprechen -, Sie wissen, daß wir ganz im Ernst an Entwickelung denken und daß es Entwickelung gibt in der Menschheit, daß die Menschheit immer höher und höher steigen wird, daß jeder einzelne den Erkenntnispfad hinansteigen wird bis zu jenen Stufen, wo er selbst hinein schauen wird in die geistigen Welten, wo ihm das, was als Urgrund hinter der Welt steht, offenbar wird. Wenn wir also von der Möglichkeit der Entwickelung

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der Menschheit sprechen, so liegt es auch nicht fern, sich klar zu sein, daß es heute schon höherentwickelte Individualitäten in der Menschheit gibt, die der übrigen Menschheit vorausgeeilt sind und die durch ein entsagungsvolles Leben die Pfade der Erkenntnis und der Weisheit zurückgelegt haben, damit sie Führer sein können der heutigen Menschheit. Heute, wo man alles nivelliert, wo man alles nicht anerkennen will, wo man von Entwickelung redet, aber nicht an die Entwickelung glauben will, da läßt man das nicht gelten. Aber in den Zeiten, wo man davon etwas gewußt hat, sprach man tatsächlich von der vorhandenen Entwickelung.

Nach einem natürlichen Gesetz finden wir zwölf verschiedene Kräfte des Geistes. Ich habe von Goethe gesagt, daß er selbst von solch einer geheimen Bruderschaft redet, die er als Rosenkreuzer anspricht. Von einer solchen Großen Weißen Loge sprach man im Mittelalter. Von dieser gingen die Fäden aus, welche das Leben zusammenhielten und beherrschten. Und denjenigen, der das alles lenkte, erkannte man in dem König Artus, der verborgen in Wales lebte. Um ihn waren seine Ritter, die zwar nicht mehr ganz auf der Höhe standen wie einst die Priester der alten Keltenzeit, für die sich die Zeit der Liebe umgewandelt hat in eine Zeit des Egoismus, wo man mit dein Schwert in der Hand Länder zu erobern suchte. Sie waren aber noch unter der Führung der weißen Loge.

Gewiß liegt auch die Frage nahe: Wenn es solche Logen gibt`- auch heute noch -, warum zeigen sie sich nicht? - Ich habe schon oft gesagt, daß es nicht allein davon abhängt, daß sich einer zeigt, sondern auch davon, daß er erkannt werden kann. Auch Jesus würde wahrscheinlich heute nicht erkannt werden können. Schwer ist es, einen Weisen innerhalb der eigenen Gegenwart anzuerkennen. Dazu gehört eben das, was die theosophische oder geisteswissenschaftliche

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Bewegung wieder in die Menschheit bringen will. Wenn das Eingang findet, dann wird man auch wieder so etwas verstehen wie die Tafel runde des Königs Artus, die dirigierende weiße Loge.

Das war das eine: Artus. Das andere ist: die Burg des Heiligen Gral. Nur andeutungsweise können wir uns damit befassen. Gesagt wird, daß der Heilige Gral die Schale sei, in weicher einst der Christus Jesus mit seinen Jüngern das Abendmahl, den Wein, eingenommen habe und mit der später sein Blut aufgefaßt worden sei. Dann sei auch die Lanze nach Europa gebracht worden, mit der Jesu Seite durchbohrt worden war. Die Gralsschale befinde sich auf dem Montsalvatsch, wo eine heilige Burg aufgebaut wurde. Der Heilige Gral hat die Fähigkeit, dem, der mit seinen Wundern vertraut ist, der mit seiner Gnadensonne lebt, ewige Jugend, die Kraft des ewigen Lebens überhaupt zu erteilen.

Wiederum sind es zwölf, aber jetzt christliche, geistliche Ritter. Die alten Tempelritter bewachen den Heiligen Gral, und die Kräfte, die sie aus dieser Wache saugen, benutzten sie, um das geistige Rittertum des Herzens, des Innenlebens, über Europa zu ergießen. So stellte man der weißen Loge des weltlichen Rittertums, die man nach Wales verlegte, das geistige Rittertum in der Burg des Heiligen Gral entgegen, die auf dem spanischen Berge Montsalvatsch liegt.

Was hatten die Ritter, die in der Burg des Heiligen Gral waren, für eine Aufgabe? Nicht Eroberungen zu machen, nicht äußeren Besitz zu erringen, nicht Ländereien sich anzueignen war die Aufgabe der Ritter vom Heiligen Gral; ihre Aufgabe war, die Eroberung des Seelenlebens zu machen. Wird uns von dem Nibelungenhort erzählt, dem Gold als Sinnbild des Besitzes, als Strebensziel der Nibelungen, so ist der Heilige Gral der vergeistigte Nibelungenhort, der Schatz der Seele. Was ist die Kraft, die von dem Heiligen

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Gral ausgeht, in Wirklichkeit? Was arbeiten jene zwölf Ritter, die in seiner Burg vereinigt sind? Es lebt, wie oft in der theosophischen Weltanschauung betont wird, in jedem Menschen ein Funke des Göttlichen. Die Mystiker des Mittelalters haben ihre großen Ideen in derselben Zeit gehabt, in der auch diese Sagen entstanden sind. Sie sprachen davon, daß der Mensch ein vierfaches Wesen sei. Da sei zunächst der äußere physische Mensch, der hier in dieser Welt lebt, der Besitz erstrebt, der in dieser Welt nach dem Golde jagt. Das zweite sei der seelische Mensch, der leidet und sich freut, der Triebe, Begierden und Empfindungen hat, die allmählich veredelt werden müssen. Der dritte Mensch ist ein noch innerlicherer. Er ist ein geistiger Mensch, der Mensch, der allmählich den Zugang erlangt zu der geistigen Welt. Der innerste Mensch ist der göttliche Mensch. Das ist derjenige, der heute - und das wurde insbesondere im Mittelalter empfunden - nur in den allerersten Anlagen vorhanden ist. Diese Anlage des göttlichen Funkens mehr und mehr zu entwickeln, um den Menschen hinaufzubringen in die höheren Welten, das hatte man in der Einweihung des alten Heidentums angestrebt. Das strebt man jetzt innerhalb der christlichen Welt in einer neuen Weise an. Auch die christliche Einweihung ist verinnerlicht worden.

Sie erinnern sich aus den früheren Vorträgen, wie die Einweihungszeremonien in den alten Zeiten waren, wie der Mensch Prozeduren durchmachen mußte, welche die innere Seele heraushoben aus dem physischen Leib, so daß der Mensch in die höhere Welt entrückt wurde und selbst Zeuge sein konnte von den Eigenschaften der höheren Welt. Dazu gehört eine äußere Prozedur, um das alles durchzumachen. Das Christentum sollte eine Einweihung bringen, die nur im tiefsten Inneren, im verhangenen Heiligtum der Seele sich abspielt. Da sollte der Gott gesucht werden, der Gott,

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der durch das Vergießen seines Blutes das Heil über die Christenheit gebracht hat; dieser Gott sollte von jedem einzelnen Menschen gefunden werden in der eigenen Seele. Wirklich sollte der einzelne Mensch das erreichen können, was später Angelus Silesius, der große christliche Mystiker, ausgedrückt hat mit den Worten: «Wenn du dich über dich erhebst und läßt Gott walten, so wird in deinem Geist die Himmelfahrt gehalten.» Dieses Sich-Hinaufentwickeln dessen, was als innerer Lebensfunke im Menschen veranlagt war, das war die Aufgabe der Ritter des Heiligen Gral. Der Heilige Gral war nichts anderes als das tiefste Innere der menschlichen Natur, und er war ein Einheitliches, weil die innere menschliche Natur eine einheitliche ist, weil ein in der Verfolgung der Weisheit zugebrachtes Leben die Hoffnung erweckt, daß man verstehen könnte, was gemeint ist mit der großen Einheit, mit dem großen göttlichen Funken.

Sie waren da als die Brüder des Heiligen Gral. Parzival wollte den Weg finden zu dem Heiligen Gral. Nun erzählt uns die Sage, daß, als er hinkam zum Heiligen Gral, er den damaligen König Amfortas blutend fand. Es war ihm gesagt worden, nicht viel und nichts Falsches zu fragen. Daher fragte er nicht nach den Wunden des Königs und nicht nach der Bedeutung vom Gral. Deswegen wird er verstoßen. Er sollte nach den Eigenschaften des Heiligen Gral und den Wunden des Königs fragen. Das gehört zu den Erfahrungen, die im göttlichen Leben zu machen sind, daß man da- nach fragen muß. Er muß die Sehnsucht danach haben. Da ist er, der Heilige Gral; zu finden ist er, einem jeden wird er zuteil werden, aber er drängt sich nicht auf. Er kommt nicht zu uns, wir müssen in der Seele den Trieb fühlen nach diesem Heiligen Gral, dem inneren Heiligtum, dem göttlichen Lebensfunken in der menschlichen Seele. Wir müssen den Trieb haben, nach ihm zu fragen. Hat die menschliche

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Seele sich heraufgefunden zu Gott, dann steigt der Gott zu ihr herab. Das ist das Geheimnis des Grales selbst, das Herabsteigen des Gottes, der heruntersteigt, wenn sich der Mensch bis zum Göttlichen hinaufentwickelt. Das wird so dargestellt, wie es sich an die Johannestaufe des Jesus knüpft: eine Taube stieg herab und ließ sich auf dem Haupte nieder, und eine Stimme aus dem Himmel sprach: «Dies ist mein vielgeliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe.» Der Heilige Gral wird in der Gestalt einer Taube sinnbildlich dargestellt.

Noch nicht reif war Parzival bei seinem ersten Besuche in der Gralsburg, um das durchzumachen, was wir eben geschildert haben. Als er sich hinausgestoßen fühlte, da kam in seine Seele etwas, was in jede Seele einmal kommen muß, wenn sie in wahrhaftem Sinne reif werden soll zu den letzten Erkenntnisstufen. Es kommt in die Parzivalseele der Zweifel, der Unglaube, die innere seelische Finsternis. Gewiß, derjenige, welcher zur Erkenntnis hinansteigen will, muß einmal die harte Schule des Zweifels durchmachen. Erst wenn man gezweifelt hat und durchgegangen ist durch die Qualen und alles das, was durch die Zweifel gebracht werden kann, erst wenn man da durchgegangen ist, hat man jene Sicherheit in seinem Inneren gewonnen, daß einem die Erkenntnis niemals wieder verlorengehen wird. Es ist ein böser Bruder, der Zweifel, aber ein reinigender, ein läuternder Bruder. Diese Zweifel macht jetzt Parzival durch, und er ringt sich zu einer Erkenntnis durch, die in etwas anderem besteht als in dem, was man gewöhnlich Verstandesoder Vernunfterkenntnis nennt. Zu einer Erkenntnis, die Richard Wagner mit einer grandiosen Richtigkeit zum Ausdruck gebracht hat, vielleicht nicht ganz philosophisch oder psychologisch richtig, aber sinngemäß, indem er Parzival den «Reinen Toren» nennt> der durch Mitleid wissend wird.

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So kommen wir zur Beschreibung des Weges, den der durchzumachen hat, der sich zu den höheren Erkenntnisstufen noch durchzuarbeiten hat. Sie wissen, daß es der Schülerpfad ist und daß man da drei Stufen unterscheidet. Wenn jemand die Eigenschaften erworben hat, die den Vorbereitungspfad ausmachen, wenn er sich gereinigt hat von den unkontrollierten Vorstellungen und ein reines Leben führt, dann wird er reif zum Chela, dann wird er reif, den Guru zu bekommen, den geistigen Führer. Die erste Stufe des höheren Erkenntnispfades besteht darin, daß man begreifen lernt, sich der Welt gegenüber ganz objektiv zu verhalten, Liebe zu üben ohne die geringste Spur eines Vorurteils von innen heraus. Nicht wahr, warum lieben zunächst die Menschen im gewöhnlichen Leben? Nun, weil sie eine Blutsverwandtschaft haben, weil sie durch irgendwelche Bande lange zusammengeknüpft worden sind. Das ist richtig. Wer aber den Erkenntnispfad gehen will, der muß zu einer andern Liebe vordringen. Nichts, was mich in einer besonderen Weise mit einem Menschen verknüpft, darf ihm in meiner Liebe den Vorzug geben. Ich darf nur nach dem, was außer mir ist, fragen. Hat derjenige, der mein Bruder oder mein Schwager ist, einen Vorzug? Nein! Damit ist nichts gesagt gegen die Verwandtschaftsliebe; es soll sich nur um die Charaktereigenschaften des Menschen handeln. Auch wenn er uns ganz fremd ist, erkennen wir, daß er unserer Liebe wert ist, dann lieben wir ihn wie einen, der lange mit uns verbunden ist. Ein solcher Mensch steht auf der ersten Stufe der Chelaschaft. Wir nennen ihn den heimatlosen Menschen, weil er das verloren hat, im idealen Sinn, was man Heimat nennt. Das ist auch gemeint mit dem Satz, den Sie im Christentum finden: «Wer nicht um meinetwillen verläßt Weib und Kind, Mutter und Bruder, der kann nicht mein Jünger sein.» Dasselbe ist mit diesem Satz gemeint,

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und in dieser Weise empfand man auch in Mitteleuropa das Christentum. Kein Name und kein Titel sollte ein Anrecht geben auf Liebesbevorzugung. Der Mensch in seiner innersten Würdigkeit und Wertheit sollte Liebe begründen bei einem solchen, der sich auf dem Erkenntnispfad hinaufschwingt.

Wenn der Mensch die ersten Stufen des Erkenntnispfades hinangegangen ist, dann kommen die schweren Momente des Zweifels. Indem wir die Welt mehr und mehr kennenlernen und uns mehr und mehr in Liebe versenken, um so mehr lernen wir auch die schwarze und böse Seite der Welt kennen. Das sind die schweren Tage der Eingeweihten. Der Eingeweihte ringt sich allmählich hinauf. Dann erwacht jenes Seelenlicht, welches wie eine innere Sonne um ihn

herum die geistigen Dinge und Wesen beleuchtet sein läßt. Wir sehen die Gegenstände um uns herum mit Augen, weil das Licht diese Gegenstände bescheint. Eigentlich sehen wir nur die Strahlen, welche von den Gegenständen zu uns zurückgeworfen werden. Wir sehen die geistigen Dinge nicht, weil kein geistiges Licht sie bescheint. Wer es aber dahin gebracht hat, daß ihm erstrahlt das sogenannte Kundalinilicht, der steht auf der zweiten Stufe des Erkenntnispfades. Auf der dritten Stufe ist derjenige angelangt, welcher es dahin gebracht hat, sein Ich ohne Bevorzugung zu empfinden, der sich nicht höher achtet wie andere Menschen, der in der Liebe zu allen Wesen sein höheres Ich findet. Wer nicht mehr auf sein eigenes egoistisches Ich hofft, sondern aus den Wesen ihre Eigenart sprechen hört und vernimmt, von dem sagen wir, daß er auf der dritten Stufe des Erkenntnispfades angelangt ist. Wir nennen ihn in der Geheimlehre einen Schwan, und das ist ein Ausdruck, der in der ganzen Welt üblich ist, wo es geistige Forschung gibt.

Und was bringt dieser Grad? Er bringt das Ausfließen

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über alle Wesenheiten. Da sind wir nicht mehr wie mit einer Haut abgeschlossen von der Welt. Fremder Schmerz ist unser Schmerz, fremde Freude ist unsere Freude, wir leben und weben in dem Dasein. Die ganze Erde gehört zu uns. Wir fühlen uns in allem. Dann weiß man nicht mehr, daß man die Gegenstände von außen anschaut, dann ist es, als ob man in ihnen steckt, als ob man durch die Liebe in sie gedrungen wäre und sie dadurch weiß. Durch Mitleid, durch das Sich-Eins-Fühlen ist alles Wissen geworden.

Durch einen Klausner, Trevrizent, wird Parzival in diese Weisheit eingeweiht. Daß es ein Klausner ist, ein Einsiedler, das ist bezeichnend. Es ist einer, der herausgehoben ist aus der übrigen Menschheit, der wirklich alles zurückgelassen hat: Vater, Mutter, Bruder, Schwester, und ein Jünger dessen geworden ist, der solche Unterschiede nicht kennt. Da wird Parzival in den höheren Tugenden unterrichtet, und da wird er reif, hineinznkommen in die Burg des Heiligen Gral und auch zu fragen, welches die Wunder des Heiligen Grals sind. Er wird aufgenommen, er befreit den wunden Amfortas und wird selbst Gralskönig. Es ist ein innerer, menschlicher Weg, der Weg, den die Geheimwissenschaft in aller Welt vorschreibt, ins Christliche umgesetzt, ein Weg, auf dem uns der Parzival geschildert wird. Lohengrin gehört zu der Runde des Gral. Er ist der Sohn des Parzival. Während uns im Parzival selbst geschildert wird der höhere Gang des Menschen zu dem höheren Selbst hinauf, wird uns in Lohengrin eine historischsoziale Mission von der Mitte des Mittelalters geschildert. Das mittelalterliche Volksbewußtsein war geleitet von Eingeweihten, nicht blind, wie die Gelehrten es sich vorstellen. Dieses Volksbewußtsein hat in der Mitte des Mittelalters eine wichtige Epoche festgehalten. Was geschieht da? Kurz gesagt: ein wichtiges historisches Ereignis geschah, die sogenannte

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Städtekultur nimmt ihren Anfang. Die alte Feudalzeit erleidet eine mächtige Revolution. Während man früher es nur mit Landbesitz, nur mit Landbevölkerung zu tun hatte, sehen wir jetzt in Deutschland, Frankreich, Belgien, bis nach Rußland hinein überall einzelne Städte entstehen. Städte werden begründet; einen Ruck vorwärts in der Menschheitsentwickelung bemerkt man. Was war da geschehen in dieser mittelalterlichen Städtebegründung? Die Menschen wurden herausgerissen aus den Verbindungen, zu denen sie früher gehört haben. Alles, was sich geknechtet fühlte, ging in die Stadt. Da war man auf sich selbst gestellt. Da war man nur so viel wert, als man leisten konnte. Was man in der Mitte des Mittelalters als Bürgertum begründet hat, das kam herauf. Dieser mächtige Umschwung kommt in der Sage von Lohengrin zum Ausdruck.

Zeigt uns Parzival, wie der Mensch in sich selbst ein höheres menschliches Ich findet, wie er sich der Pilgerschaft zu dem höheren Ich hingibt, so zeigt uns Lohengrin, wie das mittelalterliche Volk eine gewaltige Epoche der Menschheitsentwickelung durchmacht, nämlich die Befreiung des Menschen, das Heraustreten der Persönlichkeit aus den alten Verbänden. Wollen wir den Zusammenhang dieses historischen Ereignisses mit der Sage von Lohengrin verstehen, dann müssen wir wissen, daß in aller Mystik diese Stufe durch eine weibliche Persönlichkeit symbolisiert wird. Deshalb hat auch Goethe am Ende des zweiten Teiles seines «Faust» davon gesprochen, daß das Ewig-Weibliche uns hinanzieht. Das darf nicht in trivialer Weise gedeutet werden. In Wahrheit ist die menschliche Seele gemeint, die den Menschen hinaufzieht. Im allgemeinen ist die Seele als weiblich dargestellt und das, was von außen den Menschen umgibt, als das Männliche. Immer wird die strebende Seele als weiblich dargestellt.

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In der Geheimlehre weiß man, daß die großen Führer der Menschheit, die Eingeweihten, es sind, die die Menschheit immer um eine Stufe weiterbringen. Lohengrin ist der Gesandte des Heiligen Gral. Er wird von dem mittelalterlichen Bewußtsein als der große eingeweihte Führer hingestellt, welcher in der Mitte des Mittelalters die Menschheit um eine Stufe weiterhringt. Er war der Bringer der Städtekuitur, derjenige, der das Bürgertum bei seinem Entstehen inspiriert hat. Das ist die Individualität des Lohengrin. Und Elsa von Brahant ist nichts anderes als das Symbol für die mittelalterliche Volksseele, die unter dem Einflusse des Lohengrin wieder eine Stufe in der Entwickelung hin ansteigen soll. Schön und gewaltig wird in der Sage dieser Fortschritt in der Menschheitsgeschichte dargestellt.

Wir haben gesehen, daß der im dritten Grade eingeweihte Schüler ein Schwan genannt wird. Der Meister, der tief eingeweiht ist, steigt höher, er steigt in die jenseitige Welt, in die Welten, zu denen das Menschheitsbewußtsein nicht hinanreicht. Er kennt alles, was durch die Menschheit spricht, lediglich in seinem Inneren. Ihn kann man nicht fragen: Woher bist du, welchen Namen hast du? - Der Schwan ist es, der ihn bringt aus noch höheren Sphären. Daher wird Lohengrin durch den Schwan in die Städteepoche gebracht. Sehen Sie den Fortschritt an, der im alten Griechentum gemacht worden ist. Die Götter in Griechenland sind nichts anderes als vergottete Eingeweihte. Nehmen Sie Zeus, der sich verbindet mit Semele; aus dieser Verbindung wird Dionysos. Die griechische Kultur geht daraus hervor. Alle großen Fortschritte der Menschheit werden in dieser Weise dargestellt. Nicht fragen soll Elsa nach Name und Herkunft dessen, der sie führt und ihr Gatte wird. So ist es mit allen großen Meistern, sie gehen unerkannt und unbemerkt durch die Menschheit hindurch. Würde man sie fragen, so würde

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sie das aus der Menschheit wegscheuchen. Notwendig ist es, daß sie das Heiligtum vor profanen Blicken und Fragen bewahren. So ist es auch, wenn dem menschlichen Verständnis nahegebracht würde das Wesen eines solchen Eingeweihten. In einem solchen Augenblicke würde ein solches Wesen auch verschwinden, wie das Lohengrin auch tat. Und daß die Befreiung des mittelalterlichen Bürgertums unter dem Einflusse des Christentums geschehen ist, selbst das wird dargestellt dadurch, daß uns Lohengrin als Sohn des Parzival genannt wird.

So blicken wir in die Sagen des Mittelalters hinein und sehen, wie die Tatsachen des geistigen Lebens in den beiden Sagen schön zum Ausdrucke kommen. Die Mission des Christentums für die mittelalterliche Kultur wurde damit die Mission der Befreiung des Menschen von dem irdischen Menschenleib. Diese Mission wurde in den beiden Sagen dargestellt. Sie wirkte besonders auf Richard Wagner. Er hat es immer versucht darzustellen: die reine Liebe, die den Menschen hellsehend macht. Schon im Jahre 1856 hat er ein Drama angefangen, «Die Sieger» genannt: Ananda, ein Brahmanenjüngling, wird geliebt von einem Tschandalamädchen. Ananda aber ist durch das Kastenvorurteil weit getrennt von der Liebe des Tschandalamädchens. Er darf der Liebe des Tschandalamädchens nicht nachgehen. Er wird Sieger über die eigene Natur dadurch, daß er ein Zögling des Buddha wird. In der Anhängerschaft des Buddha findet er den Sieg, da findet er sich zurück, da überwindet er die menschliche Neigung, und dem Tschandalamädchen wird eröffnet, daß es in einem früheren Leben ein Brahmanenmädchen war und die Liebe eines Tschandalajünglings ausgeschlagen hat. Sie wird dann auch Siegerin und ist vereinigt im Geiste mit dem Ananda, dem Brahmanenjüngiing. Später wollte Wagner die Figur des Jesus von

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Nazareth dramatisch verwenden. Er hat das ganze innere Wesen des Christentums und die Lehre von dem freien Menschen, die nicht an Titel und an irgend etwas an- deres gebunden sind, im Auge gehabt. Der Heilige Gral sucht lediglich im Inneren der Menschenseele. Im Jahre 1857, an einem Karfreitag - so erzählt Wagner-, stand er einer wunderbaren Natur gegenüber in Zürich. Da strömte ihm einen Augenblick aus der Weit etwas entgegen, was in ihm die ganze Stimmung, welche durch das ganze Rittertum und durch das christliche Rittertum ging, zum Ausdruck brachte. Er sagt sich, wie durch innere Inspiration: An dem Tage, wo der Christus Jesus starb, da darf kein Mensch Waffen tragen. - Die ganze Größe der Figur des Parzival, der durch die Versenkung in die Menschheit und in alle Wesen Wissen erlangte, ging ihm damals auf. Er nimmt nun sein begonnenes Stück «Die Sieger» in einer christlich- modernen Weise auf. In Parzival stellt er denjenigen dar, der von der Heimat weggeht, der nichts weiß von Namen und Titeln, nichts weiß von Banden und nichts von Vater und Mutter, der zusammentrifft auf der einen Seite mit dem Zauberschloß des Klingsor und der Zauberin Kundry, der da in einem Augenblick, als Kundry ihm entgegentritt, das ganze Bedeutungsvolle des irdischen Sinneslebens erlebt und das, was das sinnliche Leben bedeutet, wenn der Mensch allein durch Begierden es kennenlernt; und auf der andern Seite wird ihm in dem Augenblicke, wo es ihm nahetritt durch den Kuß der Kundry, klar, daß dieses Sinnliche in seiner wahrsten Bedeutung erst in dem Menschen auftritt, wenn es begierdenfrei ist. Groß und schön stellt nun Richard Wagner die begierdenfreie Sinnlichkeit dar, wie sie errungen wird durch die innere Kraft des Geistes, den ParzivalGeist, den er den christlichen nennt. So stellt er sie dar, wie sie errungen wird auf der einen Seite durch den Heiligen

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Gral und auf der andern Seite im Zauberschloß. Also auf der einen Seite durch ihre Bezwingung, auf der andern Seite durch ihre Abtötung. Das sind die zwei Seiten, die benötzt werden, um hinaufzukommen zum Geist. Die einen töten das Sinnliche ab, sie treiben Askese, sie nehmen sich die Organe, um nicht der Schwäche zu verfallen. Die andern bleiben Menschen, sie wollen nicht dadurch hinansteigen zu der höheren Erkenntnis, sondern dadurch, daß sie das Höhere zu einer noch größeren Stärke in sich entwickeln. Das ist der Weg, den Parzival als den richtigen erkannt hat. Stärker werden, wie stark auch die Versuchungen an uns herantreten mögen, das ist es. Und jetzt ist es Zeit, in den Gral aufgenommen zu werden. Er fragt jetzt in richtiger Weise und wird eingeweiht in die Geheimnisse des Heiligen Gral, er ist reif, selbst König des Heiligen Grals zu werden.

Wagner bemüht sich, den Heiligen Gral zu zeigen. Jahrelang hat er Studien gemacht, nicht gelehrtenhaft, aber von künstlerischen und seherischen Gaben erfüllt. Er hat Studien gemacht, indem er sich im wesentlichen an den Geist der mittelalterlichen Sagen gehalten hat, so daß bei ihm wirklich zum Ausdruck kommt jene durch einen Eingeweihten bewirkte Führung des Mittelalters, wo die alte Ordnung repräsentiert wird durch Ortrud, die neue Ordnung durch das sich emporringende Bewußtsein des Volkes, das sich frei machen will. Dieses Bewußtsein, das durch die Schwane, die Schüler im dritten Grade, hineingebracht wird in ganz sachgemäßer Weise, ist symbolisiert durch Elsa von Brabant und Lohengrin. So zeigt Wagner in sachgemäßer Weise das Große, das darin liegt. Wagner war es zu tun um eine wirkliche Erneuerung der Kunst. Er war es, der aus der Kunst wieder etwas machen wollte, was der Religion nahekam, der mit seinen Kunstwerken Stimmungen verkörpern wollte, die die Menschen wieder zum Göttlichen hinführen,

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wodurch er die Künstler zu religiösen Führern machen wollte. Wagner brauchte Stoffe, die über das gewöhnliche Leben hinausführten. Er wollte auch den Geist des Christentums, den Geist der Liebe hinstellen vor die Menschheit in künstlerischer Weise. Er hat es tief und ernst empfunden, wie in der neueren Zeit der Geist der Liebe ersetzt wurde durch den Geist des Egoismus, durch den Geist des äußeren Besitzes. Das, was als soziale Ordnung sich herausentwickelt hat und mit dem er in intensiver und radikaler Weise mit- gegangen ist, schildert er als ein Hinstreben nach dem Golde, als eine Zeit, die wieder abgelöst werden muß von dem echten christlichen Geiste der Liebe. Er wollte in seinen Musikdramen mit den Mitteln des Übermenschliclien und Göttlichen, das im Menschen lebt, in eine Welt, wo das Gold herrscht, wieder etwas hin stellen wie ein Einströmen der Liebe. Daher greift er auch bei diesen Fragen zu den großen Sagen des Mittelalters. Das war es, was in Richard Wagner lebte.

Daran können Sie sehen, wie die Theosophie oder Geisteswissenschaft mit ihrer Auffassung der Mythen der Kunst Wagners näherkommen muß. Es ist vor allen Dingen dem Theosophen klar, daß wir in den Sagen nichts anderes zu sehen haben als Bilder und Ausdrücke für große Wahrheiten. Den alten Völkern wurden dadurch gegeben die Bilder der Entwickelung des äußeren Lebens und der Seele. An der Lohengrin-Sage wird etwas klargemacht, damit der Mensch wüßte, was mit ihm geschieht, wenn er an gewissen Stufen angelangt ist. Den Völkern wird die Wahrheit in der Weise verkündigt, daß sie es fassen können. Stämme und Völker gab es und gibt es, die nur in Sagenform die großen Wahrheiten fassen können. Heute reden wir nicht mehr in hildlichen Formen. Die Geisteswissenschaft enthält dieselben Wahrheiten, die in grandiosen Sagen vor das alte Volk hin-

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gebracht worden sind und die Wagner zu erneuern sucht. Die Geisteswissenschaft redet in einer andern Weise, aber was sie als Geist einströmen lassen will in die Welt, ist dasselbe. Und so fühlen wir, daß nicht nur das wahr ist, was Schopenhauer sagt, daß die großen Geister sich über die Jahrhunderte hin verstehen, daß Plato und Spinoza, Buddha und Goethe, Giordano Bruno und Sokrates, Hermes und Pythagoras, über Jahrhunderte hin sich verstehen, miteinander reden, in einem geistigen Verkehr sind. Nicht bloß das ist wahr, nicht bloß die auserlesenen Individualitäten verstehen sich, sondern auch das, was als Wahrheit in dem Volksgeiste lebt. Das klingt zusammen zu einem großen geschichtlichen Sphärenklang, und das verspüren wir, wenn wir uns heute klarmachen, was in den Sagen und Mythen lebt, wenn wir es auferstehen lassen für die höhere Seele der Gegenwart. Eine Wahrheit lebt zu allen Zeiten und drückt sich in den verschiedensten Formen aus. Dringen wir ein in diese Wahrheiten und wir werden verstehen, wie die Völker und Zeiten in diesen einzelnen Formen sprechen, und wir werden es nachklingen hören, wie in den mannigfaltigsten Tönen die eine Wahrheit allen Völkern, allen Menschen sich kündet.

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DAS OSTERFEST Berlin, 12. April 1906

Goethe hat in der verschiedensten Weise ein ganz bestimmtes Gefühl, das er oft gehabt hat, zum Ausdruck gebracht. Er sagte: Wenn ich hinblicke auf die Inkonsequenz der menschlichen Leidenschaften, Empfindungen und Handlungen, dann fühle ich so recht den Zug, mich zur allgewaltigen Natur hinzuwenden und mich aufzurichten an ihrer Konsequenz und Folgerichtigkeit. - Dem, was die Menschheit seit den ältesten Zeiten in der Einrichtung der Feste zum Ausdrucke gebracht hat, liegt das Bestreben zugrunde, aufzublicken von dem chaotischen Leben der menschlichen Leidenschaften, Triebe und Handlungen, zu den großen konsequenten einheitlichen Tatsachen der großen Natur. Schön stimmt es zu diesen großen Tatsachen der großen Natur, daß große Feste zusammenhängen mit bezeichnenden Erscheinungen in der Natur. Ein solches mit den Erscheinungen in der Natur zusammenhängendes Fest ist das Osterfest, das für den Christen von heute das Auferstehungsfest seines Erlösers ist, das von altersher begangen wurde als das Erwachen von etwas für den Menschen ganz Besonderem. Wir blicken auf das alte Ägypten mit seinem Osiris-Isis-Horus Kult, der die ununterbrochene Verjüngung der ewig unsterbiichen Natur ausdrückt; blicken auf Griechenand und finden ein Fest dort zu Ehren des Dionysos, ein Frühlingsfest, das mit der erwachenden Natur im Frühling in irgendeiner Weise zusammengebracht wird. In Indien gibt es eine Vishnufestzeit im Frühling. Das Göttliche teilt sich für den Brahmanismus in drei Aspekte, in Brahma, Vishnu

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und Shiva. Brahma nennt man mit Recht den großen Baumeister der Welt, der Ordnung und Harmonie in der Welt bewirkt. Vishnu bezeichnet man als eine Art Erlöser, Befreier, Erwecker des schlummernden Lebens, und Shiva ist derjenige, der das von Vishnu erweckte schlummernde Leben segnet und emporhebt zu den Höhen, zu denen man es überhaupt erheben kann. Eine Art Festzeit war dem Vishnu geweiht. Man sagte, er schlafe ein zu der Zeit des Jahres, wo wir das Weihnachtsfest feiern und erwache zur Zeit des Osterfestes. Die, welche sich seine Diener nennen, feiern diese ganze Zeit in einer bedeutsamen Weise: sie enthalten sich dann bestimmter Speisen und Getränke und des Fleisches. So bereiten sie sich vor, um ein Verständnis für das zu haben, was vor sich geht, wenn beim Vishnufest die Auferstehung gefeiert wird, die Erweckung der gesamten Natur. Auch das Weihnachtsfest knüpft an in bedeutsamer Weise an große Naturtatsachen, daran, daß die Kraft der Sonne immer schwächer und schwächer wird, daß die Tage immer kürzer werden und daß von Weihnachten an die Sonne wieder größere Wärme ausstrahlt, so daß das Weihnachtsfest ein Fest der wiedergeborenen Sonne ist. So ähnlich war es auch von den Christen empfunden worden, das Wintersonnenfest. Als das Christentum im 6. und 7. Jahrhundert anknüpfen wollte an alte, heilige Geschehnisse, da wurde die Geburt des Christus Jesus auf den Tag verlegt, an dem die Sonne wieder aufstieg am Himmel. Die geistige Bedeutung des Weltheilandes wurde in Zusammenhang gebracht mit der physischen Sonne und dem erwachenden und wiedererstehenden Leben.

Im Frühling wird mit dem Osterfest auch angeknüpft, wie in allen ähnlichen Festen, an ein gewisses Sonnenereignis, das auch in äußeren Bräuchen zum Ausdruck kommt. Im 1. Jahrhundert des Christentums, da wurde das Symbol

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des Christentums dargestellt im Kreuze, an dessen Fuß ein Lamm ist. Lamm und Widder bedeuten dasselbe. Im Frühling erscheint die Sonne in jener Zeit, in der das Christentum sich vorbereitete, im Sterngebilde des Widders oder Lammes. Ihren Weg macht die Sonne durch die Sternbilder des Tierkreises; sie rüekt jedes Jahr ein Stückchen vor. Ungefähr sechshundert bis siebenhundert Jahre vor Christus Jesus rückte die Sonne in dieses Sternbild vor. Zweitausendfünfhundert Jahre rückt die Sonne in diesem Sternbild weiter; vorher war sie im Sternbild des Stieres. Damals ha- ben die Völker dasjenige, was ihnen als bedeutungsvoll vorkam im Zusammenhang mit der Menschheitsentwickelung, gefeiert durch den Stier, weil damals die Sonne im Sternbild des Stieres stand. Als döe Sonne eintrat in das Sternbild des Widders oder Lammes, da erschien auch in den Sagen und Mythen der Völker der Widder als etwas Bedeutsames. Das Widderfell holt Jason von Kolchis her- über. Der Christus Jesus selbst bezeichnet sich als das Lamm Gottes, und er wird dargestellt in der ersten Zeit des Christentums symbolisch als das Lamm am Fuße des Kreuzes. So kann man das Osterfest in Zusammenhang bringen mit dem Sternbild des Widders oder Lammes, und dieses Fest des- halb als das Auferstehungsfest des Erlösers betrachten, weil der Erlöser alles zu einem neuen Leben hervorruft, nachdem es erstorben war die Wintermonate hindurch.

Damit allein treten das Weihnachtsfest und das Osterfest nicht so deutlich auseinander, denn die Sonne gewinnt wieder an Kraft seit dem eigenen Auferstehungsfeste, dem Weihnachtsfeste. Es muß im Osterfest noch etwas anderes ausgedrückt sein. Das Osterfest wird in seiner tiefsten Bedeutung immer als das Fest des größten Menschenmysteriums empfunden werden, nicht bloß als eine Art Fest der Natur, das an die Sonne anknüpft, sondern es ist noch

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wesentlich mehr: es ist angedeutet in der christlichen Bedeutung der Auferstehung nach dem Tode. Und in dem Erwachen des Vishnu ist mehr noch hingewiesen auf das Erwachen nach dem Tode. Das Erwachen des Vishnu fällt in die Zeit, wo die Sonne im Winter wieder ihren Aufstieg beginnt, und das Osterfest ist ein Fortsetzen der aufsteigenden Sonnenkraft, die schon im Aufsteigen ist seit dem Weihnachtsfest. Tief in die Geheimnisse der Menschennatur müssen wir hineinblicken, wenn wir verstehen wollen, was für Empfindungen die Eingeweihten gehabt haben, wenn sie das im Osterfeste zum Ausdruck bringen wollten.

Der Mensch erscheint uns als eine doppelte Wesenheit, verbindend seelisch-geistige Wesenheit einerseits mit physischer Wesenheit andererseits. Die physische Wesenheit ist ein Zusammenfluß aller übrigen Naturerscheinungen, die in der Umgebung des Menschen sind: sie alle erscheinen wie ein schöner Extrakt in der Menschennatur, in der sie wie zusammengeflossen sind. Bedeutsam stellt uns Paracelsus den Menschen dar als einen Zusammenfluß dessen, was draußen in der Welt ausgebreitet ist: Wie die Buchstaben erscheine uns die Natur, und der Mensch bildet das Wort, das aus diesen Buchstaben zusammengesetzt ist. - In seinem Aufbau liegt die größte Weisheit; er ist physisch ein Tempel der Seele. Alle Gesetze, die wir an dem toten Stein, an der lebendigen Pflanze, an dem von Lust und Leid erfüllten Tiere beobachten können, sie sind zusammengefügt im Menschen, sie sind dort weisheitsvoll zu einer Einheit verschmolzen. Wenn wir den Wunderbau des menschlichen Gehirnes mit seinen unzähligen Zellen betrachten, die zusammenwirken so, daß all das zum Ausdruck kommen kann, was die Gedanken, die Empfindungen des Menschen sind, was seine Seele irgendwie durchzieht, so erkennen wir die allwaltende Weisheit in der Einrichtung seines physischen

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Leibes. In der ganzen Umwelt, wenn wir hinausblicken, erkennen wir kristallisierte Weisheit. Und wenn wir alle Gesetze der Umwelt mit unserer Erkenntnis durchdringen und dann auf den Menschen zurückschauen, so sehen wir konzentriert in ihm die ganze Natur, sehen ihn als Mikrokosmos im Makrokosmos. In dem Sinne war es, daß Schiller zu Goethe sagte: «Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der einfachen Organisation steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu den mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen.»

Durch den wunderbaren Aufbau des menschlichen Leibes vermag die menschliche Seele den Blick auf die Umwelt zu richten. Durch die Sinne schaut der seelische Mensch sich die Welt an und sucht nach und nach jene Weisheit zu ergründen, durch welche die Welt aufgebaut ist.

Betrachten wir einen noch recht unentwickelten Menschen von diesem Gesichtspunkte: Sein Leib ist das Vernünftigste, was nur auszudenken ist; zusammengeflossen ist die ganze göttliche Vernunft in dem einen Menschenleibe. Darinnen aber wohnt eine recht kindliche Seele, die kaum die ersten Gedanken entwickeln kann, um jene geheimnisvolle Kraft zu verstehen, die im Herzen, im Gehirn, im Blut waltet. Ganz langsam entwickelt sich die Menschenseele hinauf, um allmählich das zu verstehen, was an dem Menschenleibe gearbeitet hat. Das aber trägt an sich das Gepräge einer langen Vergangenheit. Der Mensch steht da als die Krone der übrigen Schöpfung. Äonen mußten vorangehen, bis die Weltenweisheit in diesem Menschenleibe zusammengefaßt wurde.

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Doch in der Seele des unentwickelten Menschen beginnt erst die Weltenweisheit zu wachsen. Da träumt sie kaum erst von dem großen Gedanken des Allgeistes, welcher den Menschen aufgebaut hat. Was aber jetzt noch wie schlafend im Menschen wohnt, das Seelisch-Geistige, wird in der Zukunft vom Menschen begriffen werden. Der Weltengedanke, er hat durch unzählige Jahresiäufe gewirkt, er hat in der Natur schaffend gewirkt, um zuletzt die Krone all dieses Schaffens, den menschlichen Leib zu bilden. In diesem menschlichen Leibe schlurnmert nun die Weltenweisheit, um in der Menschenseele sich selbst zu erkennen, um sich im Menschen ein Auge zu bilden, um sich selbst zu erfassen. Weltenweisheit draußen, Weltenweisheit drinnen, schaffend in der Gegenwart wie in der Vergangenheit, schaffend in die Zukunft hinein, die wir in ihrer Erhabenheit nur ahnen können. Die tiefsten menschlichen Gefühle werden aufgerufen, wenn wir so Vergangenheit und Zukunft betrachten.

Wenn die Seele anfängt, das Wunderbare zu begreifen, das von der Weltenweisheit aufgebaut wurde, wenn sie darüber zur besonnenen Klarheit, zum lichtvollen Herzenswissen gelangt, dann mag ihr die Sonne als das herrlichste Symbolum erscheinen, das dieses innereErwachen ausdrückt, das der Seele durch die Tore der Sinne den Zugang in die Außenwelt eröffnet. Das Licht empfängt der Mensch, weil die Sonne die Dinge beleuchtet. Das, was der Mensch in der Außenwelt sieht, ist das widergespiegelte Sonnenlicht. Die Sonne erweckt in der Seele die Kraft, die Außenwelt anzuschauen. Die erwachende Sonnenseele im Menschen, die anfängt in den Jahreszeiten den Weltengedanken zu erkennen, sie erblickt in der aufgehenden Sonne ihren Befreier.

Wenn die Sonne wieder ihren Aufstieg beginnt, wenn die Tage wieder zunehmen, dann blickt die Seele zur Sonne hin und sagt: Dir verdanke ich die Möglichkeit, in meiner Um-

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gebung den Weitengedanken ausgebreitet zu sehen, der in mir und in allen andern schläft. - Und nun blickt der Mensch auf sein früheres Dasein, auf das, was vorausgegangen ist dem tastenden Erfühlen des Weltengedankens. Der Mensch ist ja viel, viel älter als seine Sinne. Die geistige Forschung läßt uns zu jenem Zeitpunkte gelangen, in dem des Menschen Sinne erst in schwachen Anfängen sich herausgestalteten. Wir kommen zu dem Zeitpunkt, wo die Sinne noch nicht die Tore waren, durch welche die Seele die Umgebung wahrnehmen konnte. Schopenhauer hat dies empfunden und hat den Wendepunkt, wo der Mensch zur sinnlichen Wahrnehmung der Welt gelangt, charakterisiert. Das meint er, wenn er sagt: Diese sichtbare Welt ist erst entstanden, als ein Auge da war, um die Welt zu sehen. - Die Sonne hat das Auge, Licht hat das Licht gebildet. Früher, als solch ein äußerliches Schauen noch nicht war, da hatte der Mensch ein inneres Schauen. In Urzeiten der Menschheitsentwickeiung, da regte nicht ein äußerer Gegenstand den Menschen zu Wahrnehmungen an, von innen heraus aber stiegen Vorstellungen in ihm auf: das alte Anschauen war ein Anschauen im astralischen Licht. Der Mensch hatte damals ein dumpfes, dämmeriges Hellsehen.

In der germanischen Götterwelt hat der Mensch auch die Götter gesehen in dumpfem, dämmerigem, astralischem Anschauen und seine Göttervorstellungen daraus geschöpft. Dieses dumpfe Helisehen stieg herunter in die Finsternis und verschwand allmählich ganz. Es wurde ausgelöscht durch das kräftige Licht der physischen Sonne, die am Himmel erschien und die physische Welt für die Sinne sichtbar machte. So trat des Menschen astralisches Schauen zurück. Wenn der Mensch in die Zukunft blickt, da wird ihm klar, daß dieses astralische Anschauen auf einer höheren Stufe wiederkehren mtiß: Aufleben wird wieder, was jetzt wegen

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des physischen Anschauens erloschen ist, damit das volle wache Hellsehen des Menschen herbeigeführt werden könne. Zu dem Tagesanschauen wird hinzukommen ein noch helleres, leuchtenderes Leben des Menschen im Lichte der Zukunft. Zu dem physischen Anschauen tritt noch hinzu das Schauen in astralischem Lichte.

Führer der Menschheit sind jene Geister, welche durch ein enisagungsvolles irdisches Leben es vermocht haben, den Zustand schon vor dem Tode für sich herzustellen, den man das Schreiten durch die Todespforte nennt. Er schließt jene Erfahrungen in sich ein, die später der ganzen Menschheit zuteil werden, wenn sie das astralische Anschauen erworben haben wird, das ihr das Seelische und Geistige wahrnehmbar machen wird. Dieses Wahrnehmbarmachen des GeistigSeelischen um uns her, das nannten die Eingeweihten immer das Erwachen, die Auferstehung, die geistige Wiedergeburt, die dem Menschen zu den Gaben der physischen Sinne die Gaben der geistigen Sinne gibt. Ein inneres Osterfest feiert derjenige, der das neue astralische Anschauen in sich erwachen fühlt.

So können wir begreifen, daß das Frühlingsfest immer solche Symbole mit sich führt, die an Tod und an Auferstehung erinnern. Tot ist im Menschen das astralische Licht; es schläft. Aber wiederauferstehen wird dieses Licht im Menschen. Ein Fest, das auf das Erwachen des astralischen Lichts in der Zukunft hinweist, ist das Osterfest.

Der Schlafzustand des Vishnu beginnt um die Weihnachtszeit, wo das astralische Licht in Schlummer versank und das physische Licht erwachte. Wenn der Mensch dazu gelangt, dem Persönlichen zu entsagen, dann erwacht das astralische Licht wieder in ihm, dann kann er das Osterfest feiern, dann darf Vishnu wieder in seiner Seele erwachen.

In kosmisch geistvoller Erkenntnis wird das Osterfest

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nicht nur an das Erwachen der Sonne angeknüpft, sondern an das Aufgehen der Pflanzenwelt im Frühling. So wie das Saatkorn in die Erde versenkt ist und faulen muß, um neu zu erwachen, so muß das astralische Licht schlummern im Menschenleibe, um wieder auferweckt zu werden. Das Symbol des Osterfestes ist das Saatkorn, das sich hinopfert, um eine neue Pflanze erstehen zu lassen. Es ist das Opfer einer Phase der Natur, um eine neue erstehen zu lassen. Opfer und Werden - das drängt sich in dem Osterfeste zusammen. Schön und groß hat Richard Wagner diesen Gedanken empfunden. Er war am Zürcher See 1857 in der Villa Wesendonk; da sah er hinaus auf die erwachende Natur. Mit dem Gedanken an sie kam ihm der Gedanke an den erstorbenen und wiedererwachenden Weltenheiland, an den Christus Jesus, und der Gedanke an den Parzival, der in der Seele das Heiligste sucht.

Alle die Führer der Menschheit, die gewußt haben, wie das höhere geistige Leben der Menschen erwacht aus der niedrigen Natur heraus, sie haben den Ostergedanken verstanden. Daher hat auch Dante in seiner «Divina Comedia» sein Erwachen am Karfreitag dargestellt. Gleich am Anfang des Gedichtes wird uns das klar. Im fünfunddreißigsten Jahre seines Lebens hat Dante diese große Vision, die er schildert. In der Mitte seines Lebens läßt er sie sich vollziehen. Siebzig Jahre zählt das normale Menschenleben, fünfunddreißig Jahre ist die Mitte. Fünfunddreißig Jahre rechnet er für das Heranentwickeln der physischen Erfahrung, in welcher der Mensch noch immer neue physische Er- fahrungen aufnimmt. Dann ist der Mensch dafür reif, daß zu der physischen Erfahrung die geistige tritt. Er ist dann reif zur Wahrnehmung der geistigen Welt. Wenn die wachsenden, werdenden Kräfte des Physischen alle vereint sind, dann beginnt der Zeitpunkt, wo das Geistige zum Leben

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erweckt wird. Darum läßt Dante an dem Osterfeste diese Vision entstehen.

Das ursprüngliche Wachsen der Sonnenkraft wird in dem Weihnachtsfeste gefeiert. Das Osterfest wird geknüpft an die Mitte der wachsenden Sonnenkraft. Im Frühlingsmittelpunkt, im Osterpunkte stehen wir, wo Dante in der Mitte des menschlichen Lebens zu stehen glaubte, als er das geistige Leben in sich aufgehen empfand. Mit Recht wird das Osterfest in die Mitte des Aufstiegs der Sonne gestellt, entsprechend dem Zeitpunkt, wo im Menschen das schlummernde astralische Licht wieder erweckt wird. Die Sonnenkraft weckt die schlummernde Saat, das in der Erde ruhende Samenkorn. Das Samenkorn ist ein Bild geworden für das, was in der Menschennatur sich vollzieht, wenn im Menschen das erwacht, was der Okkultist das astralische Licht nennt. Es wird geboren im Innern des Menschen. Das Osterfest ist das Fest der Auferstehung im Innern des Menschen. Der Gedanke des erlösenden Christus ist in Zusammenhang gebracht worden mit dem kosmischen Gedanken.

Es ist eine Art Gegensatz gefühlt worden zwischen dem, was der Christ im Osterfeste sieht, und zwischen der geisteswissenschaftlichen Idee des Karma. Es scheint ein Gegensatz zu sein, diese Idee des Karma und die der Erlösung durch den Menschensohn. Die nicht viel verstehen von der Grundanschauung des geisteswissenschaftlichen Gedankens, sehen einen solchen Widerspruch zwischen der Erlösung durch den Christus Jesus und der Idee des Karma. Sie sagen: Der Gedanke von dem erlösenden Gott widerspricht der Selbsterlösung durch das Karma. - Sie verstehen weder im richtigen Sinne den Ostergedanken der Erlösung noch den Gedanken der Gerechtigkeit des Karma. Es wäre nicht richtig, wenn jemand einen andern leiden sähe und sagte zu ihm: Du hast selbst dies Leiden verursacht - und er ihm deshalb

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nicht helfen wollte, weil das Karma sich auswirken soll. Das ist ein Mißverstehen des Karma. Das Karma sagt im Gegenteil: Hilf dem, der leidet, denn du bist ja da, um zu helfen. Du verbesserst das Konto des Karma der Notwendigkeit, indem du deinem Mitmenschen hilfst. Dadurch gibst du ihm die Möglichkeit, sein Karma zu tragen. Du erscheinst dann als der Erlöser vom Leiden. - So kann man auch, statt einem einzelnen, einem ganzen Kreis Menschen helfen. Dadurch fügt man sich ein in das Karma dieser Menschen, indem man ihnen hilft. Wenn eine mächtige Individualität wie derChristus Jesus der ganzen Menschheit zu Hilfe kommt, so ist es sein Opfertod, der hineinwirkt in das Karma der ganzen Menschheit. Er konnte das Karma der ganzen Menschheit tragen helfen, und wir dürfen die Sicherheit haben, daß die Erlösung durch Christus Jesus in das Karma der Menschheit aufgenommen wurde.

Gerade der Auferstehungs- und Erlösungsgedanke wird durch die Geisteswissenschaft erst recht begriffen werden. Ein Christentum der Zukunft wird Karma und Erlösung zusammen vereinigen. Weil Ursache und Wirkung im geistigen Leben zusammenhängen, darum muß diese große Opfertat im Leben der Menschen auch ihre Wirkung haben. Auch auf diesen Festesgedanken wirkt Geisteswissenschaft vertiefend. Der Gedanke, der geschrieben zu sein scheint in der Sternenwelt, den wir zu lesen glauben in der Sternenwelt, diesen Gedanken des Osterfestes vertieft die Geist-Erkenntnis. Aber auch im Aufgange des Geistes in der Zukunft, der sich in der Menschenwesenheit vollziehen wird, erblicken wir die Tiefe des Ostergedankens. Jetzt lebt der Mensch in der Mitte seines Lebens in unharmonischen, verwirrenden Zuständen. Aber er weiß auch: Wie aus dem Chaos die Welt hervorgegangen ist, so wird aus seinem Innern, das noch chaotisch ist, einst die Harmonie hervorgehen.

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Wie der regelmäßige Gang der Planeten um die Sonne, so wird der innere Heiland des Menschen erstehen, der gegenüber aller Disharmonie das Einheitliche, das Harmonische bedeuten wird. Ein jeder soll durch das Osterfest erinnert werden an die Auferstehung des Geistes aus der jetzigen verdunkelten Natur des Menschen.

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INNERE ENTWICKELUNG Berlin, 19. April 1906

Heute möchte ich wieder zu Ihnen sprechen über innere Entwickelung. Diejenigen, welche öfter diese Vorträge besuchen, werden sich erinnern, daß ich verschiedene Ausführungen über dieses Thema bereits gegeben habe. Ich werde daher nur berühren, was früher schon besprochen worden ist und das hinzufügen, was darüber hinausgeht.

Es ist immer wieder zu reden gewesen von Tatsachen der Erscheinungen der höheren Welten, und es liegt die Frage nahe: Wie kommen wir zu solchen Erkenntnissen? - Nun ist der Weg zu diesen Erkenntnissen kein so leichter, daß er sich in ein oder zwei Stunden auch nur in ganz äußerlicher Weise beschreiben ließe. Aber es muß doch ab und zu eine Andeutung darüber fallen, wie man sich diese Entwickelung vorstellen soll. Sie alle wissen, daß hier nicht nur von der gewöhnlichen physischen Welt die Rede ist, sondern es ist hier auch noch die Rede von der Welt des Seelischen und von der Welt des Geistigen, die wir als astralische Welt und als das Devachan kennenlernten. In allen diesen Welten lebt der Mensch. Er gehört nicht einer, er gehört drei Welten an. Er gehört im Grunde viel mehr Welten noch an, aber die Erkenntnis noch höherer Welten liegt so sehr über dem heutigen gewöhnlichen Stand der Erkenntnismöglichkeit der Menschen, daß schwerlich hier von diesen Welten noch die Rede sein kann.

Die Frage, die wir uns nun stellen müssen, ist diese: Wie dringt der Mensch hinauf zur astralen und zur geistigen Welt? - Das sind die Welten, in denen der Mensch hier zwar lebt, von denen er aber zunächst nichts weiß, in denen er

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leben wird, wenn er einstmals nicht mehr von einem sinnlichen Körper bekleidet sein wird. Alles, was als sinnliche Welt um uns herum lebt, kann also dann keine Bedeutung mehr für uns haben. Aber die andern Welten, die durch höhere Erkenntnisse erworben werden, haben dann sehr wohl für uns eine höhere Bedeutung. Es wird oft gefragt: Wozu braucht denn eigentlich der Mensch die Erkenntnisse von andern Welten als derjenigen, in der er lebt? Wenn der Mensch seinen Mitmenschen Gutes erweist, wozu braucht er sich da um höhere Welten zu kümmern? - Dies ist ein Einwand, der sehr bald in seiner Nichtigkeit erkannt werden muß. Diejenigen Kräfte, Tatsachen und Wesenheiten, denen der Mensch in den höheren Welten begegnet, sind nämlich nicht nur wirksam in diesen, sondern sie wirken herein in unsere physische Welt. Denn die Dinge sind nicht durch sich selbst gemacht, sondern sie sind durch die Kräfte der geistigen Welt zustande gekommen. Wir erkennen auch uns selbst nur oberflächlich, wenn wir uns nur durch die Sinne erkennen. Durch die Sinne stellt sich uns nur dar, was sich zwischen Geburt und Tod abspielt. Mit dem Menschen tritt bei der Geburt eine ganze Summe von Anlagen und Fähigkeiten in die Welt hinein. Nur ein oberflächliches Urteil kann sagen, daß der Mensch mit seiner ganzen Anlagenwelt erst im Moment der Geburt oder der Keimesentwickelung beginnen sollte.

Im Okkultismus, der sich mit den für die Sinne unbekannten Welten beschäftigt, spricht man davon, daß dem gewöhnlichen Menschen das Unterscheidungsvermögen für die wichtigsten Tatsachen abgeht; er beobachtet keineswegs intensiv genug, wie unbeholfen der Mensch in die Welt tritt, wie der Mensch immer mehr seine erst in der Anlage vorhandenen Organe zu Organen des Geisteslebens gebrauchen lernt. Da sehen wir den einen, der sehr wenig die Organe

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seines Geistes zu gebrauchen versteht, wogegen der andere nicht nur seine ganzen Gliedmaßen in ganz besonderer Weise beherrscht, sondern auch seine Gehirneswerkzeuge in ganz besonderer Art gebrauchen lernt. Gerade der materialistische Denker müßte sagen: Ich glaube an die Bedeutung der menschlichen Organe; aber warum passen diese Organe zu den Gefühlen und Empfindungen des einen und auch zu den Gefühlen und Empfindungen des andern? - Ein jeder gibt zu, daß ein Hammer, dessen sich der Mensch zu irgendeiner vernünftigen Verrichtung bedient, doch erst durch eine vernünftige Gedankenarbeit zustande gekommen sein muß. Für den Hammer glaubt es jeder. Von dem Leib, von den Lebewesen überhaupt glaubt der materialistische Denker das nicht. Niemals kann daher der, der den Wunderbau des menschlichen Gehirns studiert, der den Wunderbau des menschlichen Herzens kennenlernt, nimmer kann der glauben, daß diese Dinge alle durch irgendein blindes Ungefähr, durch irgendein geistloses Geschehen zustande gekommen sein können. Aber diese Dinge stellen sich bei jedem Menschen in einer andern Art dar, als das bei den Tieren vorkommen kann. Tiere sind alle der Abdruck eines allgemeinen Schemas, die besonderen Unterschiede kommen dabei weniger in Betracht. Das Wort «Individualität» macht uns diesen Unterschied mit einem Male klar. Weil jeder Mensch eine Individualität ist, deshalb kommt jeder einzelne viel mehr in Betracht. Ein jeder Mensch, eine jede Individualität bereitet sich in ihrer eigenen Art ihren Körper vor. Denn zu der besonderen Anlage, die jeder Mensch hat, muß dieser Körper passen. Wenn der Mensch durch die Geburt in sein Dasein tritt, war er geistig schon da, und er selbst ist es, der sich die Organe zu seinem individuellen Gebrauch zubereitet hat, nicht bis zu seinem letzten Ende - denn der Mensch ist auch ein tierisches Geschöpf -, aber je höher er sich entwickelt,

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desto mehr hat er auch den Bau seiner eigenen Organe in der Hand. Man könnte allenfalls glauben, daß ein ganz auf der niedersten Stufe stehender Mensch bei seiner Geburt begonnen habe; aber kein vernünftiger Denker kann annehmen, daß ein denkendes Wesen vor seiner Geburt noch nicht da war. Die Verrichtungen mit dem Hammer kann jeder vornehmen, die Verrichtungen des Gehirns kann aber keiner für den andern vornehmen. Daher ist der Mensch ohne die Annahme, daß er über Geburt und Tod hinausgeht, nicht verständlich, sondern nur dann, wenn man die Kräfte anerkennt, welche die Organe des menschlichen Denkens schon vorher vorgearbeitet haben.

Die Erhebung in die astrale und die geistige Welt ist für den einzelnen Menschen mit gewissen Schwierigkeiten, mit Entsagen verbunden, dem er sich unterziehen muß, und auch mit gewissen Gefahren. An die Welt der Sinne ist der Mensch gewöhnt, aber an die andern Welten ist er nicht so gewöhnt. Vor allem müssen wir uns darüber klar sein, daß uns für vieles, was in dieser Welt unsichtbar bleibt, die Ursachen in den höheren Welten klarwerden; dadurch wird der Mensch überrascht, bestürzt. Und auch die Übungen, durch die er hochkommen will, strengen ihn in gewisser Weise an. Weil es Gefahren gibt, sagen einige, daß man zu der höchsten Erkenntnis der göttlichen Weltenkräfte auch kommen könne, wenn man nichts wisse von diesen hinter der Sinneswelt verborgenen geistigen und astralen Kräften. Es wird heute geradezu behauptet, daß der Mensch zu der Gotteserkenntnis sich auch erheben könne, ohne erst die Welten, die ihn trennen von dem Allerhöchsten, wirklich zu durchlaufen.

Eine solche Rede kann nur der führen, der nicht eine wirkliche Ahnung von den höheren Welten hat. Eine Art höherer Erkenntnis, die auch oftmals eine theosophische genannt

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wird, ist nichts anderes als eine ganz gewöhnliche Erkenntnis des menschlichen niederen Selbstes, und ob er noch so sehr das niedere Selbst als sein Göttliches bezeichnet, er findet nichts als sein niederes Selbst. Nur außer sich findet der Mensch sein höheres Selbst, denn wir sind herausgeboren aus der äußeren Welt. - Es gibt manche spirituelle Bewegungen, die den Menschen von der äußeren Welt hinwegweisen; man solle das höhere Selbst nur in sich selbst suchen. Dieser Standpunkt kann nie zu einer wirklichen Erkenntnis führen; er ist zu gleicher Zeit ein unchristlicher und widerchristiicher. Nur in der Hinkehr zu der Welt, die uns umgibt, finden wir unser höheres Selbst. Wir müssen den Gott suchen in den unsichtbaren Welten und in allen äußeren Geschöpfen, Tatsachen und Vorgängen. Wenn uns jemand sagt: Verleugne die äußere Welt, es gibt diese äußere Materie nicht -, so verleugnet ein solcher die göttliche Welt; und es gibt für eine große Perspektive keine schlimmere Erkenntnis, als sich von der Außenwelt abzuwenden. Gerade die Vertiefung in die Außenwelt führt zu höherer Erkenntnis. Ein wenig hinaufgehoben über die Erde, verdorrt alles Körperliche, ein wenig über die geistige Welt erhoben, verdorrt alles Seelische. In der Welt leben, aus der der Mensch herausgeboren ist, der er angehört, wie die Hand zum Körper gehört, das gehört zu der Gesinnung, die in Wahrheit zu höherer Entwickelung führt. Fragen Sie Ihr eigenes Inneres, wo der Sinn eines Menschen liegt. Ebensowenig wie der Mensch sich von der Außenwelt abwendenkann, ebensowenig liegt der Sinn des Menschen in der Haut eingeschlossen. Er gehört zu dem höheren Selbst der Welt, und indem wir das höhere Selbst der Welt erforschen, erforschen wir unser eigenes höheres Selbst. Es ist nicht möglich, für den Okkultismus zu agitieren. Nur der, der wirklich will, und der die Bedingungen zu der höheren Entwickelung

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erfüllen will, muß sich auch anheischig machen, das auszuführen, was vom Okkultismus zu einer solchen hohen Entwickelung vorgeschrieben wird. Die eigentliche okkulte Richtung in der Theosophie soll daher nicht mit dem verwechselt werden, was man oft äußerlich Theosophie nennt. Es handelt sich um durch Jahrhunderte hindurch erprobte Methoden. Es ist in eines jeden Menschen eigenen freien Willen gestellt, wann er das Ziel erreichen will; daher kann auch kein Einwand gelten wie der, er sei ein Außenstehender.

Die höhere Entwickelung, zu der jeder Mensch gelangen kann, geht langsam und allmählich vor sich. Die Welt, die der Mensch dann sehen kann, in der lebt er immer. Sie alle leben nicht bloß in der sinnlichen Welt, sondern ebenso wahrhaftig umgeben Sie hier seelische und geistige Kräfte und geistige Geschehnisse. Und diese geistigen und seelischen Welten sind für den da, dessen geistiges und seelisches Auge geöffnet wird. Die Methoden sind da, um das geistige und seelische Auge des Menschen überhaupt zu öffnen. Dann lebt der Mensch erst für diese Welten; denn es ist etwas Verschiedenes zwischen Leben in diesen Welten und Wahrnehmen in diesen Welten. Leben tut der Mensch auch in der Nacht in diesen Welten, aber er nimmt nicht wahr, weil ihm die Organe dazu noch fehlen. Darin besteht die höhere Entwickelung, daß die Seele seelische Organe bekommt und dadurch wahrnehmen lernt.

Zuerst erwächst alles höhere Erkennen in der Nacht. Während für den bloß sinnlich wahrnehmenden Menschen sich in der Nacht Finsternis verbreitet, wird für den seelisch wahrnehmenden die Finsternis erhellt. Es gibt ein Licht, das die Welt erhellen kann, wenn auch keine Sonne da ist, das nicht den Tisch wahrnehmbar macht, wohl aber die seelischen Tatsachen. Das ist das astrale Licht. Haben Sie seelische Organe,

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ist Ihre Seele nicht blind, dann kann das astrale Licht auch die Seele eines Menschen schauen, wo vorher die Augen die Gestalt sahen. Die Seele ist dann durch das astrale Licht erhellt, wie der Körper durch das Sonnenlicht am Tage erhellt ist. Alles was da im Menschen entwickelt werden soll, ist der Anlage nach in ihm schon vorhanden, so wie der Menschenkeim die Anlage zu Augen und Ohren hat, so sind die Anlagen zum Hellsehen auch in der Seele, die in jedem Menschen wohnt, vorhanden; aber so, wie der Menschenkeim noch nicht in der physischen Welt sehen kann, so müssen auch die geistigen und seelischen Anlagen in dem Menschen entwickelt werden. So ist der Mensch in der seelischen Welt jetzt eigentlich in der Keimesanlage. Das, was heute noch nicht das Seelische und Geistige sieht, das wird später sehen. Da liegt der Anfang zu der Betrachtung: Was tut denn diese Seele jetzt während des Schlafes? - Dort ist die Seele nicht untätig, auch wenn sie nicht sieht. Die Kräfte des physischen Menschen erschöpfen sich im Laufe des Tages, aber des Menschen Seele arbeitet während des Schlafes an der Wiederherstellung der physischen Kräfte. Und weil die Seele mit sich selbst beschäftigt ist, hat sie keine Kraft frei, um Organe neu zu entwickeln. Aber diese Kräfte müssen herhalten, um Neues zu bilden; dadurch wird dann dem Menschenleib etwas entzogen. Diesen physischen Leib hat sich des Menschen Geist nach und nach auferbaut, und die Werkzeuge, die der Mensch gebraucht, baut sich die Seele selbst nach und nach auf; ebenso arbeitet die Seele auch, wenn der physische Leib abgenutzt wird. Während des Schlafes bringt sie alles wieder in Ordnung.

Wenn Sie nun die Kräfte des Schlafes anders gebrauchen, müssen Sie dafür Ersatz schaffen. Alles was im Kampf der Kräfte verlorengeht, kann durch die Harmonie der Kräfte ersetzt werden. Wenn der Mensch heute, wo er fortwährend

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arbeitet, wo er jedem Willensimpuls folgt, im Beruf, bei jeder Sensation, in regelloser Weise fühlt, will und denkt, so nutzen sich durch diesen Kampf seine Kräfte ab. Wenn er dann daran denkt, gewisse Kräfte der Seele seinem Leibe zu entziehen, muß er dem Leib Ersatz bieten in gewissen Verrichtungen harmonischen Geschehens. Daher schreibt die innere Entwickelung für den Anfang ganz bestimmte Tugenden vor, damit die Kraft, die jetzt dem Leibe entzogen wird, durch den Rhythmus ersetzt wird. Diese Tugenden sind: Kontrolle der Gedanken, der Handlungen, Unbefangenheit, Ertragsamkeit, Lebensgleichmut, Vertrauen in seine ganze Umgebung.

Heute ist der Mensch jedem Einfall hingegeben; er muß aber selbst derjenige sein, der seinen Gedanken gegenüber die Zügel führt. Dann bringt er Rhythmus in sich hinein. Aus eigener Initiative Handlungen vollbringen, jede Handlung sich so vornehmen, daß sie seine ureigene ist, das bringt in ihn eine solche Ruhe, die für die Seele nötig ist. Ertragsamkeit: sicher und fest stehen, Leid und Freude über sich ergehen lassen; ertragsam werden: durch die Freude ebensowenig wie durch den Schmerz aus dem Geleise gebracht werden. Weiter muß sich der Mensch die größte Unbefangenheit erwerben. Durch nichts wird er mehr abgenutzt, als wenn er an das Negative der Dinge herantritt; das bedeutet eine Disharmonie und zugleich eine Erschöpfung des Menschen. Dafür ist jene persische Legende maßgebend, die uns berichtet, wie der Christus Jesus und seine Jünger einst an einer Straße einen verwesenden toten Hund liegen sahen. Die Jünger baten den Meister, sich doch nicht mit dem Hund abzugeben, das Tier sei doch zu häßlich. Christus aber besah sich den Hund und sagte: Was für schöne Zähne hat doch das Tier. Er suchte hier das Schöne in der doch häßlichen Sache. Alle Bejahung belebt, alle Verneinung erschöpft

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und tötet. Nicht nur, weil eine sittliche Kraft dazu- gehört, sich der positiven Seite einer Sache zuzuwenden, sondern weil eine jede Bejahung belebt und Kräfte der Seele frei und sicher macht.

In einem solchen Zeitalter wie heute herrscht auch die Nervosität. Nervosität und Kritiksucht gehören zusammen. Die vorgeschriebenen Tugenden sind dazu da, um höhere Kräfte für den Menschen freizubekommen. Solche Tugenden, die das ganze untere Leben rhythmisch machen sollen, geben der Seele Kräfte, daß sie sich der höheren Entwickelung widmen kann. Ganz still geht diese innere Entwickelung vor sich.

Einige von den Dingen, die dazugehören, möchte ich noch aufzählen. Diese Dinge waren früher das Geheimnis der okkulten Schulen, aber jetzt werden sie aus bestimmten Gründen mitgeteilt. Wenn ein Mensch durch eine solche Übung seine Seele vorbereitet hat, wird er von irgendeinem Lehrer, den er finden wird, wenn er ihn finden soll, weitergeleitet. Er geht dann durch verschiedene Stufen der Schülerschaft hindurch und muß die Kräfte, die er freibekommen hat, zum höheren Seelenleben gebrauchen.

Das erste ist, daß eine einzelne Meinung im Grunde gar nichts wert ist. Die persönliche Meinung, der Ausdruck: Ich glaube darüber dies oder jenes muß der Mensch als höherer Schüler gründlich überwinden. Nun muß aber der höhere Schüler nicht nur die Torheit des Materialisten einsehen, sondern auch die guten Gründe, die der Materialist für sich haben kann, in sich durchmachen, um einzusehen, wie jemand dazu kommen konnte, Material ist zu werden. Er wird finden, daß alle Menschen, wo sie zu den Dingen ja sagen, also die positive Seite behaupten, meistens Recht haben; wo sie nein sagen, fängt das an, was der höhere Schüler überwinden lernen muß. Die Gründe und den Gehalt einer jeden

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Weltanschauung muß er nicht nur logisch kennengelernt haben, sondern er muß sie auch gelebt haben. Er muß sich in die Seele eines jeden Zweiflers hineinversetzen. Ohne daß der Schüler weiß, was sich gegen jedes einwenden läßt, erwachen die höheren Kräfte nicht. Wer das durchgemacht hat, der wird auch in seiner Seele Kräfte zum Erwachen bringen, die ganz sicher kommen.

Dann muß er jeden Aberglauben überwinden; nicht nur den Aberglauben des afrikanischen Fetischanbeters, sondern auch den des aufgeklärten Europäers. Jeder kennt die Wirkungen der Hypnose; unsere europäischen Professoren, zum Beispiel Wundt erklärte den Hypnotismus dadurch, daß er sagt, es seien gewisse Gehirnpartien nicht gut mit Blut versorgt. Das ist aber nichts anderes als der Aberglauhe des Afrikaners. So könnten Sie im Grunde alle materialistischen Theorien, die nur von gewissen Gehirnpartien sprechen, widerlegen. So groß Haeckel als Naturforscher ist, so klar muß es jedem sein, daß das, was dieser Naturforscher über diese Dinge behauptet, der pnrste Aberglaube ist. Alle Formen des Aberglaubens muß der Schüler überwinden.

Das dritte ist die Erkenntnis der Illusion des persönlichen Selhstes, indem der Mensch sich einredet, er könne in sich selbst das höhere Lehen finden. Hat der Mensch das erreicht, dann ist er reif für die zweite Stufe. Der Mensch muß durch die Illusion des persönlichen Selbstes hindurch, er muß die Berechtigung erkennen, um sich dadurch von ihr zu befreien. Das nächste ist, daß ihm jedes Ding zum Gleichnis werden muß: «Alles Vergängiiche ist nur ein Gleichnis.» Jedes Ding nehmen als das, was es eben ist, ein Gleichnis für das, was es zum Ausdruck bringt. Die einzelne Blume, selbst der einzelne Mensch muß für den Menschen zum Gleichnis werden; dann wird er schon fühlen, wie das in seiner Seele Kräfte erwachen macht. - Hat der Mensch so eine Zeitlang gelernt,

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die Dinge als Gleichnis zu betrachten, dann muß er lernen, daß der Mensch eine kleine Welt ist, daß es in ihm nichts gibt, was nicht der Welt draußen entspräche. Ein tiefer Sinn liegt in der germanischen Mythologie, wo erzählt wird, daß aus dem Riesen Ymir die ganze Welt gebildet wird. Wie jedes Organ mit der Welt zusammenhängt, muß er kennenlernen, dann wird er seinen eigenen Organismus in das richtige Verhältnis bringen können. So wie der Mensch durch die Welt schreitet, ist er sich nicht bewußt, wie seine Organe mit der Welt zusammenhängen. Das muß er lernen. Der morgenländische Okkultist lehrt das sogar so, daß er den Schüler dabei in eine ganz besondere Sitzweise bringt, damit er auch äußerlich in einem richtigen Verhältnis zur Welt stehe.

Ein weiteres, was der Mensch dann lernen muß und das hier auch nur erwähnt werden kann, ist, daß er etwas, was sonst nur durch eine ihm unbewußte Natur geregelt wird, bewußt regelt. Das ist zunächst das Atmungssystem. Will der Mensch sich höherentwickeln, so muß sein Atmen ein den großen Entwickelungsprozessen angemessenes werden. In bestimmt vorgeschriebener Weise einatmen, den Atem innehalten und wieder ausatmen. Wenn der Mensch vom Geiste aus Regelung in sein Atmen bringt, dann vergeistigt er seinen Odem, seine Lebensluft. Damit steigt er von der Hathajoga zur Rajajoga, der königlichen Joga.

Dann kommt das Höchste: die Meditations- und Kontemplationsübungen mit dem Leben des Menschen in sich selbst. Wenn der Mensch sich so vorbereitet und geübt hat, wenn er bis zur Rhythmisierung seines Lebens hinaufgedrungen ist, dann ist er vollends reif, ein inneres Leben zu führen. Drei Stufen der Meditation gibt es. Sie kann organisch hineingegliedert werden in den rhythmischenAtmungsprozeß. Zunächst muß der Ausgangspunkt genommen werden

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von der Sinnenwelt, damit der Mensch sich von der äußeren Weit und von der Menge ihrer äußeren Eindrücke ablenken kann. Seine ganze Aufmerksamkeit selbst in die Hand zu nehmen, das hilft ihm für die höhere Entwickelung. Wenn er imstande ist, auf diese Weise Herr seiner Aufmerksamkeit zu sein, dann muß er imstande sein, sich ganz in den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit zu vertiefen, nichts anderes hinzulassen; nur der eine Gedanke muß in ihm leben. Am besten ist es, wenn ihm von dem Lehrer nach seiner Individualität ganz bestimmte Aufgaben gegeben werden. Wenn er es so weit gebracht hat, muß neben ihm eine Kanone losgeschossen werden können, ohne daß er abgelenkt wird. Dann hat er den Gegenstand seines Nachdenkens selbst zu verlassen, aber die Tätigkeit beizubehalten. Das ist das, was ihn in die höchsten Welten bringt.

Wenn der Mensch es so weit gebracht, nachdem er den Gegenstand durchdacht, dann ihn aber fallengelassen hat und nur in der Tätigkeit lebt, dann erreicht er den Zustand, den man im Okkultismus denjenigen des Dhyana nennt. Und diesen Zustand kann er unmittelbar fallenlassen; dann ist sein inneres Auge erweckt.

Er lernt die Kräfte seines Denkens an äußeren Gegenständen üben. Dabei kommt er aber noch nicht sonderlich weit; er gelangt da zu einer Welt, die sich wie eine Art Knochengerüst für die höhere Welt ausnimmt. Er hat nun aus dem Gegenstand heraus ein Gefühl zu entwickeln von ganz besonderer Intensität, wiederum mit Ausschluß von allem andern. So muß er imstande sein, etwas ganz Bestimmtes zu fühlen, wenn er einen Kristall in der Hand hat; so muß er etwas fühlen, wenn er ein Oktaeder in der Hand hat. Er bekommt ein Gefühl, das man haben kann gegenüber der leblosen Welt. Wir vergleichen dann das leblose Gestein mit dem lebenden, bluterfüllten Wesen und sagen

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uns: Das hat Sinnlichkeit, das wasserhelle Gestein ist aber begierdelos. Bin ich imstande zu fühlen, wie der Stein seine Begierde hat ersterhen lassen, wie er rein und keusch geworden ist, und weiß ich mich selbst zu vertiefen in dieses Gefühl, so daß die Welt um mich abstirbt und ich nur dieses Gefühl in mir leben lasse - sei es das Gefühl aus dem Kristall, aus dem Tier oder dem Menschen -, und wenn ich dann den Gegenstand fallenlassen kann, in derselben Weise zurückgehe wie vorhin und in den Zustand von Dhyana komme, dann merke ich, daß das Gefühl nicht bloß ein Gefühl ist, sondern daß es anfängt hell zu werden, daß das Gefühl eine Lichterscheinung zu werden beginnt. So erscheint das, was man als Gedankenform wahrnimmt, was man aber besser als Gefühlsform bezeichnen sollte.

Das sind einzelne Begriffe, die ich Ihnen heute geben wollte. Immer sind Lehrer dagewesen, die dem einzelnen Anleitung, für seine Individualität passende Aufgaben gaben. Ein jeder Mensch hat in der geistigen Welt seinen eigenen Namen; er ist in ihr noch viel mehr individuell als in der physischen Welt, und diese eigene Individualität muß sorgsam berücksichtigt werden, besonders auf den höheren Stufen, wenn es sich um höhere Entwickelung handelt. Daher kann nur ein Lehrer das geben, was notwendig ist.

Was ich heute gegeben habe, sind die ersten Stufen von dem, was man nennt: das Selbst zu erkennen. Wenn der Mensch die Gegenstände um sich herum fühlen lernt und die Gegenstände Farben annehmen, die sich dann zu Bildern kristallisieren, dann sieht er seine Gefühlswelt um sich herum. Man muß sich selbst als ein Objektiver gegenübertreten, dann überschreitet man die Schwelle, wo man sich wahrnimmt mit alledem, was man ist und noch nicht ist. Der erste Hüter der Schwelle steht da vor uns, der uns zeigt: Das bist du! - Ein jeder muß sich selbst erkennen lernen,

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denn durch Selbsterkenntnis kommt er zur Welterkenntnis. Es darf aber nun auch niemand die Selbsterkenntnis als Gotteserkenntnis nehmen. Daher stand an der Pforte des Delphischen Tempels geschrieben: Erkenne dich selbst! - Und wenn man durch die Selbsterkenntnis hindurchgeschritten ist, dann schreitet man in das innerste Heiligtum der Welt, wo die göttlichen Kräfte walten und geistige Erkenntnisse gegeben werden. Wenn sich das eigene Innere verbunden fühlt mit dem Welteninneren, wo erst im wirklichen Sinne von innerer Entwickelung gesprochen werden kann, wenn der Mensch sich würdig und nicht in frivoler oder niedriger Weise dieser Erkenntnis nähert, dann wird sie ihm werden. Und es wird ihm gegeben, wodurch seine Menschheit immer mehr entwickelt werden kann und er ein immer würdigeres Glied im Werdegang der Menschheit wird. Keiner aber soll zu höherer Erkenntnis herauf wollen bloß um seiner selbst willen. Nur um ein Diener des ganzen Weltalls zu werden, soll der Mensch sich entwickeln, seine Kräfte erhöhen, und Erkenntnisse sammeln, heißt: seine Kräfte erhöhen.

So werden wir Diener innerhalb des Weltenganzen, und in diesem Sinne allein soll das Vorschreiten zu höherer Erkenntnis geschehen.

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PARACELSUS Berlin, 26. April 1906

Es ist gewiß reizvoll, sich in die Vergangenheit zu vertiefen und ein wenig Umschau zu halten bei den großen Geistern, die uns vorangegangen sind. Bei der Persönlichkeit, von der wir heute sprechen wollen, kommt aber noch etwas ganz anderes als der Reiz geschichtlicher Betrachtung als Gesichtspunkt in Betracht. Es kommt bei Paracelsus viel mehr darauf an, daß er den Menschen von heute noch sehr, sehr viel geben kann. Und gerade eine Bewegung der geistigen Erforschung der Dinge, wie es die Geisteswissenschaft ist, ist ganz besonders geeignet, den Schatz zu heben, den Geist der Erkenntnis, der Naturerforschung und -erleuchtung, der bei Paracelsus verborgen liegt. Zwar wendet sich mehr oder weniger die Tagesforschung heute auch Geistern wie Jakob Böhme, Paracelsus und andern dieser Zeit des ausgehenden Mittelalters zu. Allein die Betrachtungsweise unserer gegenwärtigen Wissenschaft ist doch so verschieden von dem Geist, dem Standpunkt eines Mannes wie Paracelsus, daß sie, im wahrsten Sinne des Wortes, ihm doch nicht gerecht werden kann.

Paracelsus muß nämlich in einer andern Art begriffen werden, als es gewöhnlich geschieht, wenn man sich heute in einen Geist der Vergangenheit vertieft. Man muß ein lebendiges Gefühl empfinden für den Gegenstand und die Richtung des Denkens, denen er sich hingegeben hat. Das ist in gewisser Beziehung eine solche Vertiefung in das Geistesleben, namentlich in die geistigen Kräfte und Wesenheiten, die der Natur zugrunde liegen, und das kann nur eine Betrachtungsweise,

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wie es die geisteswissenschaftliche ist. Einer interessanten Zeit gehört Paracelsus schon an. Es war die Zeit von 1493 bis 1541, in der er lebte, die entweder eben hinter sich hatte oder noch mitten darinstand in dem, was wir das Heraufkommen des Bürgertums nennen. Das übte im Grunde genommen auf das ganze Geistesleben einen bedeutsamen Einfluß aus.

Zwei Stände nur kamen für das tonangebende Geistesleben vor dem Herankommen des Bürgerlebens in Betracht: Adel und Geistlichkeit. Nachdem das Bürgertum heraufkam, war die Geisteskultur außerordentlich viel mehr auf die Einzelpersönlichkeit und deren Tüchtigkeit gebaut als vorher, wo auf der einen Seite innerhalb des Adeltums die Blutsverwandtschaft, die Stammeszugehörigkeit über den Wert des Menschen und seine Stellung, die er in sozialer Beziehung einnehmen sollte, mitsprachen, wo nicht das allein, was der einzelne Geistliche aus sich selbst schuf, hinter ihm stand, sondern wo hinter dem einzelnen die ganze Kraft und Geisteskultur der Kirche stand. Die stand als ein Ganzes hinter der einzelnen Persönlichkeit. Erst in der Zeit des Bürgertums war die Leistung des einzelnen auf die persönliche Tüchtigkeit des einzelnen gebaut. Daher wird auch alles, was uns in dieser Zeit des ausgehenden Mittelalters, des heranwachsenden Bürgertums begegnet, so, daß es einen persönlichen Charakter bekommt, daß die Persönlichkeit sich viel mehr einsetzen muß. Viele solcher Persönlichkeiten könnten wir anführen, die so ihre ureigensten Kräfte damals einsetzen mußten.

Eine der merkwürdigsten und interessantesten Persönlichkeiten ist eben Paracelsus. Auch andere Dinge kamen noch in Betracht in der Zeit, in der er lebte. Das war unmittelbar in der Zeit, als der Schauplatz der Völker sich ungeheuer erweiterte, als die großen Entdeckungen ferner Län-

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der gemacht wurden, in der Zeit, als die eben erst erfundene Buchdruckerkunst dem Geistesleben ganz andere Richtungen und Strömungen angewiesen hatte, als das früher der Fall war. All dieses, das sozusagen für uns das Grundtableau abgibt, ist das Tableau, aus dem heraus sich erhebt diese Persönlichkeit des Theophrastus Paracelsus. Zu alledem kommt hinzu, daß wir es in ihm selbst mit einer selten markanten Persönlichkeit zu tun haben, mit einer Persönlichkeit von revolutionärem Charakter im geistigen Sinne. Er war eine Persönlichkeit, die sich bewußt war, was früher auf den Gebieten des Geisteslebens geleistet worden war und wie sehr ihr eigenes Werk davon abstach.

Um zu verstehen, was Paracelsus gewesen ist, muß man den ganzen Grundcharakter seines Wirkens als Arzt und als Philosoph betrachten, und ihn, wie er diese beiden Seelencharaktere miteinander vereinigte, als Theosoph erfassen. Ganz einheitlich war sie, diese Persönlichkeit. Mit genialem Blick suchte er den Bau des Weltgebäudes zu erfassen. Sein erstaunender Blick schaufe hinauf zu den Geheimnissen der Sternenwelt, vertiefte sich in den Bau der Erde und namentlich auch in den Bau des Menschen selbst. Dieser genialische Blick drang ein auch in die Geheimnisse des geistigen Lebens. Ebensosehr war er Theosoph, indem er versuchte, das Wesen der astronomischen Erkenntnisse und zugleich das Wesen der Anthropologie, der Lehre von dem Menschen im Zu- sammenhang mit der Lehre von allen Lebewesen zu um- fassen. Nichts war in diesem Menschen bloße Theorie, alles war unmittelbar so, daß es auf die Praxis abgesehen war, unmittelbar so, daß das Heil, die geistige und physische Gesundheit des Menschen dasjenige war, wozu er alles verwenden wollte, was er wußte. Und er wußte von Gott und den Sternen, den Menschen, Tieren, Pflanzen und Mineralien. Das gibt seinem Wirken, Denken und Forschen die

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große, gewaltige Einheit. Das zeigt ihn uns wie aus einem einzigen Stück Holz scharf geschnitten. So steht er vor uns als eine ursprüngliche, elementare Persönlichkeit.

Zwei Richtungen gab es für ihn auf dem Gebiete, auf das es ihm vorzugsweise ankam, auf dem Gebiete der Arzneikunst. Die eine knüpfte an den alten griechischen Arzt Hippokrates an, die andere an Galenos. Der Vater der Medizin, Hippokrates, stand vor ihm wie ein großes Ideal. Der heutige Gelehrte kann weder dem, was jener Grieche war, noch auch dem, was Paracelsus in ihm sah, gerecht werden. Es nimmt sich heute gewiß recht problematisch aus, wenn wir hören, daß im Sinne dieser Medizin dasjenige, was den Menschen zusammensetzt, unterschieden wurde in schwarze Galle, weiße Galle, Blut und Schleim, Säfte, vier Säfte, die wiederum einen gewissen Bezug haben sollten zu Erde, Wasser, Luft und Feuer. Das sollten Bestandteile der menschlichen Natur sein. Der heutige Naturforscher denkt selbstverständlich, daß das eine kindliche Anschauungsweise sei, die im Laufe der Zeit durch eine eindringliche Erkenntnis überwunden werden mußte. Er ahnt nicht, daß es dabei doch noch auf etwas ganz anderes ankommt. Deshalb ist auch Paracelsus für die heutige gelehrte Auffassung so außerordentlich schwer zu verstehen. Mit diesen vier Gliedern der menschlichen Natur nämlich waren keineswegs Säfte und Bestandteile, Stoffe im gewöhnlichen physikalischen, im gewöhnlichen materiellen Sinne gemeint, sondern etwas ganz anderes. Der Naturforscher jener alten Zeit sah im menschlichen Leibe, wie er sich aus den physikalischen, sinnlich wahrnehmbaren Stoffen aufbaut, nur den außeren Ausdruck für etwas Geistiges, den eigentlichen Erbauer dieses äußeren Leibes.

In geisteswissenschaftlichen Vorträgen haben wir von diesem Erbauer des menschlichen Leibes oft gesprochen. Wir

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haben davon gesprochen, daß ein sogenannter Ätherleib, ein feiner Leib, diesem physischen Leib in allen seinen mannigfaltigen Stoffen, Substanzen und Säften zugrunde liegt, und daß dieser Äther- oder Lebensleib die Kräfte enthält, die den physischen Leib auferbauen. Es ist also so, daß jegliches Organ herauserbaut ist aus diesem Ätherleib. Diesen Ätherleib zu studieren, dazu gehört nicht bloß sinnliche Forschung, dazu gehört noch etwas anderes, nämlich das, was man Intuition, geistige Forschung nennt. Und wenn man von dem, was für diese geistige Forschung in Betracht kommt, sinnliche Ausdrücke gebraucht, wie schwarz, weiß, gelb, grün und so weiter, so meint man damit nur Gleichnisse für etwas, was dahintersteht. Es ist ganz falsch, wenn man sie mit unseren materiellen Dingen identifiziert.

Die Art und Weise, wie die alten Ärzte in den Kliniken an den kranken Menschen herangingen, war eine andere. Es war der intuitive Blick, der nicht auf das Physische losging, sondern der auf das dem Physischen zugrunde liegende Feinere, Ätherische losging. Von der Idee ging man aus: ist irgend etwas krank, so kommt es weniger darauf an, was an Veränderungen äußerlich wahrnehmbar ist, sondern auf das, was es bewirkt hat. Der Unordnung im äußeren physischen Leib entspricht etwas Unordentliches im Ätherleib. Man erkennt, wie der Ätherleib verändert ist an dem kranken Organismus, und geht darauf aus, durch Maßnahmen der Arzneikunst das, was hinter dem physischen Leibe ist, zu kurieren: den Bildner, die Kraft, die hinter dem physischen Leibe steht. Wenn ich mich etwas grob ausdrücken darf, so kann man sagen: Wenn jemand am Magen erkrankt ist, so krankt man nicht am Magen, sondern an dem feineren Leib, von dem die Magenerkrankung nur der Ausdruck ist.

Den Geist einer solchen intuitiven Medizin hatte Paracelsus in sich aufgenommen. Nun wirkte aber überall, wie eine

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Autorität, der römische Arzt Galenos. Er baut zwar äußerlich auf diesen alten Grundsätzen seine Medizin auf, und wenn man so äußerlich Galen liest, dann bekommt man die Vorstellung: Ja, was will denn Paracelsus, daß er so gegen den Galen kämpft und die ältere Medizin in Schutz nimmt? Ist es nicht dasselbe? - So könnte es fast scheinen, aber es ist doch nicht so. Denn, was bei Galen zur Medizin geworden ist, das ist die materielle Außerlichkeit, die Vermaterialisierung der ursprünglich geistigen Anschauung. So verstanden dann die Schüler des Galen schon unter dem, was früher noch intuitiv gemeint war, etwas äußerlich Materielles. Und statt mit dem intuitiven Blick zu durchschauen, forschten sie bloß in der Materie, spekulierten, erfanden Theorien. Der moralische Blick war abhanden gekommen.

Gegen die Methode, gegen dieses Abhandenkommen des intuitiven Blickes wendet Paracelsus sich. Zurück wollte er wiederum, aus der Erkenntnis der großen Natur heraus wollte er wieder die Mittel finden, wie man den Menschen heilen kann. Deshalb war ihm das alles zuwider, was dazumal offiziell als Medizin herrschte. Er wollte nicht das, was in den Büchern steht, zugrunde legen, sondern das Grundbuch, das große Buch der Natur selbst aufschlagen. Alles dasjenige, was so allmählich als Medizin aufgetaucht war, war herausgesponnen aus einer ganz und gar abgeleiteten Spekulation, aus einer Forschung, die nichts mehr wußte von dem ursprünglichen geistigen Blick. Da konnte man nicht mehr den Zusammenhang erblicken zwischen dem Arzneimittel und einer Krankheit, weil man eben nicht mehr sah, was hinter dem Körper stand, weil man nur materiell alles betrachtete. Das verursachte, daß Paracelsus sagte: Das Licht der Natur selbst soll wieder leuchten. - Das brachte ihn in einen scharfen Konflikt mit der Medizin seiner Zeit. Ein solcher Tiefblick, wie er ihn hatte, das einsichtige

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Wesen, das ihm eigen war, das den großen Zusammenhang mit dem Kosmos erfaßte, gab ihm das intensive Selbstbewußtsein, das etwas Entzückendes hat, in der Art, wie er auftrat gegen diejenigen, welche in landläufiger Weise die damalige Wissenschaft betrieben. Die damalige Arzneikunde hat eine große Ähnlichkeit mit derjenigen unserer heutigen Zeit, mit dem Unterschiede aber, daß unsere heutige Zeit auf dem medizinischen Gebiete keinen Paracelsus hat. Aber jene Verwirrung und Unsicherheit war fast ebenso, wie sie heute ist. Das erinnert sehr gut an jene alte Zeit des Paracelsus. Wenn wir heute die Medizin verfolgen und sehen, wie ein Heilmittel erfunden wird und nach fünf Jahren schon wieder als schädlich gilt und verworfen wird, wie soundso viele Menschen untersucht werden, aber der große Blick für den Zusammenhang der Menschen mit der Natur ganz und gar abhanden gekommen ist, so erinnert das recht gut an die Zeit des Paracelsus. Es ist wahr, die meisten ahnen nicht, wie sie wieder in einer solchen Zeit darinnenstecken und wie der Autoritätsglaube gerade auf diesem Gebiete eine ungeheure Macht hat. Man bekämpft auf der einen Seite den Autoritätsglauben, und man fühlt sich groß, wenn man zu Felde zieht gegen den alten Aberglauben, der die Leute nach Lourdes schickt. Man mag damit recht haben, aber man ahnt nicht, daß sich nur die Form des Aberglaubens verändert hat, und daß der Aberglaube kaum kleiner ist, wenn man jemanden nach Wiesbaden und andern Orten schickt. Man kann darin etwas Ähnliches erblicken, wie es vorhanden war bei Paracelsus und seiner Zeit, wo man geneigt war, sich dem Hergebrachten entgegenzustellen. Paracelsus sagte: «Wie ich aber die vier für mich neme, also müsset irs auch nemen und müsset mir nach, ich nicht euch nach, ir mir nach. Mir nach Avicenna, Galene, Rasis, Montagnana, Mesue etc., mir nach und nit ich euch nach, ir von

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Paris, von Cöln, ir von Wien und was an der Donau und Rheinstrom ligt, ir insulen im meer, du Italia, du Dalmatia, du Sarmatia, du Athenis, du Griech, du Arabs, du Israelita, mir nach und ich nicht euch nach... Ich werd monarcha und mein wird die monarchei sein, und ich füre die monarchei und gürte euch eure lenden.»

Das zur Charakteristik, mit welcher Kraft sich diese Persönlichkeit äußerte. Diese Kraft glaubte sie zu verdanken ihrer ursprünglichen Verwandtschaft mit den Geheimnissen der Natur. Diese sprach sich für Paracelsus so aus, daß er nicht nur erblickte, was sein Auge sah, sondern mit seinem Wesen, das sich mit der Natur verband, sah. Er machte große Reisen. Nicht von der Lehrkanzel her wollte er sich etwas Wissenschaftliches sagen lassen, sondern aus dem dunklen Ahnen des einfachen Volkes draußen, das noch nicht die Bande des Fühlens und Empfindens mit der Natur zerrissen hatte, daraus wollte er lernen. Ich möchte die Art und Weise, wie es in der Seele des Paracelsus aussah, durch einen Vergleich klarmachen. Es ist eigentlich recht schön zu sehen, wie die Tiere mit ihrem Instinkt draußen auf dem Felde ganz genau wissen, was sie zu grasen haben und was sie stehen zu lassen haben, was ihnen zum Heile dient und was ihnen zum Unheil gereichen würde. Das beruht auf dem, was man die Verwandtschaft des Wesens mit seiner Umwelt nennt. Diese Verwandtschaft ist es, die in den Kräften der Seele vorhanden ist und dasjenige zu wählen vermag, was taugt und was nicht taugt.

Durch den Verstand und durch die Spekulation reißt sich das Wesen von der Natur los. Es ist kein Aberglaube, wenn man sagt, daß der einfache Mensch, der auf dem Lande lebt, noch etwas hat von den ursprünglichen Kräften, die in sehnsüchtiger und instinktiver Weise das Tier zum Nahrungsmittel hinführen, daß diese Verwandtschaft auch noch etwas

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gibt von dem Wissen, wie das einzelne Kraut, wie der einzelne Stein auf den Menschen wirkt. Das ist ein Gefühl, das vorhanden ist, das da ist, das etwas ganz anderes ist, als man gewöhnlich unter Wissen versteht, das aber deshalb nicht mehr so wichtig ist für den Menschen. Daher findet man bei dem Menschen, der noch nicht durch die Bildung durchgegangen ist, eine ursprüngliche Sicherheit darin, was innerhalb der Natur dem Menschen frommt. Mit diesem ursprünglichen Naturgefühl fühlt sich Paracelsus verwandt. Er betont es immer wieder, daß diejenigen Leute nicht die richtigen sind, welche die Welt nur so durchschweifen, daß sie in Kutschen und getrennt von dem unmittelbaren Landvolk die Welt bereisen. Paracelsus reiste anders. Er horcht hin auf das, was ihm der einfache Mann sagen konnte. Der Instinkt des einfachen Mannes wurde bei ihm zur Intuition des genialen Menschen. Er zerschnitt nicht das Band zwischen der Natur und der ursprünglichen intuitiven Kraft im Menschen. Das drückt er so aus: «Von der natur bin ich nichts subtil gespunnen, ist auch nicht meins lants art, das man was mit seidenspinnen erlange. wir werden auch nicht mit feigen erzogen, noch mit met, noch mit weizenbrot, aber mit kes, milch und haberbrot: es kan nit subtil gesellen machen. zu dem das eim alle sein tag anhengt, daß er in der jugent entpfangen hat; dieselbig ist nur vast grob sein gegen subtilen, kazreinen, superfeinen. dann dieselbigen in weichen k!eidern und die (in) frauenzimern erzogen werden und wir die in tanzapfen erwachsen, verstehent einander nit wol.» - Er wußte, daß er immer auf seinen weiten Reisen durch Polen, Ungarn bis in die Türkei hinein gewandelt ist in der Sonne, nicht nur in der Sonne der physischen Welt, sondern auch in der Sonne des Geistigen. Was Paracelsus auszeichnet, ist der einheitliche Blick in das Geistige. Der Mensch ist für ihn daher nicht der Mensch, in den man bei

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der Untersuchung sinnlich hineinschlüpft, sondern er steht für ihn im Zusammenhang mit der ganzen Natur. Er sagt: Schaut euch einmal den Apfel an und dann den Apfelkern. Ihr könnt nicht begreifen, wie der Apfelkern wächst, wenn ihr nicht den ganzen Apfel betrachtet. Der Kern zieht aus der Umgebung, dem Apfel, die Kraft, und so ist es mit dem Menschen und der ganzen Welt wie mit dem Apfel und dem Apfelkern. - Derjenige versteht nicht - im Sinne des Paracelsus - den Apfelkern, der nur den Kern untersucht und nicht den Apfel. Daher gibt es für ihn keine Medizin und keine Naturwissenschaft, die nicht zugleich Astronomie und Gotteserkenntnis ist. In diesem Zusammenhang muß man den Menschen verstehen. Daher zerfällt ihm der Mensch in drei Glieder der menschlichen Wesenheit.

Diese drei Glieder müssen wir uns einmal näher ansehen. Zunächst haben wir den physischen Menschen, bestehend aus denselben physischen Bestandteilen, Stoffen und Kräften, die man auch sonst rings in der Natur findet. Also derjenige, der die Natur durchschreitet, der die Mineralien, Pflanzen und Tiere der Natur studiert, der studiert eigentlich im Sinne des Paracelsus dasjenige, was den physischen Menschen zusammensetzt. So, wie wenn man die ganze physische Natur ringsherum genommen hätte und aus allen einzelrien Metallen, Pflanzen und Tieren eine Art Essenz, eine Art Extrakt herausgezogen und daraus den physischen Menschen gebildet hätte, so sieht er den physischen Menschen an, und er nennt diesen physischen Menschen den elementarischen Menschen. Das ist ihm das unterste Glied, das sich vergleichen läßt mit dem Apfelkern, den man aber nicht verstehen kann, wenn man nicht den ganzen Apfel versteht. So versteht man auch den elementarischen Menschen nicht, wenn man nicht die Erde mit allen ihren Stoffen und Kräften erkennt, denn er hat alle seine Kraft aus der Erde. Dann

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baut eine Kraft in diesen physischen Elementarmenschen eine feinere Stofflichkeit hinein. Das nennt Paracelsus den Archäus. Er unterscheidet also von dem elementarischen Leib den feineren Leib, den Aufbauer des physischen Leibes, so wie er auch der Aufbauer der Erde ist. So sieht er von dem äußerlich sinnlich Wahrnehmbaren auf den Grund, von dem Leib auf den Lebensleib, von dem äußerlich Physischen auf das, was ihm als Kraft zugrunde liegt. Das ist das erste Glied der menschlichen Wesenheit im Sinne von Paracelsus.

Das zweite Glied betrachtet er in einer gewissen andern Richtung wie einen Apfelkern. Für dieses zweite Glied ist der Apfel die ganze Gestirnswelt. Und ebenso wie der elementarische Leib seine Kräfte und Säfte aus der Erde zieht und dem, was zu ihr gehört, so zieht der zweite Mensch seine Kräfte aus dem, was in den Sternen lebt, aus den Gesetzen der Sterne. So wie das Blut, die Muskeln, die Knochen und Nahrungssäfte sich zusammensetzen und die Nahrungssäfte sich umtauschen, umwandeln, und wie diese abhängig sind von dem Irdischen, so sind ihm die Instinkte und Triebe, die Begierden und Leidenschaften, ja die Vorstellungen, Lust und Leid, alles das, was Paracelsus zusammenfaßt unter den zwei Grundkräften der seelischen Natur des Menschen, Sympathie und Antipathie, ein Ausdruck der ganzen 51er- nenwelt, wie der Apfelkern ein Ausdruck ist des ganzen Apfels. Deshalb nennt er den zweiten Leib den astralischen Leib oder den der Sternenwelt angehörigen Leib.

Das, was draußen als Gravitation, als Schwer-, als Anziehungskraft und Repulsionskraft wirkt, das ist im Menschen, wie in einem Extrakt im Menschen vorhanden als Lust und Unlust, als Sympathie und Antipathie, so daß nichts, was im Menschen ist an Instinkten und Leidenschaften anders begriffen werden kann als durch das, was Paracelsus die astrologische Astronomie nennt. Das ist eine

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Wissenschaft, von der die heutige Zeit wenig weiß. Die Astronomie ist andere Bahnen gegangen. Paracelsus will als Arzt nichts wissen davon. Er will wissen, wie die astralischen Kräfte im Weltenraum mit dem Astralleibe des Menschen zusammenhängen. Er verhält sich zu einem Astronomen wie ein Priester zu einem Requiempfaff sich verhält. Ein Requiempfaff ist ein solcher, der die Messe abliest und sich dafür bezahlen läßt, während ein richtiger Priester einer ist, der in den Geist eindringt. Paracelsus gebraucht da deutliche Ausdrücke, was andere oft Grobheit nennen. Nun haben wir den zweiten Teil der menschlichen Weisheit begriffen.

Der dritte Teil ist das, was er Geist nennt. Dieser Geist wiederum verhält sich wie der Kern des Apfels zu dem noch viel gewaltigeren, größeren Apfel, zu der ganzen geistigen Welt, wie der Gottesfunke im Menschen zu der ganzen Summe göttlicher Kräfte in der Welt. So unterscheidet Paracelsus dreierlei in der Welt: das Göttlich-Geistige, das Gestirnhafte und das Elementarisch-Irdische. Im Menschen ist von den drei Dingen ein Extrakt: von dem Geistig-Göttlichen der menschliche Geist, von dem Gestirnhaften der astralische Leib, von dem Elementarisch-Irdischen der physische Leib. Und ebenso wie man das Materielle, die Pflanzen und Tiere und so weiter studieren muß, wenn man den Leib des Menschen verstehen will, so muß der Arzt studieren und verstehen, was in der Sternenwelt vorgeht, wenn er den Menschen verstehen will. Und da Paracelsus sich sagt, eine Krankheit versteht man nur, wenn man auf deren Ursprung zurückgeht, so sucht er den Grund der Erkrankung in den Trieben und Leidenschaften. Er sieht die Krankheit als eine Folge des seelischen Irrtums an und ganz zuletzt, also im höchsten Sinn, führt er sie auf moralische Eigenschaften zurück, wenn er auch diese Eigenschaften nicht auf die Gestirne

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zurückführt, denn das weiß er wohl, daß so schnell die Wirkung nicht einzutreten braucht.

Er sieht überall in dem Physischen einen Ausdruck des Geistigen. So sagt er, derjenige, der den Grund einer Krankheit erforschen will, der muß den ganzen Grund der Sympathien und Antipathien der Seele studieren, und diesen kann er nur studieren, wenn er die Gestirne des Menschen studiert. So stellen Sie sich vor, wie er an einen kranken Menschen herantritt. Mit intuitivem Blick schweift diese Seele von dem äußerlich erkrankten Gliede ab zu dem, was innerlich in der Seele des Menschen lebt. Und von da geht er zu den astralischen Einflüssen der Gestirne und zu den elementarischen Einflüssen der Erde. Das hat er in jedem einzelnen Falle vor sich. Das ist eine richtige geistige Medizin. Wie er sich das vorstellt, und wie er das mit seinem eigenen Bilde klarzumachen versucht, das drückt er in schöner Weise aus in diesem Enträtseltsein der ganzen Welt: Das ist ein Großes, das ihr bedenken sollt. Nichts ist im Himmel und auf der Erde, das nicht auch im Menschen ist, und Gott, der im Himmel und auf der Erde ist, der ist auch im Menschen. - Ich habe oft einen andern schönen Spruch angeführt, worin er im Vergleich das gibt, was er hier hat sagen wollen. Er sagt: Sehet hinaus in die Natur. Was ist da? Er sieht ein Mineral, ein Tier, eine Pflanze, das sieht er an wie einzelne Buchstaben und der Mensch ist das Wort, das aus diesen einzelnen Buchstaben zusammengesetzt ist. Will man dann den Menschen lesen, so muß man sich die einzelnen Buchstaben im großen Buche der Natur zusammensuchen. - Das ist nicht ein Zusammenklauben, sondern ein Zusammenschauen bei Paracelsus. Das ist das, was es ihm immer möglich macht, die ganze Welt gegenwärtig zu haben im einzelnen besonderen Fall, den er als Arzt zu behandeln hat. Was hinter alledem wirkt, das ist die genialisch-moralische Kraft,

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aus der das alles bei ihm entspringt. Es ist zuletzt etwas wie moralische Entrüstung, die sich in ihm auflehnt gegen die damals hergebrachte Art, zu kurieren und für alle möglichen Dinge Mixturen zu finden. Er sagt: Ich bin nicht da, um die Apotheker zu bereichern, ich bin da, um die Menschen zu heilen.

Man muß nun, um die Schriften des Paracelsus auch nur einigermaßen lesen zu können, sich klar sein darüber, daß damals von ihm Wortbezeichnungen noch ganz anders gebraucht worden sind, als das später der Fall war. Wenn man heute bei Paracelsus liest von Salz, Quecksilber und Schwefel, dann hat man so ohne weiteres keine richtige Vorstellung, man denkt an das, was heute der Mensch so bezeichnet. Und dann kommt einem alles, was man bei Paracelsus liest, als unvollkommen und kindlich vor. Wer heute die Wissenschaft kennt, der hat ein gewisses Recht, Paracelsus als kindlich zu betrachten, aber man muß da auch etwas tiefer eindringen. Ich will eine Vorstellung geben, wie man dazu kommen kann, zu verstehen, was er meint, wenn er die Ausdrücke gebraucht: Salz, Merkur und Sulfur.

Paracelsus blickt weit zurück in das Werden der Erde, in das Werden der Wesen, die um ihn herum leben, und des Menschen selbst. Wenn er so zurückblickt, so stellt sich ihm eine Zeit vor Augen, in der die Menschen noch ganz andere Formen des Daseins hatten als jetzt. Niemand war sich so klar über das, was geworden ist, als Paracelsus. Die Erde war vor Millionen von Jahren ganz anders. Wir haben schon oft von der Umbildung der Erde gesprochen. Er blickte zurück auf eine Menschengestalt, die noch ganz und gar tierisch war, wo die Hände noch Fortbewegungsorgane waren, wo der Mensch noch in Luft und Wasser lebte. Die Erde, die Umgebung, war noch eine ganz andere. Selbst die heutige Physik blickt zurück auf ein Zeitalter, in dem das, was heute

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in fester Form da ist, noch in einem flüssigen Zustande war. Paracelsus, der vom Geistigen ausging, sah natürlich im Zusammenhang einer solchen Erde, die noch ganz anders sich ausnahm als heute, einen geistigen Menschen. Auf einer Erde, die so viel wärmer war als heute, konnte der heutige Mensch nicht leben.

Damals lebten die Menschen auch unter andern Bedingungen, damals flossen die Metalle noch, sie konnten kaum als Dampf in der Luft enthalten sein. Damals konnten auch die Lebewesen nicht in einer festen Form sein; sie haben sich aber fortentwickelt. Genauso wie heute der elementarische Mensch in Zusammenhang steht mit der physischen Welt wie der Apfelkern mit dem Apfel, so stand auch der vorzeitliche Mensch mit der vorzeitlich gearteten Erde in einem andern Zusammenhang und in einem andern Zusammenhang mit der ganzen umliegenden astralischen Welt, so daß dasjenige, was heute den Menschen bildet, also der physische Mensch, seine Seele als astralischer Leib und sein Geist als göttlicher Mensch, erst geworden ist. Das war früher in einer ganz andern Weise da. Der Mensch stand der Gottheit noch viel näher. Der astralische Mensch ist herausgeboren aus der astralischen Welt, tind der physische Mensch ist herausgeboren aus der ganzen physischen Welt.

Paracelsus hat in einem viel größeren und edleren Sinne von dem Herausgeborensein des physischen Menschen aus der physischen Umgebung gesprochen als die heutige Abstammungslehre. Paracelsus sah durchaus das ein, und er betont es auch immer wieder, aber für ihn ist der Mensch ein Zusammenfluß von alledem, was draußen in der Natur lebt. Der Mensch hat Leidenschaften, er hat sie in sich, nur in gemilderter Form, wie sie zum Beispiel auch der Löwe hat, und wie sie in der Umwelt vorhanden sind. Wenn der Mensch im Sinne des Paracelsus auf den Löwen sieht, so

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sieht er dieselbe Kraft, die heute als seine Leidenschaft in ihm wohnt, herausgeboren aus der ganzen astralen Welt. In dem Löwen ist sie einseitig, beim Menschen ist sie gemischt mit andern Kräften. So ist die ganze Tierwelt für Paracelsus die wie ein Fächer auseinandergelegte Menschheit. Er sieht alles, was in den Formen der Tiere verteilt ist, in sich selbst, unsichtbar in seinem inneren Menschen. So ist es in gewisser Beziehung auch, wenn der Mensch auf die Erde hinsieht. Auch die Metalle, die heute physisch geworden sind, sind herausgeboren aus derselben Wesenheit, aus welcher der physische Mensch herausgeboren ist. Bitte, verstehen Sie mich jetzt richtig, denn es liegt der heutigen Vorstellungsweise fern. Paracelsus sieht weit zurück bis dahin, wo der physische Menschenleib erst das Herz gebaut hat. Es gibt ja niedere Tiere, die kein Herz haben, die die Form noch bewahrt haben, welche der Mensch damals hatte. Das war für Paracelsus dieselbe Zeit, aus der sich aus einer viel allgemeineren Essenz der Erde auch das Gold herausgebildet hat, so daß zwischen der Entstehung des Goldes und dem Herzen im Menschen ein Zusammenhang besteht. Ebenso sieht er intuitiv einen Zusammenhang zwischen einer Abnormität, wie die Cholera es ist, und dem Arsen. Er sagt sich, die Möglichkeit, daß die Cholera entstehen konnte, hängt davon ab, daß das Arsen herausgebildet ist aus der äußeren Welt. So sieht er jedes einzelne Organ als zur menschlichen Einheit gehörig an und es ist so, daß es zu ihm gehört wie irgendein Tier, eine Pflanze oder irgendein Stoff in der äußeren Welt.

Noch einen Ausspruch möchte ich vorlesen, welcher Ihnen zeigen wird, wie er in ganz bestimmter Weise sich ausspricht. Das ist ein Ausspruch, der herausgeholt ist aus einer Anzahl von Aussprüchen des Paracelsus, die man aber vertausendfachen könnte. Für ihn steht in ganz bestimmter Weise der

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einzelne Mensch, in bezug auf seine einzelnen Organe und der Erkennung von deren Krankheiten, in einer bestimmten Beziehung zur physischen Welt und zur astralischen Welt. Die ist in bestimmtester Weise differenziert. Heute bewundert man die allgemeinen Redensarten von dem, was Pantheismus, von dem, was Naturanschauung ist, aber das ist purster Dilettantismus, wenn man nicht weiß, daß sich der große Paracelsus nicht begnügen läßt von einem All-Leben, das sich aus lebt im einzelnen Menschen. Paracelsus spricht von einem Konkreten: «Daraus entspringt, daß ihr nicht sollen sagen, das ist Cholera, das ist Melancholia, sondern das ist Arsenicus, das ist Aluminosum; also auch der ist Saturni, der ist Martis, nicht der ist melancholiae, der ist cholerae. Dan ein Teil ist des Himels, ein Teil ist der Erden und in einander vermischt wie Feuer und Holz, da jedweders seinen Namen verlieren mag; dan es sind zwei Ding in einm.»

Wie er den Zusammenhang des Herzens mit dem Golde erklärt, so erklärt er auch den Zusammenhang gewisser Erscheinungen mit dem Saturn und anderer wieder mit dem Mars und dem, der mit dem Mars verwandt ist. So stellt sich für den eigenartig aufgebauten Geist des Paracelsus der Mensch in die Natur, in die Welt hinein. Und wenn es auch bei Paracelsus etwas zu korrigieren gibt: auf das Große, Umfassende kommt es an, das in dieser Seele lebt.

Das bringt er auf einzelne bestimmte Typen zurück. So ist ihm alles, was ihm als Niederschlag entsteht im Mineralischen, elementarisch. Zugleich entstand es in der Zeit der Entwickelung, als sich das Menschlich-Leibliche bildete und die Gestalt annahm auf der Erde, die es heute hat. Daher hängt bei ihm dasjenige, was sich im Mineralischen absetzt, alles Salzige, zusammen mit dem Menschlich-Leiblichen, mit dem Tierisch-Leiblichen. Und alles, was flüssig bleibt, nach-

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dem sich gewisse Niederschläge gebildet haben, das nennt er ein Merkurialisches, ein Wechselbares. Das Quecksilber ist ihm ein typisches Beispiel dafür. So haben wir eine Tendenz zum Festwerden für das flüssige Metall. Für ihn ist auch die Seele herausgeboren aus denselben Kräften der Welt, aus denen das Merkurialische, das Quecksilber, geboren ist. Der tiefere Zusammenhang ist so, daß man ihn öffentlich gar nicht besprechen kann.

Der Schwefel hat in der Welt eine parallele Ursache mit der Entstehung und der heutigen Form des Geistes. Das hängt aber nicht so zusammen, daß es als Gleichnis gebraucht werden kann. Nein - diese drei Dinge draußen in der Welt entsprechen ganz genau dem Leib, der Seele und dem Geist im Menschen.

Schwefel hängt seiner Natur nach mit dem Geiste, Quecksilber mit der Seele und Salz mit dem Leibe des Menschen zusammen. Was außerdem der Mensch zu sich nimmt, steht in einer gewissen Beziehung zu diesen, weil sie aus ihnen herausgeboren sind. Deshalb zeigt uns ein solches Beispiel, daß wir es nötig haben, tiefer hineinzugehen. Es genügt nicht, wenn wir nur die Ausdrücke des Paracelsus verstehen; wir müssen mit einer vertieften Vorbereitung an die Bücher des Paracelsus herangehen, dann verstehen wir ihn. Wir müssen uns klar sein darüber, daß er immer das Ganze im Auge hat, so daß er sich sagt Hat der Mensch eine Krankheit, so ist das eine Unterbrechung, eine Störung eines gewissen Gleichgewichtes, das er magnetisches Gleichgewicht nennt und - wie niemals nur ein Pol an der Magnetnadei entsteht, sondern immer Nord- und Südmagnetismus zusammengehört -, so gehört auch zu jeder Verdauung im Menschenleib eine Verdauung draußen in der Welt, die er dann aufsucht. Und im ätherischen Menschen sucht er die Ursache für das einzelne, im Stofflichen sucht er den Ausdruck

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des Geistes. Insofern nennt er das Stoffliche die Mumie. Das ist ein bedeutsamer Ausdruck, den man erst verstehen muß. Es ist eine gewisse Essenz, die dem Leiblichen zugrunde liegt; die Mumie ist anders beim Gesunden und anders beim Kranken, weil das Ganze und das Vereinzelte verändert wird. Deshalb braucht man nur die Mumie zu erkennen, die Veränderungen im Ätherleibe, um zu erkennen, was einem Menschen fehlt.

Kurz, wir sehen da hinein in das Tiefe eines Geisteslebens, von dem man ganz besonders viel lernen kann. Wir müssen uns klar sein, daß erst wieder eine vertiefte Geistesforschung verstehen kann, was in Paracelsus liegt, und daß dann Paracelsus, wenn er so vertieft verstanden wird, nicht mehr erscheinen wird als ein Geist, den man nur als ein interessantes geschichtliches Objekt betrachtet, sondern als einen Geist, den man zu betrachten hat von einem höheren Standpunkte aus, und von dem man auch in der heutigen Zeit - wenigstens in der Methode - noch viel, viel lernen kann. Das ist die Art, wie man sich zu Paracelsus stellen sollte. Wer das tut, der wird in Paracelsus` holdselig-grober Weise einen Unterschied finden zwischen der heutigen Art der Forschung und seiner Art, einen Unterschied, den er schon gemacht hat für seine Zeitgenossen. Er unterscheidet nämlich zwischen zwei Vernunften, zwischen der Vernunft, die in das ganze Gebiet des Geisteslebens hinein sieht und derjenigen, die nur atif das einzelne geht. Er nennt das eine die erste Vernunft. Die nennt er so, weil sie zu dem verborgenen Geist der Dinge führt, und die andere Vernunft nennt er: eine öffentliche Torheit gegenüber der verborgenen Weisheit. Er drückt sich einmal noch holdseliger oder gröber aus, indem er sagt: Man hat zu unterscheiden eine menschlich-göttliche Vernunft und eine viehische Vernunft. - Er drückt sich nicht so aus, daß er von der tierischen und geistigen Natur des

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Menschen spricht, sondern von der viehischen. Er sieht die Verwandtschaft ein so, daß der Mensch als der Sohn der tierischen Gattung zu betrachten ist. Auseinandergebreitet in einzelne Facetten ist das Tierische; zusammengefaßt ist das Tierische im Menschen. Er sagt einmal: Der Mensch ist also der Sohn der ganzen übrigen Tierwelt. Daß er aber so sein will wie die andern viehischen Wesen, das würden sie nicht begreifen, dann würden die viehischen Wesen wie auf einen mißratenen Sohn hinblicken und erstaunt sein über das, was er geworden ist.

Auch sonst finden Sie die Möglichkeit bei Paracelsus, elementarische Anleitung zu empfangen zu gewissen wirklich theosophischen Grundbegriffen. Was Paracelsus über den Traum und über den Schlaf vorbringt, ist im eminentesten Sinne dasjenige, was auch die Geisteswissenschaft darüber zu sagen hat, nur drückt er es in seiner grandiosen Sprache aus. Wenn der Mensch schläft, ist der elementarische Leib im Raum, und dasjenige ist tätig, was der astralische Mensch ist. Dann kann der astralische Mensch Zwiesprache halten mit den Sternen, so daß er sich nur zu erinnern braucht an die Zwiesprache mit den Sternen, um Hilfe zu bringen dem Kranken$hn zu kurieren. Alles das weiß er zurückzuführen auf die Propheten. Mehr als alles Spätere sind sie ihm wert. Moses, Daniel, Enoch nennt er nicht Zauberer, sondern er sagt: Wenn man sie richtig versteht, sind sie die Vorläufer dieser großen astronomisch-astrologischen Medizin, die für die Menschheit gewirkt hat. Ein solcher Mann durfte in gewisser Weise ein Selbstbewußtsein haben, und die Kraft des Wirkens fließt aus diesem Selbstbewußtsein heraus. Er war sich aber auch klar darüber, daß das fortleben muß und bei denjenigen, die es erkennen können, fortleben wird, was er gestiftet hat. Trotz allem hat sich viel, sehr viel Klatsch und auch geschichtlicher Klatsch an ihn herangemacht. Man hat

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noch seinen Schädel untersucht, um ihn zu verleumden, weil dieser Schädel ein Loch gehabt hat und man auf solche äußeren Dinge viel geben muß, hat man es als bewahrheitet gefunden, daß er in der Trunkenheit einem Sturze zum Opfer gefallen ist und sich den Schädel eingeschlagen hat. So hat man sein ganzes Leben beurteilen wollen. Das Gleichnis des Christus Jesus mit dem toten Hunde kann man anführen, wo der Christus Jesus auf die schönen Zähne des Tieres wies.

All das andere geht uns nichts an bei einer solchen Persönlichkeit, als dasjenige, was wir von ihm lernen können, dasjenige, wodurch er ein Wohltäter der Menschheit geworden ist, das Viele> das er überwunden hat und wodurch er unsterblich geworden ist.

Lassen Sie mich mit seinen eigenen Worten schließen, die er seinen Gegnern ins Gesicht schleudert> da, wo er seinen Gegnern sagt «ich wil euchs dermassen erleutern und fürhalten, das bis in den lezten tag der welt meine gschriften müssen bleiben und wahrhaftig, und die euer werden voller gallen, gift und schlangen gezücht erkennet werden und von den leuten gehasset wie die kröten. Es ist nit mein wil, das ir auf ein jar sollet umbfallen oder umbgestossen werden, sondern ir müsset nach langer zeit euer schand selbs eröfnen und wol durch die reutern fallen. mer will ich richten nach meinem tot wider euch dan darvor. und ob ir schon mein leib fressent, so habt ir nur drek gefressen: der Theophrastus wird mit euch kriegen on den leib.»

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JAKOB BÖHME Berlin, 3. Mai 1906

Jakob Böhme ist wohl eine der merkwürdigsten Persönlichkeiten der letzten Jahrhunderte. In der Morgenröte einer ganz neuen Zeit, an der Wende des 16. zum 17. Jahrhundert steht er da mit einem Wissen und einer Weisheit, mit einer Weltanschauung, die wie ein Abschluß vieler Jahrhunderte erscheint. Er steht da als eine Persönlichkeit, die in der Folgezeit bis heute eigentlich recht wenig verstanden worden ist, wenn er auch als Philosophus teutonicus bezeichnet worden ist und es Gesellschaften gegeben hat in Holland, in England, in Deutschland, die Jakob Böhmes Anschauungen populär zu machen suchten. Es hat immer Menschen gegeben, die mit Jakob Böhme sich beschäftigten.

In dem Jahre, in dem Giordano Bruno den Märtyrertod starb, 1600, gingen ungefähr auch Jakob Böhme seine großen, gewaltigen Ideen zum erstenmal durch die Seele. Wer beginnt, sich mit Jakob Böhine zu beschäftigen und dabei von den Anschauungen der jetzigen Zeit ausgeht, der wird sich in ihm wenig zurechtfinden. Daher kann man in den modernen Büchern über Jakob Böhme lesen, daß er seine Anschauung in Bilder gebracht habe, die unverständlich und dunkel seien. Wenn man das Zeug liest, was über Jakob Böhme in neueren Handbüchern gesagt worden ist, dann darf man sagen, es ist vollständig begreiflich, daß man Jakob Böhme unverständlich findet. Was in den Handbüchern der Philosophiegeschichte über ihn steht, ist allerdings das unverständlichste Zeug der Welt. Dies ist die eigentümliche Erscheinung, die man bei Jakob Böhme erlebt.

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Wenn man das Geistesleben des 19. Jahrhunderts genau kennt, namentlich dasjenige deutsche Geistesleben, das beeinflußt ist von speziell philosophischen Kreisen, dann kann man begreifen, daß Jakob Böhme so wenig verstanden worden ist. Es gibt kaum größere Gegensätze als Jakob Böhme und Immanuel Kant. Was sonst die Bildung des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hat, das liegt ziemlich fern dem Geiste dieses merkwürdigen Mannes. Alle, die vom Standpunkte der tbeosophischen Weltanschauung aus versuchen, an Jakob Bölime beranzukommen, werden verwundert sein, daß man bei dem Volke, welches Jakob Böbme gehabt hat, noch eine tlieosophische Vertiefung brauchte. Man braucht, um Theosophie zu kennen, nur Paracelsus und Jakob Böhme zu kennen. Alles, was sie geschrieben haben, ist gegeben aus einer tiefen Quelle, mit einer ungeheuern Tiefgründigkeit und einer magischen Gewalt. Jakob Böhme war einer der größten Magier aller Zeiten, mit einer Größe, die heute noch nicht wieder erreicht worden ist.

1575 wurde Jakob Böhme geboren als Kind armer Leute. Er war zuerst Viehhirt und konnte kaum lesen und schreiben. Während er das Vieh hütete, gingen ihm schon manche merkwürdige Geistesblitze auf. Ihm kam es manchmal vor, wie wenn jedes Blatt an den Bäumen, wie wenn die Tiere des Waldes ihm etwas zu sagen hätten, wie wenn alle Wesen der Natur zu ihm sprächen. Dann trat er bei einem Schuhmacher als Lehrling ein. Während seiner Lehrzeit ist ein merkwürdiges Erlebnis zu verzeichnen, welches seiner eigentlicben Grundlage nach zu erörtern in der Öffentlichkeit nicht möglich ist. Jakob Böhme war einmal vom Meister und der Meisterin beauftragt, den Laden zu hüten, während diese ausgegangen waren. Verkaufen sollte er aber nichts. Da trat zu ihm hinein eine Persönlichkeit, deren Augen einen ganz besonderen Eindruck auf ihn machten.

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Scheinbar wollte diese Persönlichkeit etwas kaufen. Jakob sagte ihm, er dürfe nichts verkaufen. Der Blick des Fremden war für ihn etwas ganz Außerordentliches. Der Fremde ging dann hinaus. Nach ein paar Minuten hörte Jakob seinen Namen rufen. Der Fremde sagte zu ihm: Jakob, du bist nun noch klein, aber zu etwas Großem bist du berufen! - Irgend etwas, das wußte Jakob Böhme, ging bleibend auf ihn über aus diesen Worten. Dann erzählt Jakob Böhme ein anderes Erlebnis, von einem Berge. Da sah er einmal hinein in eine Höhle, wo ihm etwas entgegenblitzte wie Gold. Wieder kam es ihm vor wie eine Offenbarung, wie etwas, was über die verborgenen Kräfte der Natur ihm etwas zu sagen haben würde. Wenn man dies alles anfassen würde, würde es jenen Zauber verlieren, den man nur mit okkulten Mitteln zu verstehen imstande ist.

Wie alle jungen Handwerker der damaligen Zeit trat Jakob Böhme nach der Lehrlingszeit eine Reise an und ließ sich dann als Schuhmachermeister in seiner Vaterstadt Görlitz nieder. Bald fing er an niederzuschreiben, was in seiner Seele lebte. Es ist dabei wichtig, ein wenig in die Empfindungen hineinzuleuchten, die in dieser Persönlichkeit waren. Er fühlte sich, wenn er zur Feder griff, um das niederzuschreiben, was ihm geoffenbart wurde, über sich selbst hinausgehoben. Es war da etwas in ihm wie eine höhere Natur. So stark war das in ihm, daß, wenn er wieder im Alltagsleben zurück war, und wenn er das Niedergeschriebene lesen wollte, er das nicht verstehen konnte. Er konnte dann nicht jenem Geiste folgen. Das, was er schrieb, waren von Anfang an Worte, die nur aus dem Mittelpunkt der Weisheit geschöpft waren. «Aurora oder die Morgenröte im Aufgang», war sein erstes Buch, das er schrieb. Aurora oder die Morgenröte war immer bei den Mystikern ein Sinnbild davon, wenn sich das höhere Selbst gebiert, wenn sich die Seele über

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das niedere Dasein erhebt. Die Vergeistigung des Menschen wurde immer versinnbildlicht als die Morgenröte. Jakob Böhme schrieb damals Worte, die bei ihm, weil sie den Stempel, das Siegel der Wahrheit tragen, wie selbstverständlich klingen. So sagte er einmal, daß er wisse, daß «der Sophist ihn tadeln» werde, wenn er vom Anfang der Welt und ihrer Schöpfung spricht, «dieweil ich nicht sei dabeigewesen und es selber gesehen. Dem sei gesagt, daß in meiner Seelen- und Leibesessenz, da ich noch nicht der Ich war, sondern da ich Adams Essenz war, bin ja dabei gewesen und meine Herrlichkeit in Adam selber verscherzet habe».

Dieser einfache Mann, der wahrscheinlich das, was man Lesen nennt, keinem andern Schriftsteller als Paracelsus gegenüber geübt hatte, der hatte das Bewußtsein, daß die ewige Seele, die im Menschen lebt, nicht an Raum und Zeit gebunden ist, daß es eine Erweiterung des Bewußtseins dieser Seele gibt, durch die der Mensch imstande ist, sich über Raum und Zeit zu erheben. So war ihm klar die Einheit, die in allem lebt, die in jeder Menschenseele mitlebt, so daß man nur die engen Grenzen abzustreifen braucht, um ein Bild zu erhalten, ein Gesicht, das uns alles zeigt, was bis zum Anfang der Menschenschöpfung zurückgeht. Das alles steht gegründet bei Jakob Böhme auf einer tiefen Frömmigkeit. Er sagt von seinem Seelenzustand folgendes: «Als ich in Gottes Beistand rang und kämpfte, da ging meiner Seele ein wunderliches Licht auf, das der wilden Natur ganz fremd war, darin ich erst erkannte, was Gott und Mensch wäre, und was Gott mit den Menschen zu tun hätte.»

Es war für Jakob Böhme ein unmittelbares Erlebnis, das Auferstehen der Gottesseele in der gewöhnlichen Menschenseele. Dies Erlebnis, das war es, das seinen Enthusiasmus begründete, das sich bei ihm in ganz elementarer Weise aus der Seele loslöste. So sehen wir ihn des Menschen Natur,

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das geschichtliche Werden der ganzen Menschheit in einer Weise erfassen, die, wenn man nicht bis in die Quellen selbst eindringen kann, es einem recht schwer macht, diesen Geist zu begreifen.

Was wir bei Paracelsus finden, das tritt uns in einer vergeistigten und verklärten Weise bei Jakob Böhme entgegen. Es tritt uns schon in seinem ersten Werk, in der «Aurora», entgegen. Dies Werk war zuerst nicht gedruckt worden, sondern ging nur als Manuskript bei seinen Freunden herum. Da kam es in die Hände eines zelotischen Predigers. Der predigte dagegen und erreichte es, daß der Magistrat der Stadt Görlitz dem Jakob Böhme verbot, zukünftig irgend etwas zu schreiben. So gefährlich hat man ihn dazumal schon gefunden. Jakob Bühme hat allerdings dann jahrelang nichts geschrieben. Alle seine andern Schriften rühren aus den letzten fünf bis sechs Jahren seines Lebens her, jenes Lebens, das man ihm fortgesetzt recht schwer gemacht hatte, weil man nichts verstand von dem, was in diesem Manne lebte, und weil die fanatische Priesterschaft erfüllt war von einem zelotischen Hasse gegen alles das, was sie nicht selbst geschrieben hatte. Seine Werke wurden, ehe sie in Deutschland gedruckt wurden, ins Englische, ins Holländische und so weiter übersetzt. Das Schicksal Jakob Böhmes und seiner Werke sind ein Beispiel dafür, wie die Wege wahren Geisteslebens von der offiziellen Bildung wenig abhängen und wie schwierig es ist, die Hindernisse zu überwinden, welche von allen möglichen Mächten dem Geistesleben entgegengebracht werden.

Schon in der «Aurora» tritt uns entgegen, was in Jakob Böhme lebte. Davon war zunächst bei Jakob Böhme die Rede, daß im Menschen etwas lebt, das über sich selbst hinauswachsen kann, ein göttlicher Lebensfunke. Das blieb für ihn nichts Abstraktes, sondern gestaltete sich zu einem großen

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Welten- und Menschengebäude in seinen Gedanken, in seiner Empfindungswelt aus. Wer Jakob Böhme verstehen will, der muß erkennen, daß nur eine tiefgründige geisteswissenschaftliche Bildung in das eindringen kann, was in Jakob Böhme lebte. Vom Menschen selbst wußte er, daß der physische Mensch eine andere, mehr geistige, feinere Wesenheit zur Grundlage hat. Zwischen dem physischen Menschen und dem seelischen ist etwas, das nannte Jakob Böhme die «tinctura». Das ist ein oft mißverstandenes Wort. Es gab damals auch große Geister wie zum Beispiel Newton, die sich jahrelang bemühten, klarzuwerden darüber, was Jakob Böhme meint, wenn er von der Tinctura spricht.

Wenn wir einen Blick zurückwerfen in frühere Zeiten ferner Vergangenheit, so werden wir finden, daß da die Welt noch ganz anders war als jetzt. Jakob Bühme war ganz durchdrungen von einer gewaltigen Entwickelungslehre. So umfassend, so großartig, so anwendbar auf alles Geistige und Sinnliche zugleich, wie Jakob Böhme die Weltentwickelungslehre auffaßt, so hat keine naturwissenschaftliche An- schauung die Weltentwickelungslehre dargestellt. Er blickt zurück in weit hinter uns liegende Zeiträume, wo die Erde noch ganz anders ausgesehen hat als jetzt. Was einige Naturforscher stümperbaft von dem Urzustand der Erde gesagt haben, das hat Jakob Böhme in merkwürdiger Weise verstanden. Wenn wir zurückgehen in der Zeitenwende, so verfolgt der heutige Naturforscher die Lebewesen zurück zu immer unvollkommeneren Gestalten. Dann sagt er allenfalls noch: Alles, was auf der Erde ist, hat sich herausgebildet aus einem Weltennebel. Da drangen die Gestalten heraus durch die dem Weltennebel eingeborenen Gesetze. - Bei Jakob Böhme sehen wir diese Entwickelung in viel größereni Stil gedacht. Da geht sein Blick hin zu allen seelischen Wesen, zu allen tierischen Wesen, zu allen pflanzlichen, allen

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mineralischen Wesen. Da ist er imstande, die früheren Zustände herauszuschauen, die Gestalten, welche die Menschen in früheren Zeiten hatten, wo es noch nicht gegeben hat diese Wesen, wie sie heute sind, sondern wie sie dazumal enthalten waren in einer Art von ursprünglicher Materie, aus der erst die spätere Welt hervorgegangen ist. Die ErscheinungsweIt und die Wesenheiten sieht er in einer Weise, wie sie damals vorhanden waren, in der Anlage vorhanden waren. Eine Erde sieht er, die nicht fest ist, nicht Luft, nicht Wasser, nicht Feuer, auf der nicht Tier und nicht Pflanze war, aber die alles enthält, was dann zum Vorschein gekommen ist. Nicht von einem phantastischen Urnebel redet Jakob Böhme, sondern er redet von der Tinctura, die einstmals wirklich war, als solche unseren Erdball bildete und die heute im Verborgenen auf dem Grunde der Wesenheiten ruht. Diese Tinctura ist im Menschen als ein geistig-seelischer Organismus hinter der physischen Wesenheit vorhanden. Die ist auch in allen andern Dingen. Aus der Tinctura leitet Jakob Böhme die Gestaltung aller Lebewesen ab, bei denen er sieben Grundeigenschaften unterscheidet. Damit kommt man bei ihm auf eine sehr tiefe Grundlage der Weltanschauung. Damit ausgerüstet, kann man einen Faden durch die Welt finden, der unzählige Weltenrätsel zu lösen vermag. Jakob Böhme hat dabei eine wunderbare Sprache, gegen die unsere heutige Sprache mit ihren Begriffen grau und ohne Leben erscheint.

Wir haben uns vorzustellen, daß die Tinctura in der Welt wie die Urmaterie lebt, daß darin alles wie in einem Mutterschoße ruht, daß dann die Gestalten sich herauslösen. Eine Art der Gestalten nennt er die Herbigkeit. Der menschliche Vorfahr war ein Wesen mit einem Knorpelgerüste, so wie es heute auch die Knorpelfische haben. Dann kristallisierte sich aus der ursprünglichen Tinctura heraus das Knochengerüst;

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mit Herbigkeit kristallisierte sich aus der ursprünglichen Tinctura heraus das Knochengerüst der Erde. Das nennt Jakob Böhme alles Salzige in der Welt. Man muß sich nicht vorstellen, daß das ursprüngliche Herbe auch die Form eines Knochengerüstes haben mußte. Aber alles, was mit der Anlage, fest und erdig zu werden, sich aus der ursprünglichen Geistmaterie herauskristallisierte, das war für Jakob Böhme dieses Herbe, das Salzige. Die zweite Gestalt der Natur ist das, was die innere Beweglichkeit bewahrt, so daß die Teile untereinander in fortwährende Wechselwirkung treten können. Das nennt Jakob Böhme das Merkurialische.

Das dritte ist das Schwefelige` dasjenige, was wie eine verborgene Kraft in sich die Gewalt des Feuers enthält.

Jakob Böhme vereinigt im deutschen Volkstum tief urgründliche Vorstellungen mit einer wunderbar weisheitsvollen Sprache. Gerade hier können wir den Zusammenhang Jakob Böhmes mit der ursprünglichen deutschen Volksseele erkennen. Es gibt Mitte Juni das Johannesfeuerfest. Etwas Bedeutungsvolles in der Natur wird da vorausgesetzt. Gelehrte Spintisiererei spricht da von der Sommersonnenwende und astronomiscclien Zusammenhängen. Aber damit haben wir es dabei nicht zu tun. In der ursprünglichen Voiksanschauung der Deutschen bedeutete das Feuer, das aus der Natur auferweckt werden kann, etwas ganz Besonderes. Das Johannisfeuer mußte entzündet werden durch Reiben von Hölzern aneinander. Man hatte die Vorstellung, daß, wenn ein solches Johannisfeuer entzündet worden war und eine Seuche im Anzuge war, dieses Johannisfeuer eine heilende Kraft hatte. Allen tiefen Volksanschauungen liegt zugrunde die Idee der Verwandtschaft des Feuers mit dem, was man beim Menschen die Triebe und Instinkte nennt. Man dachte sich das nicht als Sinnbild, denn das Volk hat

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niemals solche Symbole ausgeklügelt. Etwas anderes liegt dem zugrunde. Das kommt bei den Sagen vom Johannisfeuer und auch bei Jakob Böhme zum Vorschein. Was man heute aus der Materie als das Feuer quellen sieht, ist das eine, und die menschlichen und tierischen Leidenschaften sind das andere. Jetzt sind sie wie Nord- und Südpol voneinander entfernt. Nun blickte die Volksintuition, wie auch Jakob Böhme, zurück auf eine Zeit frühester Entwickelung. Da war etwas da, was nicht materielles Feuer war und auch nicht Leidenschaft, woraus sich aber differenzierte auf der einen Seite das Feuer, auf der andern Seite die Leidenschaft. Damals hatten diese eine gemeinsame Grundlage. Jakob Böhme findet im materiellen Feuer dieselbe geistige Grundlage wie in der menschlichen Leidenschaft. Es gibt eine Verwandtschaft für ihn zwischen dem, was in der Materie schlummert, was man herauslocken kann aus der Materie, und der menschlichen Leidenschaft. Darin ist etwas, was mit der geistigen Seite des Feuers verwandt ist.

Der Schwefel enthält in sich das Feuer verborgen, wie der Körper die tierische Leidenschaft enthält. So unterscheidet Jakob Böhme zunächst diese vier: Tinctura, Salz, Schwefel, Feuer.

Geradeso wie die alte deutsche Volksintuition auf eine Zeit zurückblickte, wo es weder Feuer noch Leidenschaft gab, so blickt Jakob Böhme auf einen solchen Zustand zurück, auf so etwas, das, wenn es sich vergeistigt, zu der fünften Urgestalt der Natur wird, die er das Wasser nennt. Es ist Wasser in dem Sinne, wie wir in der Bibel das Wasser finden, als äußeres Zeichen der Seele. Der Geist Gottes brütete über dem Wasser, über den in der Materie schlummernden Seelenkräften, damit sie auferweckt werden können.

Die sechste Gestalt der Natur entsteht dann, wenn das Innere nach außen dringt, wenn das innere Leben so lebendig

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wird, daß es wahrgenommen werden kann. Das nennt Jakob Böhme Hall oder Schall. Das ist eine jegliche seelische Äußerung, die das Innere des Wesens so in sich trägt wie die Glocke den Glockenton. Der Hall oder Schall kann auch so hervordringen, daß er die einheitliche Gottesnatur zum Ausdrucke bringt. Dann entsteht die siebente Kraft, die Weisheit, die in der Welt enthaltene göttliche Kraft. Unter diesen sieben Gestalten sieht Jakob Böhme die ganze Natur beschlossen.

Das niederste Glied der Menschennatur hat etwas zu tun mit der salzartigen Herbigkeit; dann steigt es immer höher hinauf bis zur Weisheit. Weiter haben die Naturgewalten und der Mensch Beziehung zum Sonnensystem. Überall drückt sich die Verwandtschaft aller Wesen aus. Alles, was wie das geistige Lebensblut durch alle Wesen zieht, das nennt Jakob Böhme auch die Tinctura. Sie liegt zwischen dem Weltgedanken und einer jeglichen Materie. Jakob Böhme stellt sich den großen Baumeister der Welt wie einen Künstler vor, der die Welt sinnlich-physisch ausgestaltet hat. Das Bindeglied zwischen dem Sinnlich-Physischen und dem Schöpfer der Welt nennt er wiederum die Tinctura. Sie sucht er auf in allen einzelnen Wesenheiten. Das macht das Schwierige in seinen Schriften aus, daß wir uns in seine Vorstellungen hineinarbeiten müssen. Der Mensch ist gewöhnlich froh, wenn er sich ein paar Begriffe hingepfahlt hat. Jakob Böhme macht sich nicht einzelne abstrakte Begriffe, die soldatenmäßig nebeneinanderstehen. Er kriecht gleichsam in alle Wesenheiten hinein. Er sieht alle Wesenheiten als verwandt, als miteinander verbunden an. Um Jakob Böhme zu verstehen, muß man den Geist selbst beweglich machen, wie die Natur selbst beweglich ist, so daß sich die Begriffe ebenso verwandeln können, wie die Dinge in der Natur sich verwandeln. Auch von Theosophen werden

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oft enge Begriffe hingestellt. Es handelt sich aber nicht darum, einen Begriff zu haben, sondern darum, daß man den Begriff gleich wieder auflösen kann. Hat man einen Begriff, so muß man ihn verwandeln können, wie sich dieDinge verwandeln. Nichts ist hinderlicher als abstrakte, fest abgezirkelte Begriffe. Deshalb können diejenigen Jakob Böhme nicht begreifen, die ihn lesen, weil sie sich zuerst feste Begriffe bilden; er aber geht dem lebendigen Leben der Dinge nach. Es müssen die Begriffe auch sich ändern, so wie die Dinge selbst sich ändern. Da fühlen aber die Menschen sich gleichsam in der Luft schweben. Man hat tatsächlich den Boden unter den Füßen verloren, wenn man die Welt begreifen will. Nur muß man das Zentrum in sich selbst behalten.

Das Seelengemälde Jakob Böhmes ist eine Nachbildung der Natur selbst. Im menschlichen Geiste findet Jakob Böhme das, was der Tinctura verwandt ist, die Imagination. Imagination ist eine Kraft der Seele, die mitten drinnen steht zwischen der Kraft des Gedankens und der Kraft des Willens. Wer seine Begriffe zuerst bildlich zu machen versteht und sie dann sich veranschaulicht im Geiste, so daß nicht vor ihm steht ein abstraktes Bild der Pflanze, sondern eine Pflanze wie mit sinnlicher Schaubarkeit, dem wird ein solcher anschaubarer Begriff wie durchtränkt mit wirklichem Leben von innen heraus. Wer das kann, der hat Imagination. Die kann so gesteigert werden, daß der Mensch schöpferisch wirkt und Einfluß gewinnt auf das, was in den Dingen als Tinctura lebt.

Hier beginnt für Jakob Böhme die Alchimie, die auf die Materie, die Tinctura, zurückzuwirken vermag und von da auch auf die sinnlichen Dinge. So vermag der imaginative Mensch ein Magier zu werden. Weil Jakob Böhme dies verstanden hat, dürfen wir ihn den größten Magier der neuen

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Zeit nennen. Die Imagination nennt Jakob Böhme die große Jungfrau der Natur, die Jungfrau Weisheit. Nun geht er zurück bis zur Schöpfung des Adam und weiter hinauf zu der ursprünglichen göttlichen Imagination. Er sagt, die göttliche Imagination hat nach ihrem Spiegelbilde den ursprünglichen geistigen Menschen in die Materie eingeformt. Diesen Geistesmenschen nennt er den ursprünglichen Adam. Indem dieser geistige Mensch von Anfang an da ist, zeigt er, wie der geistige Mensch in der ursprünglichen Tinctura schon vorhanden war, wie dann aber eigentlich eine geistige vollständige Umwandlung in derWeltenschöpfung vor sich gegangen ist. Diese Umwandlung verlegt er auf den vierten Schöpfungstag. Dieser ursprüngliche Mensch, den er den Tincturamenschen nennt, der hat nicht mit eigentlichen Augen gesehen, aber im Innern war er hellseherisch, so daß er hellseherisch alles wahrnehmen konnte, was in ihm vorging. Dann trat für diesen Menschen die Selbstheit ein, die Selbständigkeit, die kam am vierten Tag und der hellseherische Mensch wurde sich selbst gewahr, fing an, seine eigene Wesenheit zu schauen. Ursprünglich war geistig-göttliche Schöpfung ringsherum. Das sah der Urmensch hellseherisch. Jetzt sah er sich. Das war sein Abfall von Gott. Nun wäre dieser Mensch ganz zur Verhärtung gekommen, aufgegangen in der Herbigkeit, wenn nicht etwas anderes möglich wäre. Nicht mehr sah der Mensch die Welt hellseherisch. Es trat der Zeitpunkt ein, wo der hellseherische Mensch äußerlich wahrnehmen konnte, was göttlich ist. Sonne, Mond und Sterne sind zunächst Bilder des Göttlichen, was er früher in sich gesehen hatte. So war der Mensch abgefallen von der Göttlichkeit, aber durch die Sinne war für ihn die Welt wahrnehmbar geworden. Die Vorstellung der sinnlichen Wahrnehmung ist es, welche den Menschen aus dem alten Tincturamenschen zum materiellen Menschen machte. Er

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wird ein materieller Mensch durch seine eigene, der materiellen Welt entnommene Vorstellung, so daß der Mensch von Innen heraus durch seine eigene Imagination des Sinnlichen selbst ein sinnlicher Mensch geworden ist.

Jakob Böhme sah bei allen Wesen eine tiefe Verwandtschaft, bei Tieren, Pflanzen und Mineralien. Er sagte, alles was in der Welt lebt an Haut und Knochen, an Fleisch und Blut und so weiter, das ist verwandt mit irgend etwas auf der Erde. Die ganze soziale, künstlerische, gesellschaftliche Struktur bringt Jakob Böhme auch in Beziehung zu den Konstellationen der Planeten. Er zeigt den Zusammenhang der Planeten mit dem menschlichen Leben. Alles das ist bei ihm so klar für den, der ihn verstehen will, aber so groß, daß allerdings eine kleine Zeit ihn nicht verstehen kann.

Eine andere Frage noch trat in seinen Gesichtskreis, die Frage nach dem Ursprung des Übels, des Bösen in der Welt, die Frage: Wie kommt das Übel in die Welt? Ist das Übel in dem Urgrund der Welt enthalten? Dann ist der Urgrund nicht ein guter. - Er findet Antwort darauf, indem er vergleicht das ursprüngliche Gute mit dem Licht, dem reinen, lauteren Licht. Darin ist keine Finsternis enthalten. Indem das Licht aber erscheint, wahrnehmbar wird, erscheint es durch die Gegenstände mit dem Schatten. Können wir uns sagen, daß Finsternis im Licht enthalten ist? Gewiß nicht. Vom Quell des Lichts geht nur reines, lauteres Licht aus. Aber von den Gegenständen geht das Gegenteil des Lichtes aus. Es tritt uns in der Welt das Licht entgegen als der Urgrund ... nicht von dem Urgrund herzuleiten. So wahr der Schatten bei dem Lichte dabei sein muß, so wahr muß auch das Böse in dem Guten darinnen sein. Wir können die göttliche Harmonie vergleichen mit der menschlichen Seele. Sie durchstrahlt den Organismus.

Die Glieder des menschlichen Organismus werden in Bewegung

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gebracht durch die Seele. Die Weltharmonie der Gottheit lebt sich so in der Seele aus, daß die Glieder Selbständigkeit haben. Trotzdem aber die Harmonie der Seele zugrunde liegt, können sich die Glieder gegeneinander kehren. Soll Freiheit in der Welt sein, dann müssen die Glieder sich gegeneinander wenden können. Freiheit und die Möglichkeit des Bösen gehören zusammen, Harmonie und die Möglichkeit der Disharmonie. Gerade dieser Gedanke Jakob Böhmes hat Schelling begeistert, und man findet bei ihm eine wunderbare Darstellung von dem, was in der Freiheit des Menschen lebt. Diese Schrift Schellings über die Freiheit des Menschen ist wie eine Opfergabe für Jakob Böhme. Schelling hat etwas begriffen von Jakob Böhme. Er hat auch fortgelebt bei Goethe und anderen großen Geistern des 19. Jahrhunderts. Erst als der Materialismus aufkam, wurde das Geistesleben dem Jakob Böhme entfremdet. Dann verstand man ihn immer weniger. Es wird wieder eine Zeit kommen, in der man ihn nicht nur verstehen wird, sondern in der man von ihm wird lernen wollen. Dann wird für das, was man heute Theosophie nennt, eine neue Ära heran rücken. Es wird dann eine Zeit kommen, wo man solche tiefe Geistestaten wie die Schriften Jakob Böhmes, wie die germanische Mythologie wieder verstehen wird, wo diese einer neuen Verklärung entgegen gehen werden. Dann wird eine Vergeistigung aller Weisheit, aller menschlichen Energie herbeigeführt werden können. Wenn das Zeitalter zu Ende geht, das in der äußeren Beherrschung aller Naturkräfte seine Aufgabe hat, dann wird auch Jakob Böhme wieder verstanden werden. Demselben Zeitalter, dem Jakob Böhme angehört, gehörten auch Kopernikus, Galilei und Giordano Bruno an. Sie haben die Welt hinübergeführt zur Betrachtung der sinnlichen Welt, der äußeren Welt. Jakob Böhme erscheint gerade in jenem Zeitalter, und seine Werke sind wie eine

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große Zusammenfassung aller seelischen Errungenschaften der Menschheit. Das alles stellt er hin für die Welt in der Morgenröte eines Zeitalters, das die materialistische Epoche einleitet. Hat man das materialistische Zeitalter überschritten, so wird auch Jakob Böhme wiedergefunden werden und alles, was in seinen Werken liegt. Alles liegt in seinen Werken, was die Welt an Geistesschätzen zusammengebracht hat.

Was die Theosophie bisher geleistet hat, dürfen wir nicht als etwas Besonderes betrachten. Die theosophische Weltbewegung muß etwas sein, was lebendig ist, was Leben und Wachstum bedeutet. Wird sie das, wird die Theosophische Gesellschaft das vertreten, so wird sie verstehen im Sinne der großen Geister früherer Zeiten, im Sinne Jakob Böhmes zu wirken, dann erst wird sie in wahrem Sinne des Wortes theosophisch wirken.

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HINWEISE

Textunterlagen: Die in vorliegendem Bande enthaltenen 22 Vorträge wurden in zwei Serien von insgesamt 24 Vorträgen gehalten: 1905 zehn Vorträge, 1906 vierzehn Vorträge. Vom S Februar I906 «Theosophie und Kunst» hat sich keine Nachschriü erhalten: die Nachschrift vom 5. April 1906 «Die Planetenentwickelung» war für den Druck unzureichend. Das Thema ist jedoch in vielen Vortragszyklen, zum Beispiel in «Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt. Tierkreis, Planeten Kosmos», GA Bibl.~Nr. 110, und vor allem in den Schriften «Aus der Akasha-Chronik» (l903-l905), GA Bibl.-Nr. l l, und «Die Geheimwissenschaft im Umriß. (l9l0), GA Bibl.-Nr. I3, grundlegend dargestellt. Anstelle der für einen Abdruck unzureichenden Naeh~ehriften der beiden Vortraäge vom 26. Oktoher und 2. November l 905 wurden zwei Hamburger Vorträge über dieselben Themen aufgenommen. Für Vortrag X «Das Weihnachtsfest als Wahrzeichen des Sonnensieges. wurde hier eine andere Nachschrift zugrundegelegt als in der Veröffentlichung in «Das Goetheanum», 9. Jg. (1930), Nr. 52, wo der Vortrag irrtümlich auf den 24. Dezember datiert ist.

Vortrag I: Die stenographische Mitschrift von Franz Seiler, Berlin, wurde von Rudolf Steiner für den Abdruck in der Zeitschrift «Lucifer-Gnosis« (1906) selbst durchgesehen. Er fügte damals folgende Anmerkung bei: «Das Obige ist die Wiedergabe eines nicht vorher ausgearbeiteten Vortrages nach einer stenographischen Aufnahme. Da es manchem ausgesprochenen Wunsche entspricht, solche Vorträge auch lesen zu können, so habe ich mich zur Veröffentlichung entschlossen. ich bitte dabei zu bedenken, daß ich einen großen Unterschied mache zwischen dem mündlich gesprochenen Worte und einer schriftstellerisehen Arbeit. Was im ersten Falle frommt, ist nicht auch im zweiten gut. Damit, hoffe ich, ist manches in der obigen Darstellung entschuldigt, was ich in einem Aufsatze anders gestalten würde. Nachträglich ist aber das Stenogramm von mir durchgesehen worden. « Weitere Einzelausgaben siehe Impressum, Seite 4. Der Vortrag findet sich auch noch in dem Band «Luzifer-Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus der Zeitschrift «Luzifer» und «Lucifer-Gnosis» 1903-1908», GA Bibl.-Nr. 34.

Die Vorträge III, III, VI-XIX und XXI wurden von Franz Seiler, Vortrag XX von Walter Vegelahn, Vortrag XXII von Mathilde Scholl mitstenographiert. Die Mitschreiber der Vorträge III und IV sind namentlich nicht bekannt.

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Es ist zu berücksichtigen, daß die Nachschriften von unterschiedlicher Güte sind, wie schon aus den verschiedenen Längen ersichtlich ist. Teilweise sind sie sogar sehr lückenhaft und weisen dementsprechende Mängel auf.

Die Titel der einzelnen Varträge wurden von Rudolf Steiner selbst bestimmt. Dem Titel des Bandes wurde von den Herausgebern der Titel des ersten Vortrages zugrundegelegt.

Da Rudolf Steiner zur Zeit dieser Vorträge innerhalb der Theosophischen Gesellschaft wirkte, bediente er sich der Ausdrücke «Theosophie« und «theosophisch» immer im Sinne seiner anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft (Anthroposophie). Aufgrund seiner späteren ausdrücklieben Anweisung sind sie an den sachlich in Betracht kommenden Stellen durch die Ausdrücke «Anthroposophie» oder «Geisteswissenschaft« ersetzt worden.

Werke Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mit der Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die Übersicht am Schluß des Bandes.

Zu Seite

9 Ernst Haeckel, «Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie», Leipzig 1899. 1925: 400. Tausend; «An- thropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen-Keimes», 1874.

bin ich auch selbst in einer besonderen Lage gegenüber der Weltan- schauung Haeckels: Vgl. Rudolf Steiner «Mein Lebensgang» (1923- 1925),GABibl.-Nr.28.

10 Helena Petrowna BUvatsky: Hauptwerke: «Isis Unveiled» (1877), deutsch: Die entschleierte Isis, Leipzig o. J. «The Secret Doctrine» (1887-1897), deutsch: Die Geheimlehre, Leipzig o. J. und Ulm 1960-61.

11 meine Schrift «Haeckel und seine Gegner»: Minden 1900. Innerhalb der Gesamtausgabe in dem Band «Methodische Grundlagen der An- throposophie», GA Bibl.-Nr. 30.

mein Buch «Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert»: 1914 erweitert zu «Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt. Zugleich Neuausgabe des Werkes: Welt- und Le- bensanschauungen im 19. Jahrhundert. Ergänzt durch eine Vorge- schichte über abendländische Philosophie und bis zur Gegenwart fortgesetzt», GA Bibl.-Nr. 18.

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12 Lorenz Oken: «Lehrbuch der Naturphilosophie», (Buch XIV, Zoo- logie), 2. Auflage, Jena 1831.

16 Darwin: «Über die Entstehung der Arten im Tier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung oder die Erhaltung der begünstigten Ras- sen im Kampfe ums Dasein», 1859. Haeckel: Zusammenhang der Menschen mit den Herrentieren: Vgl. «Natürliche Schöpfungsgeschichte». Gemeinverständliche wissen- schaftliche Vorträge über die Entwicklungslehre im allgemeinen und diejenigen von Darwin, Goethe und Lamarck im besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und an- dere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft (24 Vorträge), 1868; «Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschenkeimes», 1874.

17 Haeckel sagte einst bei Gelegenheit eines Gespräches: Vgl. Rudolf Steiner, «Mein Lebensgang», XXX. Kapitel, GA Bibl.-Nr. 28. Huxley: «Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur», 1863.

18 f. Haeckel: Siehe Hinweis zu S. 16.

20 Du Bois-Reymond: «Über die Grenzen der Naturerkenntnis», Vor- trag am 14. August 1872, Leipzig 1872. «Die sieben Welträtsel», Vortrag am 8. Juli 1880, Leipzig 1882.

25 Bell: Konstruierte 1875 das erste Telephon, das keiner Batterie be- durfte.

26 f. «Prolog im Himmel»: Goethe, «Faust» I. «Tönend wird für Geistesohren . . .»: «Faust» II, 1. Szene. 33 Fichte-Zitat: Vorlesungen über «Wissenschaftslehre» 1813. Nachge- lassene Werke, 1. Band, Bonn 1834, S. 4 f. «War'nicht das Auge sonnenhaft. , .»: «Entwurf einer Farbenlehre», didaktischer Teil, Einleitung, S. 88 in Goethes Naturwissenschaftli- chen Schriften, herausgegeben und kommentiert von Rudolf Steiner in Kürschners «Deutsche National-Litteratur» 1883—1897, 5 Bände, Nachdruck Dornach 1975, GA Bibl.-Nr. 1a-e, Band III. Feuerbach: «Das Wesen des Christentums», Leipzig 1841 und «Das Wesen der Religion», Leipzig 1851. 34 Haeckel sagt: In «Natürliche Schöpfungsgeschichte», 9. Auflage Ber- lin 1898, Bd. I, S. 64. Das Zitat ist von Rudolf Steiner frei wiedergege- ben.

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36 f. Rundschreiben: Zar Nikolaus II. gab mit diesem Manifest vom 24. August 1898 den Anstoß zur ersten Haager Friedenskonferenz (18. Mai bis 29. Juli 1899). Zitiert nach Bertha von Suttner «Die Haager Friedenskonferenz. Tagebuchblätter», Dresden und Leipzig 1900.

37 Heinrich IV, König von Frankreich. Bertha von Suttner: Vgl. den Hinweis zu S. 36 f.

38 Transvaalkrieg: 1899-1902 heute haben wir wieder Krieg: Russisch-japanischer Krieg 1904/05. Der Forscher, der so viele Denker an sich herangezogen hat: Gemeint ist Ernst Haeckel.

41 Darwin hat (die Anschauung vom Kampf ums Dasein) von Malthus genommen: Vgl. «Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl» Stuttgart 1876, 2. Bd. der gesammelten Werke, 3. Kap.: Der Kampf ums Dasein, S. 85—87. Malthus, englischer Nationalökonom: «Essay on the Principle of Population», anonym 1798, 9. Auflage 1888. Deutsche Übersetzung von Hegewisch 1807.

44 Keßler: «Das Gesetz der gegenseitigen Hilfe» in «Berichte der Peters- burger Gesellschaft der Naturforscher», Bd. 11. Fürst Kropotkin: «Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung», Deutsch von Gustav Landauer, Leipzig 1904.

45 Gustav Landauer, sozialistischer Schriftsteller.

53 . . . unserm ersten Grundsatz: «Die Zwecke der Theosophischen Ge- sellschaft sind: a) den Kern einer allgemeinen Brüderschaft der Menschheit zu bilden, ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens, des Geschlechts, der Kaste oder Farbe.»

54/55 «Licht auf den Weg»: Schrift der englischen Theosophin Mabel Collins «zum Frommen derer, welche, unbekannt mit des Morgen- landes Weisheit, unter deren Einfluß zu treten begehren». Überset- zung aus dem Englischen, 2. Auflage, Leipzig 1888.

65 «Schlaf ist Seelenverdauung. . .»: Novalis «Das allgemeine Brouillon 1798/99».

69 Goethe: Siehe Hinweis zu S. 26 f.

79 «Einem gelang es . . .»: Novalis, Paralipomena zu «Die Lehrlinge zu Sais».

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86 Regierungsrat Kolb: Alfred Kolb: «Als Arbeiter in Amerika», Berlin 1904. Siehe auch den Aufsatz Rudolf Steiners «Geisteswissenschaft und soziale Frage», Dornach 1977; innerhalb der Gesamtausgabe in dem Band «Luzifer-Gnosis 1903-1908», GA Bibl-Nr. 34.

89 Robert Owen, englischer Sozialreformer.

94 Fichte-Zitate: «Jene praktischen Leute . . .»: Wörtlich: «Daß Ideale in der wirklichen Welt sich nicht darstellen lassen, wissen wir anderen vielleicht so gut als sie, vielleicht besser. Wir behaupten nur, daß nach ihnen die Wirklichkeit beurteilt, und von denen, die dazu Kraft in sich fühlen, modifiziert werden müsse. Gesetzt, sie könnten auch davon sich nicht überzeugen, so verlieren sie dabei, nachdem sie einmal sind, was sie sind, sehr wenig; und die Menschheit verliert nichts dabei. Es wird dadurch bloß das klar, daß nur auf sie im Plane der Veredelung der Menschheit gerechnet ist. Diese wird ihren Weg ohne Zweifel fortsetzen; über jene wolle die gütige Natur walten, und ihnen zur rechten Zeit Regen und Sonnenschein, zuträgliche Nahrung und ungestörten Umlauf der Säfte und dabei - kluge Ge- danken verleihen!» Vorrede zu «Über die Bestimmung des Gelehr- ten», 1794.

«Die meisten Menschen . . .»: «Grundlage der gesamten Wissen- schaftslehre», Anmerkung zu § 4., 1794.

106 Hill, Reformator des englischen Postwesens.

107 Bayrisches Ärztekollegium: Vgl. R. Hagen «Die erste deutsche Eisen- bahn», 1885, S. 45.

108 Möbius: «Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes», Halle 1905. «Über das Pathologische bei Goethe», Leipzig 1898. «Über Schopenhauer», Leipzig 1899. «Über das Pathologische bei Nietzsche», Halle 1902.

109 Bischoff Anatom und Physiologe. «Studium und Ausübung der Me- dizin durch Frauen», München 1872.

111 Rosa Mayreder: «Zur Kritik der Weiblichkeit. Essays», Jena und Leipzig 1905. Siehe auch Rudolf Steiner «Mein Lebensgang» (1923- 1925), GA BibL-Nr. 28. Lombroso, Professor der Psychiatrie in Pavia. George Egerton (Pseudonym für Mary Chavelita Bright, geb. Dünne), australisch-englische Erzählerin. Gilt als eine der Hauptver- treterinnen des Frauenproblemromans.

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111 Rudolf Virchow, Professor der pathologischen Anatomie. Havelock Ellis: «Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber», Berlin 1792.

111/112 Nietzsches Urteil: «Für solche gesagt, welche etwas sich zurecht- zulegen wissen: die Weiber haben den Verstand, die Männer das Gemüt und die Leidenschaft» in «Menschliches Allzumenschliches», 1. Band, 7. Hauptstück: Weib und Kind.

114 Naumann. Die Verhandlungen der Paulskirche: Erste deutsche Na- tionalversammlung Frankfurt a. m. 1848-49.

115 Jacob Burckhardt: «Die Kultur der Renaissance in Italien», 1860. Rahel Varnhagen, deutsche Romantikerin,

119 Helena Petrowna Blavatsky: Siehe Hinweis zu S. 10.

120 Max Müller, Orientalist: «Sacred books of the East», viele Bände 1879-1894.

122 bei Paulus als geistigen Leib bezeichnet finden: I. Kor. 15, 44 ff.

126 Chela (Tscheia): Ein bei den Theosophen in jenen Zeiten häufig ge- brauchter Ausdruck für Schüler der Geheimwissenschaft.

128 «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis»: Goethe, «Faust» II, Schlußworte.

129 Zu dem Passus: « Und was ist sie denn, jene eigentümliche Geistesart»: Die Nachschrift ist hier offensichtlich sehr lückenhaft.

134 Haeckel: Siehe Hinweis zu S. 16

137 Plato erzählt von der Insel Poseidonis: Nach Piatos «Kritias» fiel bei der Teilung der Erde durch die Götter die Insel Atlantis dem Posei- don zu.

154 Ausspruch: Siehe Hinweis zu S. 79

155 Haeckel: Siehe Hinweis zu S. 16

162 Solon. Siehe Piatos «Timaios».

178 «Wer Wissenschaft und Kunst besitzt . . .»: Goethe, Gedichte, Bd. 3/1 «Zahme Xenien» VIII in Kürschners «Deutsche National-Litte- ratur», Band 84, S. 297.

181 Huxley: Siehe auch S. 42 und Hinweis zu S. 17.

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182 Alexander Tille: «Von Darwin bis Nietzsche», Ein Buch Entwick- lungsethik, Leipzig 1895.

Keßler: Siehe Hinweis zu S. 44.

183 Fürst Krapotkin: Siehe Hinweis zu S. 44.

190 Rückert: «Welt und Ich», in: Rückerts Werke in 6 Bänden, 2. Band: Vermischte Gedichte; Stuttgart o.J., Cotta.

192 «Wo zwei oder drei in meinem Namen . . .»: Matthäus 18, 20.

199 «£5 bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Welt»: Goethe, «Tasso».

207 «Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein . . .»: Markus 10, 15 und Matthäus 18, 3.

211 «Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer»: Goethe, «Faust» II, Saal des Thrones.

222 Die astralen Sinnesorgane habe ich in der Zeitschrift «Lucifer-Gnosis» beschrieben: Bezieht sich auf die Aufsätze «Wie erlangt man Er- kenntnisse der höheren Welten?» (1904/05), 1. Buchausgabe 1909, GA Bibl Nr. 10.

Ausspruch Hamlets: «Nur daß die Furcht vor etwas nach dem Tod — / Das unentdeckte Land, von des Bezirk / Kein Wandrer wiederkehrt - den Willen irrt, / Daß wir die Übel, die wir haben, lieber / Ertragen, als zu unbekannten fliehn.» «Hamlet» von Shakespeare, 3. Akt, 1. Szene.

225 Guru: In der orientalischen Einweihung der die okkulte Entwicklung des Schülers leitende Führer auf dem Erkenntnispfad.

226 T. Subba Row (heute auch Rao geschrieben), Rechtsanwalt in Madras (Indien). Selbständiger Okkultist und Freund H. P. Blavatskys. Die wenigen Aufsätze, die er geschrieben hat, erschienen nach seinem Tode unter dem Titel «Esoteric Writings».

228 Wort des Dichters: Siehe Hinweis zu S. 79.

230 eine Art Goethe-Gebet: Aus dem aphoristischen Aufsatz „Die Na- tur". Siehe Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, Hinweis zu S.

33, Band IL Zur Autorschaft des Prosahymnus vgl. Rudolf Steiner «Zu dem Fragment über die Natur von Goethe» (1892) in «Methodi- sche Grundlagen der Anthroposophie 1884-1901», GA Bibl.-Nr. 30.

231 «Erhabner Geist. . .»: Goethe, «Faust» I, Wald und Höhle.

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247 f. Festlegung des Weihnachtsfestes im 4. Jahrhundert: Um 354 vom 6. Januar auf den 25. Dezember verlegt.

248 Gegenstand eines Vortrages im nächsten Jahr: Siehe Vortrag XI «Die Weisheitslehren des Christentums» vom 1. Februar 1906.

248 Goethe: Siehe Hinweis zu S. 230.

252 Lessing: «Die Erziehung des Menschengeschlechtes», 1780.

255 Als ich vor einiger Zeit. . . über die Weisheitslehren des Christentums . . . sprach: Es handelt sich um den Vortrag vom 21. November 1905 in Colmar, von dem keine Nachschrift erhalten ist.

257 pauUnischen Ausspruch: Siehe Hinweis zu S. 122.

265 Plato-Zitat: Siehe «Phaidon», übersetzt von F. Schleiermacher, Ver- lag Lambert Schneider, Berlin o. J., Stephanus-Numerierung 68 E-69 D, S. 746: «Und so mögen auch diejenigen, welche uns die Weihen angeordnet haben, gar nicht schlechte Leute sein, sondern schon seit langer Zeit uns andeuten, wenn einer ungeweiht und ungeheiligt in der Unterwelt anlangt, daß der in den Schlamm zu liegen kommt, der Gereinigte aber und Geweihte, wenn er dort angelangt ist, bei den Göttern wohnt.»

«Selig sind diejenigen, die da glauben, auch wenn sie nicht schauen»: Johannes 20, 29.

268 «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben»: Johannes 14, 6.

272 Haeckel: Siehe Hinweis zu S. 16.

273 «Ich bin bei Euch alle Tage bis ans Ende der Welt»: Matthäus 28,20. Goethe-Gedicht: «Selige Sehnsucht» aus «West-östlicher Diwan»: Sagt es niemand,. . . (weiter auf Seite 521 f.)

274 Verklärung Christi: Matthäus 17. Chela: Siehe Hinweis zu S. 126.

276 Angelus Silesius: Aus «Der Cherubinische Wandersmann», 1. Buch, 61. Spruch.

285 Goethes Ausspruch: «Faust» I, 1. Akt, 1. Szene: Nacht.

287 f. Darwin wollte einmal einem Wilden klarmachen . . .: Siehe «Reise um die Welt. Die Schilderung der Feuerländer».

289 Goethe: Siehe Hinweis zu S. 128.

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293 Sanskritwort Karnoti: Stammwort von Karma.

295 Pauluswort: «Gott läßt seiner nicht spotten. Denn was der Mensch säet, das wird er ernten.» Gal. 6, 7.

303 Lessing: Siehe Hinweis zu S. 252.

304/05, 310 Goethe-Zitate: «Ach du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester oder meine Frau», aus dem Gedicht an Charlotte von Stein (Juli 1776) «Warum gabst du uns die tiefen Bücke . . . » «Wie an dem Tag . . .»: «Urworte, orphisch». «Des Menschen Seele gleicht dem Wasser . . .»: «Gesang der Geister über den Wassern». «Wer immer strebend sich bemüht. . .»: «Faust» II, Fausts Himmel- fahrt.

308 Schiller-Zitat: «Wohltätig ist des Feuers Macht . . . » aus «Die Glocke».

313 Angelus-Silesius-Zitat: Aus «Der Cherubinische Wandersmann», 4. Buch, Vers 56.

321/22 Goethe-Zitat: «Natur ist Sünde . . .»: «Faust» II, 2. Szene, Saal des Thrones, Worte des Kanzlers.

325 Schiller-Zitat: Siehe Hinweis zu S. 308.

331 «Ich hin bei Euch . . .»: Siehe Hinweis zu S. 273.

334 Edouard Schure: «Die Kinder des Lucifer». Drama. Autorisierte Übersetzung von Marie von Sivers, Leipzig 1905. Dieselbe Überset- zung in freie Rhythmen gebracht durch Rudolf Steiner (1909): «Luci- fer- Die Kinder des Lucifer», Dornach 1955

336 Margherita Albana: «Le Correge, sa vie et son oeuvre» (1881), pre- cede d'un essai biographique sur Marguerite Albana par Edouard Schure, Paris 1900.

340 Marie von Sivers. Von 1902 an engste Mitarbeiterin Rudolf Steiners und seit 1914 Marie Steiner. Über die Beziehungen Marie Steiner-von Sivers und Rudolf Steiners zu Edouard Schure siehe Rudolf Steiner, «Mein Lebensgang», GA Bibl.-Nr. 28, sowie «Aus dem Leben von Marie Steiner-von Sivers», Dornach 1956.

341 Friedrich Nietzsche: «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik», 1869.

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343 f. «Das musikalische Drama»: «Le Drame Musical. Richard Wagner. Son Oeuvre et son Idee», Paris 1908.

Margherita Albana: Siehe Hinweis zu S. 336.

«Die Heiligtümer des Orients»: «Sanctuaires d'Orient. Egypte — Grece - Palestine», Paris 1898. Autorisierte Übersetzung von Marie Steiner-von Sivers, Leipzig 1912.

358 «Luzifer», das erste theosophische Journal: 1887 begründet von H. P. Blavatsky, «das wir erneuert haben in unserer deutschen Zeitschrift <Lucifer-Gnosis>: Siehe Rudolf Steiner, «Luzifer-Gnosis, 1903- 1908», GA Bibl.-Nr. 34.

360 Spruch von Margherita Albana: «Crois au Divin qui est en toi, et puis prete l'oreille au fleuve de la vie.» Von Schure seinem Essay über ihr Leben und Werk (vgl. Hinweis zu Seite 336) vorangestellt.

369 Ludwig Laistner: «Das Rätsel der Sphinx. Grundzüge einer Mythen- geschichte», 2 Bände Berlin 1889. Vergleiche über ihn Rudolf Steiner «Mein Lebensgang», XV. Kapitel, sowie «Inneres Wesen des Men- schen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt», 4. Vortrag, GA Bibl.-Nr. 153.

371 im zwölften Vortrag am 19. April: Vortrag XX dieses Bandes.

372 «Lucifer-Gnosis»: Vgl. Hinweis zu Seite 358.

390 Kant: «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.» «Kleinere Schriften zur Logik und Metaphysik», 1870.

394 Bhagavdn Das: Mitglied der Theosophischen Gesellschaft, zeitweise Generalsekretär der indischen Sektion. Siehe auch Rudolf Steiner «Die Geschichte und die Bedingungen der anthroposophischen Be- wegung im Verhältnis zur Anthroposophischen Gesellschaft» (Dor- nach 1923), GA Bibl.-Nr. 258.

396 was (Fichte) seinerzeit vor seine Jenenser Studenten hingezaubert hat: In den Vorlesungen «Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre», 1794, und «Über die Bestimmung des Gelehrten», 1794.

396 ff. Fichte-Zitate: «es gibt wenige, die dazu kommen, denn sie halten sich lieber für ein Stück Lava auf dem Monde»: Vgl. Hinweis zu S. 94. Fichtes Ausdruck «Tathandlung»: «Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: das Ich ist, und setzt sein Sein, vermöge seines bloßen Seins. Es ist

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zugleich das Handelnde und das Produkt seiner Handlung; das Tä- tige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Hand- lung und Tat sind ein und dasselbe; und daher ist das: Ich bin, Aus- druck einer Tathandlung». In: «Grundlage der gesamten Wissen- schaftslehre» 1794,1. Teil § 1, Nr. 6c.

402 ein Buch von ihm: «Die Lehrlinge zu Sais».

403 Novalis . . . verehrte die Mathematik wie eine Religion: «Reine Ma- thematik ist Religion.» Novalis Werke in vier Teilen herausgegeben von Hermann Friedemann, Goldene Klassiker-Bibliothek, 3. Teil, Fragmente II, Mathematische Fragmente Nr. 1666.

404 Oken: Siehe Hinweis zu S. 12. Steffens: «Anthropologie», Kap. «Animalische Vegetation und In- sektenwelt», Stuttgart 1922.

405 Ein großer Theosoph - nicht ein deutscher - des 18. Jahrhunderts: Vermutlich Claude de Saint Martin (1743-1803).

406 Jakob Böhme: Vgl. Hinweis zu Seite 511. Schellings Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit: «Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände», 1809.

407 f. Fichte-Zitat: «Denke man eine Welt von Blindgeborenen, denen darum allein die Dinge und ihre Verhältnisse bekannt sind, die durch den Sinn der Betastung existieren. Tretet unter diese, und redet ihnen von Farben und den andern Verhältnissen, die nur durch das Licht für das Sehen vorhanden sind. Entweder Ihr redet ihnen von Nichts, und dies ist das Glücklichere, wenn sie es sagen; denn auf diese Weise werdet Ihr bald den Fehler merken, und, falls Ihr ihnen nicht die Augen zu öffnen vermögt, das vergebliche Reden einstellen . . . — Oder sie wollen aus irgendeinem Grunde Eurer Lehre doch einen Verstand geben: so können sie dieselbe nur verstehen von dem, was ihnen durch die Betastung bekannt ist: sie werden das Licht und die Farben, und die andern Verhältnisse der Sichtbarkeit fühlen wollen, zu fühlen vermeinen, innerhalb des Gefühls irgend Etwas sich erkün- steln und anlügen, was sie Farbe nennen. Dann mißverstehen, verdre- hen, mißdeuten sie.» «Einleitungsvorlesungen in die Wissenschafts- lehre», vorgetragen an der Universität in Berlin 1812—1813, Bonn 1834 bei Adolph Marcus, S. 4 f.

408 Gotthilf Heinrich von Schubert: «Die Geschichte der Seele», Stutt- gart und Tübingen 1839.

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409 «feinen Leib»: indisch = sukshma-shariram

Justinus Kerner: «Die Seherin von Prevorst», Stuttgart 1828.

410 Eckartshausen: «Kostis Reise von Morgen gegen Mittag. Eine Reise- beschreibung aus den Zeiten der Mysterien, mit wichtigen Bruch- stücken der Wahrheit belegt, und anwendbar für die Gegenwart und die Zukunft», Berlin 1896/97. «Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz», Band I und II, Berlin 1896/97.

411 Schindler I Albertus: Über diese Namen konnte nichts festgestellt werden. Möglicherweise sind sie vom Nachschreibenden nicht rich- tig festgehalten worden.

412 Novalis: Siehe Hinweis zu S. 79.

417 Ludwig Laistner: Siehe Hinweis zu S. 369.

431 Tacitus: «De origine situ moribus ac populis germanorum», «Germa- nia» ; vielfach deutsch übersetzt.

436 Goethe . . . selbst von solch einer geheimen Bruderschaft redet: «Die Geheimnisse, ein Fragment.» Siehe auch den Vortrag Rudolf Steiners vom 25. 12. 1907 «Die Geheimnisse-Ein Weihnachts-und Osterge- dicht von Goethe», Dornach 1977.

439 Angelus Silesius: Siehe Hinweis zu S. 313.

441 Chela: Siehe Hinweis zu S. 126. «Wer nicht um meinetwillen verläßt . . .»: Lukas 14, 26; Matthaus 10, 37; Markus 10, 29.

446 Wagners «Die Sieger»: Vgl. Richard Wagners Gesamte Schriften, herausgegeben von B. Kapp, Hesse und Becker Verlag, Leipzig o. J., 6. Band: Entwürfe, Fragmente, Gedichte, S. 278: «Die Sieger», Ent- wurf 1856.

447 erzählt Wagner: «Am Karfreitage (1857, im <Asyl am grünen Hügel>, kleines Landhaus neben der Villa Wesendonk in Zürich) erwachte ich bei vollem Sonnenschein: das Gärtchen war ergrünt, die Vögel sangen, und endlich konnte ich mich auf die Zinne des Häuschens setzen, um der langersehnten, verheißungsvollen Stille mich zu er- freuen. Hiervon erfüllt, sagte ich mir plötzlich, daß heute ja Karfrei- tag sei und entsann mich, wie bedeutungsvoll diese Mahnung mir schon einmal in Wolframs <Parsifal> aufgefallen war.» Wagner, Mein Leben, Bd. III, München 1915, S. 133 f.

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451 Goethe hat. . . zum Ausdruck gebracht: Zum Beispiel im Gespräch mit Eckermann am 26. September 1827: «Hier fühlt man sich groß und frei, wie die große Natur, die man vor Augen hat, und wie man eigentlich immer sein sollte.» das alte Ägypten mit seinem Osiris-Isis-Horus-Kult: «So wie der Sy- rer und Phönizier bei seinem Thammuzfeste und der Phrygier bei der Cybelenfeier zwei wesentliche Teile hat, eine Klageperiode, mit allen Zeichen der Trauer um den verlorenen Gott, und Freudentage, nach dem Wiederfinden des Gottes, ebenso ist ja jenes Verlieren und Wie- derfinden und deren Ausdruck, Trauer und Freude, die Grundlage der öffentlichen Osirisfeier.» Friedrich Creuzer «Symbolik und My- thologie der alten Völker, besonders der Griechen», Zweiter Teil, 2. Ausgabe, Leipzig und Darmstadt 1820, S. 8.

ein Fest zu Ehren des Dionysos: Im Anthesterion, dem Blütenmonat, unserem März entsprechend, wurde in Athen das dem Dionysos gewidmete Fest der Anthestereien gefeiert. Es dauerte drei Tage und umfaßte sowohl Totenkulte wie ausgelassene Freudenfeiern.

454 Paracelsus-Zitat: Wie die Buchstaben erscheine uns die Natur, und der Mensch bildet das Wort, das aus diesen Buchstaben zusammenge- setzt ist - wörtlich: «Dan das wil ich bezeugen mit der natur: der sie durchforschen wil, der muß mit den füssen ire bücher treten, die geschrift wird erforschet durch ire bucnstaben, die natur aber durch lant zu lant: als oft ein lant als oft ein blat. also ist codex naturae, also muß man ire bletter umbkeren.» Zitiert nach Sudhoff, Paracelsus sämtliche Werke, II. Band, Die vierte Defension, S. 145/46, München 1924.

455 «Sie nehmen die ganze Natur zusammen . . .»: Brief Schillers an Goethe vom 23. August 1794.

457 Arthur Schopenhauer: «Die Welt als Wille und Vorstellung», I. Buch, § 1. Siehe Schopenhauers sämtliche Werke in 12 Bänden mit Einlei- tung von Dr. Rudolf Steiner, J. G. Cottasche Buchhandlung Nach- folger, Stuttgart und Berlin o. J. (1894).

463 Zum Vortrag «Innere Entwickelung»: Es handelt sich auch hier um eine unvollständige kurze Nachschrift, weshalb auf die Schriften «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» (1904/05), GA Bibl.-Nr. 10, und «Die Stufen der höheren Erkenntnis» (1905-08), GA Bibl.-Nr. 12, verwiesen sei.

472 Wundt: Siehe «Hypnotismus und Suggestion», Leipzig 1892.

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477 ff. Zum «Paracelsus»-Vortrag: Hauptwerke: Buch Paragranum, Buch Paramirum, Von den hinfallenden Siechtagen, Astronomia Magna (Philosophia Sagax), Sieben Defensiones, Große Wundarznei. Ge- samtausgabe der medizinischen Werke von K. Sudhoff, München- Berlin 1922-33. Welche Paracelsus-Ausgabe Rudolf Steiner benützt hat, ist nicht fest- zustellen. Die Zitate wurden hier nach der Ausgabe Sudhoff verifi- ziert.

483 Paracelsus-Zitate: «Wie ich aber die vier für mich neme . . .»: Aus der Vorrede zu dem Buch «Paragranum». Ausgabe Sudhoff Band 8, Seite 56, München 1924.

485 «Von der natur bin ich nichts subtil gespunnen . . .»: Aus «Sieben Defensiones», Ausgabe Sudhoff Band 11, Seite 151 f.

487 Paracelsus . . . unterscheidet also: Z. B. in «Philosophia sagax», 1. Buch, X. Band 17: «Die erste Grundlage dieses Gliedes ist wie folgt: Wenn sich beim Tode des Menschen das Ewige und das Zeitliche voneinander scheidet, so bleiben zwei sterbliche Geistwesen, die der Mensch zurückläßt, auf Erden, das elementarische und das sideri- sche.» Zitiert nach F. Freudenberg, Paracelsus und Fludd, Berlin 1918.

489 «Das ist ein Großes, das ihr bedenken sollt»: «und das ist ein gross, das sie bedenken sollen, nichts ist im himel noch auf erden das nicht sei im menschen, dan das sind die himlischen kreften die sich bewegen werden; dan got der im himel ist der ist im menschen.» Aus «paramiri Über quartus de matrice», Ausgabe Sudhoff Band 9, Seite 220. «Sehet hinaus in die Natur. . .»: Vgl. Hinweis zu Seite 454.

493 «Daraus entspringt, daß ihr nicht sollen sagen . . .»: Aus «Para- granum», Ausgabe Sudhoff, Band 8, Seite 74.

497 Das Gleichnis des Christus Jesus: Goethe, «West-östlicher Divan». «Ich will euchs dermassen erleutern . . .»: Aus «Paragranum, Alchi- mia, der dritte Grund medicinae», Ausgabe Sudhoff, Band 8, Seite 200-201.

498 ff. Zum Vortrag über Jakob Böhme: Die Schilderungen aus Böhmes Leben entstammen der Biographie Böhmes von Abraham von Franckenberg «auf Ludwigsdorf, eines gottseligen Schlesischen von Adel und vertrauten Freundes des sei. Autoris gründlicher und wahr- hafter Bericht von dem Leben und Abschied des in Gott selig ruhen- den Jakob Böhme, dieser theosophischen Schriften eigentlichen Au- toris und Schreibers».

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504 und 508 ff. Jakob Böhme . . . redet von der Tinctura: In: «Tafeln von den drei Principien göttlicher Offenbarung», 1624, Kap. «Die große Geheimniß der Tinctur oder größte und höchste Grund der Dreiheit Gottes», § 31-50 und 63-76.

510 Es tritt uns in der Welt das Licht entgegen als der Urgrund . . .: An der mit Pünktchen markierten Stelle ist eine offensichtliche Lücke in der Nachschrift.

511 Schrift Schellings über die Freiheit des Menschen ist wie eine Opfer- gabe für Jakob Böhme: «Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängen- den Gegenstände», 1809.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.