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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE
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SCHRIFTEN
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Zur Titelerweiterung
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Der frühere Titel «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften» ist in der
|<center><div style="font-family: Times New Roman" ;"><big>RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE</big></center>
Ausgabe von 1987 erweitert worden in «Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftliche
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Schriften» und durch den Untertitel «zugleich eine
Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie)». Dazu sei folgendes
bemerkt: Das tiefe Verständnis der Goetheschen Natur- und Weltauffassung,
das in diesen Einleitungen auseinandergesetzt wird, ist nur
möglich geworden, weil im jungen Rudolf Steiner ein kongenialer Ausgangspunkt
schon in Entwicklung begriffen war, als er mit der Goetheschen
Naturwissenschaft bekannt wurde. Dadurch führte die Durchdringung
der Goetheschen Schriften zugleich auch zur Entfaltung des eigenen
Ausgangspunktes und fand dabei ihren ersten schriftstellerischen Ausdruck.
Die in den Einleitungen vorgebrachten Grundanschauungen wurden
so «zugleich zu einer Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie)
». Daneben muß aber betont werden, daß das z.B. in «Wahrheit
und Wissenschaft» und in der «Philosophie der Freiheit» sowie in den
späteren Schriften und Vorträgen vorliegende «Gedankengebäude eine in
sich selbst begründete Ganzheit ist, die nicht aus der Goetheschen Weltanschauung
abgeleitet zu werden braucht».
RUDOLF STEINER
EINLEITUNGEN
ZU GOETHES
NATURWISSENSCHAFTLICHEN
SCHRIFTEN
ZUGLEICH EINE GRUNDLEGUNG DER
GEISTESWISSENSCHAFT (ANTHROPOSOPHIE)
1987


INHALT
<center><div style="font-family: Times New Roman" ;"><big>GA 1</big></center>
Zur Einführung. Aus «Mein Lebensgang», Kap. VI . . 7
1884,1. Band
I. Einleitung 9
IL Die Entstehung der Metamorphosenlehre . . . . 14
III. Die Entstehung von Goethes Gedanken über die
Bildung der Tiere 40
IV Über das Wesen und die Bedeutung von Goethes
Schriften über organische Bildung 70
V. Abschluß über Goethes morphologische Anschauungen
116
1887, IL Band
VI. Goethes Erkenntnis-Art 121
VII. Über die Anordnung der naturwissenschaftlichen
Schriften Goethes 130
VIII. Von der Kunst zur Wissenschaft 134
IX. Goethes Erkenntnistheorie 141
X. Wissen und Handeln im Lichte der Goetheschen
Denkweise 168
XL Verhältnis der Goetheschen Denkweise zu anderen
Ansichten 213
XII. Goethe und die Mathematik 237
XIII. Das geologische Grundprinzip Goethes . . . . 242
XIV. Die meteorologischen Vorstellungen Goethes . . 249
1890, III. Band
XV. Goethe und der naturwissenschaftliche Illusionismus
252
XVI. Goethe als Denker und Forscher 258
1897, IV Band, 1. und 2. Abteilung
XVII. Goethe gegen den Atomismus 302
XVIIL Goethes Weltanschauung in seinen «Sprüchen in
Prosa» 330
Übersicht über die Herausgabetätigkeit Rudolf Steiners
in den Jahren 1884 bis 1897 345
Personenregister 346
Übersicht über die Rudolf Steiner Gesamtausgabe . . . . 349


ZUR EINFÜHRUNG
<hr>
Aus Rudolf Steiners Selbstbiographie
«Mein Lebensgang», Kap. VI


Auf Schröers Empfehlung hin lud mich 1883 Joseph
|}
Kürschner ein, innerhalb der von ihm veranstalteten
«Deutschen Nationalliteratur» Goethes Naturwissenschaftliche
Schriften mit Einleitungen und fortlaufenden Erklärungen
herauszugeben. Schröer, der selbst für dieses große
Sammelwerk die Dramen Goethes übernommen hatte,
sollte den ersten der von mir zu besorgenden Bände mit
einem einführenden Vorworte versehen. Er setzte in diesem
auseinander, wie Goethe als Dichter und Denker innerhalb
des neuzeitlichen Geisteslebens steht. Er sah in der
Weltanschauung, die das auf Goethe folgende naturwissenschaftliche
Zeitalter gebracht hatte, einen Abfall von der
geistigen Höhe, auf der Goethe gestanden hatte. Die Aufgabe,
die mir durch die Herausgabe von Goethes Naturwissenschaftlichen
Schriften zugefallen war, wurde in umfassender
Art in dieser Vorrede charakterisiert.


Für mich schloß diese Aufgabe eine Auseinandersetzung
{{Absatz}}
mit der Naturwissenschaft auf der einen, mit Goethes ganzer
Weltanschauung auf der andern Seite ein. Ich mußte,
da ich nun mit einer solchen Auseinandersetzung vor die
Öffentlichkeit zu treten hatte, alles, was ich bis dahin als
Weltanschauung mir errungen hatte, zu einem gewissen
Abschluß bringen ...
 
Die Denkungsart, von der die Naturwissenschaft seit
dem Beginn ihres großen Einflusses auf die Zivilisation des
neunzehnten Jahrhunderts beherrscht war, schien mir un-
 
geeignet, zu einem Verständnisse dessen zu gelangen, was
Goethe für die Naturerkenntnis erstrebt und bis zu einem
hohen Grade auch erreicht hatte.
 
Ich sah in Goethe eine Persönlichkeit, welche durch das
besondere geistgemäße Verhältnis, in das sie den Menschen
zur Welt gesetzt hatte, auch in der Lage war, die Naturerkenntnis
in der rechten Art in das Gesamtgebiet des
menschlichen Schaffens hineinzustellen. Die Denkungsart
des Zeitalters, in das ich hineingewachsen war, schien mir
nur geeignet, Ideen über die leblose Natur auszubilden. Ich
hielt sie für ohnmächtig, mit den Erkenntniskräften an die
belebte Natur heranzutreten. Ich sagte mir, um Ideen zu
erlangen, welche ''die'' Erkenntnis des Organischen vermitteln
können, ist es notwendig, die für die unorganische Natur
tauglichen Verstandesbegriffe erst selbst zu beleben.
Denn sie erschienen mir tot und deshalb auch nur geeignet,
das Tote zu erfassen.
 
Wie sich in Goethes Geist die Ideen belebt haben, wie
sie ''Ideengestaltungen'' geworden sind, das versuchte ich für
eine Erklärung der Goetheschen Naturanschauung darzustellen.
 
Was Goethe im einzelnen über dieses oder jenes Gebiet
der Naturerkenntnis gedacht und erarbeitet hatte, schien
mir von geringerer Bedeutung neben der zentralen Entdeckung,
die ich ihm zuschreiben mußte. Diese sah ich darin,
daß er gefunden hat, wie man über das Organische denken
müsse, um ihm erkennend beizukommen.
 
==I==
=== EINLEITUNG ===
Am 18. August des Jahres 1787 schrieb Goethe von Italien
aus an Knebel: «Nach dem, was ich bei Neapel, in Sizilien
von Pflanzen und Fischen gesehen habe, würde ich, wenn
ich zehn Jahre jünger wäre, sehr versucht sein, eine Reise
nach Indien zu machen, ''nicht um etwas Neues zu entdecken,
sondern um das Entdeckte nach meiner Art anzusehen.''» [WA 8, 250<sup>1</sup>] In diesen Worten liegt der Gesichtspunkt,
aus dem wir Goethes wissenschaftliche Arbeiten zu
betrachten haben. Es handelt sich bei ihm nie um die Entdeckung
neuer Tatsachen, sondern um das Eröffnen eines
neuen Gesichtspunktes, um eine bestimmte Art die Natur
anzusehen. Es ist wahr, daß Goethe eine Reihe großer Einzelentdeckungen
gemacht hat, wie jene des Zwischenknochens
und der Wirbeltheorie des Schädels in der Osteologie,
der Identität aller Pflanzenorgane mit dem Stammblatte in
der Botanik usf. Aber als belebende Seele aller dieser Einzelheiten
haben wir eine großartige Naturanschauung zu betrachten,
von der sie getragen werden, haben wir in der
Lehre von den Organismen vor allem eine großartige, alles
übrige in den Schatten stellende Entdeckung ins Auge zu fassen:
die des Wesens des Organismus selbst. Jenes Prinzip,
durch welches ein Organismus das ist, als das er sich dar-
 
1 [Alle Stellen aus von Goethe verfaßten Briefen sind zitiert nach
der sog. Weimarer Ausgabe (= WA) oder Sophien-Ausgabe von
Goethes Werken, Abteilung IV: Briefe, 50 Bde., Weimar 1887-1912;
die beiden Ziffern beziehen sich auf Band und Seitenzahl dieser Abteilung.
- Hinzufügungen des Herausgebers sind in eckige Klammern
gesetzt.]
 
stellt, die Ursachen, als deren Folge uns die Äußerungen des
Lebens erscheinen, und zwar alles, was wir in prinzipieller
Hinsicht diesbezüglich zu fragen haben, hat er dargelegt.2 Es
ist dies vom Anfange an das Ziel alles seines Strebens in bezug
auf die organischen Naturwissenschaften; bei Verfolgung
desselben drängen sich ihm jene Einzelheiten wie von
selbst auf. Er mußte sie finden, wenn er im weiteren Streben
nicht gehindert sein wollte. Die Naturwissenschaft vor
ihm, die das Wesen der Lebenserscheinungen nicht kannte
und die Organismen einfach nach der Zusammensetzung
aus Teilen, nach deren äußerlichen Merkmalen untersuchte,
so wie man dieses bei unorganischen Dingen auch macht,
mußte auf ihrem Wege oft den Einzelheiten eine falsche
Deutung geben, sie in ein falsches Licht setzen. An den
Einzelheiten als solchen kann man natürlich einen solchen
Irrtum nicht bemerken. Das erkennen wir eben erst, wenn
wir den Organismus verstehen, da die Einzelheiten für sich,
abgesondert betrachtet, das Prinzip ihrer Erklärung nicht
in sich tragen. Sie sind nur durch die Natur des Ganzen zu
erklären, weil es das Ganze ist, das ihnen Wesen und Be-
2 Wer ein solches Ziel von vornherein für unerreichbar erklärt, der
wird zum Verständnis Goethescher Naturanschauungen nie kommen;
wer dagegen vorurteilslos, diese Frage offenlassend, an das Studium
derselben geht, der wird sie nach Beendigung desselben gewiß
bejahend beantworten. Es könnten wohl manchem durch einige
Bemerkungen Goethes selbst Bedenken aufsteigen, wie z. B. folgende
ist: «Wir hätten... ohne Anmaßung, die ersten Triebfedern der Naturwirkungen
entdecken zu wollen, auf Äußerung der Kräfte, durch
welche die Pflanze ein und dasselbe Organ nach und nach umbildet,
unsere Aufmerksamkeit gerichtet.» Allein solche Aussprüche richten
sich bei Goethe nie gegen die prinzipielle Möglichkeit, die Wesenheit
der Dinge zu erkennen, sondern er ist nur vorsichtig genug über die
physikalisch-mechanischen Bedingungen, welche dem Organismus
zugrunde liegen, nicht vorschnell abzuurteilen, da er wohl wußte,
daß solche Fragen nur im Laufe der Zeit gelöst werden können.
deutung gibt. Erst nachdem Goethe eben diese Natur des
Ganzen enthüllt hatte, wurden ihm jene irrtümlichen Auslegungen
sichtbar; sie waren mit seiner Theorie der Lebewesen
nicht zu vereinigen, sie widersprachen derselben.
Wollte er auf seinem Wege weiter gehen, so mußte er dergleichen
Vorurteile wegschaffen. Dies war beim Zwischenknochen
der Fall. Tatsachen, die nur dann von Wert und
Interesse sind, wenn man eben jene Theorie besitzt, wie
die Wirbelnatur der Schädelknochen, waren jener älteren
Naturlehre unbekannt. Alle diese Hindernisse mußten
durch Einzelerfahrungen aus dem Wege geräumt werden.
So erscheinen uns denn die letzteren bei Goethe nie als
Selbstzweck; sie müssen immer gemacht werden, um einen
großen Gedanken, um jene zentrale Entdeckung zu bestätigen.
Es ist nicht zu leugnen, daß Goethes Zeitgenossen
früher oder später zu denselben Beobachtungen kamen,
und daß heute vielleicht alle auch ohne Goethes Bestrebungen
bekannt wären; aber noch viel weniger ist zu leugnen,
daß seine große, die ganze organische Natur umspannende
Entdeckung bis heute von keinem zweiten unabhängig von
Goethe in gleich vortrefflicher Weise ausgesprochen worden
ist3, ja es fehlt uns bis heute an einer auch nur einiger-
3 Damit wollen wir keineswegs sagen, Goethe sei in dieser Hinsicht
überhaupt nie verstanden worden. Im Gegenteil: "Wir nehmen in
dieser Ausgabe selbst wiederholt Anlaß, auf eine Reihe von Männern
hinzuweisen, die uns als Fortsetzer und Ausarbeiter Goethescher
Ideen erscheinen. Namen wie Voigt, Nees von Esenbeck, d'Alton
(der altere und der jüngere), Schelver, C. G. Carus, Martius u. a.
gehören in diese Reihe. Aber diese bauten eben auf der Grundlage
der in den Goetheschen Schriften niedergelegten Anschauungen ihre
Systeme auf, und man kann gerade von ihnen nicht sagen, daß sie
auch ohne Goethe zu ihren Begriffen gelangt wären, wogegen allermaßen
befriedigenden Würdigung derselben. Es erscheint
im Grunde gleichgültig, ob Goethe eine Tatsache zuerst
oder nur wiederentdeckt hat; sie gewinnt durch die Art, wie
er sie seiner Naturanschauung einfügt, erst ihre wahre Bedeutung.
Das ist es, was man bisher übersehen hat. Man hob
jene besonderen Tatsachen zu sehr hervor und forderte dadurch
zur Polemik auf. Wohl wies man oft auf Goethes
Überzeugung von der Konsequenz der Natur hin, allein
man beachtete nicht, daß damit nur ein ganz nebensächliches,
wenig bedeutsames Charakteristikon der Goetheschen
Anschauungen gegeben ist und daß es beispielsweise
in bezug auf die Organik die Hauptsache ist, zu zeigen,
welcher Natur das ist, welches jene Konsequenz bewahrt.
Nennt man da den Typus, so hat man zu sagen, worinnen
die Wesenheit des Typus im Sinne Goethes besteht.
Das Bedeutsame der Pflanzenmetamorphose liegt z. B.
nicht in der Entdeckung der einzelnen Tatsache, daß Blatt,
Kelch, Krone usw. identische Organe seien, sondern in dem
großartigen gedanklichen Aufbau eines lebendigen Ganzen
durcheinander wirkender Bildungsgesetze, welcher daraus
hervorgeht und der die Einzelheiten, die einzelnen Stufen
der Entwicklung, aus sich heraus bestimmt. Die Größe
dieses Gedankens, den Goethe dann auch auf die Tierwelt
auszudehnen suchte, geht einem nur dann auf, wenn man
versucht, sich denselben im Geiste lebendig zu machen,
wenn man es unternimmt ihn nachzudenken. Man wird
dann gewahr, daß er die in die Idee übersetzte Natur der
Pflanze selbst ist, die in unserem Geiste ebenso lebt wie
dings Zeitgenossen des letzteren - z. B. Josephi von Göttingen -
selbständig auf den Zwischenknochen, oder Oken auf die Wirbeltheorie
gekommen sind.
im Objekte; man bemerkt auch, daß man sich einen Organismus
bis in die kleinsten Teile hinein belebt, nicht als
toten, abgeschlossenen Gegenstand, sondern als sich Entwickelndes,
Werdendes, als die stetige Unruhe in sich selbst
vorstellt.
Indem wir nun im folgenden versuchen, alles hier Angedeutete
eingehend darzulegen, wird sich uns zugleich das
wahre Verhältnis der Goetheschen Naturanschauung zu
jener unserer Zeit offenbaren, namentlich zur Entwicklungstheorie
in moderner Gestalt.
II
DIE ENTSTEHUNG
DER METAMORPHOSENLEHRE
Wenn man der Entstehungsgeschichte von Goethes Gedanken
über die Bildung der Organismen nachgeht, so kommt
man nur allzuleicht in Zweifel über den Anteil, den man
der Jugend des Dichters, d. h. der Zeit vor seinem Eintritte
in Weimar zuzuschreiben hat. Goethe selbst dachte sehr
gering von seinen naturwissenschaftlichen Kenntnissen in
dieser Zeit: «Von dem..., was eigentlich äußere Natur
heißt, hatte ich keinen Begriff und von ihren sogenannten
drei Reichen nicht die geringste Kenntnis.» (Siehe Goethes
Naturwissenschaftliche Schriften in Kürschners Deutscher
National-Literatur4, I. Band [S. 64].) Auf diese Äußerung
gestützt, denkt man sich meistens den Beginn seines
naturwissenschaftlichen Nachdenkens erst nach seiner Ankunft
in Weimar. Dennoch erscheint es geboten, noch weiter
zurückzugehen, wenn man nicht den ganzen Geist seiner
Anschauungen unerklärt lassen will. Die belebende Gewalt,
welche seine Studien in jene Richtung lenkte, die wir
später darlegen wollen, zeigt sich schon in frühester Jugend.
Als Goethe an die Leipziger Hochschule kam, herrschte
in den naturwissenschaftlichen Bestrebungen daselbst noch
ganz jener Geist, der für einen großen Teil des achtzehnten
Jahrhunderts charakteristisch ist und der die gesamte Wissenschaft
in zwei Extreme auseinanderwarf, welche zu vereinigen
man kein Bedürfnis fühlte. Auf der einen Seite
stand die Philosophie Christian Wolffs (1679-1754), wel-
4 [Im folgenden mit Natw. Sehr, abgekürzt.]
che sich ganz in einem abstrakten Elemente bewegte; auf
der anderen die einzelnen Wissenschaftszweige, welche in
der äußerlichen Beschreibung unendlicher Einzelheiten sich
verloren und denen jedes Bestreben mangelte, in der Welt
ihrer Objekte ein höheres Prinzip aufzusuchen. Jene Philosophie
konnte den Weg aus der Sphäre ihrer allgemeinen
Begriffe in das Reich der unmittelbaren Wirklichkeit, des
individuellen Daseins nicht finden. Da wurden die selbstverständlichsten
Dinge mit aller Ausführlichkeit behandelt.
Man erfuhr, daß das Ding ein Etwas sei, welches keinen
Widerspruch in sich habe, daß es endliche und unendliche
Substanzen gebe usw. Trat man aber mit diesen Allgemeinheiten
an die Dinge selbst heran, um deren Wirken
und Leben zu verstehen, so stand man völlig ratlos da; man
konnte keine Anwendung jener Begriffe auf die Welt, in der
wir leben und die wir verstehen wollen, machen. Die uns
umgebenden Dinge selbst aber beschrieb man in ziemlich
prinziploser Weise, rein nach dem Augenschein, nach ihren
äußerlichen Merkmalen. Es standen sich hier eine Wissenschaft
der Prinzipien, welcher der lebendige Gehalt, die
liebevolle Vertiefung in die unmittelbare Wirklichkeit
fehlte, und eine prinziplose Wissenschaft, welche des ideellen
Gehaltes ermangelte, gegenüber ohne Vermittlung, jede
für die andere unfruchtbar. Goethes gesunde Natur fand
sich von beiden Einseitigkeiten in gleicher Weise abgestoßen5
und im Widerstreite mit ihnen entwickelten sich
bei ihm Vorstellungen, die ihn später zu jener fruchtbaren
Naturauffassung führten, in welcher Idee und Erfahrung
in allseitiger Durchdringung sich gegenseitig beleben und
zu einem Ganzen werden.
5 Siehe «Dichtung und Wahrheit», II. Teil, 6. Buch.
Der Begriff, den jene Extreme am wenigsten erfassen
konnten, entwickelte sich daher bei Goethe zuerst: der Begriff
des Lebens. Ein lebendes Wesen stellt uns, wenn wir
es seiner äußeren Erscheinung nach betrachten, eine Menge
von Einzelheiten dar, die uns als dessen Glieder oder Organe
erscheinen. Die Beschreibung dieser Glieder, ihrer
Form, gegenseitigen Lage, Größe usw. nach, kann den Gegenstand
weitläufigen Vortrages bilden, dem sich die zweite
der von uns bezeichneten Richtungen hingab. Aber in dieser
Weise kann man auch jede mechanische Zusammensetzung
aus unorganischen Körpern beschreiben. Man vergaß
völlig, daß bei dem Organismus vor allem festgehalten
werden müsse, daß hier die äußere Erscheinung von einem
inneren Prinzipe beherrscht wird, daß in jedem Organe das
Ganze wirkt. Jene äußere Erscheinung, das räumliche Nebeneinander
der Glieder kann auch nach der Zerstörung
des Lebens betrachtet werden, denn sie dauert ja noch eine
Zeitlang fort. Aber was wir an einem toten Organismus
vor uns haben, ist in Wahrheit kein Organismus mehr. Es
ist jenes Prinzip verschwunden, welches alle Einzelheiten
durchdringt. Jener Betrachtung, welche das Lehen zerstört,
um das Lehen zu erkennen, setzt Goethe frühzeitig die Möglichkeit
und das Bedürfnis einer höheren entgegen. Wir sehen
dies schon in einem Briefe aus der Straßburger Zeit
vom 14. Juli 1770, wo er von einem Schmetterlinge spricht:
«Das arme Tier zittert im Netz, streift sich die schönsten
Farben ab; und wenn man es ja unversehrt erwischt, so
steckt es doch endlich steif und leblos da; der Leichnam ist
nicht das ganze Tier, es gehört noch etwas dazu, noch ein
Hauptstück und bei der Gelegenheit, wie bei jeder andern,
ein hauptsächliches Hauptstück: das Lehen . . .» [WA 1,
238] Derselben Anschauung sind ja auch die Worte im
«Faust» [I. Teil/Studierzimmer] entsprungen:
«Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben;
Dann hat er die Teile in der Hand,
Fehlt, leider! nur das geistige Band.»
Bei dieser Negation einer Auffassung blieb aber Goethe,
wie dies bei seiner Natur wohl vorauszusetzen ist, nicht
stehen, sondern er suchte seine eigene immer mehr auszubilden,
und wir erkennen in den Andeutungen, welche wir
über sein Denken von 1769-1775 haben, gar oft schon die
Keime für seine späteren Arbeiten. Er bildet sich hier die
Idee eines Wesens aus, bei dem jeder Teil den andern belebt,
bei dem ein Prinzip alle Einzelheiten durchdringt. Im
«Faust» [I. Teil/Nacht] heißt es:
«Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt.»
und im «Satyros» [4. Akt]:
«Wie im Unding das Urding erquoll,
Lichtsmacht durch die Nacht scholl,
Durchdrang die Tiefen der Wesen all,
Daß aufkeimte Begehrungs-Schwall
Und die Elemente sich erschlossen,
Mit Hunger ineinander ergossen,
Alldurchdringend, alldurchdrungen.»
Dieses Wesen wird so gedacht, daß es in der Zeit steten
Veränderungen unterworfen ist, daß aber in allen Stufen
der Veränderungen sich immer nur ein Wesen offenbart,
das sich als das Dauernde, Beständige im Wechsel behauptet.
Im «Satyros» heißt es von jenem Urdinge weiter:
«Und auf und ab sich rollend ging
Das all und ein' und ewig' Ding,
Immer verändert, immer beständig!»
Man vergleiche damit, was Goethe im Jahre 1807 als Einleitung
zu seiner Metamorphosenlehre schrieb: «Betrachten
wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden
wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes,
ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr
alles in einer steten Bewegung schwanke.» (Natw. Schr., 1.
Bd. [S. 8]) Diesem Schwankenden stellt er dort die Idee
oder «ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes
» als das Beständige entgegen. Man wird aus obiger
Stelle aus «Satyros» deutlich genug erkennen, daß der
Grund zu den morphologischen Gedanken schon in der Zeit
vor dem Eintritte in Weimar gelegt wurde.
Das, was aber festgehalten werden muß, ist, daß jene
Idee eines lebenden Wesens nicht gleich auf einen einzelnen
Organismus angewendet, sondern daß das ganze Universum
als ein solches Lebewesen vorgestellt wird. Hierzu ist
freilich in den alchymistischen Arbeiten mit Fräulein von
Klettenberg und in der Lektüre des Theophrastus Paracelsus
nach seiner Rückkehr von Leipzig (1768/69) die Veranlassung
zu suchen. Man suchte jenes das ganze Universum
durchdringende Prinzip durch irgendeinen Versuch
festzuhalten, es in einem Stoffe darzustellen.6 Doch bildet
diese ans Mystische streifende Art der Weltbetrachtung nur
eine vorübergehende Episode in Goethes Entwicklung und
6 «Dichtung und Wahrheit», IL Teil, 8. Buch.
weicht bald einer gesunderen und objektiveren Vorstellungsweise.
Die Anschauung von dem ganzen Weltall als
einem großen Organismus, wie wir sie oben in den Stellen
aus «Faust» und «Satyros» angedeutet fanden, bleibt aber
noch aufrecht bis in die Zeit um 1780, wie wir später aus
dem Aufsatze «Die Natur» sehen werden. Sie tritt uns im
«Faust» noch einmal entgegen, und zwar da, wo der Erdgeist
als jenes den All-Organismus durchdringende Lebensprinzip
dargestellt wird [I. Teil/Nacht]:
«In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben.»
Während sich so bestimmte Anschauungen in Goethes Geist
entwickelten, kam ihm in Straßburg ein Buch in die Hand,
welches eine Weltanschauung, die der seinigen gerade entgegengesetzt
ist, zur Geltung bringen wollte. Es war Holbachs
«Systeme de la nature».7 Hatte er bis dahin nur den
Umstand zu tadeln gehabt, daß man das Lebendige wie
eine mechanische Zusammenhäufung einzelner Dinge beschrieb,
so konnte er in Holbach einen Philosophen kennenlernen,
der das Lebendige wirklich für einen Mechanismus
ansah. Was dort bloß aus einer Unfähigkeit, das Leben in
seiner Wurzel zu erkennen, entsprang, das führte hier zu
einem das Leben ertötenden Dogma. Goethe sagt darüber
in «Dichtung und Wahrheit» (III. Teil, 11. Buch): «Eine
7 «Dichtung und Wahrheit», III. Teil, 11. Buch.
Materie sollte sein von Ewigkeit, und von Ewigkeit her bewegt,
und sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links
und nach allen Seiten, ohne weiteres, die unendlichen Phänomene
des Daseins hervorbringen. Dies alles wären wir
sogar zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus
seiner bewegten Materie die Welt vor unseren Augen aufgebaut
hätte. Aber er mochte von der Natur so wenig wissen
als wir; denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepfahlt,
verläßt er sie sogleich, um dasjenige, was höher
als die Natur, oder als höhere Natur in der Natur erscheint,
zur materiellen, schweren, zwar bewegten, aber doch richtungs-
und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt
dadurch recht viel gewonnen zu haben.» Goethe konnte
darinnen nichts finden als «bewegte Materie» und im Gegensatze
dazu bildeten sich seine Begriffe von Natur immer
klarer aus. Wir finden sie im Zusammenhange dargestellt
in seinem Aufsatz «Die Natur»8, welcher um das Jahr
1780 geschrieben ist. Da in diesem Aufsatze alle Gedanken
Goethes über die Natur, welche wir bis dahin nur zerstreut
angedeutet finden, zusammengestellt sind, so gewinnt er
eine besondere Bedeutung. Die Idee eines Wesens, welches
in beständiger Veränderung begriffen ist und dabei doch
immer identisch bleibt, tritt uns hier entgegen: «Alles ist
neu und immer das Alte.» «Sie (die Natur) verwandelt sich
ewig, und ist kein Moment Stillstehen in ihr,» aber «ihre
Gesetze sind unwandelbar.» Wir werden später sehen, daß
8 [Natw. Schr., 2. Bd., S. 5ff.; bezüglich dieses Aufsatzes vgl. man
auch die Ausführungen Rudolf Steiners in «Grundlinien einer Erkenntnistheorie
der Goetheschen Weltanschauung», Gesamtausgabe
Dornach 1960, S. 138 (Anm. zu S. 28) und «Methodische Grundlagen
der Anthroposophie 1884—1901», Gesamtausgabe Dornach 1961,
S. 320 ff.]
Goethe in der unendlichen Menge von Pflanzengestalten
die eine Urpflanze sucht. Auch diesen Gedanken finden wir
hier schon angedeutet: «Jedes ihrer (der Natur) Werke hat
ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten
Begriff, und doch macht alles Eins aus.» Ja sogar die
Stellung, welche er später Ausnahmefällen gegenüber einnahm,
nämlich sie nicht einfach als Bildungsfehler anzusehen,
sondern aus Naturgesetzen zu erklären, spricht sich
hier schon ganz deutlich aus: «Auch das Unnatürlichste ist
Natur» und «ihre Ausnahmen sind selten.»9
Wir haben gesehen, daß Goethe sich schon vor seinem
Eintritte in Weimar einen bestimmten Begriff von einem
Organismus ausgebildet hatte. Denn wenngleich der erwähnte
Aufsatz «Die Natur» erst lange nach demselben
entstanden ist, so enthält er doch größtenteils frühere Anschauungen
Goethes. Auf eine bestimmte Gattung von Naturobjekten,
auf einzelne Wesen hatte er diesen Begriff
noch nicht angewendet. Dazu bedurfte es der konkreten
Welt der lebenden Wesen in unmittelbarer Wirklichkeit.
Der durch den menschlichen Geist hindurchgegangene Abglanz
der Natur war durchaus nicht das Element, welches
Goethe anregen konnte. Die botanischen Gespräche bei
Hofrat Ludwig in Leipzig blieben ebenso ohne tiefere Wirkung,
wie die Tischgespräche mit den medizinischen Freunden
in Straßburg. In bezug auf die wissenschaftlichen Stu-
9 Siehe über die Autorschaft dieses Aufsatzes Anmerkung 1 am
Schlusse dieser Schrift. [Rudolf Steiner hatte die Absicht, für die
Sonderausgabe sämtlicher Einleitungen zu Goethes «Naturwissenschaftlichen
Schriften», 1.-5. Aufl., Dornach 1926, an dieser und
weiteren 35 bereits von ihm bezeichneten Stellen - diese Stellen tragen
im vorliegenden Text sämtlich einen * - Anmerkungen zu
schreiben. Er konnte diese Absicht nicht mehr verwirklichen.]
dien erscheint uns der junge Goethe ganz als der die Frische
ursprünglichen Anschauens der Natur entbehrende Faust,
welcher seine Sehnsucht nach derselben mit den Worten
ausspricht [I. Teil/Nacht]:
«Ach! könnt' ich doch auf Bergeshöhn
In deinem (des Mondes) lieben Lichte gehn,
Um Bergeshöhle mit Geistern schweben,
Auf Wiesen in deinem Dämmer weben.»
Wie eine Erfüllung dieser Sehnsucht erscheint es uns, wenn
ihm bei seinem Eintritte in Weimar gegönnt ist, «Stubenund
Stadtluft mit Land-, Wald- und Gartenatmosphäre zu
vertauschen» (Natw. Sehr., 1. Bd., S. 64).
Als die unmittelbare Anregung zum Studium der Pflanzen
haben wir des Dichters Beschäftigung mit dem Pflanzen
von Gewächsen in den ihm von dem Herzoge Karl
August geschenkten Garten zu betrachten. Die Empfangnahme
desselben von seiten Goethes erfolgte am 21. April
1776 und das von R. Keil herausgegebene «Tagebuch» meldet
uns von nun an oft von Goethes Arbeiten in diesem Garten,
die eines seiner Lieblingsgeschäfte werden. Ein weiteres
Feld für Bestrebungen in dieser Richtung bot ihm der Thüringerwald,
wo er Gelegenheit hatte, auch die niederen Organismen
in ihren Lebenserscheinungen kennenzulernen. Es
interessieren ihn besonders die Moose und Flechten. Am
31. Oktober 1778 bittet er Frau von Stein um Moose von
allen Sorten und womöglich mit den Wurzeln und feucht,
damit sie sich wieder fortpflanzen. Es muß uns höchst bedeutsam
erscheinen, daß Goethe sich hier schon mit dieser
tiefstehenden Organismenwelt beschäftigte und später die
Gesetze der Pflanzenorganisation doch von den höheren
Pflanzen ableitete. Wir haben dies in Erwägung dieses Umstandes
nicht, wie viele tun, einer Unterschätzung der Bedeutung
der weniger entwickelten Wesen, sondern vollbewußter
Absicht zuzuschreiben.
Nun verläßt der Dichter das Reich der Pflanzen nicht
mehr. Schon sehr früh mögen wohl Linnes Schriften vorgenommen
worden sein. Wir erfahren von der Bekanntschaft
mit denselben zuerst aus den Briefen an Frau von
Stein im Jahre 1782.
Linnes Bestrebungen gingen dahin, eine systematische
Übersichtlichkeit in die Kenntnis der Pflanzen zu bringen-
Es sollte eine gewisse Reihenfolge gefunden werden, in der
jeder Organismus an einer bestimmten Stelle steht, so daß
man ihn jederzeit leicht auffinden könne, ja daß man überhaupt
ein Mittel der Orientierung in der grenzenlosen
Menge der Einzelheiten hätte. Zu diesem Zwecke mußten
die Lebewesen nach Graden ihrer Verwandtschaft untersucht
und diesen entsprechend in Gruppen zusammengestellt
werden. Da es sich dabei vor allem darum handelte,
jede Pflanze zu erkennen und ihren Platz im Systeme leicht
aufzufinden, so mußte man insbesondere auf jene Merkmale
Rücksicht nehmen, welche die Pflanzen voneinander
unterscheiden. Um eine Verwechslung einer Pflanze mit
einer anderen unmöglich zu machen, suchte man vorzüglich
diese unterscheidenden Kennzeichen auf. Dabei wurden
von Linne und seinen Schülern äußerliche Kennzeichen,
Größe, Zahl und Stellung der einzelnen Organe als charakteristisch
angesehen. Die Pflanzen waren auf diese
Weise wohl in eine Reihe geordnet, aber so, wie man auch
eine Anzahl unorganischer Körper hätte ordnen können:
nach Merkmalen, welche dem Augenscheine, nicht der inneren
Natur der Pflanze entnommen waren. Sie erschienen
in einem äußerlichen Nebeneinander, ohne inneren, notwendigen
Zusammenhang. Bei dem bedeutsamen Begriffe,
den Goethe von der Natur eines Lebewesens hatte, konnte
ihm diese Betrachtungsweise nicht genügen. Es war da nirgends
nach dem Wesen der Pflanze geforscht. Goethe mußte
sich die Frage vorlegen: Worin besteht dasjenige «Etwas»,
welches ein bestimmtes Wesen der Natur zu einer Pflanze
macht? Er mußte ferner anerkennen, daß dieses Etwas in
allen Pflanzen in gleicher Weise vorkomme. Und doch war
die unendliche Verschiedenheit der Einzelwesen da, welche
erklärt sein wollte. Wie kommt es, daß jenes Eine sich
in so mannigfaltigen Gestalten offenbart? Dies waren wohl
die Fragen, welche Goethe beim Lesen der Linneschen
Schriften auf warf, denn er sagt ja selbst von sich: «Das,
was er - Linne - mit Gewalt auseinanderzuhalten suchte,
mußte, nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens, zur
Vereinigung anstreben».10
Ungefähr in dieselbe Zeit, wie die erste Bekanntschaft
mit Linne, fällt auch die mit den botanischen Bestrebungen
des Rousseau. Am 16. Juni 1782 schreibt Goethe an [Herzog]
Karl August: «In Rousseaus Werken finden sich ganz
allerliebste Briefe über die Botanik, worin er diese Wissenschaft
auf das faßlichste und zierlichste einer Dame vorträgt.
Es ist recht ein Muster, wie man unterrichten soll und
eine Beilage zum Emil. Ich nehme daher den Anlaß, das
schöne Reich der Blumen meinen schönen Freundinnen aufs
neue zu empfehlen.» [WA 5, 347] Rousseaus Bestrebungen
in der Pflanzenkunde mußten auf Goethe einen tiefen Eindruck
machen. Das Hervorheben einer aus dem Wesen der
10 Vgl. Natw. Sehr., 1. Bd. [S. 68].
Pflanzen hervorgehenden und ihm entsprechenden Nomenklatur,
die Ursprünglichkeit des Beobachtern, das Betrachten
der Pflanze um ihrer selbst willen, abgesehen von allen
Nützlichkeitsprinzipien, die uns bei Rousseau entgegentreten,
alles das war ganz im Sinne Goethes. Beide hatten ja
auch das gemeinsam, daß sie nicht durch ein speziell herangezogenes
wissenschaftliches Bestreben, sondern durch
allgemein menschliche Motive zum Studium der Pflanze
gekommen waren. Dasselbe Interesse fesselte sie an denselben
Gegenstand.
Die nächsten eingehenden Beobachtungen der Pflanzenwelt
fallen in das Jahr 1784. Wilhelm Freiherr von Gleichen,
genannt Rußwurm, hatte damals zwei Schriften herausgegeben,
welche Untersuchungen zum Gegenstande hatten,
die Goethe lebhaft interessierten: «Das Neueste aus
dem Reiche der Pflanzen» (Nürnberg 1764) und «Auserlesene
mikroskopische Entdeckungen bei Pflanzen, Blumen
und Blüten, Insekten und anderen Merkwürdigkeiten»
(Nürnberg 1777-81). Beide Schriften behandelten die Befruchtungsvorgänge
an der Pflanze. Der Blütenstaub, die
Staubfäden und Stempel wurden sorgfältig untersucht und
die dabei stattfindenden Prozesse auf schön ausgeführten
Tafeln dargestellt. Diese Untersuchungen machte nun Goethe
nach. Am 12. Januar 1785 schreibt er an F.H. Jacobi:
«Ein Mikroskop ist aufgestellt, um die Versuche des v.
Gleichen, genannt Rußwurm, mit Frühlingseintritt nachzubeobachten
und zu kontrollieren.» [WA 7, 8] In demselben
Frühlinge wurde auch die Natur des Samens studiert,
wie uns ein Brief an Knebel vom 2. April 1785 zeigt: «Die
Materie vom Samen habe ich durchgedacht, soweit meine
Erfahrungen reichen.» [WA 7, 36] Bei allen diesen Untersuchungen
handelt es sich bei Goethe nicht um das Einzelne;
das Ziel seiner Bestrebungen ist, das Wesen der Pflanze zu
erforschen. Er meldet davon am 8. April 1785 an Merck,
daß er in der Botanik «hübsche Entdeckungen und Kombinationen
gemacht hat». [WA 7, 41] Auch der Ausdruck
Kombinationen beweist uns hier, daß er darauf ausgeht,
denkend sich ein Bild der Vorgänge in der Pflanzenwelt zu
entwerfen. Das Studium der Botanik näherte sich jetzt
rasch einem bestimmten Ziele. Wir müssen dabei nun freilich
daran denken, daß Goethe im Jahre 1784 den Zwischenknochen
entdeckt hat, wovon wir unten ausdrücklich
sprechen wollen und daß er damit dem Geheimnis, wie
die Natur bei der Bildung organischer Wesen verfährt, um
eine bedeutende Stufe nähergerückt war. Wir müssen ferner
daran denken, daß der erste Teil von Herders «Ideen
zur Philosophie der Geschichte» 1784 abgeschlossen wurde
und daß Gespräche über Gegenstände der Natur zwischen
Goethe und Herder damals sehr häufig waren. So berichtet
Frau von Stein an Knebel am 1. Mai 1784: «Herders neue
Schrift macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und
Tiere waren . . . Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen
Dingen und jedes, was erst durch seine Vorstellung gegangen
ist, wird äußerst interessant.» [Zur deutschen Literatur
und Geschichte, hrsg. von H. Düntzer, Bd. I, Nürnberg
1857, S. 120.] Wir sehen daraus, welcher Art Goethes
Interesse für die größten Fragen der Wissenschaft damals
war. Es muß uns also jenes Nachdenken über die Natur der
Pflanze und die Kombinationen, die er darüber im Frühling
1785 macht, ganz erklärlich erscheinen. Mitte April
dieses Jahres geht er nach Belvedere eigens um seine Zweifel
und Fragen zur Lösung zu bringen und am 15. Juni
[1786!] macht er an Frau von Stein folgende Mitteilung:
«Wie lesbar mir das Buch der Natur wird, kann ich dir
nicht ausdrücken, mein langes Buchstabieren hat mir geholfen,
jetzt ruckts auf einmal, und meine stille Freude
ist unaussprechlich.» [WA 7, 229] Kurz vorher will er
sogar eine kleine botanische Abhandlung für Knebel schreiben,
um ihn für diese Wissenschaft zu gewinnen.11 Die
Botanik zieht ihn so an, daß seine Reise nach Karlsbad,
die er am 20. Juni 1785 antritt, um den Sommer dort zuzubringen,
zu einer botanischen Studienreise wird. Knebel begleitete
ihn. In der Nähe von Jena treffen sie einen 17-
jährigen Jüngling, [Friedrich Gottlieb] Dietrich, dessen
Blechtrommel zeigte, daß er eben von einer botanischen
Exkursion heimkehrt. Über diese interessante Reise erfahren
wir näheres aus Goethes «Geschichte meines botanischen
Studiums» und aus einigen Mitteilungen von [Ferdinand]
Cohn12 in Breslau, der dieselben einem Manuskripte
Dietrichs entlehnen konnte. In Karlsbad bieten
nun gar oft botanische Gespräche eine angenehme Unterhaltung.
Nach Hause zurückgekehrt widmet Goethe
sich mit großer Energie dem Studium der Botanik; er
macht an der Hand von Linnes Philosophia13 Beobachtungen
über Pilze, Moose, Flechten und Algen, wie wir solches
aus seinen Briefen an Frau von Stein ersehen. Erst jetzt, wo
er bereits selbst vieles gedacht und beobachtet, wird ihm
Linne nützlicher, er findet bei ihm Aufschluß über viele
11 «Gerne schickte ich dir eine kleine botanische Lektion, wenn sie nur
schon geschrieben wäre.» [Brief an Knebel vom] 2. April 1785.
[WA 7, 36]
12 [«Deutsche Rundschau» (Berlin etc.) Bd. XXVIII (Juli-Sept.) 1881,
S.34f.]
13 [Karl von Linne, «Philosophia botanica», Stockholm 1751.]
Einzelheiten, die ihm bei seinen Kombinationen vorwärts
helfen. Am 9. November 1785 berichtet er an Frau von
Stein: «Ich lese im Linne fort, denn ich muß wohl, ich habe
kein ander Buch. Es ist die beste Art, ein Buch gewiß zu
lesen, die ich Öfters praktizieren muß, besonders da ich
nicht leicht ein Buch auslese. Dieses ist aber vorzüglich
nicht zum Lesen, sondern zum Rekapitulieren gemacht
und tut mir nun treffliche Dienste, da ich über die meisten
Punkte selbst gedacht habe.» [WA 7,118] Während dieser
Studien wurde ihm immer klarer, daß es doch nur eine
Grundform sei, welche in der unendlichen Menge einzelner
Pflanzenindividuen erscheint, es wurde ihm auch diese
Grundform seihst immer anschaulicher, er erkannte ferner,
daß in dieser Grundform die Fähigkeit unendlicher Abänderung
liege, wodurch die Mannigfaltigkeit aus der Einheit
erzeugt wird. Am 9. Juli 1786 schreibt er an Frau von Stein:
«Es ist ein Gewahrwerden der . . . Form, mit der die Natur
gleichsam nur immer spielt und spielend das mannigfaltige
Lehen hervorbringt.» [WA 7, 242] Nun handelte es sich
vor allem darum, das Bleibende, Beständige, jene Urform,
mit welcher die Natur gleichsam spielt, im einzelnen zu einem
plastischen Bilde auszubilden. Dazu bedurfte es einer
Gelegenheit, das wahrhaft Konstante, Dauernde in der
Pflanzenform von dem Wechselnden, Unbeständigen zu
trennen. Zu Beobachtungen dieser Art hatte Goethe noch
ein zu kleines Gebiet durchforscht. Er mußte eine und dieselbe
Pflanze unter verschiedenen Bedingungen und Einflüssen
beobachten; denn nur dadurch fällt das Veränderliche
so recht in die Augen. Bei Pflanzen verschiedener Art
fällt es uns weniger auf. Dieses alles brachte die beglükkende
Reise nach Italien, welche er am 3. September von
Karlsbad aus angetreten hatte. Schon an der Flora der Alpen
ward manche Beobachtung gemacht. Er fand hier nicht
bloß neue von ihm noch nie gesehene Pflanzen, sondern
auch solche, die er schon kannte, aber verändert. «Wenn
in der tiefern Gegend Zweige und Stengel stärker und mastiger
waren, die Augen näher aneinanderstanden und die
Blätter breit waren, so wurden höher ins Gebirg hinauf
Zweige und Stengel zarter, die Augen rückten auseinander,
so daß von Knoten zu Knoten ein größerer Zwischenraum
stattfand und die Blätter sich lanzenförmiger bildeten. Ich
bemerkte dies bei einer Weide und einer Gentiana und überzeugte
mich, daß es nicht etwa verschiedene Arten wären.
Auch am Walchensee bemerkte ich längere und schlankere
Binsen als im Unterlande.»14Ähnliche Beobachtungen wiederholten
sich. In Venedig am Meere entdeckt er verschiedene
Pflanzen, welche ihm Eigenschaften zeigen, die ihnen
nur das alte Salz des Sandbodens, mehr aber die salzige
Luft geben konnte. Er fand da eine Pflanze, die ihm wie
unser «unschuldiger Huflattich» erschien, «hier aber mit
scharfen Waffen bewaffnet und das Blatt wie Leder, so
auch die Samenkapseln, die Stiele, alles war mastig und
fett.»15 Da sah Goethe alle äußeren Merkmale der Pflanze,
alles was an ihr dem Augenscheine angehört, unbeständig,
wechselnd. Er zieht daraus den Schluß, daß also in diesen
Eigenschaften das Wesen der Pflanze nicht liege, sondern
tiefer gesucht werden müsse. Von ähnlichen Beobachtungen,
wie hier Goethe, ging auch Darwin aus, als er seine
Zweifel über die Konstanz der äußeren Gattungs- und Artformen
zur Geltung brachte. Die Resultate aber, welche
14 Italienische Reise, 8. Sept. 1786.
15 Italienische Reise, 8. Okt. 1786.
von den beiden gezogen werden, sind durchaus verschieden.
Während Darwin in jenen Eigenschaften das Wesen des
Organismus in der Tat für erschöpft hält und aus der Veränderlichkeit
den Schluß zieht: Also gibt es nichts Konstantes
im Leben der Pflanzen, geht Goethe tiefer und zieht
den Schluß: Wenn jene Eigenschaften nicht konstant sind,
so muß das Konstante in einem anderen, welches jenen veränderlichen
Äußerlichkeiten zugrunde liegt, gesucht werden.
Dieses letztere auszubilden wird Goethes Ziel, während
Darwins Bestrebungen dahin gehen, die Ursachen
jener Veränderlichkeit im einzelnen zu erforschen und darzulegen.
Beide Betrachtungsweisen sind notwendig und ergänzen
einander. Man geht ganz fehl, wenn man Goethes
Größe in der organischen Wissenschaft darinnen zu finden
glaubt, daß man in ihm den bloßen Vorläufer Darwins
sieht. Seine Betrachtungsweise ist eine viel breitere; sie umfaßt
zwei Seiten: 1. Den Typus, d. i. die sich im Organismus
offenbarende Gesetzlichkeit, das Tier-Sein im Tiere, das
sich aus sich herausbildende Leben, das Kraft und Fähigkeit
hat, sich durch die in ihm liegenden Möglichkeiten in mannigfaltigen,
äußeren Gestalten (Arten, Gattungen) zu entwickeln.
2. Die Wechselwirkung des Organismus und der
unorganischen Natur und der Organismen untereinander
(Anpassung und Kampf ums Dasein). Nur die letztere Seite
der Organik hat Darwin ausgebildet. Man kann also nicht
sagen: Darwins Theorie sei die Ausbildung von Goethes
Grundideen, sondern sie ist bloß die Ausbildung einer Seite
der letzteren. Sie blickt nur auf jene Tatsachen, welche veranlassen,
daß sich die Welt der Lebewesen in einer gewissen
Weise entwickelt, nicht aber auf jenes «Etwas», auf
welches jene Tatsachen bestimmend einwirken. Wenn die
eine Seite allein verfolgt wird, so kann sie auch durchaus
nicht zu einer vollständigen Theorie der Organismen führen,
sie muß wesentlich im Geiste Goethes verfolgt werden,
sie muß durch die andere Seite von dessen Theorie ergänzt
und vertieft werden. Ein einfacher Vergleich wird die Sache
deutlicher machen. Man nehme ein Stück Blei, mache es
durch Erhitzen flüssig und gieße es dann in kaltes Wasser.
Das Blei hat zwei aufeinander folgende Stadien seines Zustandes
durchgemacht; das erste wurde bewirkt durch die
höhere, das zweite durch die niedrigere Temperatur. Wie
sich die beiden Stadien gestalten, das hängt nun nicht allein
von der Natur der Wärme, sondern ganz wesentlich auch
von jener des Bleies ab. Ein anderer Körper würde, durch
dieselben Medien gebracht, ganz andere Zustände zeigen.
Auch die Organismen lassen sich von den sie umgebenden
Medien beeinflussen, auch sie nehmen, durch letztere veranlaßt,
verschiedene Zustände an und zwar durchaus ihrer
Natur entsprechend, entsprechend jener Wesenheit, die sie
zu Organismen macht. Und diese Wesenheit findet man in
Goethes Ideen. Derjenige, der ausgerüstet mit dem Verständnisse
dieser Wesenheit ist, der wird erst imstande sein
zu begreifen, warum die Organismen auf bestimmte Veranlassungen
gerade in einer solchen und keiner andern
Weise antworten (reagieren). Ein solcher wird erst imstande
sein, sich über die Veränderlichkeit der Erscheinungsformen
der Organismen und die damit zusammenhängenden
Gesetze der Anpassung und des Kampfes ums Dasein die
richtigen Vorstellungen zu machen.16
16 Unnötig wohl ist es zu sagen, daß die moderne Deszendenztheorie
damit durchaus nicht bezweifelt werden soll, oder daß ihre Behauptungen
damit eingeschränkt werden sollen; im Gegenteil, es wird
ihnen erst eine sichere Basis geschaffen.
Der Gedanke der Urpflanze bildet sich immer bestimmter,
klarer in Goethes Geist aus. Im botanischen Garten zu
Padua (Italienische Reise, 27. Sept. 1786), wo er unter einer
ihm fremden Vegetation einhergeht, wird ihm der «Gedanke
immer lebendiger, daß man sich alle Pflanzengestalten
vielleicht aus einer entwickeln könne». Am 17. November
1786 schreibt er an Knebel: «So freut mich doch mein
bißchen Botanik erst recht in diesen Landen, wo eine frohere,
weniger unterbrochene Vegetation zu Hause ist. Ich
habe schon recht artige, ins allgemeine gehende Bemerkungen
gemacht, die auch dir in der Folge angenehm sein werden.
» [WA 8, 58] Am 19. Februar 1787 (siehe Italienische
Reise) schreibt er in Rom, daß er auf dem Wege sei, «neue
schöne Verhältnisse zu entdecken, wie die Natur solch ein
Ungeheures, das wie nichts aussieht, aus dem Einfachen
das Mannigfaltigste entwickelt.» Am 25. März bittet er,
Herdern zu sagen, daß er mit der Urpflanze bald zustande
ist. Am 17. April (siehe Italienische Reise) schreibt er in
Palermo von der Urpflanze die Worte nieder: «Eine solche
muß es doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß
dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht
alle nach einem Muster gebildet wären.» Er hat im Auge
den Komplex von Bildungsgesetzen, welcher die Pflanze
organisiert, sie zu dem macht, was sie ist und wodurch wir
bei einem bestimmten Objekte der Natur zu dem Gedanken
kommen: Dieses ist eine Pflanze -, das ist die Urpflanze.*
Als solche ist sie ein Ideelles, nur im Gedanken
Festzuhaltendes; sie gewinnt aber Gestalt, sie gewinnt eine
gewisse Form, Größe, Farbe, Zahl ihrer Organe usw. Diese
äußere Gestalt ist nichts Festes, sondern sie kann unendliche
Veränderungen erleiden, welche alle jenem Komplexe von
Bildungsgesetzen gemäß sind, aus ihm mit Notwendigkeit
folgen. Hat man jene Bildungsgesetze, jenes Urbild der
Pflanze erfaßt, so hat man das in der Idee festgehalten,
was bei jedem einzelnen Pflanzenindividuum die Natur
gleichsam zugrunde legt und woraus sie dasselbe als eine
Folge ableitet und entstehen läßt. Ja man kann selbst jenem
Gesetze gemäß Pflanzengestalten erfinden, welche aus
dem Wesen der Pflanze mit Notwendigkeit folgen und
existieren könnten, wenn die notwendigen Bedingungen dazu
einträten. Goethe sucht so gleichsam das im Geiste nachzubilden,
was die Natur bei der Bildung ihrer Wesen vollzieht.
Er schreibt am 17. Mai 178717 an Herder: «Ferner
muß ich Dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung
und Organisation ganz nahe bin und daß es
das einfachste ist, was nur gedacht werden kann . .. Die
Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt,
um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem
Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch
Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen,
das heißt: die, wenn sie auch nicht existieren, doch
existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische
Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche
Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird
sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.» Es tritt
nun hier noch eine weitere Verschiedenheit der Goetheschen
Auffassung von der Darwins hervor, namentlich,
wenn man berücksichtigt, wie letztere gewöhnlich vertreten
wird.18 Diese nimmt an, daß die äußeren Einflüsse wie
17 Italienische Reise.
18 Wir haben hier weniger die Entwicklungslehre derjenigen Naturforscher,
die auf dem Boden der sinnenfälligen Empirie stehen, vor
mechanische Ursachen auf die Natur eines Organismus
einwirken und ihn dementsprechend verändern. Bei Goethe
sind die einzelnen Veränderungen verschiedene Äußerungen
des Urorganismus, der in sich selbst die Fähigkeit hat,
mannigfache Gestalten anzunehmen und in einem bestimmten
Falle jene annimmt, welche den ihn umgebenden
Verhältnissen der Außenwelt am angemessensten ist. Diese
äußeren Verhältnisse sind bloß Veranlassung, daß die inneren
Gestaltungskräfte in einer besonderen Weise zur Erscheinung
kommen. Diese letzteren allein sind das konstitutive
Prinzip, das Schöpferische in der Pflanze. Daher
nennt es Goethe am 6. September 178719 auch ein
(Ein und Alles) der Pflanzenwelt.
Wenn wir nun auf diese Urpflanze selbst eingehen, so
ist darüber folgendes zu sagen. Das Lebendige ist ein in sich
beschlossenes Ganze, welches seine Zustände aus sich selbst
setzt. Sowohl im Nebeneinander der Glieder, wie in der
zeitlichen Aufeinanderfolge der Zustände eines Lebewesens
ist eine Wechselbeziehung vorhanden, welche nicht durch
die sinnenfälligen Eigenschaften der Glieder bedingt erscheint,
nicht durch mechanisch-kausales Bedingtsein des
Späteren von dem Früheren, sondern welche von einem
höheren über den Gliedern und Zuständen stehenden Prinzipe
beherrscht wird. Es ist in der Natur des Ganzen bedingt,
daß ein bestimmter Zustand als der erste, ein anderer
als der letzte gesetzt wird; und auch die Aufeinanderfolge
Augen, als vielmehr die theoretischen Grundlagen, die Prinzipien,
die dem Darwinismus zugrunde gelegt werden. Vor allem natürlich
die Jenaische Schule mit Haeckel an der Spitze; in diesem Geiste
ersten Ranges hat wohl die Darwinsche Lehre mit aller ihrer Einseitigkeit
ihre konsequente Ausgestaltung gefunden.
19 Italienische Reise.
der mittleren ist in der Idee des Ganzen bestimmt; das Vorher
ist von dem Nachher und umgekehrt abhängig; kurz,
im lebendigen Organismus ist Entwicklung des einen aus
dem andern, ein Übergang der Zustände ineinander, kein
fertiges, abgeschlossenes Sein des Einzelnen, sondern stetes
Werden. In der Pflanze tritt dieses Bedingtsein jedes einzelnen
Gliedes durch das Ganze insofern auf, als alle Organe
nach derselben Grundform gebaut sind. Am 17. Mai
178720 schreibt Goethe diesen Gedanken an Herder mit den
Worten: «Es war mir nämlich aufgegangen, daß in demjenigen
Organ (der Pflanze), welches wir gewöhnlich als
Blatt ansprechen, der wahre Proteus verborgen liege, der
sich in allen Gestaltungen verstecken und offenbaren
könne. Rückwärts und vorwärts ist die Pflanze immer nur
Blatt, mit dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint,
daß man sich eins ohne das andere nicht denken darf.»
Während beim Tiere jenes höhere Prinzip, das jedes Einzelne
beherrscht, uns konkret entgegentritt als dasjenige,
welches die Organe bewegt, seinen Bedürfnissen gemäß gebraucht
usw., entbehrt die Pflanze noch eines solchen wirklieben
Lebensprinzipes; bei ihr offenbart sich dasselbe erst
in der unbestimmteren Weise, daß alle Organe nach demselben
Bildungstypus gebaut sind, ja daß in jedem Teile
der Möglichkeit nach die ganze Pflanze enthalten ist und
durch günstige Umstände aus demselben auch hervorgebracht
werden kann. Goethe wurde dieses besonders klar,
als in Rom Rat Reiffenstein bei einem Spaziergange mit
ihm hier und da einen Zweig abreißend behauptete, derselbe
müsse in die Erde gesteckt, fortwachsen und sich zur
ganzen Pflanze entwickeln. Die Pflanze ist also ein Wesen,
20 Italienische Reise.
welches in aufeinanderfolgenden Zeiträumen gewisse Organe
entwickelt, welche alle sowohl untereinander, wie jedes
einzelne mit dem Ganzen nach ein und derselben Idee
gebaut sind. Jede Pflanze ist ein harmonisches Ganze von
Pflanzen.21 Als Goethe dieses klar vor Augen stand, handelte
es sich für ihn nur noch um die Einzelbeobachtungen,
die es ermöglichten, die verschiedenen Stadien der Entwicklung,
welche die Pflanze aus sich heraus setzt, im besonderen
darzulegen. Auch dazu war schon das Nötige geschehen.
Wir haben gesehen, daß Goethe schon im Frühjahr
1785 Samen untersucht hat; von Italien aus meldet er Herdern
am 17. Mai 1787, daß er den Punkt, wo der Keim
steckt, ganz klar und zweifellos gefunden habe. [WA Abt.
I, 31, 240] Damit war für das erste Stadium des Pflanzenlebens
gesorgt. Aber auch die Einheit des Baues aller Blätter
zeigte sich bald anschaulich genug. Neben zahlreichen anderen
Beispielen fand Goethe in dieser Hinsicht vor allem
am frischen Fenchel den Unterschied der unteren und oberen
Blätter, die aber trotzdem immer dasselbe Organ sind.
Am 25. März [1787]22 bittet er Herdern zu melden, daß
seine Lehre von den Kotyledonen so sublimiert sei, daß man
schwerlich wird weitergehen können. Es war nur noch ein
kleiner Schritt zu tun, um auch die Blütenblätter, die Staubgefäße
und Stempel als metamorphosierte Blätter anzusehen.
Dazu konnten die Untersuchungen des englischen
21 In welchem Sinne diese Einzelheiten zum Ganzen stehen, werden
wir an verschiedenen Stellen Gelegenheit haben auszuführen. Wollten
wir einen Begriff der heutigen Wissenschaft für ein solches Zusammenwirken
von belebten Teilwesen zu einem Ganzen entlehnen,
so wäre es etwa der eines «Stockes» in der Zoologie. Es ist dies eine
Art Staat von Lebewesen, ein Individuum, das wieder aus selbständigen
Individuen besteht, ein Individuum höherer Art.
22 Italienische Reise. [WA Abt. I, 31, 75]
Botanikers Hill führen, welche damals allgemeiner bekannt
wurden und die Umbildungen einzelner Blütenorgane in
andere zum Gegenstande haben.
Indem die Kräfte, welche das Wesen der Pflanze organisieren,
ins wirkliche Dasein treten, nehmen sie eine Reihe
räumlicher Gestaltungsformen an. Es handelt sich nun um
den lebendigen Begriff, welcher diese Formen rückwärts
und vorwärts verbindet.
Wenn wir die Metamorphosenlehre Goethes, wie sie uns
aus dem Jahre 1790 vorliegt, betrachten, so finden wir darinnen,
daß bei Goethe dieser Begriff der des wechselnden
Ausdehnens und Zusammenziehens ist. Im Samen ist die
Pflanzenbildung am stärksten zusammengezogen (konzentriert).
Mit den Blättern erfolgt hierauf die erste Entfaltung,
Ausdehnung der Bildungskräfte. Was im Samen auf
einen Punkt zusammengedrängt ist, das tritt in den Blättern
räumlich auseinander. Im Kelche ziehen sich die Kräfte
wieder an einem Achsenpunkte zusammen; die Krone wird
durch die nächste Ausdehnung bewirkt; Staubgefäße und
Stempel entstehen durch die nächste Zusammenziehung;
die Frucht durch die letzte (dritte) Ausdehnung, worauf
sich die ganze Kraft des Pflanzenlebens (dies entelechische
Prinzip) wieder im höchst zusammengezogenen Zustande
im Samen verbirgt. Während wir nun so ziemlich alle Einzelheiten
des Metamorphosengedankens bis zur endlichen
Verwertung in dem 1790 erschienenen Aufsatze verfolgen
können, wird es mit dem Begriffe der Ausdehnung und Zusammenziehung
nicht so leicht gehen. Doch wird man nicht
fehlgehen, wenn man annimmt, daß dieser übrigens tief
in Goethes Geist wurzelnde Gedanke auch schon in Italien
mit dem Begriffe der Pflanzenbildung verwebt wurde. Da
der Inhalt dieses Gedankens die durch die bildenden Kräfte
bedingte größere oder geringere räumliche Entfaltung ist,
also in dem liegt, was sich an der Pflanze dem Auge unmittelbar
darbietet, so wird er wohl dann am leichtesten
entstehen, wenn man den Gesetzen der natürlichen Bildung
gemäß die Pflanze zu zeichnen unternimmt. Nun fand
Goethe in Rom einen strauchartigen Nelkenstock, welcher
ihm die Metamorphose besonders klar zeigte. Darüber
schreibt er nun: «Zur Aufbewahrung dieser Wundergestalt
kein Mittel vor mir sehend, unternahm ich es, sie genau zu
zeichnen, wobei ich immer zu mehrerer Einsicht in den
Grundbegriff der Metamorphose gelangte.»23 Solche Zeichnungen
sind vielleicht noch öfters gemacht worden und dies
konnte dann zu dem in Rede stehenden Begriff führen.*
Im September 1787 bei seinem zweiten Aufenthalte in
Rom trägt Goethe seinem Freunde Moritz die Sache vor;
er findet dabei, wie lebendig, anschaulich die Sache bei einem
solchen Vortrage wird. Es wird immer aufgeschrieben,
wie weit sie gekommen sind. Aus dieser Stelle und einigen
anderen Äußerungen Goethes erscheint es wahrscheinlich,
daß auch die Niederschrift der Metamorphosenlehre wenigstens
aphoristisch noch in Italien geschehen ist. Er sagt
weiter: «Auf diese Art - im Vortrage mit Moritz - konnt'
ich allein etwas von meinen Gedanken zu Papier bringen.»24
Es ist nun keine Frage, daß am Ende des Jahres 1789 und am
Anfange des Jahres 1790 die Arbeit in der Gestalt, wie sie
uns jetzt vorliegt, niedergeschrieben wurde; allein inwieweit
diese letztere Niederschrift bloß redaktioneller Natur
23 [Italienische Reise / Störende Naturbetrachtungen; vgl. auch den
Brief Goethes an Knebel vom 18. Aug. 1787 (WA 8, 251).]
24 [Italienische Reise, 28. Sept. 1787.]
war und was noch hinzukam, das wird schwer zu sagen
sein. Ein für die nächste Ostermesse angekündigtes Buch,
welches etwa dieselben Gedanken hätte enthalten können,
verleitete ihn im Herbste 1789, seine Ideen vorzunehmen
und ihre Veröffentlichung zu befördern. Am 20. November
schreibt er dem Herzoge, daß er angespornt sei, seine
botanischen Ideen zu schreiben. Am 18. Dezember überschickt
er die Schrift bereits dem Botaniker Batsch in Jena
zur Durchsicht; am 20. geht er selbst dorthin, um sich mit
Batsch zu besprechen; am 22. meldet er Knebel, daß Batsch
die Sache gut aufgenommen habe. Er kehrt nach Hause zurück,
arbeitet die Schrift noch einmal durch, überschickt
sie dann wieder an Batsch, der sie am 19. Januar 1790 zurückschickt.
Welche Erlebnisse nun die Handschrift sowohl
wie die Druckschrift machte, hat Goethe selbst ausführlich
erzählt (siehe Natw. Schr., 1. Bd. [S. 91 ff.]). Die große
Bedeutung der Metamorphosenlehre, sowie das Wesen derselben
im einzelnen werden wir unten [S. 70 ff.] in dem Aufsatze:
«Über das Wesen und die Bedeutung von Goethes
Schriften über organische Bildung» abhandeln.
III
DIE ENTSTEHUNG VON GOETHES GEDANKEN
ÜBER DIE BILDUNG DER TIERE
Lavaters großes Werk: «Physiognomische Fragmente zur
Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe» erschien
in den Jahren 1775-1778. Goethe hatte daran regen
Anteil genommen, nicht nur dadurch, daß er die Herausgabe
leitete, sondern indem er auch selbst Beiträge lieferte.
Besonders interessant ist es nun aber, daß wir in diesen Beiträgen
schon den Keim zu seinen späteren zoologischen Arbeiten
finden können.
Die Physiognomik suchte in der äußeren Form des Menschen
dessen Inneres, dessen Geist zu erkennen. Man behandelte
die Gestalt nicht um ihrer selbst willen, sondern als
Ausdruck der Seele. Goethes plastischer, zur Erkenntnis
äußerer Verhältnisse geschaffener Geist blieb dabei nicht
stehen. Mitten in jenen Arbeiten, welche die äußere Form
nur als Mittel zur Erkenntnis des Inneren behandelten,
ging ihm die Bedeutung der ersteren, der Gestalt, in ihrer
Selbständigkeit auf. Wir sehen dieses aus seinen Arbeiten
über die Tierschädel aus dem Jahre 1776, welche sich im
2. Bande, 2. Abschnitt der «Physiognomischen Fragmente»
eingeschaltet finden.25 Er liest in diesem Jahre Aristoteles
über die Physiognomik26, findet sich dadurch zu obigen
Arbeiten angeregt, zugleich aber versucht er es, den Unterschied
des Menschen von den Tieren zu untersuchen. Er
findet diesen Unterschied in dem durch das Ganze des
25 Vgl. Natw. Schr., 2. Bd., S. 68 ff.
26 [Brief an J. K. Lavater, etwa 20. März 1776; WA 3, 42.]
menschlichen Baues bedingten Hervortreten des Hauptes,
in der hohen Ausbildung des menschlichen Gehirnes, zu
dem alle Teile des Körpers als zu ihrer Zentralstätte hinweisen-
«Wie die ganze Gestalt als Grundpfeiler des Gewölbes
dasteht, in dem sich der Himmel bespiegeln soll.»27
Das Gegenteil davon findet er nun beim tierischen Baue.
«Der Kopf an das Rückgrat nur angehängt! Das Gehirn,
Ende des Rückenmarks, hat nicht mehr Umfang, als zur
Auswirkung der Lebensgeister und zu Leitung eines ganz
gegenwärtig sinnlichen Geschöpfes nötig ist.»28 Mit diesen
Andeutungen hat sich Goethe über die Betrachtung einzelner
Zusammenhänge des Äußeren mit dem Inneren des
Menschen erhoben zur Auffassung eines großen Ganzen
und zur Anschauung der Gestalt als solcher. Er ist zur Ansicht
gekommen, daß das Ganze des menschlichen Baues
die Grundlage bildet zu seinen höheren Lebensäußerungen,
daß in der Eigentümlichkeit dieses Ganzen die Bedingung
liegt, welche den Menschen an die Spitze der Schöpfung
stellt. Was wir uns dabei vor allem gegenwärtig halten müssen,
ist, daß Goethe die tierische Gestalt in der ausgebildeten
menschlichen wieder aufsucht; nur daß dort die mehr
den animalischen Verrichtungen dienenden Organe in den
Vordergrund treten, gleichsam der Punkt sind, auf den die
ganze Bildung hindeutet und dem sie dient, während die
menschliche Bildung jene Organe besonders ausbildet, welche
den geistigen Funktionen dienen. Schon hier finden
wir: Was Goethe als tierischer Organismus vorschwebt, ist
nicht mehr dieser oder jener sinnlich-wirkliche, sondern
ein ideeller, der sich bei den Tieren mehr nach einer niede-
27 Vgl. Natw. Sehr., 2. Bd., S.68 [Eingang].
29 Ebenda.
ren, bei dem Menschen nach einer höheren Seite ausbildet.
Schon hier liegt der Keim zu dem, was Goethe später Typus
nannte und womit er «kein einzelnes Tier», sondern die
«Idee» des Tieres bezeichnen wollte. Ja noch mehr: Schon
hier findet man einen Anklang an ein später von ihm ausgesprochenes,
in seinen Konsequenzen wichtiges Gesetz, daß
nämlich «die Mannigfaltigkeit der Gestalt daher entspringt,
daß diesem oder jenem Teil ein Übergewicht über die andern
zugestanden ist.»29 Es wird ja schon hier der Gegensatz
von Tier und Mensch darinnen gesucht, daß sich eine
ideelle Gestalt nach zwei verschiedenen Richtungen hin
ausbildet, daß jedesmal ein Organsystem das Übergewicht
gewinnt und das ganze Geschöpf davon seinen Charakter
erhält.
In demselben Jahre (1776) finden wir aber auch, daß
Goethe Klarheit darüber gewinnt, wovon auszugehen ist,
wenn man die Gestalt des tierischen Organismus betrachten
will. Er erkannte, daß die Knochen die Grundfesten
der Bildung sind30, ein Gedanke, den er später aufrechterhalten
hat, indem er bei den anatomischen Arbeiten durchaus
von der Knochenlehre ausging. In diesem Jahre schreibt
er den in dieser Hinsicht wichtigen Satz nieder31: «Die beweglichen
Teile formen sich nach ihnen (den Knochen),
eigentlicher zu sagen, mit ihnen und treiben ihr Spiel nur
insoweit es die festen vergönnen.» Auch eine weitere Andeutung
in Lavaters Physiognomik: «Man kann es schon
bemerkt haben, daß ich das Knochensystem für die Grundzeichnung
des Menschen - den Schädel für das Fundament
29 Siehe Natw. Schr., 1. Bd., S. 247.
30 Siehe Natw. Schr., 2. Bd. [S. 68 f.].
31 Ebenda [S. 69].
des Knochensystems und alles Fleisch beinahe nur für das
Kolorit dieser Zeichnung halte»32, mag wohl auf Goethes
Anregung, der sich mit Lavater oft über diese Dinge besprach,
geschrieben worden sein. Sie sind ja mit den von
Goethe verfaßten Andeutungen33 identisch. Nun macht
aber Goethe eine weitere Bemerkung dazu, welche wir besonders
berücksichtigen müssen: «Diese Anmerkung (daß
man an den Knochen und namentlich am Schädel am stärksten
sehen kann, wie die Knochen die Grundfesten der Bildung
sind), die hier (bei Tieren) unleugbar ist, wird bei der
Anwendung auf die Verschiedenheit der Menschenschädel
großen Widerspruch zu leiden haben.»34 Was tut Goethe hier
anderes, als das einfachere Tier im zusammengesetzten
Menschen wieder aufsuchen, wie er sich später (1795) ausdrückt!
Wir gewinnen hieraus die Überzeugung, daß die
Grundgedanken, auf welchen später Goethes Gedanken
über die Bildung der Tiere aufgebaut werden sollten, aus
der Beschäftigung mit Lavaters Physiognomik heraus im
Jahre 1776 sich bei ihm festsetzten.
In diesem Jahre beginnt auch Goethes Studium des Einzelnen
der Anatomie. Am 22. Januar 1776 schreibt er an
Lavater: «Der Herzog hat mir sechs Schädel kommen
lassen, habe herrliche Bemerkungen gemacht, die Euer
Hochwürden zu Diensten stehen, wenn dieselben Sie nicht
ohne mich fanden.» [WA 3, 20] Die weiteren Anregungen
zu einem eingehenderen Studium der Anatomie boten ihm
die Beziehungen zur Universität Jena. Wir haben die ersten
Andeutungen hierüber aus dem Jahre 1781. In dem
32 Lavaters Fragmente II, 143.
33 Siehe Natw. Schr., 2. Bd. [S. 69].
34 [Ebenda.]
von Keil herausgegebenen Tagebuche bemerkt er unter dem
15. Oktober 1781, daß er nach Jena mit dem alten Einsiedel
ging und dort Anatomie trieb. Hier war ein Gelehrter,
der Goethes Studien ungeheuer förderte: Loder. Derselbe
führt ihn denn auch weiter in die Anatomie ein, wie er am
29. Oktober 1781 an Frau von Stein35 und am 4. November
an Karl August36 schreibt. In letzterem Briefe spricht
er nun auch die Absicht aus, den «jungen Leuten» der Zeichenakademie
«das Skelett zu erklären und sie zur Kenntnis
des menschlichen Körpers anzuführen». Er setzt hinzu:
«Ich tue es zugleich um meinet- und ihretwillen, die Methode,
die ich gewählt habe, wird sie diesen Winter über
völlig mit den Grundsäulen des Körpers bekannt machen.»
Die Einzeichnungen im Tagebuch Goethes zeigen, daß er
diese Vorlesungen wirklich gehalten und am 16. Januar beendet
hat. Gleichzeitig wird wohl viel mit Loder über den
Bau des menschlichen Körpers verhandelt worden sein. Unter
dem 6. Januar bemerkt das Tagebuch: Demonstration
des Herzens durch Loder. Haben wir nun gesehen, daß
Goethe schon 1776 weitausblickende Gedanken über den
Bau der tierischen Organisation hegte, so ist keinen Augenblick
daran zu zweifeln, daß seine jetzigen eingehenden
Beschäftigungen mit Anatomie über die Betrachtung der
Einzelheiten hinaus sich zu höheren Gesichtspunkten erhoben.
So schreibt er an Lavater und Merck am 14. November
1781, er behandele «die Knochen als einen Text, woran
35 «Ein beschwerlicher Liebesdienst, den ich übernommen habe, führt
mich meiner Liebhaberei naher. Loder erklärt mir alle Beine und
Muskeln, und ich werde in wenig Tagen vieles fassen.» [WA 5, 207]
38 «Mir hat er (Loder) in diesen acht Tagen, die wir, freilich soviel als
meine Wächterschaft litt, fast ganz dazu anwandten, Osteologie und
Myologie durchdemonstriert.» [WA 5,211]
sich alles Leben und alles Menschliche anhängen läßt».
[WA 5, 217 u. 220] Bei Betrachtung eines Textes bilden
sich in unserem Geiste Bilder und Ideen, die von jenem
hervorgerufen, erzeugt erscheinen. Als einen solchen Text
behandelte Goethe die Knochen, d. h. indem er sie betrachtet,
gehen ihm Gedanken über alles Leben und alles Menschliche
auf. Es mußten sich bei ihm also bei diesen Betrachtungen
bestimmte Ideen über die Bildung des Organismus
geltend gemacht haben. Nun haben wir aus dem Jahre 1782
eine Ode von Goethe: «Das Göttliche», welche uns einigermaßen
erkennen läßt, wie er über die Beziehung des Menschen
zur übrigen Natur damals dachte. Die erste Strophe
heißt:
«Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.»
Indem in den ersten zwei Zeilen dieser Strophe der Mensch
nach seinen geistigen Eigenschaften erfaßt wird, sagt
Goethe, diese allein unterscheiden ihn von allen anderen
Wesen der Welt. Dieses «allein» zeigt uns ganz klar, daß
Goethe den Menschen seiner physischen Konstitution nach
durchaus in Übereinstimmung mit der übrigen Natur auffaßte.
Es wird bei ihm der Gedanke, auf den wir schon
oben aufmerksam machten, immer lebendiger, daß eine
Grundform die Gestalt des Menschen sowohl wie der Tiere
beherrsche, daß sie bei ersterem sich nur zu einer solchen
Vollkommenheit steigere, daß sie fähig ist, der Träger eines
freien geistigen Wesens zu sein. Seinen sinnenfälligen Eigenschaften
nach muß auch der Mensch, wie es in jener Ode
weiter heißt:
«Nach ewigen, ehrnen
Großen Gesetzen»
Seines . . . «Daseins
Kreise vollenden.»
Aber diese Gesetze bilden sich bei ihm nach einer Seite aus,
die es ihm möglich macht, daß er das «Unmögliche» vermag:
«Er unterscheidet,
Wählet und richtet;
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen.»
Nun muß man dazu noch bedenken, daß, während sich
diese Anschauungen bei Goethe immer bestimmter ausbildeten,
er in lebendigem Verkehre mit Herder stand, der
im Jahre 1783 seine «Ideen zu einer Philosophie der Geschichte
der Menschheit» aufzuzeichnen begann. Dieses
Werk ging beinahe hervor aus den Unterhaltungen der beiden,
und manche Idee wird wohl auf Goethe zurückzuführen
sein. Die Gedanken, welche hier ausgesprochen werden,
sind oft ganz Goethisch, nur in Herders Weise gesagt, so
daß wir aus denselben einen sicheren Schluß auf die damaligen
Gedanken Goethes machen können.
Herder hat nun im ersten Teil37 von dem Wesen der
Welt folgende Auffassung. Es muß eine Hauptform vorausgesetzt
werden, welche durch alle Wesen hindurchgeht und
sich in verschiedener Weise verwirklicht. «Vom Stein zum
37 [Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, I.
Teil, 5. Buch-, in: Herders Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan; Berlin
1877-1913, 13. Bd., S. 167.]
Kristall, vom Kristall zu den Metallen, von diesen zur
Pflänzenschöpfung, von den Pflanzen zum Tier, von diesem
zum Menschen sahen wir die Form der Organisation
steigen, mit ihr auch die Kräfte und Triebe des Geschöpfs
vielartiger werden, und sich endlich alle in der Gestalt des
Menschen, sofern diese sie fassen konnte, vereinen.» Der
Gedanke ist ganz klar: Eine ideelle, typische Form, die als
solche selbst nicht sinnenfällig wirklich ist, realisiert sich
in einer unendlichen Menge räumlich voneinander getrennter
und ihren Eigenschaften nach verschiedenen Wesen bis
herauf zum Menschen. Auf den niederen Stufen der Organisation
verwirklicht sie sich stets nach einer bestimmten
Richtung; nach dieser bildet sie sich besonders aus. Indem
diese typische Form bis zum Menschen heransteigt, nimmt
sie alle Bildungsprinzipien, die sie bei den niederen Organismen
immer nur einseitig ausgebildet hat, die sie auf verschiedene
Wesen verteilt hat, zusammen, um eine Gestalt
zu bilden. Daraus geht auch die Möglichkeit einer so hohen
Vollkommenheit beim Menschen hervor. Bei ihm hat die
Natur auf ein Wesen verwendet, was sie bei den Tieren auf
viele Klassen und Ordnungen zerstreut hat. Dieser Gedanke
wirkte ungemein fruchtbar auf die nachherige deutsche
Philosophie. Es sei hier die Darstellung, welche Oken später
für dieselbe Vorstellung gegeben hat, zu ihrer Verdeutlichung
erwähnt. Er sagt38: «Das Tierreich ist nur ein Tier,
d. h. die Darstellung der Tierheit mit allen ihren Organen
jedes für sich ein Ganzes. Ein einzelnes Tier entsteht, wenn
ein einzelnes Organ sich vom allgemeinen Tierleib ablöst
und dennoch die wesentlichen Tierverrichtungen ausübt.
Das Tierreich ist nur das zerstückelte höchste Tier: Mensch.»
38 Oken, Lehrbuch der Naturphilosophie. 2. Aufl., Jena 1831, S. 389.
Es gibt nur eine Menschenzunft, nur ein Menschengeschlecht,
nur eine Menschengattung, eben weil er das ganze
Tierreich ist. So gibt es z. B. Tiere, bei denen die Tastorgane
ausgebildet sind, ja die ganze Organisation auf die
Tätigkeit des Tastens hinweist und in ihr das Ziel findet,
andere, bei denen besonders die Freßwerkzeuge ausgebildet
sind usf., kurz bei jeder Tiergattung tritt einseitig ein Organsystem
in den Vordergrund; das ganze Tier geht in demselben
auf; alles übrige tritt bei ihm in den Hintergrund. In
der menschlichen Bildung nun bilden sich alle Organe und
Organsysteme so aus, daß eines dem andern Raum genug
zur freien Entwicklung läßt, daß jedes einzelne in jene
Schranken zurücktritt, welche nötig erscheinen, um alle andern
in gleicher Weise zur Geltung kommen zu lassen. So
entsteht ein harmonisches Ineinanderwirken der einzelnen
Organe und Systeme zu einer Harmonie, welche den
Menschen zum vollkommensten, die Vollkommenheiten
aller übrigen Geschöpfe in sich vereinigenden Wesen macht.
Diese Gedanken haben nun auch den Inhalt der Gespräche
Goethes mit Herder gebildet, und Herder verleiht ihnen in
folgender Weise Ausdruck: daß «das Menschengeschlecht
als der große Zusammenfluß niederer organischer Kräfte»
anzusehen ist, «die in ihm zur Bildung der Humanität kommen
sollten». Und an einem anderen Orte: «Und so können
wir annehmen: daß der Mensch ein Mittelgeschöpf unter
den Tieren, d. i. die ausgearbeitete Form sei, in der sich die
Züge aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff
sammeln.»39
Um den Anteil, welchen Goethe an Herders Werke
«Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit»
39 Herder, a. a. O. I. Teil, 5. Buch, bzw. I. Teil, 2. Buch.
nahm, zu kennzeichnen, wollen wir folgende Stelle aus einem
Briefe Goethes an Knebel vom 8. Dezember 1783 anführen:
«Herder schreibt eine Philosophie der Geschichte,
wie Du Dir denken kannst, von Grund aus neu. Die ersten
Kapitel haben wir vorgestern zusammen gelesen, sie sind
köstlich . . . Welt- und Naturgeschichte rast jetzt recht bei
uns.» [WA 6, 224] Die Ausführungen Herders im 3. Buch
VI und im 4. Buch I, daß die in der menschlichen Organisation
bedingte aufrechte Haltung und was damit zusammenhängt,
die Grundbedingung seiner Vernunfttätigkeit
ist, erinnert direkt an das, was Goethe 1776 im 2. Abschnitt
des zweiten Bandes der «Physiognomischen Fragmente»
Lavaters über den Geschlechtsunterschied des Menschen
von den Tieren angedeutet hat, und was wir schon oben
erwähnt haben. Es ist nur eine Ausführung jenes Gedankens.
Das alles berechtigt uns aber anzunehmen, daß Goethe
und Herder in bezug auf ihre Ansichten über die Stellung
des Menschen in der Natur in jener Zeit (1783 ff.) der
Hauptsache nach einig waren.
Nun bedingt eine solche Grundanschauung aber, daß
jedes Organ, jeder Teil eines Tieres sich im Menschen müsse
wiederfinden lassen, nur in die durch die Harmonie des
Ganzen bedingten Schranken zurückgedrängt. Ein Knochen
z. B. muß allerdings bei einer bestimmten Tiergattung
zu seiner besonderen Ausbildung kommen, muß sich hier
vordrängen, allein er muß sich bei allen übrigen auch wenigstens
angedeutet finden, ja er darf beim Menschen nicht
fehlen. Nimmt er dort jene Gestalt an, welche ihm vermöge
seiner eigenen Gesetze zukommt, so hat er sich hier einem
Ganzen zu fügen, seine eigenen Bildungsgesetze denen des
ganzen Organismus anzupassen. Fehlen aber darf er nicht,
wenn nicht in der Natur ein Riß geschehen soll, wodurch
die konsequente Ausgestaltung eines Typus gestört würde.
So stand es mit den Anschauungen bei Goethe, als er auf
einmal eine Ansicht gewahr wurde, welche diesen großen
Gedanken durchaus widersprach. Den Gelehrten der damaligen
Zeit war es vornehmlich darum zu tun, Kennzeichen
zu finden, welche eine Tiergattung von der andern
unterscheiden. Der Unterschied der Tiere von dem Menschen
sollte darin bestehen, daß die ersteren zwischen den
beiden symmetrischen Hälften des Oberkiefers einen kleinen
Knochen, den Zwischenknochen haben, der die oberen
Schneidezähne enthält, und welcher dem Menschen fehlen
soll. Als Merck im Jahre 1782 anfing, sich lebhaft für die
Knochenlehre zu interessieren und sich um Beihilfe an einige
der bekanntesten Gelehrten damaliger Zeit wandte, erhielt
er von einem derselben, dem bedeutenden Anatomen
Sömmerring, am 8. Oktober 1782 folgende Auskunft über
den Unterschied von Her und Mensch 40: «Ich wünschte, daß
Sie Blumenbach nachsähen, wegen des ossis intermaxillaris,
der ceteris paribus der einzige Knochen ist, den alle Tiere
vom Affen an, selbst der Orang Utang eingeschlossen, haben,
der sich hingegen nie beim Menschen findet; wenn Sie
diesen Knochen abrechnen, so fehlt Ihnen nichts, um nicht
alles vom Menschen auf die Tiere transferieren zu können.
Ich lege deshalb einen Kopf von einer Hirschkuh bei, um
Sie zu überzeugen, daß dieses os intermaxillare (wie es Blumenbach)
oder os incisivum (wie es Camper nennt) selbst
bei Tieren vorhanden ist, die keine Schneidezähne in der
obern Kinnlade haben.» Obwohl Blumenbach an den Schädeln
ungeborener oder junger Kinder eine Spur quasi rudi-
40 Briefe an J. H. Merck, Darmstadt 1835 [S. 354 f.].
mentum des ossis intermaxillaris fand, ja sogar an einem
solchen Schädel einmal zwei völlig abgesonderte kleine
Knochenkerne als wahren Zwischenknochen fand, so gab
er die Existenz eines solchen doch nicht zu. Er sagt davon:
«Es ist noch himmelweit vom wahren osse intermaxillari
verschieden.» Camper, der berühmteste Anatom der Zeit,
war derselben Ansicht. Der letztere sagt41 z. B. von den
Zwischenknochen: «die nimmer by menschen gevonden
wordt, zelfs niet by de Negers.» Merck war für Camper
von der innigsten Verehrung durchdrungen und befaßte
sich mit seinen Schriften.
Nicht nur Merck, sondern auch Blumenbach und Sömmerring
standen mit Goethe im Verkehre. Der Briefwechsel
mit ersterem zeigt uns, daß Goethe an dessen Knochenuntersuchungen
den innigsten Anteil nahm und über diese
Dinge seine Gedanken mit ihm austauschte. Am 27. Oktober
1782 ersuchte er Merck, ihm etwas von Campers Inkognito
zu schreiben und ihm dessen Briefe zu schicken.42
Ferner haben wir im April des Jahres 1783 einen Besuch
Blumenbachs in Weimar zu verzeichnen. Im September desselben
Jahres geht Goethe nach Göttingen, um dort Blumenbach
und alle Professoren zu besuchen. Am 28. September
schreibt er an Frau von Stein: «Ich habe mir vorgenommen
alle Professoren zu besuchen und Du kannst
denken, was das zu laufen gibt, um in ein paar Tagen herumzukommen.
» [WA 6, 202] Er geht hierauf nach Kassel,
wo er mit Forster und Sömmerring zusammentrifft. Von
dort aus schreibt er an Frau von Stein am 2. Oktober: «Ich
41 In: «Natuuf kundige Verhandelingen over den orang Outang...».
Amsterdam 1782, p. 75, § 2.
42 [WA 6,75]
sehe sehr schöne und gute Sachen und werde für meinen
stillen Fleiß belohnt. Das Glücklichste ist, daß ich nun sagen
kann, ich bin auf dem rechten Wege und es geht mir
von nun an nichts verloren.» [WA 6, 204]
In diesem Verkehr wird Goethe wohl zuerst auf die
herrschenden Ansichten über den Zwischenknochen aufmerksam
geworden sein. Bei seinen Anschauungen mußten
ihm diese sofort als ein Irrtum erscheinen. Die typische
Grundform, nach welcher alle Organismen gebaut sein müssen,
wäre damit vernichtet. Bei Goethe konnte kein Zweifel
obwalten, daß auch dieses Glied, welches bei allen höheren
Tieren mehr oder weniger ausgebildet zu finden ist,
auch an der Bildung der menschlichen Gestalt teil haben
müsse, und hier nur zurücktreten werde, weil die Organe
der Nahrungsaufnahme überhaupt hinter denen, welche
geistigen Funktionen dienen, zurücktreten. Goethe konnte
vermöge seiner ganzen Geistesrichtung nicht anders denken,
als daß ein Zwischenknochen auch beim Menschen vorhanden
sei. Es handelte sich nur um den empirischen Nachweis
desselben, nur darum, welche Gestalt er bei dem Menschen
annimmt, inwiefern er sich in das Ganze des Organismus
hier einfügt. Dieser Nachweis gelang ihm nun im
Frühling des Jahres 1784 in Gemeinschaft mit Loder, mit
dem er in Jena Menschen- und Tierschädel verglich. Goethe
kündigte die Sache am 27. März sowohl der Frau von Stein43
wie auch Herder44 an.
43 «Es ist mir ein köstliches Vergnügen geworden, ich habe eine anatomische
Entdeckung gemacht, die wichtig und schön ist.» [WA
6, 259]
44 «Ich habe gefunden - weder Gold noch Silber, aber was mir eine
unsägliche Freude macht - das os intermaxillare am Menschen!»
[WA 6,258]
Man darf nun diese einzelne Entdeckung gegenüber den
großen Gedanken, von denen sie getragen ist, nicht überschätzen;
sie hatte auch für Goethe nur den Wert, ein Vorurteil
hinwegzuräumen, welches hinderlich erschien, wenn
seine Ideen bis in die äußersten Kleinigkeiten eines Organismus
konsequent verfolgt werden sollten. Als einzelne Entdeckung
erblickte sie auch Goethe nie, immer nur im Zusammenhange
mit seiner großen Naturanschauung. So haben
wir es zu verstehen, wenn er in dem obenerwähnten
Briefe an Herder sagt: «Es soll Dich auch recht herzlich
freuen, denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen, fehlt
nicht, ist auch da! Aber wie!» Und gleich erinnert er den
Freund an weitere Ausblicke: «Ich habe mir's auch in Verbindung
mit Deinem Ganzen gedacht, wie schön es da
wird.» Die Behauptung: die Tiere haben einen Zwischenknochen,
der Mensch aber keinen, konnte für Goethe keinen
Sinn haben. Liegt es in den einen Organismus bildenden
Kräften, bei den Tieren zwischen den beiden Oberkieferknochen
einen Zwischenknochen einzuschieben, so müssen
dieselben bei dem Menschen an jener Stelle, wo sich bei
den Tieren jener Knochen befindet, in wesentlich derselben,
nur der äußeren Erscheinung nach verschiedenen Weise
tätig sein. Weil Goethe sich den Organismus nie als tote,
starre Zusammensetzung, sondern immer als aus seinen inneren
Bildungskräften hervorgehend dachte, so mußte er
sich fragen: Was machen diese Kräfte im Oberkiefer des
Menschen? Es konnte sich gar nicht darum handeln, ob der
Zwischenknochen vorhanden, sondern wie er beschaffen
ist, was für eine Bildung er annimmt. Und dieses mußte empirisch
gefunden werden.
Bei Goethe wurde nun der Gedanke immer reger, ein
größeres Werk über die Natur auszuarbeiten. Wir können
dies aus verschiedenen Äußerungen entnehmen. So schreibt
er im November 1784 an Knebel, als er ihm die Abhandlung
über seine Entdeckung überschickt: «Ich habe mich
enthalten, das Resultat, worauf schon Herder in seinen
Ideen deutet, schon jetzo merken zu lassen, daß man nämlich
den Unterschied des Menseben vom Tier in nichts einzelnem
finden könne.» [WA 6, 389] Hier ist vor allem
wichtig, daß Goethe sagt, er habe sich enthalten, den
Grundgedanken schon jetzo merken zu lassen; er will das
also später in einem größeren Zusammenhange tun. Ferner
zeigt uns diese Stelle, daß die Grundgedanken, die uns bei
Goethe vor allem interessieren: die großen Ideen über den
tierischen Typus längst vor jener Entdeckung vorhanden
waren. Denn Goethe gesteht hier selbst, daß sie sich schon
in Herders Ideen angedeutet finden; die Stellen aber, in
denen dies geschieht, sind vor der Entdeckung des Zwischenknochens
geschrieben. Die Entdeckung des Zwischenknochens
ist somit nur eine Folge jener großen Anschauungen.
Für jene, welche diese Anschauungen nicht hatten,
mußte sie unverständlich bleiben. Es war ihnen das einzige
naturhistorische Merkmal genommen, wodurch sie den
Menschen von den Tieren schieden. Von jenen Gedanken,
welche Goethe beherrschten und die wir früher andeuteten,
daß die bei den Tieren zerstreuten Elemente sich in der einen
menschlichen Gestalt zu einer Harmonie vereinigen und so
trotz der Gleichheit alles Einzelnen eine Differenz im Ganzen
begründen, welche dem Menschen seinen hohen Rang
in der Reihe der Wesen anweist, davon hatten sie wenig
Ahnung. Ihr Betrachten war kein ideelles, sondern ein
äußerliches Vergleichen; und für das letztere war allerdings
der Zwischenknochen beim Menschen nicht da. Was
Goethe verlangte: mit den Augen des Geistes zu sehen, dafür
hatten sie wenig Verständnis. Das begründete denn
auch den Unterschied des Urteiles zwischen ihnen und
Goethe. Während Blumenbach, der die Sache doch auch
ganz deutlich sah, zu dem Schlusse kam: «Es ist doch himmelweit
verschieden vom wahren osse intermaxillari», urteilt
Goethe: Wie läßt sich eine noch so große äußere Verschiedenheit
bei der notwendigen inneren Identität erklären.
Goethe wollte nun offenbar diesen Gedanken konsequent
ausarbeiten und er hat sich besonders in den nun folgenden
Jahren viel damit beschäftigt. Am 1. Mai 1784
schreibt Frau von Stein an Knebel45: «Herders neue Schrift
macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und Tiere
waren . . . Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen Dingen
und jedes, was erst durch seine Vorstellung gegangen
ist, wird äußerst interessant.» In welchem Grade in Goethe
der Gedanke lebte, seine Anschauungen über die Natur in
einem größeren Werke darzustellen, das wird uns besonders
anschaulich, wenn wir sehen, daß er bei jeder neuen Entdeckung,
die ihm gelingt, nicht umhin kann, Freunden gegenüber
die Möglichkeit einer Ausdehnung seiner Gedanken
auf die ganze Natur ausdrücklich hervorzuheben. Im Jahre
1786 schreibt er an Frau von Stein, er wolle seine Ideen
über die Weise, wie die Natur mit einer Hauptform gleichsam
spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt, «auf
alle Reiche der Natur, auf ihr ganzes Reich» ausdehnen.
Und da in Italien der Metamorphosengedanke für die
Pflanze bis in alle Einzelheiten plastisch vor seinem Geiste
45 Wir führten ihre Worte schon oben [S. 26] in anderem Zusammenhange
an.
steht, schreibt er in Neapel am 17. Mai 1787 nieder: «Dasselbe
Gesetz wird sich auf alles... Lebendige anwenden lassen.
»46 Der erste Aufsatz der «Morphologischen Hefte»
(1817) enthält die Worte: «Mag daher das, was ich mir in
jugendlichem Mute öfters als ein Werk träumte, nun als
Entwurf, ja als fragmentarische Sammlung hervortreten.»
Daß ein solches Werk von Goethes Hand nicht zustande
kam, müssen wir beklagen. Nach alledem, was vorliegt,
wäre es eine Schöpfung geworden, welche alles, was von
dergleichen in der neueren Zeit geleistet wurde, weit hinter
sich gelassen hätte. Es wäre ein Kanon geworden, von dem
jede Bestrebung auf naturwissenschaftlichem Gebiete ausgehen
müßte und an dem man ihren geistigen Gehalt prüfen
konnte. Der tiefste philosophische Geist, welchen nur Oberflächlichkeit
Goethe absprechen kann, hätte sich hier verbunden
mit einer liebevollen Versenkung in das sinnlicherfahrungsgemäß
Gegebene; fern von jeder einseitigen
Systemsucht, welche durch ein allgemeines Schema alle
Wesen zu umfassen glaubt, würde hier jeder einzelnen Individualität
ihr Recht widerfahren sein. Wir hätten es hier
mit dem Werke eines Geistes zu tun, bei dem nicht ein einzelner
Zweig menschlichen Strebens mit Zurücksetzung
aller anderen sich hervortut, sondern bei dem die Totalität
menschlichen Seins immer im Hintergrunde schwebt, wenn
er ein einzelnes Gebiet behandelt. Dadurch bekommt jede
einzelne Tätigkeit ihre gehörige Stelle im Zusammenhange
des Ganzen. Die objektive Versenkung in die betrachteten
Gegenstände verursacht, daß der Geist in ihnen völlig aufgeht,
so daß uns Goethes Theorien so erscheinen, als ob sie
nicht ein Geist von den Gegenständen abstrahierte, sondern
48 [Italienische Reise.]
als ob sie die Gegenstände selbst in einem Geiste bildeten,
der sich bei der Betrachtung selbst vergißt. Diese strengste
Objektivität würde Goethes Werk zum vollendetsten Werke
der Naturwissenschaft machen; es wäre ein Ideal, dem jeder
Naturforscher nachstreben müßte; es wäre für den Philosophen
ein typisches Musterbild für die Auffindung der
Gesetze objektiver Weltbetrachtung. Man kann annehmen,
daß die Erkenntnistheorie, welche jetzt als eine philosophische
Grundwissenschaft allerwärts auftritt, erst dann
wird fruchtbar werden können, wenn sie ihren Ausgangspunkt
von Goethes Betrachtungs- und Denkweise nehmen
wird. Goethe selbst gibt den Grund, warum dieses Werk
nicht zustande kam, in den Annalen zu 1790 mit den Worten
an: «Die Aufgabe war so groß, daß sie in einem zerstreuten
Leben nicht gelöst werden konnte.»
Wenn man von diesem Gesichtspunkte ausgeht, so gewinnen
die einzelnen Fragmente, welche uns von Goethes
Naturwissenschaft vorliegen, eine ungeheure Bedeutung.
Ja wir lernen sie erst recht schätzen und verstehen, wenn
wir sie als hervorgehend aus jenem großen Ganzen betrachten.
Im Jahre 1784 sollte aber, gleichsam bloß als Vorübung,
die Abhandlung über den Zwischenknochen ausgearbeitet
werden. Veröffentlicht sollte sie zunächst nicht werden,
denn Goethe schreibt am 6. März 1785 an Sömmerring
darüber: «Da meine kleine Abhandlung gar keinen Anspruch
an Publizität hat und bloß als ein Konzept anzusehen
ist, so würde mir alles, was Sie mir über diesen Gegenstand
mitteilen wollen, sehr angenehm sein.» [WA 7,
21] Dennoch wurde sie mit aller Sorgfalt und mit Zuhilfenahme
aller nötigen Einzelstudien ausgeführt. Es wurden
sogleich junge Leute zu Hilfe genommen, welche nach Campers
Methode osteologische Zeichnungen unter Goethes
Leitung auszuführen hatten. Er bittet deshalb am 23. April
[1784] Merck [WA 6, 267f.] um Auskunft über diese Methode
und läßt sich von Sömmerring [WA 6, 277] Campersche
Zeichnungen schicken. Merck, Sömmerring und
andere Bekannte werden um Skelette und Knochen aller
Art ersucht. Am 23. April schreibt er an Merck, daß ihm
folgende Skelette sehr angenehm sein würden: « . . . eine
Myrmecophaga, Bradypus, Löwen, Tiger oder dergleichchen.
» [WA 6, 268] Am 14. Mai [WA 6, 278] ersucht er
Sömmerring um den Schädel von dessen Elefantenskelett
und den Schädel des Nilpferdes, am 16. September um die
Schädel von folgenden Tieren: «Wilde Katze, Löwe, junger
Bär, Incognitum, Ameisenbär, Kamel, Dromedar, Seelöwe.
» [WA 6, 357] Auch um einzelne Auskünfte werden
die Freunde ersucht, so Merck um die Beschreibung des
Gaumenteiles seines Rhinozeros und insbesondere um Aufklärung
darüber, «wie eigentlich das Horn des Rhinoceros
auf dem Nasenknochen sitzt». [WA 6, 267] Goethe ist in
dieser Zeit ganz in jene Studien vertieft. Der erwähnte Elefantenschädel
wird durch Waitz von vielen Seiten nach
Campers Methode gezeichnet [WA 6, 356], von Goethe
mit einem großen Schädel seines Besitzes und mit anderen
Tierschädeln verglichen, da er entdeckte, daß an jenem
Schädel die meisten Suturen noch unverwachsen waren.
[WA 6,293 f.] Er macht an diesem Schädel noch eine wichtige
Bemerkung. Man nahm bis dahin an, daß bei allen
Tieren bloß die Schneidezähne im Zwischenknochen eingefügt
seien, während die Eckzähne dem Oberkieferbein
angehörten; nur der Elefant sollte eine Ausnahme machen.
Bei ihm sollten die Eckzähne im Zwischenknochen
enthalten sein. Daß dies nicht der Fall ist, zeigt ihm nun
ebenfalls jener Schädel, wie er in einem Brief an Herder
schreibt. [WA 6, 308] Auf einer Reise nach Eisenach
[WA 6, 278] und Braunschweig, die Goethe in diesem
Sommer [1784] unternimmt, begleiten ihn seine osteologischen
Studien. Auf letzterer will er in Braunschweig einem
«ungeborenen Elefanten in das Maul sehen und mit
Zimmermann ein wackeres Gespräch führen». [WA 6, 332]
Er schreibt von diesem Fötus weiter an Merck: «Ich wollte,
wir hätten den Fötus, den sie in Braunschweig haben, in
unserm Kabinette, er sollte in kurzer Zeit seziert, skelettiert
und präpariert sein. Ich weiß nicht, wozu ein solches Monstrum
in Spiritus taugt, wenn man es nicht zergliedert und
den innern Bau erklärt.» [WA 6, 332 u. 333] Aus diesen
Studien ging denn jene Abhandlung hervor, welche im 1.
Bande [S. 277 ff.] der Naturwissenschaftlichen Schriften in
Kürschners National-Literatur mitgeteilt wird. Bei Abfassung
derselben ist Goethen Loder sehr behilflich. Unter
dessen Beistande kommt eine lateinische Terminologie zustande.
Loder besorgt ferner eine lateinische Übersetzung.
[WA 6, 407] Im November 1784 schickt Goethe die Abhandlung
an Knebel [WA 6, 389 f.] und schon am 19. Dezember
an Merck [WA 6,409 f.], obwohl er noch kurz vorher
(2. Dezember) glaubt, daß vor Ende des Jahres nicht
viel daraus werden wird. [WA 6,400 f.] Das Werk war mit
den nötigen Zeichnungen versehen. Wegen Camper war die
erwähnte lateinische Übersetzung beigefügt. Merck sollte
das Werk an Sömmerring schicken. Dieser erhielt es im Januar
1785. Von da ging die Sache an Camper. Wenn wir
nun einen Blick auf die Art der Aufnahme werfen, die
Goethes Abhandlung gefunden, so tritt uns ein recht unerquickliches
Bild entgegen. Niemand hat anfangs das Organ,
ihn zu verstehen außer Loder, mit dem er zusammen
gearbeitet, und Herder. Merck hat über die Abhandlung
Freude, ist aber von der Wahrheit des Asserti nicht durchdrungen.
[WA 7,11 f.] Sömmerring schreibt in dem Briefe,
mit dem er die Ankunft der Abhandlung Merck anzeigt:
«Die Hauptidee hatte schon Blumenbach. Im Paragraph,
der sich anfängt: <Es wird also kein Zweifel [übrig bleiben]
>, sagt er [Goethe], <da die übrigen (Grenzen) verwachsen>;
schade nur, daß diese niemals da gewesen. Ich
habe nun Kinnbacken von Embryonen, von drei Monaten
bis zum Adulto vor mir, und an keinem ist jemals eine
Grenze vorwärts zu sehen gewesen. Und durch den Drang
der Knochen gegen einander die Sache zu erklären? Ja,
wenn die Natur als ein Schreiner mit Keil und Hammer arbeitete!
»47 Am 13. Februar 1785 schreibt Goethe an Merck:
«Von Sömmerring habe ich einen sehr leichten Brief. Er
will mir's gar ausreden. Ohe!» [WA 7,12] - Und Sömmerung
schreibt am 11. Mai 1785 an Merck: «Goethe will, wie
ich aus seinem gestrigen Briefe sehe, von seiner Idee in Ansehung
des ossis intermaxillaris noch nicht ab.»48
Und nun Camper49 Am 16. September 178550 teilte er
47 Briefe an J. H. Merck, S. 438.
48 Ebenda S. 448.
49 Man nahm bisher an, daß Camper die Abhandlung anonym erhalten
habe. Sie kam ihm auf einem Umwege zu: Goethe schickte sie erst
an Sömmerring, dieser an Merck und der letztere sollte sie an Camper
gelangen lassen. Nun befindet sich aber unter den Briefen Mercks
an Camper, die noch ungedruckt sind, und die sich im Originale in
der «Bibliotheque de la societe neerlandaise pour les progres de la
medecine» zu Amsterdam befinden, ein Brief vom 17. Januar 1785
mit folgender Stelle (wir zitieren buchstäblich): «Monsieur de
Merck mit, daß die beigegebenen Tafeln durchaus nicht
nach seiner Methode gezeichnet seien. Er findet dieselben
sogar recht tadelnswert. Das Äußere des schönen Manuskriptes
wird gelobt, die lateinische Übersetzung getadelt,
ja dem Autor sogar der Rat erteilt, sich hierinnen auszubilden.
Drei Tage später51 schreibt er, daß er eine Zahl von Beobachtungen
über den Zwischenknochen gemacht habe, daß
er aber fortfahren müsse zu behaupten, der Mensch habe keinen
Zwischenknochen. Er gibt alle Beobachtungen Goethes
zu, nur nicht die auf den Menschen bezüglichen. Am 21.
März 178652 schreibt er noch einmal, daß er aus einer großen
Zahl von Beobachtungen zu dem Schlusse gekommen
sei: der Zwischenknochen existiere heim Menschen nicht.
Campers Briefe zeigen deutlich, daß er den besten Willen
hatte in die Sache einzudringen, daß er aber nicht imstande
war, Goethe auch nur im geringsten zu verstehen.
Loder sah Goethes Entdeckung sogleich in dem rechten
Lichte. Er hebt sie in seinem «Anatomischen Handbuch»
von 178853 hervor und behandelt sie von nun an in allen
Goethe, Poete celebre, conseiller intime du Duc de Weimar, vient
de m'envoier un specimen osteologicum, que doit vous etre envoie
apres que Mr. Sömring l'aura v ü . . . C'est un petit traite sur l'os
intermaxillaire, qui nous apprend entre autres la verite, que le
Triche(chus) a 4 dents incisives et que le Chameau a en deux.» Ein
Brief vom 10. März 1785 zeigt an, daß Merck die Abhandlung demnächst
an Camper schicken wird, wobei wieder der Name Goethe
ausdrücklich vorkommt: «J'aurai l'honneur de vous envoier le specimen
osteolog. de Mr. de Goethe, mon ami, par une voie, qui ne
sera pas conteuse un de ces jours.» Am 28. April 1785 spricht Merck
die Hoffnung aus, daß Camper die Sache erhalten habe, wobei wieder
«Goethe» vorkommt. Es ist somit wohl kein Zweifel, daß Camper
den Verfasser kannte.
50 Briefe an J. H. Merck, S. 466.
51 Ebenda, S. 469.
52 Ebenda S. 481.
53 Goethes Annalen zu 1790.
seinen Schriften wie eine der Wissenschaft vollgültig angehörige
Sache, an welcher nicht der mindeste Zweifel sein
kann.
Herder schreibt darüber an Knebel: «Goethe hat uns
seine Abhandlung vom Knochen vorgelegt, die sehr einfach
und schön ist; der Mensch geht auf dem wahren Naturwege,
und das Glück geht ihm entgegen».54 Herder war eben imstande,
die Sache mit dem «geistigen Auge», mit dem sie
Goethe ansah, zu betrachten. Ohne dieses konnte man mit
ihr nichts anfangen. Man kann dies am besten aus folgendem
sehen. Wilhelm Josephi (Privatdozent an der Universität
Göttingen) schreibt in seiner «Anatomie der Säugetiere
» 1787: «Man nimmt die ossa intermaxillaria mit als
ein Hauptunterscheidungszeichen der Affen vom Menschen
an; indes meinen Beobachtungen nach hat der Mensch
ebenfalls solche ossa intermaxillaria wenigstens in den ersten
Monaten seines Seins, welche aber gewöhnlich schon
früh, und zwar schon im Mutterleibe mit den wirklichen
Oberkiefern vorzüglich nach außen verwachsen, so daß
öfters noch gar keine merkliche Spur davon zurückbleibt.»
Hier ist Goethes Entdeckung allerdings auch vollkommen
ausgesprochen, aber nicht als eine aus der konsequenten
Durchführung des Typus geforderte, sondern als der Ausdruck
eines unmittelbar in die Augen fallenden Tatbestandes.
Wenn man bloß auf letzteren angewiesen ist, dann
hangt es allerdings nur vom glücklichen Zufalle ab, ob
man gerade solche Exemplare findet, an denen man die
Sache genau sehen kann. Faßt man aber die Sache in Goethes
ideeller Weise, so dienen diese besonderen Exemplare
54 Knebels Literarischer Nachlaß etc., hg. v. Varnhagen v. Ense u. Th.
Mundt, Leipzig 1835, IL Bd., S. 236.
bloß zur Bestätigung des Gedankens, bloß dazu das, was
die Natur sonst verbirgt, offen zu demonstrieren; es kann
aber die Idee selbst an jedem beliebigen Exemplare verfolgt
werden, jedes zeigt einen besonderen Fall derselben.
Ja, wenn man die Idee besitzt, ist man imstande, durch
dieselbe gerade jene Fälle zu finden, in denen sie sich besonders
ausprägt. Ohne dieselbe aber ist man dem Zufalle
anheimgegeben. Man sieht in der Tat, daß, nachdem Goethe
durch seinen großen Gedanken die Anregung gegeben hatte,
man durch Beobachtung zahlreicher Fälle sich von der
Wahrheit seiner Entdeckung allmählich überzeugt hat.
Merck blieb wohl stets schwankend. Am 13. Februar
1785 schickt ihm Goethe eine gesprengte obere Kinnlade
vom Menschen und vom Trichechus und gibt ihm Anhaltspunkte,
die Sache zu verstehen. Aus Goethes Brief vom 8.
April scheint es, daß Merck einigermaßen gewonnen war.
Bald aber änderte er seine Ansicht wieder, denn am 11.
November 1786 schreibt er an Sömmerring55: «Wie ich
höre, hat Vicq d'Azyr sogar Goethes sogenannte Entdekkung
in sein Werk aufgenommen.»
Sömmerring stand nach und nach von seinem Widerstande
ab. In seinem Werke: «Vom Baue des menschlichen
Körpers» sagt er (S. 160): «Goethes sinnreicher Versuch
aus der vergleichenden Knochenlehre, daß der Zwischenknochen
der Oberkinnlade dem Menschen mit den übrigen
Tieren gemein sei, von 1785, mit sehr richtigen Abbildungen,
verdiente öffentlich bekannt zu sein.»
Schwerer war wohl Blumenbach zu gewinnen. In sei-
55 [Rudolf Wagner, Samuel Thomas von Sömmerrings Leben und Verkehr
mit seinen Zeitgenossen, 1. Abt.:] Briefe berühmter Zeitgenossen
an Sömmerring [Leipzig 1844] S. 293.
nem «Handbuch der vergleichenden Anatomie», 180556,
sprach er noch die Behauptung aus: der Mensch habe keinen
Zwischenknochen. In seinem 1830-32 geschriebenen
Auf satze: «Principes de Philosophie Zoologique» kann aber
Goethe schon von Blumenbachs Bekehrung sprechen.57 Er
trat nach persönlichem Verkehre auf Goethes Seite.58 Am
15. Dezember 1825 liefert er Goethe sogar ein schönes Beispiel
zur Bestätigung seiner Entdeckung. Ein Athlet aus
dem Hessischen suchte bei Blumenbachs Kollegen Langenbeck
Hilfe wegen eines «ganz tierisch prominierenden os
intermaxillare».59 Von späteren Anhängern Goethescher
Ideen werden wir noch zu sprechen haben. Hier sei nur
noch erwähnt, daß M. J. Weber die Trennung des bereits
mit der Oberkinnlade verwachsenen Zwischenknochens
durch verdünnte Salpetersäure gelungen ist.60
Goethe setzte seine Knochenstudien auch nach Vollendung
jener Abhandlung fort. Die gleichzeitigen Entdeckungen
in der Pflanzenkunde machen sein Interesse an der
Natur noch zu einem regeren. Fortwährend borgt er einschlägige
Objekte von seinen Freunden. Am 7. Dezember
178561 ist Sömmerring sogar schon ärgerlich, «daß ihm
Goethe nicht seine Köpfe wieder schickt». Aus einem Briefe
Goethes an Sömmerring vom 8. Juni 1786 erfahren wir,
daß er bis dahin noch immer Schädel von letzterem hatte.
Auch in Italien begleiteten ihn seine großen Ideen. Wäh-
56 Ebenda - s. Anm. 55 - S. 22.
57 Natw. Sehr., 1. Bd., S. 405.
58 Gespräche mit Eckermann, 2. Aug. 1830.
59 Goethes Naturwissenschaftliche Korrespondenz (1812-1832), hg. v.
F. Th. Bratranek, I. Bd., S. 51.
60 [Froriep, Notizen aus dem Gebiet der Natur- und Heilkunde, Bd.
19,1828, S. 283.]
61 Briefe an J. H. Merck, S. 476.
rend sich der Gedanke der Urpflanze in seinem Geiste ausgestaltete,
kommt er auch zu Begriffen über die Gestalt des
Menschen. Am 20. Januar 1787 schreibt Goethe in Rom:
«Auf Anatomie bin ich so ziemlich vorbereitet, und ich
habe mir die Kenntnis des menschlichen Körpers, bis auf
einen gewissen Grad, nicht ohne Mühe erworben. Hier
wird man durch die ewige Betrachtung der Statuen immerfort,
aber auf eine höhere Weise, hingewiesen. Bei unserer
medizinisch-chirurgischen Anatomie kommt es bloß darauf
an, den Teil zu kennen, und hierzu dient auch wohl ein
kümmerlicher Muskel. In Rom aber wollen die Teile nichts
heißen, wenn sie nicht zugleich eine edle schöne Form darbieten.
In dem großen Lazarett San Spirito hat man den Künstlern
zulieb einen sehr schönen Muskelkörper dergestalt bereitet,
daß die Schönheit desselben in Verwunderung setzt.
Er könnte wirklich für einen geschundenen Halbgott, für
einen Marsyas gelten.
So pflegt man auch, nach Anleitung der Alten, das Skelett
nicht als eine künstlich zusammengereihte Knochenmasse
zu studieren, vielmehr zugleich mit den Bändern,
wodurch es schon Leben und Bewegung erhält.»62
Es handelte sich bei Goethe hier vor allem darum, die
Gesetze kennenzulernen, nach denen die Natur die organischen
und vorzüglich die menschlichen Gestalten bildet,
die Tendenz, welche sie bei der Formung derselben verfolgt.
So wie er in der Reihe der unendlichen Pflanzengestalten
die Urpflanze aufsucht, mit der man noch Pflanzen
ins Unendliche erfinden kann, die konsequent sein müssen,
d. h. welche jener Naturtendenz vollkommen gemäß sind
62 [Italienische Reise.]
und welche existieren würden, wenn die geeigneten Bedingungen
da wären; ebenso hatte es Goethe in bezug auf
die Tiere und den Menschen darauf angelegt, «ideale Charaktere
zu entdecken», welche den Gesetzen der Natur
vollkommen gemäß sind. Bald nach seiner Rückkehr aus
Italien erfahren wir, daß Goethe «fleißig in anatomicis»
ist und im Jahre 1789 schreibt er an Herder: «Ich habe eine
neuentdeckte Harmoniam naturae vorzutragen.» Was hier
neu entdeckt wurde, dürfte nun ein Teil der Wirbeltheorie
des Schädels sein. Die Vollendung dieser Entdeckung fällt
aber in das Jahr 1790. Was er bis dahin wußte, war, daß
alle Knochen, welche das Hinterhaupt bilden, drei modifizierte
Rückenmarkswirbel darstellen. Goethe dachte sich
die Sache folgendermaßen. Das Gehirn stellt nur eine Rükkenmarksmasse
zur höchsten Stufe vervollkommnet dar.
Während im Rückenmarke die vorzugsweise den niedrigeren
organischen Funktionen dienenden Nerven enden
und von dort ausgehen, enden und beginnen im Gehirne die
den höheren (geistigen) Funktionen dienenden Nerven,
vorzugsweise die Sinnesnerven. Im Gehirne erscheint nur
ausgebildet, was im Rückenmarke der Möglichkeit nach
schon angedeutet ist. Das Gehirn ist ein vollkommen ausgebildetes
Mark, das Rückenmark ein noch nicht zur vollen
Entfaltung gekommenes Gehirn. Nun sind den Partien des
Rückenmarkes die Wirbelkörper der Wirbelsäule vollkommen
angebildet, sind deren notwendige Umhüllungsorgane.
Es erscheint nun auf das höchste wahrscheinlich, daß wenn
das Gehirn ein Rückenmark auf höchster Potenz ist, auch
die dasselbe umhüllenden Knochen nur höher ausgebildete
Wirbelkörper seien. Das ganze Haupt erscheint auf
diese Weise schon vorgebildet in den niedrigerstehenden
körperlichen Organen. Es sind die auch schon auf untergeordneter
Stufe tätigen Kräfte auch hier wirksam, nur
bilden sie sich im Kopfe zu der höchsten in ihnen liegenden
Potenz aus. Wieder handelte es sich für Goethe nur um den
Nachweis, wie sich denn die Sache der sinnenfälligen Wirklichkeit
nach eigentlich gestaltet? Vom Hinterhauptbein,
dem hinteren und vorderen Keilbein, sagt Goethe, erkannte
er diese Verhältnisse sehr bald; daß aber auch das Gaumbein,
die obere Kinnlade und der Zwischenknochen modifizierte
Wirbelkörper seien, erkannte er auf seiner Reise
nach Norditalien, als er auf den Dünen des Lido einen geborstenen
Schafschädel fand. Dieser Schädel war so glücklich
auseinandergefallen, daß in den einzelnen Stücken genau
die einzelnen Wirbelkörper zu erkennen waren. Goethe
zeigte diese schöne Entdeckung am 30. April 1790 der Frau
von Kalb an mit den Worten: «Sagen Sie Herdern, daß ich
der Tiergestalt und ihren mancherlei Umbildungen um eine
ganze Formel näher gerückt bin und zwar durch den sonderbarsten
Zufall.»* [WA 9, 202]
Dies war eine Entdeckung von der weittragendsten Bedeutung.*
Es war damit bewiesen, daß alle Glieder eines
organischen Ganzen der Idee nach identisch sind und daß
«innerlich ungeformte» organische Massen sich nach außen
in verschiedener Weise aufschließen, daß es ein und dasselbe
ist, was auf niederer Stufe als Rückenmarksnerv, auf
höherer als Sinnesnerv sich zu dem die Außenwelt aufnehmenden,
ergreifenden, erfassenden Sinnesorgane aufschließt.
Jedes Lebendige war damit in seiner von innen
heraus sich formenden, gestaltenbildenden Kraft aufgezeigt;
es war als wahrhaft Lebendiges jetzt erst begriffen.
Goethes Grundideen waren jetzt auch in bezug auf die Tierbildung
zu einem Abschlusse gekommen. Es war die Zeit
zur Ausarbeitung derselben gekommen, obwohl er den Plan
dazu schon früher hatte, wie uns der Briefwechsel Goethes
mit F. H. Jacobi beweist. [WA 9, 184] Als er im Juli 1790
dem Herzoge in das schlesische Lager folgte, war er dort (in
Breslau) vorzugsweise mit seinen Studien über die Bildung
der Tiere beschäftigt. Er begann dort auch wirklich seine
diesbezüglichen Gedanken aufzuzeichnen. Am 31. August
1790 schreibt er an Friedrich von Stein: «In allem dem
Gewühle hab' ich angefangen, meine Abhandlung über
die Bildung der Tiere zu schreiben.» [WA 9, 223]
In einem umfassenden Sinn enthält die Idee des Tiertypus
das Gedicht: «Die Metamorphose der Tiere», das
1820 im zweiten der «Morphologischen Hefte» zuerst erschienen
ist.63 In den Jahren 1790-95 nahm von naturwissenschaftlichen
Arbeiten die Farbenlehre Goethe vorzüglich
in Anspruch. Zu Anfang des Jahres 1795 war Goethe in
Jena, wo auch die Gebrüder v. Humboldt, Max Jacobi und
Schiller anwesend waren. In dieser Gesellschaft brachte
Goethe seine Ideen über vergleichende Anatomie vor. Die
Freunde fanden seine Darstellungen so bedeutsam, daß sie
ihn aufforderten, seine Gedanken zu Papier zu bringen.
Wie aus einem Schreiben Goethes an Jacobi den Älteren hervorgeht
[WA 10, 232], hat Goethe dieser Aufforderung sogleich
in Jena Genüge getan, indem er das im 1. Bande von
Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners
National-Literatur [S. 241-275] abgedruckte Schema einer
vergleichenden Knochenlehre Max Jacobi diktierte. Die einleitenden
Kapitel wurden 1796 weiter ausgeführt [Ebenda
63 Vgl. Natw. Schr., 1. Bd., S. 344 ff., wo einzelnes noch in Anmerkungen
gesagt ist.
S. 325ff.]. In diesen Abhandlungen sind Goethes Grundanschauungen
über Tierbildung ebensosehr wie in seiner
Schrift: «Versuch, die Metamorphose der Pflanze zu erklären
» jene über Pflanzenbildung enthalten. Im Verkehre
mit Schiller ~ seit 1794 - trat ein Wendepunkt seiner Anschauungen
ein, indem er sich von nun an seiner eigenen
Verfahrungs- und Forschungsweise gegenüber betrachtend
verhielt, wobei ihm seine Anschauungsweise gegenständlich
wurde. Wir wollen nach diesen historischen Betrachtungen
uns nun zum Wesen und der Bedeutung von Goethes Anschauungen
über die Bildung der Organismen wenden.
IV
ÜBER DAS WESEN UND DIE BEDEUTUNG
VON GOETHES SCHRIFTEN
ÜBER ORGANISCHE BILDUNG
Die hohe Bedeutung von Goethes morphologischen Arbeiten
ist darin zu suchen, daß in denselben die theoretische
Grundlage und die Methode des Studiums organischer Naturen
festgestellt ist, welches eine wissenschaftliche Tat ersten
Ranges ist.
Will man dieses in der richtigen Weise würdigen, so muß
man sich vor allem den großen Unterschied gegenwärtig
halten, welcher zwischen Erscheinungen der anorganischen
und solchen der organischen Natur besteht. Eine Erscheinung
der ersteren Art ist z. B. der Stoß zweier elastischer
Kugeln aufeinander. Ist die eine Kugel ruhend und stößt
die andere in einer gewissen Richtung und mit einer gewissen
Geschwindigkeit auf dieselbe, so erhält jene ebenfalls
eine gewisse Bewegungsrichtung und eine gewisse Geschwindigkeit.
Handelt es sich nun darum, eine solche Erscheinung
zu begreifen, so kann dies nur dadurch erreicht
werden, daß wir das, was unmittelbar für die Sinne da ist,
in Begriffe verwandeln. Es muß uns dieses in dem Maße
gelingen, daß nichts Sinnenfällig-Wirkliches bleibt, welches
wir nicht begrifflich durchdrungen hätten. Wir sehen
die eine Kugel ankommen, an die andere stoßen, letztere
sich weiter bewegen. Wir haben diese Erscheinung begriffen,
wenn wir aus Masse, Richtung und Geschwindigkeit
der ersten und aus der Masse der anderen die Geschwindigkeit
und Richtung von letzterer angeben können; wenn
wir einsehen, daß unter den gegebenen Verhältnissen jene
Erscheinung mit Notwendigkeit eintreten müsse. Das letztere
heißt aber nichts anderes, als: Es muß dasjenige, was
sich unseren Sinnen darbietet, als eine notwendige Folge
dessen erscheinen, was wir ideell vorauszusetzen haben. Ist
das letztere der Fall, so können wir sagen, daß sich Begriff
und Erscheinung decken. Es ist nichts im Begriffe, was nicht
auch in der Erscheinung wäre und nichts in der Erscheinung,
was nicht auch im Begriffe wäre. Nun haben wir auf
jene Verhältnisse, als deren notwendige Folge eine Erscheinung
der unorganischen Natur auftritt, näher einzugehen.
Hier tritt der wichtige Umstand ein, daß die sinnlich wahrnehmbaren
Vorgänge der unorganischen Natur durch Verhältnisse
bedingt werden, welche ebenfalls der Sinnenwelt
angehören. In unserem Falle kommen Masse, Geschwindigkeit
und Richtung, also durchaus Verhältnisse der Sinnenweit
in Betracht. Es tritt nichts weiteres als Bedingung der
Erscheinung auf. Nur die unmittelbar sinnlich-wahrnehmbaren
Umstände bedingen sich untereinander. Eine begriffliche
Erfassung solcher Vorgänge ist also nichts anderes
als eine Ableitung von Sinnenfällig-Wirklichem aus Sinnenfällig-
Wirklichem. Räumlich-zeitliche Verhältnisse, Masse,
Gewicht oder sinnlich wahrnehmbare Kräfte wie Licht
oder Wärme sind es, welche Erscheinungen hervorrufen,
die wieder in dieselbe Reihe gehören. Ein Körper wird erwärmt
und vergrößert dadurch sein Volumen; das erste
wie das zweite gehört der Sinnenwelt an, sowohl die Ursache
wie die Wirkung. Wir brauchen also, um solche Vorgänge
zu begreifen, gar nicht aus der Sinnenwelt herauszugehen.
Wir leiten nur innerhalb derselben eine Erscheinung
aus der andern ab. Wenn wir also eine solche Erscheinung
erklären, d. h. begrifflich durchdringen wollen, so haben
wir in den Begriff keine anderen Elemente aufzunehmen
als solche, welche auch anschaulich mit unseren Sinnen
wahrzunehmen sind. Wir können alles anschauen, was wir
begreifen wollen. Und darin besteht das Decken von
Wahrnehmung (Erscheinung) und Begriff. Es bleibt uns
nichts dunkel in den Vorgängen, weil wir die Verhältnisse
kennen, aus denen sie folgen. Hiermit haben wir das
Wesen der unorganischen Natur entwickelt und zugleich
gezeigt, inwiefern wir dieselbe, ohne über sie hinauszugehen,
aus sich seihst erklären können. An dieser Erklärbarkeit hat
man nun niemals gezweifelt, seit man überhaupt angefangen
hat, über die Natur dieser Dinge zu denken. Man hat
zwar nicht immer den obigen Gedankengang durchgemacht,
aus welchem die Möglichkeit einer Deckung von
Begriff und Wahrnehmung folgt; doch hat man nie Anstand
genommen, die Erscheinungen auf die angedeutete
Weise aus der Natur ihres eigenen Wesens zu erklären.64
Anders aber verhielt es sich bis zu Goethe mit den Erscheinungen
der organischen Welt. Beim Organismus erscheinen
die für die Sinne wahrnehmbaren Verhältnisse, z.
B. Form, Größe, Farbe, Wärmeverhältnisse eines Organes,
nicht bedingt durch Verhältnisse der gleichen Art. Man
64 Einige Philosophen behaupten, daß wir die Erscheinungen der Sinnenwelt
wohl auf ihre ursprünglichen Elemente (Kräfte) zurückführen
können, daß wir aber diese ebensowenig wie das Wesen des
Lebens erklären können. Demgegenüber ist zu bemerken, daß jene
Elemente einfach sind, d. i. sich nicht weiter aus einfacheren Elementen
zusammensetzen lassen. In ihrer Einfachheit sie abzuleiten, zu
erklären, ist aber eine Unmöglichkeit, nicht weil unser Erkenntnisvermögen
begrenzt ist, sondern weil sie auf sich selbst beruhen; sie
sind uns in ihrer Unmittelbarkeit gegenwärtig, sie sind in sich abgeschlossen,
aus nichts weiterem ableitbar.
kann z. B. von der Pflanze nicht sagen, daß Größe, Form,
Lage usw. der Wurzel die sinnlich-wahrnehmbaren Verhältnisse
am Blatte oder an der Blüte bedingen. Ein Körper,
bei dem dies der Fall wäre, wäre nicht ein Organismus, sondern
eine Maschine. Man muß vielmehr zugestehen, daß
alle sinnlichen Verhältnisse an einem lebenden Wesen nicht
als Folge von andern sinnlich-wahrnehmbaren Verhältnissen
erscheinen65, wie dies bei der unorganischen Natur der
Fall ist. Alle sinnlichen Qualitäten erscheinen hier vielmehr
als Folge eines solchen, welches nicht mehr sinnlich
wahrnehmbar ist. Sie erscheinen als Folge einer über den
sinnlichen Vorgängen schwebenden höheren Einheit. Nicht
die Gestalt der Wurzel bedingt jene des Stammes und wiederum
die Gestalt von diesem jene des Blattes usw., sondern
alle diese Formen sind bedingt durch ein über ihnen
Stehendes, welches selbst nicht wieder sinnlich-anschau-
65 Dies ist eben der Gegensatz des Organismus zur Maschine. Bei der
letzteren ist alles Wechselwirkung der Teile. Es existiert nichts Wirkliches
in der Maschine selbst außer dieser Wechselwirkung. Das einheitliche
Prinzip, welches das Zusammenwirken jener Teile beherrscht,
fehlt im Objekte selbst und liegt außerhalb desselben in
dem Kopfe des Konstrukteurs als Plan. Nur die äußerste Kurzsichtigkeit
kann leugnen, daß gerade darinnen die Differenz zwischen
Organismus und Mechanismus besteht, daß dasjenige Prinzip, welches
das Wechselverhältnis der Teile bewirkt, beim letzteren nur außerhalb
(abstrakt) vorhanden ist, während es bei ersterem in dem Dinge
selbst wirkliches Dasein gewinnt. So erscheinen dann auch die sinnlich
wahrnehmbaren Verhältnisse des Organismus nicht als bloße
Folge auseinander, sondern als beherrscht von jenem inneren Prinzipe,
als Folge eines solchen, das nicht mehr sinnlich wahrnehmbar
ist. In dieser Hinsicht ist es ebensowenig sinnlich wahrnehmbar, wie
jener Plan im Kopfe des Konstrukteurs, der ja auch nur für den Geist
da ist; ja es ist im wesentlichen jener Plan, nur daß er jetzt eingezogen
ist in das Innere des Wesens und nicht mehr durch Vermittlung
eines Dritten - jenes Konstrukteurs - seine Wirkungen vollzieht,
sondern dieses direkt selbst tut.
licher Form ist; sie sind wohl füreinander da, nicht aber
durcheinander. Sie bedingen sich nicht untereinander, sondern
sind alle bedingt von einem anderen. Wir können hier
das, was wir sinnlich wahrnehmen, nicht wieder aus sinnlich
wahrnehmbaren Verhältnissen ableiten, wir müssen
in den Begriff der Vorgänge Elemente aufnehmen, welche
nicht der Welt der Sinne angehören, wir müssen über die
Sinnenwelt hinausgehen. Es genügt die Anschauung nicht
mehr, wir müssen die Einheit begrifflich erfassen, wenn
wir die Erscheinungen erklären wollen. Dadurch aber tritt
eine Entfernung von Anschauung und Begriff ein; sie scheinen
sich nicht mehr zu decken; der Begriff schwebt über
der Anschauung. Es wird schwer, den Zusammenhang beider
einzusehen. Während in der unorganischen Natur Begriff
und Wirklichkeit eins waren, scheinen sie hier auseinanderzugehen
und eigentlich zwei verschiedenen Welten
anzugehören. Die Anschauung, welche sich den Sinnen
unmittelbar darbietet, scheint ihre Begründung, ihre Wesenheit
nicht in sich selbst zu tragen. Das Objekt scheint
aus sich selbst nicht erklärbar, weil sein Begriff nicht von
ihm selbst, sondern von etwas anderem entnommen ist. Weil
das Objekt nicht von Gesetzen der Sinnenwelt beherrscht
erscheint, doch aber für die Sinne da ist, ihnen erscheint,
so ist es, als wenn man hier vor einem unlösbaren Widerspruche
in der Natur stünde, als wenn eine Kluft bestünde
zwischen anorganischen Erscheinungen, welche aus sich
selbst zu begreifen sind, und organischen Wesen, bei denen
ein Eingriff in die Gesetze der Natur geschieht, hei denen
allgemeingültige Gesetze auf einmal durchbrochen würden.
Diese Kluft nahm man in der Tat bis auf Goethe allgemein
in der Wissenschaft an; erst ihm gelang es, das lösende Wort
des Rätsels zu sprechen. Erklärbar aus sich selbst sollte, so
dachte man vor ihm, nur die unorganische Natur sein; bei
der organischen höre das menschliche Erkenntnisvermögen
auf. Man wird die Größe der Tat, welche Goethe vollbracht
hat, am besten ermessen, wenn man bedenkt, daß der große
Reformator der neueren Philosophie Kant jenen alten Irrtum
nicht nur vollkommen teilte, sondern sogar eine wissenschaftliche
Begründung dafür zu finden suchte, daß es
dem menschlichen Geiste nie gelingen werde, die organischen
Bildungen zu erklären. Wohl sah er die Möglichkeit
eines Verstandes ein — eines intellectus archetypus, eines
intuitiven Verstandes -, dem es gegeben wäre, den Zusammenhang
von Begriff und Wirklichkeit bei den organischen
Wesen geradeso wie bei den Anorganismen zu durchschauen;
allein dem Menschen selbst sprach er die Möglichkeit
eines solchen Verstandes ab. Der menschliche Verstand
soll nämlich nach Kant die Eigenschaft haben, daß
er sich die Einheit, den Begriff einer Sache nur als hervorgehend
aus der Zusammenwirkung der Teile - als durch
Abstraktion gewonnenes analytisches Allgemeine - denken
kann, nicht aber so, daß jeder einzelne Teil als der
Ausfluß einer bestimmten konkreten (synthetischen) Einheit,
eines Begriffes in intuitiver Form erschiene. Daher
sei es diesem Verstande auch unmöglich, die organische Natur
zu erklären, denn diese müßte ja aus dem Ganzen in die
Teile wirkend gedacht werden. Kant sagt darüber: «Unser
Verstand hat also das Eigene für die Urteilskraft, daß ihm
Erkenntnis durch denselben, durch das Allgemeine, das Besondere
nicht bestimmt wird, und dieses also von jenem
nicht abgeleitet werden kann».66 Wir müßten danach also
6G Kant, Kritik der Urteilskraft; Ausgabe von Kehrbach, S. 294.
bei den organischen Bildungen darauf verzichten, den notwendigen
Zusammenhang der Idee des Ganzen, welche
nur gedacht werden kann mit dem, was unseren Sinnen im
Raume und in Zeit erscheint, zu erkennen. Wir müßten uns
nach Kant darauf beschränken, einzusehen, daß ein solcher
Zusammenhang existiert; die logische Forderung aber zu
erkennen, wie der allgemeine Gedanke, die Idee aus sich
heraustritt und als sinnenfällige Wirklichkeit sich offenbart,
diese könne bei den Organismen nicht erfüllt werden.
Wir müßten vielmehr annehmen, daß sich Begriff und
Wirklichkeit hier unvermittelt gegenüberstünden und durch
einen außerhalb der beiden liegenden Einfluß etwa auf dieselbe
Weise zustande gebracht worden seien, wie der
Mensch nach einer von ihm aufgeworfenen Idee irgendein
zusammengesetztes Ding, z. B. eine Maschine aufbaut. Damit
war die Möglichkeit einer Erklärung der Organismenwelt
geleugnet, ihre Unmöglichkeit sogar scheinbar bewiesen.
So standen die Dinge, als Goethe sich daran machte,
die organischen Wissenschaften zu pflegen. Aber er ging
an das Studium derselben, nachdem er durch die wiederholte
Lektüre des Philosophen Spinoza in der angemessensten
Weise darauf vorbereitet war.
Zum ersten Male machte sich Goethe an Spinoza im
Frühjahre 1774. Goethe sagt von dieser seiner ersten Bekanntschaft
mit dem Philosophen in «Dichtung und Wahrheit
»67: «Nachdem ich mich nämlich in aller Welt um ein
Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehen
hatte, geriet ich endlich an die <Ethik> dieses Mannes
». Im Sommer desselben Jahres traf Goethe mit Friedrich
67III. Teil, 14. Buch.
Jacobi zusammen. Letzterer, der sich ausführlicher mit Spinoza
auseinandersetzte - wovon seine Briefe «Über die Lehre
des Spinoza», 1785, zeugen -, war ganz dazu geeignet,
Goethe tiefer in das Wesen des Philosophen einzuführen.
Spinoza wurde damals auch viel besprochen, denn bei
Goethe «war noch alles in der ersten Wirkung und Gegenwirkung,
gärend und siedend».68 Einige Zeit später fand
er in der Bibliothek seines Vaters ein Buch, dessen Autor
gegen Spinoza heftig kämpfte, ja ihn bis zur vollkommenen
Fratze entstellte. Dies wurde der Anlaß, daß sich
Goethe mit dem tiefen Denker noch einmal ernstlich beschäftigte.
Er fand in seinen Schriften Aufschlüsse über die
tiefsten wissenschaftlichen Fragen, die er damals aufzuwerfen
fähig war. Im Jahre 1784 liest der Dichter Spinoza
mit Frau von Stein. Er schreibt am 19. November 1784 an
die Freundin: «Ich bringe den Spinoza lateinisch mit, wo
alles viel deutlicher... ist.» [WA 6, 392] Die Wirkung
dieses Philosophen auf Goethe war nun eine ungeheure.
Goethe selbst war sich darüber stets klar. Im Jahre 1816
schreibt er an Zelter: «Außer Shakespeare und Spinoza
wüßt' ich nicht, daß irgend ein Abgeschiedener eine solche
Wirkung auf mich getan (wie Linne).» [WA 27,219] Er betrachtet
also Shakespeare und Spinoza als die beiden Geister,
welche auf ihn den größten Einfluß ausgeübt haben.
Wie nun sich dieser Einfluß in bezug auf die Studien organischer
Bildung äußerte, das wird uns am deutlichsten, wenn
wir uns ein Wort über Lavater aus der «Italienischen Reise»
vorhalten: Lavater vertrat eben auch jene damals allgemein
gangbare Ansicht, daß ein Lebendiges nur durch einen nicht
in der Natur der Wesen selbst gelegenen Einfluß, durch
88 [Dichtung und Wahrheit, III. Teil, 14. Buch.]
eine Störung der allgemeinen Naturgesetze entstehen könne.
Darüber schrieb denn Goethe die Worte: «Neulich fand
ich in einer leidig apostolisch-kapuzinermäßigen Deklamation
des Züricher Propheten die unsinnigen Worte: Alles,
was Leben hat, lebt durch etwas außer sich. Oder so ungefähr
klang's. Das kann nun so ein Heidenbekehrer hinschreiben,
und bei der Revision zupft ihn der Genius nicht
beim Ärmel».69 Dies ist nun ganz im Geiste Spinozas gesprochen.
Spinoza unterscheidet drei Arten von Erkenntnis.
Die erste Art ist jene, bei der wir uns bei gewissen gehörten
oder gelesenen Worten der Dinge erinnern und uns
von diesen Dingen gewisse Vorstellungen bilden, ähnlich
denen, durch welche wir die Dinge bildlich vorstellen. Die
zweite Art der Erkenntnis ist jene, bei welcher wir uns aus
zureichenden Vorstellungen von den Eigenschaften der
Dinge Gemeinbegriffe bilden. Die dritte Art der Erkenntnis
ist nun aber diejenige, bei welcher wir von der zureichenden
Vorstellung des wirklichen Wesens einiger Attribute
Gottes zur zureichenden Erkenntnis des Wesens der
Dinge fortschreiten. Diese Art der Erkenntnis nennt nun
Spinoza scientia intuitiva, das anschauende Wissen. Diese
letztere, die höchste Art der Erkenntnis, war es nun, die
Goethe anstrebte. Man muß sich dabei vor allem klar sein,
was Spinoza damit sagen will: Die Dinge sollen so erkannt
werden, daß wir in ihrem Wesen einige Attribute Gottes
erkennen. Der Gott Spinozas ist der Ideengehalt der Welt,
das treibende, alles stützende und alles tragende Prinzip.
Man kann sich nun dieses entweder so vorstellen, daß man
es als selbständiges, für sich abgesondert von den endlichen
Wesen existierendes Wesen voraussetzt, welches diese end-
69 Italienische Reise, 5. Okt. 1787.
lichen Dinge neben sich hat, sie beherrscht und in Wechselwirkung
versetzt. Oder aber, man stellt sich dieses Wesen
als aufgegangen in den endlichen Dingen vor, so daß es
nicht mehr über und neben ihnen, sondern nur mehr in
ihnen existiert. Diese Ansicht leugnet jenes Urprinzip keineswegs,
sie erkennt es vollkommen an, nur betrachtet sie
es als ausgegossen in die Welt. Die erste Ansicht betrachtet
die endliche Welt als Offenbarung des Unendlichen, aber
dieses Unendliche bleibt in seinem Wesen erhalten, es vergibt
sich nichts. Es geht nicht aus sich heraus, es bleibt, was
es vor seiner Offenbarung war. Die zweite Ansicht sieht die
endliche Welt ebenso als eine Offenbarung des Unendlichen
an, nur nimmt sie an, daß dieses Unendliche in seinem Offenbarwerden
ganz aus sich herausgegangen ist, sich selbst,
sein eigenes Wesen und Leben in seine Schöpfung gelegt
hat, so daß es nur mehr in dieser existiert. Da nun Erkennen
offenbar ein Gewahrwerden des Wesens der Dinge ist,
dieses Wesen doch aber nur in dem Anteile, den ein endliches
Wesen von dem Urprinzipe aller Dinge hat, bestehen
kann, so heißt Erkennen ein Gewahrwerden jenes
Unendlichen in den Dingen.70 Nun nahm man, wie wir
oben ausgeführt haben, vor Goethe bei der unorganischen
Natur wohl an, daß man sie aus sich selbst erklären könne,
daß sie ihre Begründung und ihr Wesen in sich trage, nicht
so aber bei der organischen. Hier konnte man jenes Wesen,
welches sich in dem Objekte offenbart, nicht in dem letzteren
selbst erkennen. Man nahm es daher außerhalb desselben
an. Kurz: Man erklärte die organische Natur nach
der ersten Ansicht, die anorganische nach der zweiten. Die
Notwendigkeit einer einheitlichen Erkenntnis hatte, wie
70 Einiger Attribute Gottes in denselben.
wir gesehen haben, Spinoza bewiesen. Er war zu sehr Philosoph,
als daß er diese theoretische Forderung auch auf
die speziellen Zweige der Organik hätte ausdehnen können.*
Dies blieb nun Goethe vorbehalten. Nicht nur der
obige Ausspruch, sondern noch zahlreiche andere beweisen
uns, daß er sich entschieden zur spinozistischen Auffassung
bekannte. In «Dichtung und Wahrheit»71: «Die Natur
wirkt nach ewigen, notwendigen, dergestalt göttlichen
Gesetzen, daß die Gottheit selbst daran nichts ändern
könnte.» Und in bezug auf das 1811 erschienene Buch Jacobis:
«Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung»
bemerkt Goethe72: «Wie konnte mir das Buch eines so herzlich
geliebten Freundes willkommen sein, worin ich die
These durchgeführt sehen sollte: die Natur verberge Gott.
Mußte, bei meiner reinen, tiefen, angeborenen und geübten
Anschauungsweise, die mich Gott in der Natur; die Natur
in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt hatte, so daß diese
Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existenz machte,
mußte nicht ein so seltsamer, einseitig-beschränkter Ausspruch
mich dem Geiste nach von dem edelsten Manne, dessen
Herz ich verehrend liebte, für ewig entfernen?» [WA
Abt. I, 36, 71] Goethe war sich des großen Schrittes, den er
in der Wissenschaft vollführt, vollständig bewußt; er erkannte,
daß er, indem er die Schranken zwischen anorganischer
und organischer Natur brach und Spinozas Denkweise
konsequent durchführte, eine bedeutsame Wendung der Wissenschaf
t herbeiführe. Wir finden diese Erkenntnis in dem
Aufsatz «Anschauende Urteilskraft» ausgeprochen. Nachdem
er die oben von uns mitgeteilte Kantsche Begründung
71 IV. Teil, 16. Buch.
72 Tag- und Jahres-Hefte 1811.
der Unfähigkeit des menschlichen Vertandes, einen Organismus
zu erklären, in der «Kritik der Urteilskraft» gefunden,
spricht er sich dagegen so aus: «Zwar scheint der Verfasser
(Kant) hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein
wenn wir ja im Sittlichen durch Glauben an Gott, Tugend
und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und
an das erste Wesen annähern sollen, so dürft' es wohl im
Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns durch das
Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen
Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte
ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes
Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar
geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so
konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer
der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst
nennt, mutig zu bestehen.» [Natw. Schr., 1. Bd. S. 116.]
Das Wesentliche eines Vorganges der unorganischen Natur
oder anders gesagt: eines der bloßen Sinnen welt angehörigen
Vorganges besteht darin, daß er durch einen anderen
ebenfalls nur der Sinnenwelt angehörigen Prozeß bewirkt
und determiniert wird. Nehmen wir nun an, der verursachende
Prozeß bestehe aus den Elementen m, c und r 73,
der bewirkte aus m', c' und r'; so ist immer bei bestimmten
m, c, und r, m', c' und r' eben durch jene bestimmt. Will ich
nun den Vorgang begreifen, so muß ich den Gesamtvorgang,
der sich aus der Ursache und Wirkung zusammensetzt,
in einem gemeinsamen Begriffe darstellen. Dieser
Begriff ist nun aber nicht derart, daß er im Vorgange selbst
liegen und daß er den Vorgang bestimmen könnte. Er faßt
73 Masse, Richtung und Geschwindigkeit einer bewegten elastischen
Kugel.
nun beide Vorgänge in einen gemeinsamen Ausdruck zusammen.
Er bewirkt und bestimmt nicht. Nur die Objekte
der Sinnenwelt bestimmen sich. Die Elemente m, c und r
sind auch für die äußeren Sinne wahrnehmbare Elemente.
Der Begriff erscheint nur da, um dem Geiste als Mittel der
Zusammenfassung zu dienen, er drückt etwas aus, was nicht
ideell, nicht begrifflich, was sinnenfällig wirklich ist. Und
jenes etwas, was er ausdrückt, dies ist sinnenfälliges Objekt.
Auf der Möglichkeit, die Außenwelt durch die Sinne aufzufassen
und ihre Wechselwirkung durch Begriffe auszudrücken,
beruht die Erkenntnis der anorganischen Natur.
Die Möglichkeit, auf diese Art Dinge zu erkennen, sah
Kant für die einzige dem Menschen zukommende an. Dieses
Denken nannte er diskursives; was wir erkennen wollen,
ist äußere Anschauung; der Begriff, die zusammenfassende
Einheit, bloßes Mittel. Wollten wir aber die organische Natur
erkennen, so müßten wir das ideelle Moment, das Begriffliche
nicht als ein solches fassen, das ein anderes ausdrückt,
bedeutet, von diesem sich seinen Inhalt borgt, sondern
wir müßten das Ideelle als solches erkennen; es müßte
einen eigenen aus sich selbst, nicht aus der räumlich-zeitlichen
Sinnenwelt stammenden Inhalt haben. Jene Einheit,
welche dort unser Geist bloß abstrahiert, müßte sich auf
sich selbst bauen, sie müßte sich aus sich heraus gestalten,
sie müßte ihrem eigenen Wesen gemäß, nicht nach den Einflüssen
anderer Objekte gebildet sein. Die Erfassung einer
solchen aus sich selbst sich gestaltenden, sich aus eigener
Kraft offenbarenden Entität sollte dem Menschen versagt
sein. Was ist nun zu einer solchen Erfassung nötig? Eine
Urteilskraft, welche einem Gedanken auch einen anderen
als bloß einen durch die äußeren Sinne aufgenommenen
Stoff verleihen kann, eine solche, welche nicht bloß Sinnenfälliges
erfassen kann, sondern auch rein Ideelles für
sich, abgesondert von der sinnlichen Welt. Man kann nun
einen Begriff, der nicht durch Abstraktion aus der Sinnenwelt
genommen ist, sondern der einen aus ihm und nur aus
ihm fließenden Gehalt hat, einen intuitiven Begriff und
die Erkenntnis desselben eine intuitive nennen. Was daraus
folgt, ist klar: Ein Organismus kann nur im intuitiven Begriffe
erfaßt werden. Daß es dem Menschen gegönnt sei, so
zu erkennen, das zeigt Goethe durch die Tat.*
In der unorganischen Welt herrscht Wechselwirkung der
Teile einer Erscheinungsreihe, gegenseitiges Bedingtsein der
Glieder derselben durcheinander. In der organischen ist
dies nicht der Fall. Hier bestimmt nicht ein Glied eines
Wesens das andere, sondern das Ganze (die Idee) bedingt
jedes Einzelne aus sich selbst, seinem eigenen Wesen gemäß.
Dieses sich aus sich selbst Bestimmende kann man mit
Goethe eine Entelechie nennen. Entelechie ist also die sich
aus sich selbst in das Dasein rufende Kraft. Was in die
Erscheinung tritt, hat auch sinnenfälliges Dasein, aber dies
ist durch jenes entelechische Prinzip bestimmt. Daraus entspringt
auch der scheinbare Widerspruch. Der Organismus
bestimmt sich aus sich selbst, macht seine Eigenschaften
einem vorausgesetzten Prinzipe gemäß, und doch ist er
sinnlich-wirklich. Er ist also auf eine ganz andere Weise
zu seiner sinnlichen Wirklichkeit gekommen als die andern
Objekte der Sinnenwelt; er scheint daher auf nicht natürlichem
Wege entstanden zu sein. Nun ist es aber auch
ganz erklärlich, daß der Organismus in seiner Äußerlichkeit
ebenso den Einflüssen der Sinnenwelt ausgesetzt ist,
wie jeder andere Körper. Der vom Dache fallende Stein
kann ebenso ein lebendes Wesen, wie einen unorganischen
Körper treffen. Durch Aufnahme von Nahrung usw. ist
der Organismus mit der Außenwelt im Zusammenhange;
alle physischen Verhältnisse der Außenwelt wirken auf ihn
ein. Natürlich kann dies auch nur insoferne stattfinden,
als der Organismus Objekt der Sinnenwelt, räumlich-zeitliches
Objekt ist. Dieses Objekt der Außenwelt nun, das
zum Dasein gekommene entelechische Prinzip, ist die
äußere Erscheinung des Organismus. Da er hier aber nicht
nur seinen eigenen Bildungsgesetzen, sondern auch den Bedingungen
der Außenwelt unterworfen ist, nicht nur so
ist, wie er dem Wesen des sich aus sich selbst bestimmenden
entelechischen Prinzipes gemäß sein sollte, sondern so,
wie er von anderem abhängig, beeinflußt ist, so erscheint
er gleichsam sich selbst nie ganz angemessen, nie bloß seiner
eigenen Wesenheit gehorchend. Da tritt nun die menschliche
Vernunft ein und bildet sich in der Idee einen Organismus,
der nicht den Einflüssen der Außenwelt gemäß,
sondern nur jenem Prinzipe entsprechend ist. Jeder zufällige
Einfluß, der mit dem Organischen als solchem nichts
zu tun hat, fällt dabei ganz weg. Diese rein dem Organischen
im Organismus entsprechende Idee ist nun die Idee
des Urorganismus, der Typus Goethes. Hieraus sieht man
auch die hohe Berechtigung dieser Typusidee ein. Sie ist
nicht ein bloßer Verstandesbegriff, sie ist dasjenige, was in
jedem Organismus das wahrhaft Organische ist, ohne welches
derselbe nicht Organismus wäre. Sie ist sogar reeller
als jeder einzelne wirkliche Organismus, weil sie sich in
jedem Organismus offenbart. Sie drückt auch das Wesen
eines Organismus voller, reiner aus als jeder einzelne, besondere
Organismus. Sie ist auf wesentlich andere Weise
gewonnen als der Begriff eines unorganischen Vorganges.
Jener ist abgezogen, abstrahiert aus der Wirklichkeit, er ist
nicht in letzterer wirksam; die Idee des Organismus aber
ist als Entelechie im Organismus tätig, wirksam; sie ist in
der von unserer Vernunft erfaßten Form nur die Wesenheit
der Entelechie selbst. Sie faßt die Erfahrung nicht zusammen;
sie bewirkt das zu Erfahrende. Goethe drückt dies
mit den Worten aus: «Begriff ist Summe, Idee Resultat der
Erfahrung; jene zu ziehen, wird Verstand, dieses zu erfassen,
Vernunft erfordert.» (Sprüche in Prosa [Natw. Schr.,
4. Bd., 2. Abt., S. 379]) Damit ist jene Art der Realität, die
dem Goetheschen Urorganismus (Urpflanze oder Urtier)
zukommt, erklärt. Diese Goethesche Methode ist offenbar
die einzig mögliche, um in das Wesen der Organismenwelt
einzudringen.
Beim Unorganischen ist es als wesentlich zu betrachten,
daß die Erscheinung in ihrer Mannigfaltigkeit mit der sie
erklärenden Gesetzlichkeit nicht identisch ist, sondern auf
letztere, als auf ein ihr Äußeres, bloß hinweist. Die Anschauung
- das materielle Element der Erkenntnis — die uns
durch die äußeren Sinne gegeben ist, und der Begriff - das
formelle - durch den wir die Anschauung als notwendig
erkennen, stehen einander gegenüber als zwei einander zwar
objektiv fordernde Elemente, aber so daß der Begriff nicht
in den einzelnen Gliedern einer Erscheinungsreihe selbst
liegt, sondern in einem Verhältnisse derselben zueinander.
Dieses Verhältnis, welches die Mannigfaltigkeit in ein einheitliches
Ganze zusammenfaßt, ist in den einzelnen Teilen
des Gegebenen begründet, aber als Ganzes (als Einheit)
kommt es nicht zur realen, konkreten Erscheinung. Zur
äußeren Existenz - im Objekte - kommen nur die Glieder
dieses Verhältnisses. Die Einheit, der Begriff kommt als
solcher erst in unserem Verstande zur Erscheinung. Es
kommt ihm die Aufgabe zu, das Mannigfaltige der Erscheinung
zusammenzufassen, er verhält sich zu dem letzteren
als Summe, Wir haben es hier mit einer Zweiheit zu tun, mit
der mannigfaltigen Sache, die wir anschauen, und mit der
Einheit, die wir denken. In der organischen Natur stehen
die Teile des Mannigfaltigen eines Wesens nicht in einem
solchen äußerlichen Verhältnisse zueinander. Die Einheit
kommt mit der Mannigfaltigkeit zugleich, als mit ihr identisch
in dem Angeschauten zur Realität. Das Verhältnis
der einzelnen Glieder eines Erscheinungsganzen (Organismus)
ist ein reales geworden. Es kommt nicht mehr bloß in
unserem Verstande zur konkreten Erscheinung, sondern
im Objekte selbst, in welch letzterem es die Mannigfaltigkeit
aus sich selbst hervorbringt. Der Begriff hat nicht bloß
die Rolle einer Summe, eines Zusammenfassenden, welches
sein Objekt außer sich hat; er ist mit demselben vollkommen
eins geworden. Was wir anschauen, ist nicht mehr verschieden
von dem, wodurch wir das Angeschaute denken;
wir schauen den Begriff als Idee selbst an. Daher nennt
Goethe das Vermögen, wodurch wir die organische Natur
begreifen, anschauende Urteilskraft. Das Erklärende - das
Formelle der Erkenntnis, der Begriff - und das Erklärte -
das Materielle, die Anschauung - sind identisch. Die Idee,
durch welche wir das Organische erfassen, ist somit wesentlich
verschieden von dem Begriffe, durch den wir das
Unorganische erklären; sie faßt ein gegebenes Mannigfaltige
nicht bloß - wie eine Summe - zusammen, sondern setzt
ihren eigenen Inhalt aus sich heraus. Sie ist Resultat des
Gegebenen (der Erfahrung), konkrete Erscheinung. Hierin
liegt der Grund, warum wir in der unorganischen Naturwissenschaft
von Gesetzen (Naturgesetzen) sprechen und
die Tatsachen durch sie erklären, in der organischen Natur
dies dagegen durch Typen tun. Das Gesetz ist mit der
Mannigfaltigkeit der Anschauung, die es beherrscht, nicht
ein und dasselbe, es steht über ihr; im Typus aber ist Ideelles
und Reales zur Einheit geworden, das Mannigfaltige kann
nur als ausgehend von einem Punkte des mit ihm identischen
Ganzen erklärt werden.
In der Erkenntnis dieses Verhältnisses zwischen der
Wissenschaft des Unorganischen und jener des Organischen
liegt das Bedeutsame Goethescher Forschung. Man irrt daher,
wenn man heute vielfach die letztere für eine Vorausnahme
jenes Monismus erklärt, welcher eine das Organische
wie das Unorganische umfassende einheitliche Naturanschauung
dadurch begründen will, daß er das erstere auf
dieselben Gesetze - die mechanisch-physikalischen Kategorien
und Naturgesetze - zurückzuführen bestrebt ist, von
denen das letztere bedingt wird. Wie Goethe sich eine monistische
Anschauung denkt, haben wir gesehen. Die Art,
wie er das Organische erklärt, ist wesentlich verschieden
von der, wie er beim Unorganischen vorgeht. Er will die
mechanische Erklärungsweise streng abgelehnt wissen bei
dem, was höherer Art ist (siehe «Sprüche in Prosa» [Natw.
Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 413]). Er tadelt an Kieser und
Link, daß sie die organischen Erscheinungen auf unorganische
Wirkungsweisen zurückführen wollen. (Ebenda 1.
Bd., S. 198 u. 206.)
Die Veranlassung zu der angedeuteten irrtümlichen Ansicht
über Goethe hat das Verhältnis gegeben, in das er sich
zu Kant in bezug auf die Möglichkeit einer Erkenntnis der
organischen Natur gesetzt hat. Wenn aber Kant behauptet,
daß unser Verstand die organische Natur nicht zu erklären
vermag, so meint er damit gewiß nicht, daß sie auf
mechanischer Gesetzlichkeit beruhe, und er sie nur als eine
Folge mechanisch-physikalischer Kategorien nicht fassen
kann. Der Grund von diesem Unvermögen liegt nach Kant
vielmehr gerade darin, daß unser Verstand bloß Mechanisch-
Physikalisches erklären könne und das Wesen des
Organismus nicht dieser Natur ist. Wäre es dieses, so
könnte der Verstand vermöge der ihm zu Gebote stehenden
Kategorien es sehr wohl begreifen. Goethe denkt nun
nicht etwa daran, die organische Welt trotz Kant als Mechanismus
zu erklären; sondern er behauptet, daß uns das
Vermögen keineswegs abgehe, die höhere Art der Naturwirksamkeit,
welche das Wesen des Organischen begründet,
zu erkennen.
Indem wir das vorhin Gesagte erwägen, tritt uns sogleich
ein wesentlicher Unterschied zwischen anorganischer
und organischer Natur entgegen. Weil dort jeder beliebige
Prozeß einen anderen bewirken kann, dieser wieder einen
anderen usf., so erscheint die Reihe der Vorgänge nirgends
als eine geschlossene. Alles ist in steter Wechselwirkung,
ohne daß sich eine gewisse Gruppe von Objekten der Einwirkung
anderer gegenüber abzuschließen vermöchte. Die
anorganischen Wirkungsreihen haben nirgends Anfang und
Ende; das folgende steht mit dem vorhergehenden nur in
einem zufälligen Zusammenhange. Fällt ein Stein zur Erde,
so hängt es von der zufälligen Form des Objektes, auf welches
er fällt, ab, welche Wirkung er ausübt. Anders nun ist
die Sache in einem Organismus. Hier ist die Einheit das
erste. Die auf sich gebaute Entelechie enthält eine Anzahl
sinnlicher Gestaltungsformen, von denen eine die erste, eine
andere die letzte sein muß; bei denen nur immer in ganz
bestimmter Weise die eine auf die andere folgen kann. Die
ideelle Einheit setzt aus sich heraus eine Reihe sinnenfälliger
Organe in zeitlicher Aufeinanderfolge und in räumlichem
Nebeneinandersein und schließt sich in ganz bestimmter
Weise von der übrigen Natur ab. Sie setzt ihre Zustände
aus sich heraus. Daher sind sie auch nur in der Weise zu begreifen,
daß man das aus einer ideellen Einheit hervorgehende
Gestalten aufeinanderfolgender Zustände verfolgt,
d. h. ein organisches Wesen ist nur in seinem Werden, in
seiner Entwicklung zu verstehen. Der unorganische Körper
ist abgeschlossen, starr, nur von außen zu erregen, innen
unbeweglich. Der Organismus ist die Unruhe in sich
selbst, vom Innern heraus stets sich umbildend, verwandelnd,
Metamorphosen bildend. Darauf beziehen sich folgende
Aussprüche Goethes: «Die Vernunft ist auf das Werdende,
der Verstand auf das Gewordene angewiesen; jene
bekümmert sich nicht: wozu? dieser fragt nicht: woher? -
Sie erfreut sich am Entwickeln; er wünscht alles festzuhalten,
damit er es nutzen könne» («Sprüche in Prosa»;
Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 373) und «Die Vernunft
hat nur über das Lebendige Herrschaft; die entstandene
Welt, mit der sich die Geognosie abgibt, ist tot.» [Ebenda
S.373]
Der Organismus tritt uns in der Natur in zwei Hauptformen
entgegen: als Pflanze und als Tier; in beiden auf
verschiedene Weise. Die Pflanze unterscheidet sich vom
Tiere durch den Mangel eines realen Innenlebens. Beim
Tiere tritt das letztere als Empfindung, willkürliche Bewegung
usw. auf. Die Pflanze hat ein solches seelisches Prinzip
nicht. Sie geht noch ganz in ihrer Äußerlichkeit, in der
Gestalt auf. Indem jenes entelechische Prinzip gleichsam
von einem Punkte aus das Leben bestimmt, tritt es uns in
der Pflanze in der Weise entgegen, daß alle einzelnen Organe
nach demselben Gestaltungsprinzipe gebildet sind. Die
Entelechie erscheint hier als Gestaltungskraft der einzelnen
Organe. Letztere sind alle nach einem und demselben
Bildungstypus gebaut, sie erscheinen als Modifikationen
eines Grundorganes, als Wiederholung desselben auf verschiedenen
Entwicklungsstufen. Das, was die Pflanze zur
Pflanze macht, eine gewisse formbildende Kraft, ist in jedem
Organe auf gleiche Weise wirksam. Jedes Organ erscheint
so als identisch mit allen anderen und auch mit der
ganzen Pflanze. Goethe drückt dies so aus: «Es ist mir
nämlich aufgegangen, daß in demjenigen Organ der
Pflanze, weiches wir als Blatt gewöhnlich anzusprechen
pflegen, der wahre Proteus verborgen liege, der sich in
allen Gestaltungen verstecken und offenbaren könne. Vorwärts
und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit
dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint, daß man
eins ohne das andere nicht denken darf.»74 Die Pflanze erscheint
so gleichsam aus lauter einzelnen Pflanzen zusammengesetzt,
als ein komplizierteres Individuum, das wieder
aus einfacheren besteht. Die Bildung der Pflanze schreitet
also von Stufe zu Stufe vor und bildet Organe; jedes
Organ ist mit jedem andern identisch, d. h. dem Bildungsprinzipe
nach gleich, der Erscheinung nach verschieden.
Die innere Einheit dehnt sich bei der Pflanze gleichsam
in die Breite, sie lebt sich in der Mannigfaltigkeit aus, verliert
sich in derselben, so daß sie nicht, wie wir dies später
74 [Italienische Reise, 17. Mai 1787.]
am Tiere sehen werden, ein mit einer gewissen Selbständigkeit
ausgestattetes konkretes Dasein gewinnt, welches als
Lebenszentrum der Mannigfaltigkeit der Organe gegenübertritt
und sie als Vermittler mit der Außenwelt gebraucht.
Es entsteht nun die Frage: Wodurch wird jene Verschiedenheit
in der Erscheinung der dem inneren Prinzipe
nach identischen Pflanzenorgane herbeigeführt? Wie ist es
den Bildungsgesetzen, die alle nach einem Gestaltungsprinzipe
wirken, möglich, das eine Mal ein Laubblatt, das andere
Mal ein Kelchblatt hervorzubringen? Die Verschiedenheit
kann bei dem ganz in der Äußerlichkeit liegenden Leben
der Pflanze auch nur auf äußerlichen, d. h. räumlichen
Momenten beruhen. Als solche sieht Goethe nun eine abwechselnde
Ausdehnung und Zusammenziehung an. Indem
das entelechische, aus einem Punkte wirkende Prinzip des
Pflanzenlebens ins Dasein tritt, manifestiert es sich als
räumlich, die Bildungskräfte wirken im Raume. Sie erzeugen
Organe von bestimmter räumlicher Form. Nun
konzentrieren sich diese Kräfte entweder, sie streben gleichsam
in einen einzigen Punkt zusammen; und dies ist das
Stadium der Zusammenziehung, oder sie breiten sich aus,
entfalten sich, sie trachten sich gewissermaßen voneinander
zu entfernen: dies ist das Stadium der Ausdehnung. Im
ganzen Leben der Pflanze wechseln drei Ausdehnungen
mit drei Zusammenziehungen. Alles, was in die dem Wesen
nach identischen Bildungskräfte der Pflanze Verschiedenes
hineinkommt, rührt von dieser wechselnden Ausdehnung
und Zusammenziehung her. Zuerst ruht die ganze
Pflanze der Möglichkeit nach auf einen Punkt zusammengezogen
im Samen (a). Daraus tritt sie nun hervor und entfaltet
sich, dehnt sich aus in der Blattbildung (c). Die Bildungskräfte
stoßen sich immer mehr ab, daher erscheinen
die unteren Blätter noch roh, kompakt (cc'); je weiter aufwärts,
desto gerippter, gezackter werden sie. Was sich vorher
noch aneinanderdrangte, tritt jetzt auseinander (Blatt
d und e). Was früher in aufeinanderfolgenden Zwischenräumen
(zz') stand, das tritt in der Kelchbildung (f) wieder
an einem Punkte des Stengels auf (w). Die letztere bildet
die zweite Zusammenziehung. In der Blumenkrone tritt
neuerdings eine Entfaltung, Ausbreitung ein. Die Blumenblätter
(g) sind im Vergleiche zu den Kelchblättern feiner,
zarter; was nur von einer geringeren Intensität auf einem
Punkte, also von einer größeren Extension der Bildungskräfte
herrühren kann. In den Geschlechtsorganen [Staubgefäßen
(h) und Stempel (i)] tritt die nächste Zusammenziehung
ein, worauf in der Fruchtbildung (k) eine neue
Ausdehnung stattfindet. In dem aus der Frucht hervorgehenden
Samen (a) erscheint wieder das ganze Wesen der
Pflanze auf einen Punkt zusammengedrängt.75
Die ganze Pflanze stellt nur eine Entfaltung, eine Realisation
des in der Knospe oder im Samen der Möglichkeit
nach Ruhendem dar. Knospe und Same brauchen nur die
geeigneten äußeren Einflüsse, um zu vollkommenen Pflanzenbildungen
zu werden. Der Unterschied zwischen Knospe
und Same ist nur dieser, daß der letztere unmittelbar die
Erde zum Boden seiner Entfaltung hat, während die erstere
im allgemeinen eine Pflanzenbildung auf einer Pflanze
selbst darstellt. Der Same stellt ein Pflanzenindividuum
höherer Art dar, oder, wenn man will, einen ganzen Kreis
von Pflanzengebilden. Die Pflanze beginnt gleichsam mit
jeder Knospenbildung ein neues Stadium ihres Lebens, sie
regeneriert sich, sie konzentriert ihre Kräfte, um sie von
neuem wieder zu entfalten. Die Knospenbildung ist also
zugleich eine Unterbrechung der Vegetation. Das Pflanzenleben
kann sich zur Knospe zusammenziehen, wenn die
Bedingungen eigentlichen realen Lebens mangeln, um sich
bei Eintritt derselben neuerdings zu entfalten. Die Unter-
75 Die Frucht entsteht durch Auswachsung des unteren Teiles des
Stempels (Fruchtknotens 1); sie stellt ein späteres Stadium desselben
dar, kann also nur getrennt gezeichnet werden. In der Fruchtbildung
tritt die letzte Ausdehnung ein. Das Pflanzenleben differenziert sich
in ein abschließendes Organ, eigentliche Frucht, und in den Samen;
in der ersteren sind gleichsam alle Momente der Erscheinung
vereinigt, sie ist bloße Erscheinung, sie entfremdet sich dem Leben,
wird totes Produkt. Im Samen sind alle inneren, wesentlichen Momente
des Pflanzenlebens konzentriert. Aus ihm entsteht eine neue
Pflanze. Er ist fast ganz ideell geworden, die Erscheinung ist bei
ihm auf ein Minimum reduziert.
brechung der Vegetation im Winter beruht darauf. Goethe
sagt darüber76: «Es ist gar interessant, zu bemerken, wie
eine lebhaft fortgesetzte und durch starke Kälte nicht unterbrochene
Vegetation wirkt; hier gibt's keine Knospen,
und man lernt erst begreifen, was eine Knospe sei.» Was
also bei uns in der Knospe verborgen ruht, ist dort offen
am Tage; es ist also wahres Pflanzenleben, was in der letzteren
liegt; nur fehlen die Bedingungen seiner Entfaltung.
Man hat sich nun ganz besonders gegen den Begriff
abwechselnder Ausdehnung und Zusammenziehung bei
Goethe gewendet. Alle Angriffe darauf aber gehen von einem
Mißverständnisse aus. Man glaubt, daß diese Begriffe
nur dann Gültigkeit haben könnten, wenn sich eine physikalische
Ursache für sie finden ließe, wenn man eine Wirkungsweise
der in der Pflanze wirkenden Gesetze nachweisen
könnte, aus welcher ein solches Ausdehnen und Zusammenziehen
folge. Dies zeigt nur, daß man die Sache auf die
Spitze statt auf die Basis stellt. Es ist nichts vorauszusetzen,
was die Ausdehnung oder Zusammenziehung bewirkt; im
Gegenteile: alles andere ist Folge der ersteren, sie bewirken
eine fortschreitende Metamorphose von Stufe zu Stufe.
Man kann sich eben den Begriff nicht in seiner selbsteigenen,
in seiner intuitiven Form vorstellen; man verlangt,
daß er das Resultat eines äußeren Vorganges darstellen soll.
Man kann sich Ausdehnung und Zusammenziehung nur als
bewirkt, nicht als bewirkend denken. Goethe sieht Ausdehnung
und Zusammenziehung nicht so an, als ob sie aus
der Natur der an der Pflanze vor sich gehenden unorganischen
Prozesse folgen würden, sondern er betrachtet sie als
die Art, wie sich jenes innere entelechische Prinzip gestal-
76 Italienische Reise, 2. Dez. 1786.
tet. Er konnte sie also nicht als Summe, als Zusammenfassung
sinnenfälliger Vorgänge ansehen und aus solchen deduzieren,
sondern er mußte sie als eine Folge des innern
einheitlichen Prinzips selbst ableiten.
Das Pflanzenleben wird unterhalten durch den Stoffwechsel.
In bezug auf diesen tritt eine wesentliche Verschiedenheit
zwischen jenen Organen ein, welche näher
der Wurzel sind, d. h. dem Organe, das die Nahrungsaufnahme
aus der Erde besorgt, und jenen, welche den bereits
durch andere Organe hindurchgegangenen Nahrungsstoff
bekommen. Erstere erscheinen unmittelbar von ihrer äußeren
anorganischen Umgebung abhängig, diese dagegen von
den ihnen vorhergehenden organischen Teilen. Jedes folgende
Organ erhält daher eine gleichsam für sich, durch
das vorhergehende zubereitete Nahrung. Die Natur schreitet
vom Samen zur Frucht in einer Stufenfolge fort, so daß
das Nachfolgende als Resultat des Vorangehenden erscheint.
Und dieses Fortschreiten nennt Goethe ein Fortschreiten
auf einer geistigen Leiter. Nichts weiter als das
von uns Angedeutete liegt in seinen Worten, «daß ein oberer
Knoten, indem er aus dem vorhergehenden entsteht
und die Säfte mittelbar durch ihn empfängt, solche feiner
und filtrierter erhalten, auch von der inzwischen geschehenen
Einwirkung der Blätter genießen, sich selbst feiner
ausbilden und seinen Blättern und Augen feinere Säfte zubringen
müsse». Alle diese Dinge werden verständlich,
wenn man ihnen den von Goethe gemeinten Sinn beilegt.
Die hier dargelegten Ideen sind die im Wesen der Urpflanze
gelegenen Elemente und zwar in der bloß dieser
selbst angemessenen Weise, nicht so, wie sie in einer bestimmten
Pflanze zur Erscheinung kommen, wo sie nicht
mehr ursprünglich, sondern den äußeren Verhältnissen angemessen
sind.
Beim Tierleben tritt nun freilich etwas anderes ein. Das
Leben verliert sich hier nicht in der Äußerlichkeit, sondern
es separiert sich, sondert sich von der Körperlichkeit ab
und gebraucht die körperliche Erscheinung nur noch als
sein Werkzeug. Es äußert sich nicht mehr als bloßes Vermögen,
einen Organismus von innen heraus zu gestalten,
sondern es äußert sich in einem Organismus als etwas, was
noch außer dem Organismus, als dessen beherrschende
Macht, da ist. Das Tier erscheint als eine in sich beschlossene
Welt, ein Mikrokosmos in viel höherem Sinne als die
Pflanze. Es hat ein Zentrum, dem jedes Organ dient.
«So ist jeglicher Mund geschickt die Speise zu fassen,
Welche dem Körper gebührt, es sei nun schwächlich und zahnlos
Oder mächtig der Kiefer gezähnt; in jeglichem Falle
Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung.
Auch bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze
Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis.»77
Bei der Pflanze ist in jedem Organ die ganze Pflanze,
aber das Lebensprinzip existiert nirgends als ein bestimmtes
Zentrum, die Identität der Organe liegt in der Gestaltung
nach denselben Gesetzen. Beim Tiere erscheint jedes
Organ als aus jenem Zentrum kommend, das Zentrum bildet
seinem Wesen gemäß alle Organe. Die Gestalt des Tieres
ist also die Grundlage für sein äußerliches Dasein. Sie
ist aber von innen bestimmt. Die Lebensweise muß sich also
nach jenen inneren Gestaltungsprinzipien richten. Andrerseits
ist die innere Bildung in sich unumschränkt, frei; sie
77 [«Metamorphose der Tiere»]; vgl. Natw. Schr., 1. Bd., S. 344.
kann sich den äußeren Einflüssen innerhalb gewisser Grenzen
fügen; doch ist diese Bildung eine durch die innere Natur
des Typus und nicht durch mechanische Einwirkungen
von außen bestimmte. Die Anpassung kann also nicht so
weit gehen, daß sie den Organismus nur als ein Produkt
der Außenwelt erscheinen ließe. Seine Bildung ist eine in
Grenzen eingeschränkte.
«Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie;
Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich.»78
Wäre jedes tierische Wesen nur den im Urtier liegenden
Prinzipien gemäß, so wären sie alle gleich. Nun aber gliedert
sich der tierische Organismus in eine Menge von Organsystemen,
die jedes bis zu einem bestimmten Grad der
Ausbildung kommen können. Dieses begründet nun eine
verschiedenartige Entwicklung. Der Idee nach gleichberechtigt
mit allen andern, kann sich doch ein System besonders
in den Vordergrund drängen, kann den im tierischen
Organismus liegenden Vorrat von Bildungskräften auf sich
verwenden und ihn den anderen Organen entziehen. Das
Tier erscheint so nach der Richtung jenes Organsystems hin
besonders ausgebildet. Ein anderes Tier erscheint nach einer
anderen Richtung gebildet. Hierin liegt die Möglichkeit
der Differenzierung des Urorganismus bei seinem Übergange
in die Erscheinung in Gattungen und Arten.
Die wirklichen (tatsächlichen) Ursachen der Differenzierung
sind damit aber noch nicht gegeben. Hier treten in
ihre Rechte: die Anpassung, welcher zufolge der Organismus
den ihn umgebenden äußeren Verhältnissen gemäß
[Metamorphose der Tiere, a. a. O. S. 345.]
gestaltet, und der Kampf ums Dasein, der darauf hinarbeitet,
daß nur die den obwaltenden Umständen am besten
angepaßten Wesen sich erhalten. Anpassung und Kampf
ums Dasein könnten aber am Organismus gar nichts bewirken,
wenn das den Organismus konstituierende Prinzip
nicht ein solches wäre, das bei stets aufrecht erhaltener innerer
Einheit die mannigfaltigsten Formen annehmen kann.
Der Zusammenhang der äußeren Bildungskräfte mit diesem
Prinzipe ist keineswegs so aufzufassen, als wenn die ersteren
auf die letzteren etwa in der Art bestimmend einwirkten,
wie ein unorganisches Wesen auf ein anderes. Die äußeren
Verhältnisse sind zwar die Veranlassung, daß sich der
Typus in einer bestimmten Form ausbildet; diese Form
selbst aber ist nicht aus den äußeren Bedingungen, sondern
aus dem inneren Prinzipe herzuleiten. Man wird bei dieser
Erklärung die ersteren immer aufzusuchen haben, die
Gestalt selbst aber hat man nicht als ihre Folge zu betrachten.
Das Ableiten von Gestaltungsformen eines Organismus
aus der umgebenden Außenwelt durch bloße Kausalität
würde Goethe geradeso verworfen haben, wie er es mit
dem teleologischen Prinzip getan hat, wonach die Form
eines Organes auf einen äußeren Zweck, dem es zu dienen
hätte, zurückgeführt wurde.
Bei denjenigen Organsystemen des Tieres, bei denen es
mehr auf die Äußerlichkeit des Baues ankommt, z. B. bei
den Knochen, da tritt auch jenes bei den Pflanzen beobachtete
Gesetz wieder hervor, wie bei der Bildung der Schädelknochen.
Die Gabe Goethes, die innere Gesetzmäßigkeit in
rein äußerlichen Formen zu erkennen, tritt hier ganz besonders
hervor.
Der Unterschied, der mit diesen Anschauungen Goethes
zwischen Pflanze und Tier festgestellt wird, könnte belanglos
erscheinen angesichts dessen, daß die neuere Wissenschaft
Gründe zu berechtigten Zweifeln an einer festen
Grenze zwischen Pflanze und Tier hat. Der Unmöglichkeit
der Aufstellung einer solchen Grenze war sich aber
Goethe schon bewußt (siehe Natw. Schr., 1. Bd., S. 11).
Dennoch gibt es bestimmte Definitionen von Pflanze und
Tier. Das hängt mit seiner ganzen Naturanschauung zusammen.
Er nimmt in der Erscheinung überhaupt kein
Konstantes, Festes an; denn in letzterer schwankt alles in
steter Bewegung. Das im Begriffe festzuhaltende Wesen
einer Sache ist aber nicht schwankenden Formen zu entnehmen,
sondern gewissen mittleren Stufen, auf denen es
sich beobachten läßt (siehe a. a. O., S. 8). Es ist für Goethes
Anschauung ganz natürlich, daß man bestimmte Definitionen
aufstellt und diese trotzdem in der Erfahrung von gewissen
Übergangsgebilden nicht festgehalten werden. Ja
er sieht gerade darin das bewegliche Leben der Natur.
Mit diesen Ideen hat Goethe die theoretische Grundlage
für die organische Wissenschaft begründet. Er hat das Wesen
des Organismus gefunden. Man kann dieses leicht verkennen,
wenn man verlangt, daß der Typus, jenes sich aus
sich heraus gestaltete Prinzip (Entelechie), selbst durch etwas
anderes erklärt werden solle. Aber dies ist eine unbegründete
Forderung, weil der Typus, in intuitiver Form
festgehalten, sich selbst erklärt. Für jeden, der jenes «Sichnach-
sich-selbst-Formen» des entelechischen Prinzipes erfaßt
hat, bildet dieses die Lösung des Lebensrätsels. Eine
andere Losung ist unmöglich, weil jene das Wesen der
Sache selbst ist. Wenn der Darwinismus einen Urorganismus
voraussetzen muß, so kann man von Goethe sagen,
daß er das Wesen jenes Urorganismus entdeckt hat.79 Goethe
ist es, welcher mit dem bloßen Nebeneinander reihen der
Gattungen und Arten brach und eine Regeneration der organischen
Wissenschaft dem Wesen des Organismus gemäß
vornahm. Während die Vor-Goethesche Systematik ebenso
viele verschiedene Begriffe (Ideen) brauchte, als äußerlich
verschiedene Gattungen existieren, zwischen denen sich
keine Vermittlung fand, erklärte Goethe, daß der Idee nach
alle Organismen gleich, nur der Erscheinung nach verschieden
sind; und er erklärte, warum sie es sind. Damit war die
philosophische Grundlage für ein wissenschaftliches System
der Organismen geschaffen. Es handelte sich nur noch
um die Ausführung desselben. Es müßte gezeigt werden, wie
alle realen Organismen nur Offenbarungen einer Idee seien
und wie sie sich in einem bestimmten Falle offenbaren.
Die große Tat, welche damit in der Wissenschaft getan
war, wurde auch mannigfach von tiefer gebildeten Gelehrten
anerkannt. Der jüngere d'Alton80 schreibt am 6.
79 In der modernen. Naturlehre versteht man unter Urorganismus gewöhnlich
eine Urzelle (Urzytode), d. h. ein einfaches Wesen, welches
auf der untersten Stufe der organischen Entwicklung steht. Man
hat hier ein ganz bestimmtes, reales, sinnenfällig wirkliches Wesen
im Auge. Wenn man im Goetheschen Sinne von Urorganismus
spricht, so ist nicht dieses ins Auge zu fassen, sondern jene Essenz
(Wesenheit), jenes gestaltende, entelechische Prinzip, welches bewirkt,
daß jene Urzelle ein Organismus ist. Dieses Prinzip kommt
im einfachsten Organismus ebenso wie im vollendetsten zur Erscheinung,
nur in verschiedener Ausbildung. Es ist die Tierheit im Tiere,
das, wodurch ein Wesen ein Organismus ist. Darwin setzt es von
Anfang an voraus; es ist da, wird eingeführt und dann sagt er von
ihm, daß es auf die Einflüsse der Außenwelt in dieser oder jener
Weise reagierte. Es ist bei ihm ein unbestimmtes X, dieses unbestimmte
X sucht Goethe zu erklären.
80 Goethes Naturwissenschaftliche Korrespondenz (1812-1823), hg. v.
F. TL Bratranek, 1. Bd., [Leipzig 1874,] S. 28.
Juli 1827 an Goethe: «Ich würde es für die schönste Belohnung
erachten, wenn Euer Exzellenz, dem die Naturwissenschaft
nicht allein eine völlige Umgestaltung in
großartigen Überblicken und neuen Ansichten der Botanik,
sondern selbst vielfache treffliche Bereicherungen in dem
Gebiete der Knochenlehre verdankt, in vorliegenden Blättern
ein beifallswertes Bestreben erkennten.» Nees von
Esenbeck81 am 24. Juni 1820: «In Ihrer Schrift, die Sie
einen <Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären>,
nannten, hat zuerst die Pflanze unter uns über sich
selbst geredet und in dieser schönen Vermenschlichung auch
mich, als ich noch jung war, bestrickt.» Endlich Voigt82
am 6. Juni 1831: «Mit lebhafter Teilnahme und untertänigem
Dank habe ich die kleine Schrift über die Metamorphose
empfangen, welche mich als so frühen Teilnehmer an
dieser Lehre nun auch auf das verbindlichste historisch
einverleibt. Es ist sonderbar, man ist gegen die animalische
Metamorphose - ich meine nicht die alte der Insekten, sondern
die von der Wirbelsäule ausgehende - billiger gewesen,
als gegen die vegetabilische. Abgesehen von den Plagiaten
und Mißbräuchen, möchte die stille Anerkennung
darin ihren Grund haben, daß man bei ihr weniger zu riskieren
glaubte. Denn beim Skelett bleiben die isolierten
Knochen ewig dieselben, in der Botanik aber droht die Metamorphose
die ganze Terminologie und folglich die Bestimmung
der Spezies umzuwerfen, und da fürchten sich
denn die Schwachen, weil sie nicht wissen, wohin so etwas
führen könne.» Hier ist volles Verständnis der Goetheschen
Ideen vorhanden. Es ist das Bewußtsein da, daß eine neue
81 Ebenda, 2. Bd., [Leipzig 1874] S. 19 f.
82 Ebenda, 2. Bd., S. 366.
Art der Anschauung des Individuellen Platz greifen müsse;
und aus dieser neuen Anschauung sollte erst die neue Systematik,
die Betrachtung des Besonderen hervorgehen. Der
auf sich selbst gebaute Typus enthält die Möglichkeit, bei
seinem Eintreten in die Erscheinung unendlich mannigfaltige
Formen anzunehmen; und diese Formen sind der Gegenstand
unserer sinnlichen Anschauung, sie sind die im
Raume und in der Zeit lebenden Gattungen und Arten der
Organismen. Indem unser Geist jene allgemeine Idee, den
Typus erfaßt, hat er das ganze Organismenreich in seiner
Einheit begriffen. Wenn er nun die Gestaltung des Typus in
jeder besonderen Erscheinungsform anschaut, wird ihm die
letztere begreiflich; sie erscheint ihm als eine der Stufen,
der Metamorphosen, in denen sich der Typus verwirklicht.
Und diese verschiedenen Stufen aufzuzeigen, sollte das Wesen
der durch Goethe zu begründenden Systematik sein. Sowohl
im Tier- wie im Pflanzenreiche herrscht eine aufsteigende
Entwicklungsreihe; die Organismen gliedern sich
in vollkommene und unvollkommene. Wie ist dieses möglich?
Die ideelle Form, der Typus der Organismen hat eben
das Charakteristische, daß er aus räumlich zeitlichen Elementen
besteht. Es erschien deshalb auch Goethe als eine
sinnlich-übersinnliche Form. Er enthält räumlich-zeitliche
Formen als ideelle Anschauung (intuitiv). Wenn er nun in
die Erscheinung tritt, kann die wahrhaft (nicht mehr intuitiv)
sinnliche Form jener ideellen völlig entsprechen oder
nicht; es kann der Typus zu seiner vollkommenen Ausbildung
kommen oder nicht. Die niederen Organismen sind
eben dadurch die niederen, daß ihre Erscheinungsform
nicht völlig dem organischen Typus entspricht. Je mehr
äußere Erscheinung und organischer Typus in einem bestimmten
Wesen sich decken, desto vollkommener ist dasselbe.
Dies ist der objektive Grund einer aufsteigenden Entwicklungsreihe.
Die Aufzeigung dieses Verhältnisses bei
jeder Organismenform ist die Aufgabe einer systematischen
Darstellung. Bei Aufstellung des Typus, der Urorganismen,
kann aber hierauf keine Rücksicht genommen
werden; es kann sich dabei nur darum handeln, eine Form
zu finden, welche den vollkommensten Ausdruck des Typus
darstellt. Eine solche soll Goethes Urpflanze bieten.
Man hat Goethe den Vorwurf gemacht, daß er bei Aufstellung
seines Typus auf die Welt der Kryptogamen keine
Rücksicht genommen habe. Wir haben schon früher darauf
hingewiesen, daß dieses nur in völlig bewußter Weise
geschehen kann, da er sich mit dem Studium dieser Pflanzen
auch beschäftigt hat. Es hat aber seinen objektiven
Grund. Die Kryptogamen sind eben jene Pflanzen, in denen
die Urpflanze nur höchst einseitig zum Ausdrucke kommt;
sie stellen die Pflanzenidee in einer einseitigen sinnenfälligen
Form dar. Sie können an der aufgestellten Idee beurteilt
werden; diese selbst aber kommt in den Phanerogamen
erst zu ihrem völligen Ausbruche.
Was aber hier zu sagen ist, ist dieses, daß Goethe diese
Ausführung seiner Grundgedanken nie vollbracht hat, daß
er das Reich des Besonderen zu wenig betreten hat. Daher
bleiben alle seine Arbeiten fragmentarisch. Seine Absicht,
auch hier Licht zu schaffen, zeigen uns seine Worte in der
«Italienischen Reise» (27. September 1786), daß es ihm mit
Hilfe seiner Ideen möglich sein werde, «Geschlechter und
Arten wahrhaft zu bestimmen, welches, wie mich dünkt,
bisher sehr willkürlich geschieht». Dieses Vorhaben hat er
nicht ausgeführt, den Zusammenhang seiner allgemeinen
Gedanken mit der Welt des Besonderen, mit der Wirklichkeit
der einzelnen Formen nicht besonders dargelegt. Dies
sah er selbst als einen Mangel seiner Fragmente an; er
schreibt am 28. Juni 1828 darauf bezüglich an [F. J.] Soret
von de Candolle: «Auch wird mir immer klarer, wie
er die Intentionen ansieht, in denen ich mich fortbewege
und die in meinem kurzen Aufsatze über die Metamorphose
zwar deutlich genug ausgesprochen sind, deren Bezug aber
auf die Erfahrungsbotanik, wie ich längst weiß, nicht deutlich
genug hervorgeht.» [WA 44, 161] Dies ist wohl auch
der Grund, warum Goethes Anschauungen so mißverstanden
wurden; denn sie wurden es nur deshalb, weil sie überhaupt
nicht verstanden wurden.
In Goethes Begriffen erhalten wir auch eine ideelle Erklärung
für die durch Darwin und Haeckel gefundene Tatsache,
daß die Entwicklungsgeschichte des Individuums eine
Repetition der Stammesgeschichte repräsentiert. Denn für
mehr als eine unerklärte Tatsache kann das, was Haeckel
hier bietet, doch nicht genommen werden. Es ist die Tatsache*,
daß jedes Individuum alle jene Entwicklungsstadien
in abgekürzter Form durchmacht, welche uns zugleich
die Paläontologie als gesonderte organische Formen aufweist.
Haeckel und seine Anhänger erklären dieses aus dem
Gesetze der Vererbung. Aber letzteres ist selbst nichts anderes
als ein abgekürzter Ausdruck für die angeführte Tatsache.
Die Erklärung dafür ist, daß jene Formen sowie jedes
Individuum die Erscheinungsformen eines und desselben
Urbildes sind, welches in aufeinanderfolgenden Zeitperioden
die der Möglichkeit nach in ihm liegenden Gestaltungskräfte
zur Entfaltung bringt. Jedes höhere Individuum
ist eben dadurch vollkommener, daß es durch die
günstigen Einflüsse seiner Umgebung nicht gehindert wird,
sich seiner inneren Natur nach völlig frei zu entfalten.
Muß das Individuum dagegen durch verschiedene Einwirkungen
gezwungen auf einer niedrigeren Stufe stehenbleiben,
so kommen nur einige von seinen inneren Kräften zur
Erscheinung, und es ist dann bei ihm das ein Ganzes, was bei
jenem vollkommeneren Individuum nur ein Teil eines Ganzen
ist. Und auf diese Weise erscheint der höhere Organismus
in seiner Entwicklung aus den niedrigeren zusammengesetzt
oder auch die niedrigeren erscheinen in ihrer Entwicklung
als Teile des höheren. Wir müssen daher in der
Entwicklung eines höheren Tieres die Entwicklung aller
niedrigeren wieder erblicken (biogenetisches Gesetz). Sowie
der Physiker nicht damit zufrieden ist, bloß die Tatsachen
auszusprechen und zu beschreiben, sondern nach
den Gesetzen derselben forscht, d. h. nach den Begriffen
der Erscheinungen, so kann es auch demjenigen, der in die
Natur der organischen Wesen eindringen will, nicht genügen,
wenn er bloß die Tatsachen der Verwandtschaft,
Vererbung, Kampf ums Dasein usw. anführt, sondern er
will die diesen Dingen zugrunde liegenden Ideen erkennen.
Dieses Streben finden wir bei Goethe. Was dem Physiker
die drei Keplerschen Gesetze, das sind dem Organiker die
Goetheschen Typusgedanken. Ohne sie ist uns die Welt ein
bloßes Labyrinth von Tatsachen. Dies wurde oft mißverstanden.
Man behauptet, der Begriff der Metamorphose im
Sinne Goethes wäre ein bloßes Bild, das sich im Grunde
nur in unserem Verstande durch Abstraktion vollzogen hat.
Es wäre Goethe unklar gewesen, daß der Begriff von Verwandlung
der Blätter in Blütenorgane nur dann einen Sinn
habe, wenn letztere, z. B. die Staubgefäße, einmal wirkliche
Blätter waren. Allein dies stellt Goethes Anschauungen auf
den Kopf. Es wird ein sinnenfälliges Organ zum prinzipiell
ersten gemacht und das andere auf sinnenfällige Weise daraus
abgeleitet. So hat es Goethe nie gemeint. Bei ihm ist dasjenige,
welches der Zeit nach das erste ist, durchaus nicht
auch der Idee, dem Prinzipe nach das erste. Nicht weil die
Staubgefäße einmal wahre Blätter waren, sind sie letzteren
heute verwandt; nein, sondern weil sie ideell, ihrem inneren
Wesen nach verwandt sind, erschienen sie einmal als
wahre Blätter, Die sinnliche Verwandlung ist nur Folge
der ideellen Verwandtschaft und nicht umgekehrt. Heute
ist der empirische Tatbestand der Identität aller Seitenorgane
der Pflanze bestimmt, aber warum nennt man diese
identisch? Nach Schieiden, weil sich dieselben an der Achse
alle so entwickeln, daß sie als seitliche Hervorragungen hinausgeschoben
werden, in der Weise, daß die seitliche Zellenbildung
nur an dem ursprünglichen Körper bleibt und
an der zuerst gebildeten Spitze sich keine neuen Zellen bilden.
Dies ist eine rein äußerliche Verwandtschaft, und man
betrachtet als die Folge davon die Idee der Identität. Anders
ist die Sache wieder bei Goethe. Die Seitenorgane sind
bei ihm ihrer Idee, ihrem inneren Wesen nach identisch;
daher erscheinen sie auch nach außen als identische Bildungen.
Die sinnenfällige Verwandtschaft ist bei ihm eine
Folge der inneren, ideellen. Die Goethesche Auffassung unterscheidet
sich von der materialistischen durch die Fragestellungen;
beide widersprechen einander nicht, sie ergänzen
einander. Goethes Ideen bilden zu jener die Grundlage.
Nicht nur eine dichterische Prophezeiung späterer Entdekkungen
sind Goethes Ideen, sondern selbständige theoretische
Entdeckungen, die noch lange nicht genug gewürdigt
sind, an denen die Naturwissenschaft noch lange zehren
wird. Wenn die empirischen Tatsachen, die er benützte,
längst durch genauere Detailforschungen überholt, teilweise
sogar widerlegt sein werden; die aufgestellten Ideen
sind ein für allemal grundlegend für die Organik, denn sie
sind von jenen empirischen Tatsachen unabhängig. Wie
jeder neu aufgefundene Planet nach Keplers Gesetzen um
seinen Fixstern kreisen muß, so muß jeder Vorgang in der
organischen Natur nach Goethes Ideen geschehen. Lange
vor Kepler und Kopernikus sah man die Vorgänge am gestirnten
Himmel. Diese fanden erst die Gesetze. Lange vor
Goethe beobachtete man das organische Naturreich, Goethe
fand dessen Gesetze. Goethe ist der Kopernikus und Kepler
der organischen Welt.
Man kann sich das Wesen der Goetheschen Theorie auch
auf folgende Weise klar machen. Neben der gewöhnlichen
empirischen Mechanik, welche nur die Tatsachen sammelt,
gibt es noch eine rationale Mechanik, welche aus der inneren
Natur der mechanischen Grundprinzipien die aprioristischen
Gesetze als notwendige deduziert. Sowie die erstere
zur letzteren, so verhalten sich Darwins, Haeckels
usw. Theorien zur rationalen Organik Goethes. Diese Seite
seiner Theorie war Goethe vom Anfange an nicht sogleich
klar. Später freilich spricht er sie schon ganz entschieden
aus. Wenn er am 21. Januar 1832 an Heinr. Wilh. Ferd.
Wackenroder schreibt: «Fahren Sie fort, mit allem, was Sie
interessiert, mich bekannt zu machen; es schließt sich irgendwo
an meine Betrachtungen an» [WA 49,211 ], so will er damit
nur sagen, daß er die Grundprinzipien der organischen
Wissenschaft gefunden habe, aus denen sich alles übrige
müsse ableiten lassen. In früherer Zeit aber wirkte das alles
unbewußt in seinem Geiste und er behandelte die Tatsachen
darnach.83 Gegenständlich wurde es ihm erst durch jenes
erste wissenschaftliche Gespräch mit Schiller, welches wir
unten mitteilen.84 Schiller erkannte sogleich die ideelle Natur
von Goethes Urpflanze und behauptete, einer solchen
könne keine Wirklichkeit angemessen sein. Das regte Goethe
an, über das Verhältnis dessen, was er Typus nannte, zur
empirischen Wirklichkeit nachzudenken. Er traf hier auf
ein Problem, welches zu den bedeutsamsten des menschlichen
Forschens überhaupt gehört: das Problem des Zusammenhangs
von Idee und Wirklichkeit, von Denken und Erfahrung.
Das wurde ihm immer klarer: die einzelnen empirischen
Objekte entsprechen keines seinem Typus vollkommen;
kein Wesen der Natur war mit ihm identisch.
Der Inhalt des Typusbegriffes kann also nicht aus der Sinnenwelt
als solcher stammen, obwohl er an derselben gewonnen
wird. Er muß also in dem Typus selbst liegen; die
Idee des Urwesens konnte nur eine solche sein, welche vermöge
einer in ihr selbst liegenden Notwendigkeit einen Inhalt
aus sich entwickelt, der dann in anderer Form - in
Form der Anschauung - in der Erscheinungswelt auftritt.
Es ist in dieser Hinsicht interessant, zu sehen, wie Goethe
selbst empirischen Naturforschern gegenüber für die Rechte
der Erfahrung und die strenge Auseinanderhaltung von
Idee und Objekt eintritt. Sömmerring übersendet ihm im
Jahre 1786 ein Buch, in dem er (Sömmerring) den Versuch
macht, den Sitz der Seele zu entdecken. Goethe findet in
83 Goethe empfand dies sein unbewußtes Handeln oft als Dumpfheit.
Siehe K. J. Schröer, Faust von Goethe, 6. Aufl., Stuttgart 1926, Bd.
II, S. XXXIV ff.
84 Natw. Schr., 1. Bd., S. 108 ff.
einem Briefe, den er am 28. August 1796 an Sömmerring
richtet, daß dieser zu viel Metaphysik mit seinen Anschauungen
verwoben habe; eine Idee über Gegenstände der Erfahrung
habe keine Berechtigung, wenn sie über diese hinausginge,
wenn sie nicht im Wesen der Objekte selbst begründet
ist. Bei Objekten der Erfahrung sei die Idee ein
Organ, das als notwendigen Zusammenhang zu fassen, was
sonst im blinden Neben- und Nacheinander bloß wahrgenommen
würde. Daraus aber, daß die Idee nichts Neues zu
dem Objekte hinzubringen darf, folgt, daß das letztere
selbst, seinem eigenen Wesen nach ein Ideelles ist, daß überhaupt
die empirische Realität zwei Seiten haben muß: die
eine, wonach sie Besonderes, Individuelles, die andere, wonach
sie Ideell-Allgemeines ist.
Der Umgang mit den zeitgenössischen Philosophen sowie
die Lektüre der Werke derselben führte Goethe manchen
Gesichtspunkt in dieser Hinsicht zu. Schellings Werk
«Von der Weltseele» und dessen «[Erster] Entwurf eines
Systems der Naturphilosophie» ([Goethes] Annalen zu
1798-1799) sowie Steffens «Grundzüge der philosophischen
Naturwissenschaft» wirkten befruchtend auf ihn ein.
Auch mit Hegel wurde manches durchgesprochen. Diese
Anregungen führten endlich dahin, daß Kant, mit dem sich
Goethe schon einmal, durch Schiller angeregt, beschäftigt
hatte, wieder vorgenommen wurde. 1817 (siehe Annalen)
betrachtete er geschichtlich dessen Einfluß auf seine Ideen
über Natur und natürliche Dinge. Diesem auf das Zentrale
der Wissenschaft gehenden Nachdenken verdanken wir die
Aufsätze:
Glückliches Ereignis,
Anschauende Urteilskraft,
Bedenken und Ergebung,
Bildungstrieb,
Das Unternehmen wird entschuldigt,
Die Absicht eingeleitet,
Der Inhalt bevorwortet,
Geschichte meines botanischen Studiums,
Entstehen des Aufsatzes über Metamorphose der
Pflanzen.
Alle diese Aufsätze sprechen den oben schon angedeuteten
Gedanken aus, daß jedes Objekt zwei Seiten hat: die eine
unmittelbare seines Erscheinens (Erscheinungsform), die
zweite, welche sein Wesen enthält. So gelangt Goethe zu
der allein befriedigenden Naturanschauung, welche die
eine wahrhaft objektive Methode begründet. Wenn eine
Theorie die Idee als etwas dem Objekte selbst Fremdes,
bloß Subjektives betrachtet, so kann sie nicht behaupten,
wahrhaft objektiv zu sein, wenn sie sich nur überhaupt der
Idee bedient. Goethe aber kann behaupten, nichts zu den
Objekten hinzuzufügen, was nicht schon in ihnen selbst
läge.
Auch ins Einzelne, Tatsächliche hin verfolgte Goethe
jene Wissenszweige, auf welche seine Ideen Bezug hatten.
Im Jahre 1795 (siehe K. A. Böttiger, Literarische Zustände
und Zeitgenossen usw. I. Bd., Leipzig 1838, S. 49) hörte er
bei Loder Bänderlehre; er verlor überhaupt in dieser Zeit
die Anatomie und Physiologie nicht aus den Augen, was
um so wichtiger erscheint, als er gerade damals seine Vorträge
über Osteologie niederschrieb. 1796 wurden Versuche
gemacht, Pflanzen im Finstern und unter farbigen
Gläsern zu ziehen. Später wurde auch die Metamorphose
der Insekten verfolgt.
Eine weitere Anregung kam von dem Philologen [F. A.]
Wolf, der Goethe auf seinen Namensvetter Wolff aufmerksam
machte [WA 27, 209f.], welcher in seiner «Theoria
generationis» schon im Jahre 1759 Ideen ausgesprochen
hatte, die denen Goethes über die Metamorphose der Pflanzen
ähnlich waren. Goethe wurde dadurch veranlaßt, sich
mit Wolff eingehender zu beschäftigen, welches im Jahre
1807 geschah (siehe Annalen zu 1807 und Natw. Schr., 1.
Bd., S. 5); er fand indes später, daß Wolff bei all seinem
Scharfsinn gerade die Hauptsachen noch nicht klar waren.
Den Typus als ein Unsinnliches, seinen Inhalt bloß aus innerer
Notwendigkeit Entwickelndes, kannte er noch nicht.
Er betrachtete die Pflanze noch als einen äußerlichen, mechanischen
Zusammenhang von Einzelheiten.
Der Verkehr mit zahlreichen befreundeten Naturforschern
sowie die Freude darüber, daß er bei vielen verwandten
Geistern Anerkennung und Nachahmung seines
Strebens gefunden hatte, brachten Goethe im Jahre 1807
auf den Gedanken, die bis dahin zurückgehaltenen Fragmente
seiner naturwissenschaftlichen Studien herauszugeben.
Von dem Vorhaben, ein größeres naturwissenschaftliches
Werk zu schreiben, kam er allmählich ab. Es kam
aber zur Herausgabe der einzelnen Aufsätze im Jahre 1807
noch nicht. Das Interesse an der Farbenlehre drängte die
Morphologie wieder für einige Zeit in den Hintergrund.
Das erste Heft derselben erschien erst im Jahre 1817. Bis
1824 erschienen dann zwei Bände, der erste in vier, der
zweite in zwei Heften. Neben den Aufsätzen über Goethes
eigene Ansichten finden wir hier Besprechungen bedeutenderer
literarischer Erscheinungen aus dem Gebiete der Morphologie
und auch Abhandlungen anderer Gelehrter, deren
Ausführungen sich aber stets ergänzend zu Goethes
Naturerklärung verhalten.
Zu einer intensiveren Beschäftigung fand sich Goethe
in bezug auf die Naturwissenschaft noch zweimal aufgefordert.
In beiden Fällen waren es bedeutende literarische
Erscheinungen auf dem Gebiete dieser Wissenschaft, die
mit seinen eigenen Bestrebungen innigst zusammenhingen.
Das erste Mal ward durch die Arbeiten des Botanikers
Martius über die Spiraltendenz die Anregung gegeben, das
zweite Mal durch einen naturwissenschaftlichen Streit in
der französischen Akademie der Wissenschaften.
Martius setzte die Pflanzenform in ihrer Entwicklung
aus einer Spiral- und einer Vertikaltendenz zusammen. Die
Vertikaltendenz bewirkt das Wachsen in der Richtung der
Wurzel und des Stengels; die Spiraltendenz die Ausbreitung
in den Blättern, Blüten usw. Goethe sah in diesem
Gedanken nur eine mehr auf das Räumliche (vertikal, Spiral)
Rücksicht nehmende Ausbildung seiner bereits in der
Schrift über die Metamorphose 1790 niedergelegten Ideen.
Bezüglich des Beweises dieser Behauptung verweisen wir
auf die Anmerkungen zu Goethes Aufsatz «Über die Spiraltendenz
der Vegetation»85, aus denen hervorgeht, daß
Goethe in demselben nichts wesentlich Neues gegenüber
seinen früheren Ideen vorbringt. Wir möchten dieses besonders
an jene richten, welche behaupten, daß hier sogar
ein Rückschritt Goethes von früheren klaren Anschauungen
bis zu den «tiefsten Tiefen der Mystik» wahrzunehmen
sei.
Noch im höchsten Alter (1830-32) verfaßte Goethe
zwei Aufsätze über den Streit der beiden französischen Na-
85 Natw. Schr., 1. Bd., S. 217 ff.
turforscher Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire. In diesen
Aufsätzen finden wir noch einmal in schlagender Kürze
die Prinzipien von Goethes Naturanschauung zusammengestellt.
Cuvier war ganz im Sinne der älteren Naturforscher
Empiriker. Für jede Tierart suchte er einen ihr entsprechenden,
besonderen Begriff. So viele einzelne Tierarten
die Natur darbietet, so viele einzelne Typen glaubte er in
den gedanklichen Aufbau seines Systems der organischen
Natur aufnehmen zu müssen. Die einzelnen Typen standen
bei ihm aber ganz unvermittelt nebeneinander. Was er nicht
berücksichtigte, ist folgendes. Mit dem Besonderen als solchem,
wie es uns unmittelbar in der Erscheinung gegenübertritt,
ist unser Erkenntnisbedürfnis nicht befriedigt. Da wir
aber einem Wesen der Sinnenwelt mit keiner anderen Absicht
gegenübertreten, als eben dieses Wesen zu erkennen,
so ist nicht anzunehmen, daß der Grund, warum wir uns
mit dem Besonderen als solchem nicht befriedigt erklären,
in unserem Erkenntnisvermögen liege. Er muß vielmehr
im Objekte selbst liegen. Das Wesen des Besonderen selbst
ist in dieser seiner Besonderheit eben durchaus noch nicht
erschöpft; es drängt, um verstanden zu werden, zu einem
solchen hin, welches kein Besonderes, sondern ein Allgemeines
ist. Dieses Ideell-Allgemeine ist das eigentliche Wesen
- die Essenz - eines jeden besonderen Daseins. Das letztere
hat in der Besonderheit nur eine Seite seines Daseins,
während die zweite das Allgemeine - der Typus - ist (siehe
Goethes «Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt.,
S. 374). So ist es zu verstehen, wenn von dem Besonderen
als einer Form des Allgemeinen gesprochen wird. Da das
eigentliche Wesen, die Inhaltlichkeit des Besonderen somit
das Ideell-Allgemeine ist, so ist es unmöglich, daß das letztere
aus dem Besonderen hergeleitet, von ihm abstrahiert
werde. Es muß, da es nirgends seinen Inhalt entlehnen
kann, sich diesen Inhalt selbst geben. Das Typisch-Allgemeine
ist mithin ein solches, bei dem Inhalt und Form identisch
sind. Deswegen kann es aber auch nur als ein Ganzes
erfaßt werden, unabhängig vom Einzelnen. Die Wissenschaft
hat die Aufgabe, an jedem Besonderen zu zeigen, wie
dasselbe, seinem Wesen nach, sich dem Ideell-Allgemeinen
unterordnet. Dadurch treten die besonderen Arten des Daseins
in das Stadium gegenseitiger Bestimmtheit und Abhängigkeit.
Was sonst nur als räumlich-zeitliches Nebenund
Nacheinander wahrgenommen werden kann, wird im
notwendigen Zusammenhange gesehen. Cuvier wollte aber
von letzterer Anschauung nichts wissen. Sie war hingegen
diejenige Geoffroy Saint-Hilaires. So stellt sich in Wirklichkeit
jene Seite dar, von welcher aus Goethe für jenen
Streit Interesse hatte. Die Sache wurde vielfach dadurch
entstellt, daß man durch die Brille modernster Anschauungen
die Tatsachen in einem ganz anderen Lichte erblickte,
als in dem sie erscheinen, wenn man ohne Voreingenommenheit
an sie herantritt. Geoffroy berief sich nicht nur auf
seine eigenen Forschungen, sondern auch auf mehrere deutsche
Gesinnungsgenossen und nennt unter diesen auch
Goethe.
Das Interesse, welches Goethe an dieser Sache hatte, war
ein außerordentliches. Er war hocherfreut, in Geoffroy
Saint-Hilaire einen Genossen zu finden: «Jetzt ist Geoffroy
Saint-Hilaire entschieden auf unserer Seite und mit ihm
alle bedeutenden Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses
Ereignis ist für mich von ganz unglaublichem Wert und
ich juble mit Recht über den endlichen Sieg einer Sache,
der ich mein Leben gewidmet habe und die vorzüglich auch
die meinige ist», sagt er am 2. August 1830 zu Eckermann.
Es ist überhaupt eine eigentümliche Erscheinung, daß
Goethes Forschungen in Deutschland nur bei den Philosophen,
weniger aber bei den Naturforschern, in Frankreich
hingegen bei letzteren bedeutenderen Anklang fanden.
De Candolle schenkte der Goetheschen Metamorphosenlehre
die größte Aufmerksamkeit, behandelte überhaupt
die Botanik in einer Weise, welche den Goetheschen Anschauungen
nicht ferne stand. Auch war Goethes «Metamorphose
» bereits durch [F. de] Gingins-Lassaraz ins Französische
übersetzt. Unter solchen Verhältnissen konnte
Goethe wohl hoffen, daß eine unter seiner Mitwirkung besorgte
Übersetzung seiner botanischen Schriften ins Französische
nicht auf unfruchtbaren Boden fallen werde. Eine
solche lieferte denn auch 1831 unter Goethes fortwährender
Beihilfe Friedrich Jakob Soret. Sie enthielt jenen ersten
«Versuch» von 1790 (vgl. Natw. Schr., 1. Bd., S. 17 ff.);
die Geschichte des botanischen Studiums Goethes (ebenda
S. 61 ff.) und die Wirkung seiner Lehre auf die Zeitgenossen
(ebenda S. 194 ff.), sowie einiges über de Candolle, französisch
mit gegenüberstehendem deutschen Text.
V
ABSCHLUSS ÜBER GOETHES
MORPHOLOGISCHE ANSCHAUUNGEN
Wenn ich am Schlusse der Betrachtung über Goethes Metamorphosen-
Gedanken auf die Anschauungen zurückblicke,
die ich mich auszusprechen gedrungen fühlte, so
kann ich mir nicht verhehlen, eine wie große Zahl hervorragender
Vertreter verschiedener Richtungen der Wissenschaft
anderer Ansicht sind. Ihre Stellung zu Goethe steht
mir deutlich vor Augen; und das Urteil, das sie über meinen
Versuch, den Standpunkt unseres großen Denkers und
Dichters zu vertreten, aussprechen werden, dürfte im voraus
zu ermessen sein.
In zwei Heerlager geteilt stehen sich die Ansichten über
Goethes Bestrebungen auf naturwissenschaftlichem Gebiete
gegenüber.
Die Vertreter des modernen Monismus mit dem Professor
Haeckel an der Spitze erkennen in Goethe den Propheten
des Darwinismus, der sich das Organische ganz in ihrem
Sinne von den Gesetzen beherrscht denkt, die auch in der
unorganischen Natur wirksam sind. Was Goethe fehlte,
sei nur die Selektionstheorie gewesen, durch welche erst
Darwin die monistische Weltanschauung begründet und die
Entwicklungstheorie zur wissenschaftlichen Überzeugung
erhoben habe.
Diesem Standpunkte steht ein anderer gegenüber, welcher
annimmt, die Typusidee bei Goethe sei weiter nichts
als ein allgemeiner Begriff, eine Idee im Sinne der platonischen
Philosophie. Goethe hätte zwar einzelne Behauptungen
getan, die an die Entwicklungstheorie erinnern, wozu
er durch den in seiner Natur gelegenen Pantheismus gekommen
sei; bis zum letzten mechanischen Grunde fortzuschreiten
hätte er aber kein Bedürfnis gefühlt. Von Entwicklungstheorie
im modernen Sinne des Wortes könne
daher bei ihm nicht die Rede sein.
Indem ich versuchte, Goethes Anschauungen ohne Voraussetzung
irgendeines positiven Standpunktes, rein aus
Goethes Wesen, aus dem Ganzen seines Geistes zu erklären,
wurde klar, daß weder die eine noch die andere der erwähnten
Richtungen — so außerordentlich bedeutend auch
dasjenige ist, was sie beide zu einer Beurteilung Goethes geliefert
haben - seine Naturanschauung vollkommen richtig
interpretiert hat.
Die erste der charakterisierten Ansichten hat ganz
recht, wenn sie behauptet, Goethe habe dadurch, daß er die
Erklärung der organischen Natur anstrebte, den Dualismus
bekämpft, der zwischen dieser und der unorganischen
Welt unübersteigliche Schranken annimmt. Aber Goethe
behauptete die Möglichkeit dieser Erklärung nicht deshalb,
weil er sich die Formen und Erscheinungen der organischen
Natur in einem mechanischen Zusammenhange
dachte, sondern weil er einsah, daß der höhere Zusammenhang,
in dem dieselben stehen, unserer Erkenntnis keineswegs
verschlossen ist. Er dachte sich das Universum zwar
in monistischer Weise als unentzweite Einheit - von der er
den Menschen durchaus nicht ausschloß [siehe den Brief
Goethes an F. H. Jacobi vom 23. Nov. 1801; WA 15,
280 f.] -, aber deshalb erkannte er doch an, daß innerhalb
dieser Einheit Stufen zu unterscheiden sind, die ihre eigenen
Gesetze haben. Er verhielt sich schon seit seiner Jugend ablehnend
gegenüber Bestrebungen, welche sich die Einheit als
Einförmigkeit vorstellen und die organische Welt, wie überhaupt
das, was innerhalb der Natur als höhere Natur erscheint,
von den in der unorganischen Welt wirksamen
Gesetzen beherrscht denken (siehe «Geschichte meines botanischen
Studiums» in Natw. Schr., 1. Bd., S. 61 ff.). Diese
Ablehnung war es auch, welche ihn später zur Annahme
einer anschauenden Urteilskraft nötigte, durch welche wir
die organische Natur erfassen im Gegensatze zum diskursiven
Verstande, durch den wir die unorganische Natur erkennen.
Goethe denkt sich die Welt als einen Kreis von
Kreisen, von denen jeder einzelne sein eigenes Erklärungsprinzip
hat. Die modernen Monisten kennen nur einen
einzigen Kreis, den der unorganischen Naturgesetze.
Die zweite der angeführten Meinungen über Goethe
sieht ein, daß es sich bei ihm um etwas anderes handelt als
beim modernen Monismus. Da aber ihre Vertreter es als ein
Postulat der Wissenschaft ansehen, daß die organische Natur
gerade so wie die unorganische erklärt werde und eine
Anschauung wie die Goethes von vornherein perhorreszieren,
so sehen sie es überhaupt als nutzlos an, auf seine
Bestrebungen näher einzugehen.
So konnten Goethes hohe Prinzipien weder da noch dort
zur vollen Geltung kommen. Und gerade diese sind das
Hervorragende seiner Bestrebungen, sind das, was für denjenigen,
der sich ihre ganze Tiefe vergegenwärtigt hat, auch
dann an Bedeutung nicht verliert, wenn er einsieht, daß
manches von den Einzelheiten Goethescher Forschung der
Berichtigung bedarf.
Hieraus erwächst nun für denjenigen, der Goethes Anschauungen
darzulegen versucht, die Forderung, über die
kritische Beurteilung des einzelnen, was Goethe in diesem
oder jenem Kapitel der Naturwissenschaft gefunden, hinweg
den Blick auf das Zentrale Goethescher Naturanschauung
zu lenken.*
Indem ich dieser Forderung zu entsprechen suchte, liegt
die Möglichkeit nahe, gerade von denjenigen mißverstanden
zu werden, bei denen es mir am meisten leid tun würde,
von den reinen Empirikern. Ich meine jene, welche den als
tatsächlich nachzuweisenden Zusammenhängen der Organismen,
dem empirisch gebotenen Stoffe nach allen Seiten
nachgehen und die Frage nach den ursprünglichen Prinzipien
der Organik als eine heute noch offene betrachten.
Gegen sie können meine Ausführungen nicht gerichtet sein,
denn sie berühren sie nicht. Im Gegenteile: Ich baue gerade
auf sie einen Teil meiner Hoffnungen, weil sie die Hände
nach allen Seiten noch frei haben. Sie sind es auch, die manches
von Goethe Behauptete noch zu berichtigen haben werden,
denn im Tatsächlichen irrte er zuweilen; hier kann natürlich
auch das Genie die Schranken seiner Zeit nicht überwinden.
Im Prinzipiellen kam er aber zu Grundanschauungen,
die für die Wissenschaft vom Organischen dieselbe Bedeutung
haben wie Galileis Grundgesetze für die Mechanik.
Dies zu begründen, machte ich mir zur Aufgabe.
Mögen jene, die meine Worte nicht zu überzeugen vermögen,
mindestens den redlichen Willen sehen, mit dem
ich bemüht war, ohne Rücksicht auf Personen, nur der
Sache zugewandt, das angedeutete Problem, Goethes wissenschaftliche
Schriften aus dem Ganzen seiner Natur zu
erklären, zu lösen und eine für mich erhebende Überzeugung
auszusprechen.
Hat man in derselben Weise glücklich und erfolgreich
begonnen, Goethes Dichtungen zu erklären, so liegt hierin
schon die Forderung, alle Werke seines Geistes in diese Art
der Betrachtung hereinzuziehen. Dies kann nicht für immer
ausbleiben und ich werde nicht der letzte sein von denen,
die sich herzlich freuen werden, wenn es meinem Nachfolger
besser gelingt als mir. Möchten jugendlich strebende
Denker und Forscher, namentlich jene, die mit ihren Ansichten
nicht bloß in die Breite gehen, sondern direkt dem
Zentralen unseres Erkennens ins Auge schauen, meinen
Ausführungen einige Aufmerksamkeit schenken und in
Scharen nachfolgen, um vollkommener auszuführen, was
ich darzulegen bestrebt war.
VI
GOETHES ERKENNTNIS-ART
Johann Gottlieb Fichte sandte im Juni 1794 die ersten Bogen
seiner «Wissenschaftslehre» an Goethe. Dieser schrieb
hierauf am 24. Juni an den Philosophen: «Was mich betrifft,
werde ich Ihnen den größten Dank schuldig sein,
wenn Sie mich endlich mit den Philosophen versöhnen, die
ich nie entbehren und mit denen ich mich niemals vereinigen
konnte.» [WA 10,167] Was der Dichter hier bei Fichte,
das hatte er früher bei Spinoza gesucht; später suchte er es
bei Schelling und Hegel: eine philosophische Weltansicht,
die seiner Denkweise gemäß wäre. Völlige Befriedigung
aber brachte dem Dichter keine der philosophischen Richtungen,
die er kennen lernte.
Das erschwert wesentlich unsere Aufgabe. Wir wollen
Goethe von der philosophischen Seite näherkommen. Hätte
er selbst einen wissenschaftlichen Standpunkt als den seinigen
bezeichnet, so könnten wir uns auf diesen berufen. Das
ist aber nicht der Fall. Und so obliegt uns denn die Aufgabe,
aus alledem, was uns von dem Dichter vorliegt, den philosophischen
Kern zu erkennen, der in ihm lag, und davon ein
Bild zu entwerfen. Wir halten für den richtigen Weg, diese
Aufgabe zu lösen, eine auf Grundlage der deutschen idealistischen
Philosophie gewonnene Ideenrichtung. Diese Philosophie
suchte ja in ihrer Weise denselben höchsten menschlichen
Bedürfnissen zu genügen, denen Goethe und Schiller
ihr Leben widmeten. Sie ging aus derselben Zeitströmung
hervor. Sie steht daher auch Goethe viel näher als diejenigen
Anschauungen, die heute vielfach die Wissenschaf-
2
ten beherrschen. Aus jener Philosophie wird sich eine
Ansicht bilden lassen, als deren Konsequenz sich das ergibt,
was Goethe dichterisch gestaltet, was er wissenschaftlich
dargelegt hat. Aus unseren heutigen wissenschaftlichen
Richtungen wohl nimmermehr. Wir sind heute sehr weit
von jener Denkweise entfernt, die in Goethes Natur lag.
Es ist ja richtig: Wir haben auf allen Gebieten der Kultur
Fortschritte zu verzeichnen. Daß das aber Fortschritte
in die Tiefe sind, kann kaum behauptet werden. Für den
Gehalt eines Zeitalters sind aber doch nur die Fortschritte
in die Tiefe maßgebend. Unsere Zeit möchte man aber am
besten damit bezeichnen, daß man sagt: Sie weist überhaupt
Fortschritte in die Tiefe als für den Menschen unerreichbar
zurück. Wir sind mutlos auf allen Gebieten geworden,
besonders aber auf jenem des Denkens und des
Wollens. Was das Denken betrifft: Man beobachtet endlos,
speichert die Beobachtungen auf und hat nicht den Mut, sie
zu einer wissenschaftlichen Gesamtauffassung der Wirklichkeit
zu gestalten. Die deutsche idealistische Philosophie aber
zeiht man der Unwissenschaftlichkeit, weil sie diesen Mut
hatte. Man will heute nur sinnlich schauen, nicht denken.
Man hat alles Vertrauen in das Denken verloren. Man hält
es nicht für ausreichend, in die Geheimnisse der Welt und
des Lebens einzudringen; man verzichtet überhaupt auf
jegliche Lösung der großen Rätselfragen des Daseins. Das
einzige, was man für möglich hält, ist: die Aussagen der
Erfahrung in ein System zu bringen. Dabei vergißt man
nur, daß man sich mit dieser Ansicht einem Standpunkt
nähert, den man längst für überwunden hält. Die Abweisung
alles Denkens und das Pochen auf die sinnliche Erfahrung
ist, tiefer erfaßt, doch nichts als der blinde Offenbarungsglaube
der Religionen. Der letztere beruht doch nur
darauf, daß die Kirche fertige Wahrheiten überliefert, an
die man zu glauben hat. Das Denken mag sich abmühen, in
ihren tieferen Sinn einzudringen; benommen aber ist es ihm,
die Wahrheit seihst zu prüfen, aus eigener Kraft in die Tiefen
der Welt zu dringen. Und die Erfahrungswissenschaft:
was fordert sie vom Denken? Daß es lausche, was die Tatsachen
sagen, und diese Aussagen auslege, ordne usw. Selbständig
in den Kern der Welt einzudringen, versagt auch
sie dem Denken. Dort fordert die Theologie blinde Unterwerfung
des Denkens unter die Aussprüche der Kirche, hier
die Wissenschaft blinde Unterwerfung unter die Aussprüche
der Sinnenbeobachtung. Da wie dort gilt das selbständige,
in die Tiefen dringende Denken nichts. Die Erfahrungswissenschaft
vergißt nur eins. Tausende und aber Tausende
schauten eine sinnenfällige Tatsache und gingen an
ihr vorüber, ohne etwas Auffälliges an ihr zu merken. Dann
kam einer, der sie anblickte und ein wichtiges Gesetz an ihr
gewahr wurde. Woher kommt das? Doch nur davon, weil
der Entdecker anders zu schauen verstand als seine Vorgänger.
Er sah die Tatsache mit andern Augen an als seine
Mitmenschen. Er hatte bei dem Schauen einen bestimmten
Gedanken, wie man die Tatsache mit andern in Zusammenhang
bringen müsse, was für sie bedeutsam sei, was nicht.
Und so legte er sich denkend die Sache zurecht und er sah
mehr als die andern. Er sah mit den Augen des Geistes. Alle
wissenschaftlichen Entdeckungen beruhen darauf, daß der
Beobachter in der durch den richtigen Gedanken geregelten
Weise zu beobachten versteht. Das Denken muß die Beobachtung
naturgemäß leiten. Das kann es nicht, wenn der
Forscher den Glauben an das Denken verloren hat, wenn
er nicht weiß, was er von dessen Tragweite zu halten hat.
Die Erfahrungswissenschaft irrt ratlos in der Welt der Erscheinungen
umher; die Sinnenwelt wird ihr eine verwirrende
Mannigfaltigkeit, weil sie nicht die Energie im Denken
hat, in das Zentrum zu dringen.
Man spricht heute von Erkenntnisgrenzen, weil man
nicht weiß, wo das Ziel des Denkens liegt. Man hat keine
klare Ansicht, was man erreichen will und zweifelt daran,
daß man es erreichen wird. Wenn heute irgend jemand
käme und uns mit Fingern auf die Lösung des Welträtsels
zeigte, wir hätten nichts davon, weil wir nicht wüßten,
was wir von der Lösung zu halten haben.
Und mit dem Wollen und Handeln ist es ja geradeso.
Man weiß sich keine bestimmten Lebensaufgaben zu stellen,
denen man gewachsen wäre. Man träumt sich in unbestimmte,
unklare Ideale hinein und klagt dann, wenn
man das nicht erreicht, wovon man kaum eine dunkle, viel
weniger eine klare Vorstellung hat. Man frage einen der
Pessimisten unserer Zeit, was er denn eigentlich will, und
was er zu erreichen verzweifelt? Er weiß es nicht. Problematische
Naturen sind sie alle, die keiner Lage gewachsen
sind, und denen doch keine genügt. Man mißverstehe mich
nicht. Ich will dem flachen Optimismus keine Lobrede halten,
der, mit den trivialen Genüssen des Lebens zufrieden,
nach nichts Höherem verlangt und deshalb nie etwas entbehrt.
Ich will nicht den Stab brechen über Individuen,
die die tiefe Tragik schmerzlich empfinden, die darinnen
liegt, daß wir von Verhältnissen abhängig sind, die lähmend
auf all unser Tun wirken, und die zu ändern, wir uns
vergebens bestreben. Vergessen wir aber nur nicht, daß der
Schmerz der Einschlag des Glückes ist. Man denke an die
Mutter: wie wird ihr die Freude an dem Gedeihen ihrer
Kinder versüßt, wenn sie es mit Sorgen, Leiden und Mühen
dereinst errungen hat. Jeder besser denkende Mensch müßte
ja ein Glück, das ihm irgendeine äußere Macht böte, zurückweisen,
weil er doch nicht als Glück empfinden kann,
was ihm als unverdientes Geschenk verabreicht wird. Wäre
irgendein Schöpfer mit dem Gedanken an die Erschaffung
des Menschen gegangen, daß er seinem Ebenbilde zugleich
das Glück mit als Erbstück gäbe, so hätte er besser getan,
ihn ungeschaffen zu lassen. Es erhöht die Würde des Menschen,
daß grausam immer zerstört wird, was er schafft;
denn er muß immer aufs neue bilden und schaffen; und im
Tun liegt unser Glück, in dem, was wir selbst vollbringen.
Mit dem geschenkten Glück ist es wie mit der geoffenbarten
Wahrheit. Es ist allein des Menschen würdig, daß er
selbst die Wahrheit suche, daß ihn weder Erfahrung noch
Offenbarung leite. Wenn das einmal durchgreifend erkannt
sein wird, dann haben die Offenbarungsreligionen abgewirtschaftet.
Der Mensch wird dann gar nicht mehr wollen,
daß sich Gott ihm offenbare oder Segen spende. Er wird
durch eigenes Denken erkennen, durch eigene Kraft sein
Glück begründen wollen. Ob irgendeine höhere Macht unsere
Geschicke zum Guten oder Bösen lenkt, das geht uns
nichts an; wir haben uns selbst die Bahn vorzuzeichnen, die
wir zu wandeln haben. Die erhabenste Gottesidee bleibt
doch immer die, welche annimmt, daß Gott sich nach
Schöpfung des Menschen ganz von der Welt zurückgezogen
und den letzteren ganz sich selbst überlassen habe.
Wer dem Denken seine über die Sinnesauffassung hinausgehende
Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennt, der muß
ihm notgedrungen auch Objekte zuerkennen, die über die
bloße sinnenfällige Wirklichkeit hinaus liegen. Die Objekte
des Denkens sind aber die Ideen. Indem sich das Denken
der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des
Weltendaseins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des
Menschen ein: er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf
ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in
der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.
Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung
wie das Auge dem Lichte, das Ohr dem Ton gegenüber.
Es ist Organ der Auffassung.
Diese Ansicht ist in der Lage, zwei Dinge zu vereinigen,
die man heute für völlig unvereinbar hält: empirische Methode
und Idealismus als wissenschaftliche Weltansicht.
Man glaubt, die Anerkennung der ersteren habe die Abweisung
des letzteren im Gefolge. Das ist durchaus nicht
richtig. Wenn man freilich die Sinne für die einzigen Auffassungsorgane
einer objektiven Wirklichkeit hält, so muß
man zu dieser Ansicht kommen. Denn die Sinne liefern
bloß solche Zusammenhänge der Dinge, die sich auf mechanische
Gesetze zurückführen lassen. Und damit wäre
die mechanische Weltansicht als die einzig wahre Gestalt
einer solchen gegeben. Dabei begeht man den Fehler, daß
man die andern ebenso objektiven Bestandteile der Wirklichkeit,
die sich auf mechanische Gesetze nicht zurückführen
lassen, einfach übersieht. Das objektiv Gegebene
deckt sich durchaus nicht mit dem sinnlich Gegebenen, wie
die mechanische Weltauffassung glaubt. Das letztere ist
nur die Hälfte des Gegebenen. Die andere Hälfte desselben
sind die Ideen, die ebenso Gegenstand der Erfahrung sind,
freilich einer höheren, deren Organ das Denken ist. Auch
die Ideen sind für eine induktive Methode erreichbar.
Die heutige Erfahrungswissenschaft befolgt die ganz
richtige Methode: am Gegebenen festzuhalten; aber sie
fügt die unstatthafte Behauptung hinzu, daß diese Methode
nur Sinnenfällig-Tatsächliches liefern kann. Statt bei dem,
wie wir zu unseren Ansichten kommen, stehenzubleiben,
bestimmt sie von vornherein das Was derselben. Die einzig
befriedigende Wirklichkeitsauffassung ist empirische Methode
mit idealistischem Forschungsresultate. Das ist Idealismus,
aber kein solcher, der einer nebelhaften, geträumten
Einheit der Dinge nachgeht, sondern ein solcher, der den
konkreten Ideengehalt der Wirklichkeit ebenso erfahrungsgemäß
sucht wie die heutige hyperexakte Forschung den
Tatsachengehalt.
Indem wir mit diesen Ansichten an Goethe herantreten,
glauben wir in sein Wesen einzudringen. Wir halten an dem
Idealismus fest, legen aber bei der Entwicklung desselben
nicht die dialektische Methode Hegels, sondern einen geläuterten,
höheren Empirismus zugrunde.
Ein solcher liegt auch der Philosophie Eduard v. Hartmanns
zugrunde. Eduard v. Hartmann sucht in der Natur
die ideengemäße Einheit, wie sie sich positiv für ein inhaltvolles
Denken ergibt. Er weist die bloß mechanische
Naturauffassung und den am Äußerlichen haftenden Hyper-
Darwinismus zurück. Er ist in der Wissenschaft Begründer
eines konkreten Monismus. In der Geschichte und
Ästhetik sucht er die konkrete Idee. Das alles nach empirisch-
induktiver Methode.
Hartmanns Philosophie ist von meiner nur durch die
Pessimismus-Frage und durch die metaphysische Zuspitzung
des Systems nach dem «Unbewußten» verschieden.
Was den letzteren Punkt betrifft, wolle man weiter unten
nachsehen. In bezug auf den Pessimismus aber sei folgendes
bemerkt: Was Hartmann als Gründe für den Pessimismus
anführt, d. h. für die Ansicht, daß uns nichts in der
Welt voll befriedigen kann, daß stets die Unlust die Lust
überwiegt, das möchte ich geradezu als das Glück der
Menschheit bezeichnen. Was er vorbringt, sind für mich
nur Beweise dafür, daß es vergebens ist, eine Glückseligkeit
zu erstreben. Wir müssen eben ein solches Bestreben ganz
aufgeben und unsere Bestimmung rein darinnen suchen,
selbstlos jene idealen Aufgaben zu erfüllen, die uns unsere
Vernunft vorzeichnet. Was heißt das anders, als daß wir
nur im Schaffen, in rastloser Tätigkeit unser Glück suchen
sollen?
Nur der Tätige und zwar der selbstlos Tätige, der mit
seiner Tätigkeit keinen Lohn anstrebt, erfüllt seine Bestimmung.
Es ist töricht, für seine Tätigkeit belohnt sein zu wollen;
es gibt keinen wahren Lohn. Hier sollte Hartmann
weiterbauen. Er sollte zeigen, was denn unter solchen Voraussetzungen
die einzige Triebfeder aller unserer Handlungen
sein kann. Es kann, wenn die Aussicht auf ein erstrebtes
Ziel wegfällt, nur die selbstlose Hingabe an das
Objekt sein, dem man seine Tätigkeit widmet, es kann nur
die Liebe sein. Nur eine Handlung aus Liebe kann eine sittliche
sein. Die Idee muß in der Wissenschaft, die Liebe im
Handeln unser Leitstern sein. Und damit sind wir wieder
bei Goethe angelangt. «Dem tätigen Menschen kommt es
darauf an, daß er das Rechte tue, ob das Rechte geschehe,
soll ihn nicht kümmern.» «Unser ganzes Kunststück besteht
darin, daß wir unsere Existenz aufgeben, um zu existieren.
» («Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt.,
S. 464 u. 441.)
Ich bin zu meiner Weltansicht nicht allein durch das
Studium Goethes oder etwa gar des Hegelianismus gekommen.
Ich ging von der mechanisch-naturalistischen Weltauffassung
aus, erkannte aber, daß bei intensivem Denken
dabei nicht stehengeblieben werden kann. Ich fand, streng
nach naturwissenschaftlicher Methode verfahrend, in dem
objektiven Idealismus die einzig befriedigende Weltansicht.
Die Art, wie ein sich selbst verstehendes, widerspruchsloses
Denken zu dieser Weltansicht gelangt, zeigt meine Erkenntnistheorie.
86 Ich fand dann, daß dieser objektive Idealismus
seinem Grundzuge nach die Goethesche Weltansicht durchtränkt.
So geht denn dann freilich der Ausbau meiner Ansichten
seit Jahren parallel mit dem Studium Goethes; und
ich habe nie einen prinzipiellen Gegensatz zwischen meinen
Grundansichten und der Goetheschen wissenschaftlichen
Tätigkeit gefunden. Wenn es mir wenigstens teilweise gelungen
ist: erstens meinen Standpunkt so zu entwickeln,
daß er auch in andern lebendig wird, und zweitens die
Überzeugung herbeizuführen, daß dieser Standpunkt wirklich
der Goethesche ist, dann betrachte ich meine Aufgabe
als erfüllt.
86 Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen
Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller. Berlin u.
Stuttgart 1886, 6. Aufl. Gesamtausgabe Dornach 1960.
VII
ÜBER DIE ANORDNUNG
DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN
SCHRIFTEN GOETHES
Bei der Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen
Schriften, die ich zu besorgen hatte, leitete mich der Gedanke:
das Studium der Einzelheiten derselben durch die
Darlegung der großartigen Ideenwelt zu beleben, die ihnen
zugrunde liegt. Es ist meine Überzeugung, daß jede einzelne
Behauptung Goethes einen völlig neuen und zwar den richtigen
Sinn erhält, wenn man an sie mit dem vollen Verständnis
für seine tiefe und umfassende Weltanschauung
herantritt. Es ist ja nicht zu leugnen: Manche der Aufstellungen
Goethes in naturwissenschaftlicher Beziehung erscheint
ganz bedeutungslos, wenn man sie vom Standpunkte
der mittlerweile so fortgeschrittenen Wissenschaft ansieht.
Das kommt aber gar nicht weiter in Betracht. Es handelt
sich darum: was sie innerhalb der Weltansicht Goethes zu
bedeuten hat. Auf der geistigen Höhe, auf der der Dichter
steht, ist auch das wissenschaftliche Bedürfnis ein gesteigertes.
Ohne wissenschaftliches Bedürfnis gibt es aber keine
Wissenschaft. Was für Fragen stellte Goethe an die Natur?
Das ist das Wichtige. Ob und wie er sie beantwortet hat, das
kommt erst in zweiter Linie in Betracht. Haben wir heute
zulänglichere Mittel, eine reichere Erfahrung: nun wohl,
dann wird es uns gelingen, ausreichendere Lösungen der
von ihm gestellten Probleme zu finden. Daß wir aber nicht
mehr vermögen als eben dies: die von ihm vorgezeichneten
Bahnen mit unseren größeren Mitteln zu wandeln, das sollen
meine Darstellungen zeigen. Was wir von ihm lernen
sollen, ist also vor allem das, wie man an die Natur Fragen
zu stellen hat*
Man übersieht die Hauptsache, wenn man Goethe nichts
anderes zugesteht, als daß er manche Beobachtung aufzuweisen
habe, die von der späteren Forschung wieder gefunden,
heute einen wichtigen Bestandteil unserer Weltanschauung
bildet. Bei ihm kommt es gar nicht auf das überlieferte
Ergebnis an, sondern auf die Art, wie er dazu gelangt.
Treffend sagt er selbst: «Es ist mit Meinungen, die
man wagt, wie mit Steinen, die man voran im Brette bewegt;
sie können geschlagen werden, aber sie haben ein
Spiel eingeleitet, das gewonnen wird.» [«Sprüche in Prosa»;
Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 362.] Er kam zu einer durchaus
naturgemäßen Methode. Er suchte diese Methode mit
jenen Hilfsmitteln, die ihm zu Gebote standen, in die Wissenschaft
einzuführen. Es mag nun sein, daß die hierdurch
gewonnenen Einzelergebnisse durch die fortschreitende
Wissenschaft umgewandelt worden sind; aber der wissenschaftliche
Prozeß, der damit eingeleitet wurde, ist ein
dauernder Gewinn der Wissenschaft.
Diese Gesichtspunkte konnten nicht ohne Einfluß auf
die Anordnung des herauszugebenden Stoffes bleiben. Man
kann mit einigem Schein von Recht fragen, warum ich,
da ich schon einmal von der bisher üblichen Einteilung
der Schriften abgegangen bin, nicht gleich jenen Weg betreten
habe, der sich vor allem zu empfehlen scheint: die
allgemein-naturwissenschaftlichen Schriften im 1. Bande,
die organischen, mineralogischen und meteorologischen im
2. und die physikalischen Schriften im 3. Bande zu bringen.
Es enthielte dann der 1. Band die allgemeinen Gesichtspunkte,
die folgenden die besonderen Ausführungen der
Grundgedanken. So verlockend das nun auch ist: es hätte
mir nie einfallen können, diese Anordnung zu treffen. Ich
hätte damit - um auf das Gleichnis Goethes noch einmal
zurückzukommen - nicht erreichen können, was ich wollte:
an den Steinen, die voran im Brette gewagt, den Plan des
Spieles erkenntlich zu machen.
Nichts lag Goethe ferner, als in bewußter Weise von allgemeinen
Begriffen auszugehen. Er geht immer von konkreten
Tatsachen aus, vergleicht sie, ordnet sie. Darüber
geht ihm die Ideengrundlage derselben auf. Es ist ein großer
Irrtum, zu behaupten, nicht die Ideen seien das treibende
Prinzip in Goethes Schaffen, weil er über die Idee des Faust
jene sattsam bekannte Bemerkung gemacht. In der Betrachtung
der Dinge bleibt ihm nach Abstreifung alles Zufälligen,
Unwesentlichen etwas zurück, das Idee in seinem Sinne ist.
Die Methode, der sich Goethe bedient, bleibt selbst da noch
die auf reine Erfahrung gebaute, wo er sich zur Idee erhebt.
Denn nirgends läßt er eine subjektive Zutat in seine Forschung
einfließen. Er befreit nur die Erscheinungen von
dem Zufälligen, um zu ihrer tieferen Grundlage vorzudringen.
Sein Subjekt hat keine andere Aufgabe, als das Objekt
so zurechtzulegen, daß es sein Innerstes verrät. «Das Wahre
ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir müssen
es aus seinen Manifestationen erraten.» [«Sprüche in Prosa
»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 378.] Es kommt darauf
an, diese Manifestationen in solchen Zusammenhang zu
bringen, daß das «Wahre» erscheint. In der Tatsache, der
wir beobachtend gegenübertreten, steckt schon das Wahre,
die Idee; wir müssen nur die Hülle entfernen, die es uns
verbirgt. In der Entfernung dieser Hülle besteht die wahre
wissenschaftliche Methode. Goethe schlug diesen Weg ein.
Und wir müssen ihm auf demselben folgen, wenn wir ganz
in ihn eindringen wollen. Mit anderen Worten: Wir müssen
mit Goethes Studien über die organische Natur beginnen,
weil er mit ihnen begann. Hier enthüllte sich ihm zuerst
ein reicher Gehalt von Ideen, die wir dann als Bestandteile
in seinen allgemeinen und methodischen Aufsätzen
wiederfinden. Wollen wir die letzteren verstehen, müssen
wir uns mit jenem Gehalte bereits erfüllt haben. Die Aufsätze
über Methode sind dem bloße Gedankengewebe, der
nicht den Weg nachzugehen bemüht ist, den Goethe gegangen.
Was dann die Studien über physikalische Erscheinungen
betrifft, so entstanden sie bei Goethe erst als die Konsequenz
seiner Naturanschauung.
VIII
VON DER KUNST
ZUR WISSENSCHAFT
Wer sich die Aufgabe stellt, die Geistesentwicklung eines
Denkers darzustellen, hat uns die besondere Richtung desselben
auf psychologischem Wege aus den in seiner Biographie
gegebenen Tatsachen zu erklären. Bei einer Darstellung
von Goethe, dem Denker, ist die Aufgabe damit noch nicht
erschöpft. Hier wird nicht nur nach einer Rechtfertigung
und Erklärung seiner speziellen wissenschaftlichen Richtung,
sondern und vorzüglich auch darnach gefragt, wie
dieser Genius überhaupt dazu kam, auf wissenschaftlichem
Gebiete tätig zu sein. Goethe hatte durch die falsche Ansicht
seiner Zeitgenossen viel zu leiden, die sich nicht denken
konnten, daß dichterisches Schaffen und wissenschaftliche
Forschung sich in einem Geiste vereinigen lasse. Es
handelt sich hier vor allem um Beantwortung der Frage:
Welches sind die Motive, die den großen Dichter zur Wissenschaft
getrieben? Liegt der Übergang von Kunst zur Wissenschaft
rein in seiner subjektiven Neigung, in persönlicher
Willkür? Oder war Goethes künstlerische Richtung eine
solche, daß sie ihn mit Notwendigkeit zur Wissenschaft
treiben mußte?
Wäre das erstere der Fall, dann hätte die gleichzeitige
Hingabe an Kunst und Wissenschaft bloß die Bedeutung
einer zufälligen persönlichen Begeisterung für beide Richtungen
des menschlichen Strebens; wir hätten es mit einem
Dichter zu tun, der zufällig auch ein Denker ist, und es
hätte wohl sein können, daß bei einem etwas andern Lebensgange
Goethe dieselben Wege in der Dichtung eingeschlagen,
ohne daß er sich um die Wissenschaft auch nur
bekümmert hätte. Beide Seiten dieses Mannes interessierten
uns dann abgesondert als solche, beide hätten vielleicht für
sich ein gut Teil den Fortschritt der Menschheit gefördert.
Alles das wäre aber auch der Fall, wenn die beiden Geistesrichtungen
auf zwei Persönlichkeiten verteilt gewesen wären.
Der Dichter Goethe hätte mit dem Denker Goethe
nichts zu tun.
Ist aber das zweite der Fall, dann war Goethes künstlerische
Richtung eine solche, daß sie von innen heraus notwendig
dazu drängte, durch wissenschaftliches Denken ergänzt
zu werden. Dann ist es schlechterdings undenkbar,
daß die beiden Richtungen auf zwei Persönlichkeiten verteilt
gewesen wären. Dann interessiert uns jede der beiden
Richtungen nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch
wegen ihrer Beziehung auf die andere. Dann gibt es einen
objektiven Übergang von Kunst zur Wissenschaft, einen
Punkt, wo sich die beiden so berühren, daß Vollendung in
dem einen Gebiete Vollendung in dem andern fordert.
Goethe folgte dann nicht einer persönlichen Neigung, sondern
die Kunstrichtung, der er sich ergab, weckte in ihm
Bedürfnisse, denen nur in wissenschaftlicher Betätigung
Befriedigung werden konnte.
Unsere Zeit glaubt das Richtige zu treffen, wenn sie
Kunst und Wissenschaft möglichst weit auseinanderhält.
Sie sollen zwei vollkommen entgegengesetzte Pole in der
Kulturentwicklung der Menschheit sein. Die Wissenschaft
soll uns - so denkt man - ein möglichst objektives Weltbild
entwerfen, sie soll uns die Wirklichkeit im Spiegel zeigen
oder mit andern Worten: sie soll mit Entäußerung aller subjektiven
Willkür sich rein an das Gegebene halten. Für ihre
Gesetze ist die objektive Welt maßgebend, ihr hat sie sich
zu unterwerfen. Sie soll den Maßstab des Wahren und Falschen
ganz und gar aus den Objekten der Erfahrung nehmen.
Ganz anders soll es bei den Schöpfungen der Kunst sein.
Ihnen wird von der selbstschöpferischen Kraft des menschlichen
Geistes das Gesetz gegeben. Für die Wissenschaft
wäre jedes Einmischen der menschlichen Subjektivität Verfälschung
der Wirklichkeit, Überschreitung der Erfahrung;
die Kunst dagegen wächst auf dem Felde genialischer Subjektivität.
Ihre Schöpfungen sind Gebilde menschlicher Einbildungskraft,
nicht Spiegelbilder der Außenwelt. Außer
uns, im objektiven Sein liegt der Ursprung wissenschaftlicher
Gesetze; in uns, in unserer Individualität der der
ästhetischen. Daher haben die letzteren nicht den geringsten
Erkenntniswert, sie erzeugen Illusionen ohne den geringsten
Wirklichkeitsfaktor.
Wer die Sache so faßt, wird nie Klarheit darüber gewinnen,
welches Verhältnis Goethesche Dichtung zu Goethescher
Wissenschaft hat. Dadurch wird aber beides mißverstanden.
Die welthistorische Bedeutung Goethes liegt
ja gerade darinnen, daß seine Kunst unmittelbar aus dem
Urquell des Seins fließt, daß sie nichts Illusorisches, nichts
Subjektives an sich trägt, sondern als die Künderin jener
Gesetzlichkeit erscheint, die der Dichter in den Tiefen des
Naturwirkens dem Weltgeiste abgelauscht hat. Auf dieser
Stufe wird die Kunst die Interpretin der Weltgeheimnisse,
wie es die Wissenschaft in anderem Sinne ist.
So hat Goethe auch stets die Kunst aufgefaßt. Sie war
ihm die eine Offenbarung des Urgesetzes der Welt, die Wissenschaft
war ihm die andere. Für ihn entsprangen Kunst
und Wissenschaft aus einer Quelle. Während der Forscher
untertaucht in die Tiefen der Wirklichkeit, um die treibenden
Kräfte derselben in Form von Gedanken auszusprechen,
sucht der Künstler dieselben treibenden Gewalten
seinem Stoffe einzubilden. «Ich denke, Wissenschaft könnte
man die Kenntnis des Allgemeinen nennen, das abgezogene
Wissen; Kunst dagegen wäre Wissenschaft zur Tat verwendet;
Wissenschaft wäre Vernunft, und Kunst ihr Mechanismus,
deshalb man sie auch praktische Wissenschaft nennen
könnte. Und so wäre denn endlich Wissenschaft das
Theorem, Kunst das Problem.»87 Was die Wissenschaft als
Idee (Theorem) ausspricht, das soll die Kunst dem Stoffe
einprägen, das soll ihr Problem werden. «In den Werken
des Menschen wie in denen der Natur sind die Absichten
vorzüglich der Aufmerksamkeit wert», sagt Goethe.88 Überall
sucht er nicht nur das, was den Sinnen in der Außenwelt
gegeben ist, sondern die Tendenz, durch die es geworden.
Diese wissenschaftlich aufzufassen, künstlerisch zu gestalten,
das ist seine Sendung. Bei ihren eigenen Bildungen gerät
die Natur «auf Spezifikationen wie in eine Sackgasse»;
man muß auf das zurückgehen, was hätte werden sollen,
wenn die Tendenz sich hätte ungehindert entfalten können,
so wie der Mathematiker nie dieses oder jenes Dreieck, sondern
immer jene Gesetzmäßigkeit im Auge hat, die jedem
möglichen Dreiecke zugrunde liegt. Nicht was die Natur
geschaffen, sondern nach welchem Prinzipe sie es geschaffen,
darauf kommt es an. Dann ist dieses Prinzip so auszugestalten,
wie es seiner eigenen Natur gemäß ist, nicht wie
87 [«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 535.]
88 [Ebenda S. 378.]
es in dem von tausend Zufälligkeiten abhängigen einzelnen
Gebilde der Natur geschehen ist. Der Künstler hat «aus
dem Gemeinen das Edle, aus der Unform das Schöne zu
entwickeln».
Goethe und Schiller nehmen die Kunst in ihrer vollen
Tiefe. Das Schöne ist «eine Manifestation geheimer Naturgesetze,
die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen
geblieben». Ein Blick in des Dichters «Italienische
Reise» genügt, um zu erkennen, daß das nicht etwa eine
Phrase, sondern tief-innerliche Überzeugung ist. Wenn er
sagt: «Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten
Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen
Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche,
Eingebildete fällt zusammen; da ist Notwendigkeit, da ist
Gott», so geht daraus hervor, daß ihm Natur und Kunst
gleichen Ursprunges sind. Bezüglich der Kunst der Griechen
sagt er in dieser Richtung folgendes: «Ich habe die
Vermutung, daß sie nach den Gesetzen verfuhren, nach
welchen die Natur selbst verfährt und denen ich auf der
Spur bin.» Und von Shakespeare: «Shakespeare gesellt sich
zum Weltgeist; er durchdringt die Welt wie jener, beiden ist
nichts verborgen; aber wenn des Weltgeistes Geschäft ist,
Geheimnisse vor, ja oft nach der Tat zu bewahren, so ist
der Sinn des Dichters, das Geheimnis zu verschwätzen.»
Hier ist auch an den Ausspruch von der «frohen Lebensepoche
» zu erinnern, die der Dichter Kants «Kritik
der Urteilskraft» schuldig geworden ist, und die er ja doch
eigentlich nur dem Umstande dankte, daß er hier «Kunstund
Naturerzeugnisse eins behandelt sah wie das andere,
daß sich ästhetische und teleologische Urteilskraft wechselweise
erleuchteten.» «Mich freute», sagt der Dichter, «daß
Dichtkunst und vergleichende Naturkunde so nah miteinander
verwandt seien, indem beide sich derselben Urteilskraft
unterwerfen.» In dem Aufsatz: «Bedeutende Fördernis
durch ein einziges geistreiches Wort» [Natw. Schr., 2.
Bd., S. 31 ff.] stellt Goethe ganz in derselben Absicht seinem
gegenständlichen Denken sein gegenständliches Dichten
gegenüber.
So erscheint Goethe die Kunst ebenso objektiv wie die
Wissenschaft. Nur die Form beider ist verschieden. Beide
erscheinen als der Ausfluß eines Wesens, als notwendige
Stufen einer Entwicklung. Jede Ansicht, die der Kunst oder
dem Schönen eine isolierte Stellung außerhalb des Gesamtbildes
menschlicher Entwicklung anweist, widerstrebt ihm.
So sagt er: «Im Ästhetischen tut man nicht wohl, zu sagen:
die Idee des Schönen; dadurch vereinzelt man das Schöne,
das doch einzeln nicht gedacht werden kann»89 oder: «Der
Stil ruht auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf
dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren
und greif liehen Gestalten zu erkennen.>>90 Die Kunst beruht
also auf dem Erkennen. Das letztere hat die Aufgabe,
die Ordnung, nach der die Welt gefügt ist, im Gedanken
nachzuschaffen; die Kunst die, im einzelnen die Idee dieser
Ordnung des Weltganzen auszubilden. Alles, was dem
Künstler an Weltgesetzlichkeit erreichbar ist, das legt er in
sein Werk. Dies erscheint somit als eine Welt im kleinen.
Hierin liegt der Grund dafür, warum sich die Goethesche
Kunstrichtung durch Wissenschaft ergänzen muß. Sie ist
schon als Kunst ein Erkennen. Goethe wollte eben weder
89 [«Sprüche in Prosa», Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 379.]
90 [Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil, in: Schriften zur
Kunst 1788-1800.]
Wissenschaft noch Kunst; er wollte die Idee, Und diese
spricht er aus oder stellt er dar, nach der Seite, nach der sie
sich ihm gerade darbietet. Goethe suchte sich mit dem Weltgeiste
zu verbünden und uns dessen Walten zu offenbaren;
er tat es durch das Medium der Kunst oder der Wissenschaft,
je nach Erfordernis. Nicht einseitiges Kunst- oder
wissenschaftliches Streben lag in Goethe, sondern der rastlose
Drang, «alle Wirkenskraft und Samen» [WA Abt. I,
14, 28] zu schauen.
Dabei ist Goethe doch kein philosophischer Dichter,
denn seine Dichtungen nehmen nicht den Umweg durch den
Gedanken zur sinnenfälligen Gestaltung; sondern sie strömen
unmittelbar aus der Quelle alles Werdens, wie seine
Forschungen nicht mit dichterischer Phantasie durchtränkt
sind, sondern unmittelbar auf dem Gewahrwerden der Ideen
beruhen. Ohne daß Goethe ein philosophischer Dichter ist,
erscheint seine Grundrichtung für den philosophischen Betrachter
als eine philosophische.
Damit nimmt die Frage, ob Goethes wissenschaftliche
Arbeiten philosophischen Wert haben oder nicht, eine
durchaus neue Gestalt an. Es handelt sich darum, von dem,
was vorliegt, zurück auf die Prinzipien zu schließen. Was
müssen wir voraussetzen, daß uns Goethes wissenschaftliche
Aufstellungen als Folge dieser Voraussetzungen erscheinen?
Wir müssen aussprechen, was Goethe unausgesprochen gelassen
hat, was aber allein seine Anschauungen verständlich
macht.
IX
GOETHES ERKENNTNISTHEORIE
Wir haben schon im vorigen Kapitel angedeutet, daß Goethes
wissenschaftliche Weltanschauung als abgeschlossenes
Ganzes, aus einem Prinzipe entwickelt, nicht vorliegt. Wir
haben es nur mit einzelnen Manifestationen zu tun, aus
denen wir sehen, wie sich dieser oder jener Gedanke im
Lichte seiner Denkweise ausnimmt. Es ist dies der Fall in
seinen wissenschaftlichen Werken, in den kurzen Andeutungen
über diesen oder jenen Begriff, wie er sie in den
«Sprüchen in Prosa» gibt, und in den Briefen an seine
Freunde. Die künstlerische Ausgestaltung seiner Weltanschauung
endlich, die uns ja auch die mannigfaltigsten
Rückschlüsse auf seine Grundideen gestattet, liegt uns in
seinen Dichtungen vor. Damit aber, daß wir rückhaltlos
zugeben, daß Goethes Grundprinzipien von ihm nie als
zusammenhängendes Ganzes ausgesprochen worden sind,
wollen wir durchaus nicht zugleich die Behauptung gerechtfertigt
finden, daß Goethes Weltanschauung nicht aus
einem ideellen Zentrum entspringt, das sich in eine streng
wissenschaftliche Fassung bringen läßt.
Wir müssen uns vor allem klar darüber sein, um was es
sich hierbei handelt. Was in Goethes Geist als das innere,
treibende Prinzip in allen seinen Schöpfungen wirkte, sie
durchdrang und belebte, konnte sich als solches, in seiner
Besonderheit nicht in den Vordergrund drängen. Eben weil
es bei Goethe alles durchdringt, konnte es nicht als einzelnes
zu gleicher Zeit vor sein Bewußtsein treten. Wäre das
letztere der Fall gewesen, dann hätte es als Abgeschlossenes,
Ruhendes vor seinen Geist treten müssen, anstatt daß
es, wie es wirklich der Fall war, stets ein Tätiges, Wirkendes
war. Dem Ausleger Goethes obliegt es, den mannigfachen
Betätigungen und Offenbarungen dieses Prinzipes,
seinem stetigen Flusse, zu folgen, um es dann in ideellen
Umrissen auch als abgeschlossenes Ganzes zu zeichnen.
Wenn es uns gelingt, den wissenschaftlichen Inhalt dieses
Prinzipes klar und bestimmt auszusprechen und allseitig
in wissenschaftlicher Folgerichtigkeit zu entwickeln, dann
werden uns die exoterischen Ausführungen Goethes erst in
ihrer wahren Beleuchtung erscheinen, weil wir sie als in
ihrer Entwicklung, von einem gemeinsamen Zentrum aus,
erblicken werden.
In diesem Kapitel soll uns Goethes Erkenntnistheorie
beschäftigen. Was die Aufgabe dieser Wissenschaft anlangt,
so ist leider seit Kant eine Verwirrung eingetreten, die wir
hier kurz andeuten müssen, bevor wir zu dem Verhältnisse
Goethes zu derselben übergehen.
Kant glaubte, die Philosophie vor ihm habe sich deshalb
auf einem Irrwege befunden, weil sie die Erkenntnis
des Wesens der Dinge anstrebte, ohne sich zuerst zu fragen,
wie eine solche Erkenntnis möglich sei. Er sah das
Grundübel alles Philosophierens vor ihm darin, daß man
über die Natur des zu erkennenden Objektes nachdachte,
bevor man das Erkennen selbst in bezug auf seine Fähigkeit
geprüft hatte. Diese letztere Prüfung machte er daher
zum philosophischen Grundproblem und inaugurierte damit
eine neue Ideenrichtung. Die auf Kant fußende Philosophie
hat seitdem unsägliche wissenschaftliche Kraft auf
die Beantwortung dieser Frage verwendet; und heute mehr
als je sucht man in philosophischen Kreisen der Lösung
dieser Aufgabe näherzukommen. Die Erkenntnistheorie
aber, die in der Gegenwart geradezu zur wissenschaftlichen
Zeitfrage geworden ist, soll nichts weiter sein als die ausführliche
Antwort auf die Frage: Wie ist Erkenntnis möglich?
Auf Goethe angewendet, würde dann die Frage heißen:
Wie dachte sich Goethe die Möglichkeit einer Erkenntnis?
Bei genauerem Zusehen stellt sich aber heraus, daß die
Beantwortung der gestellten Frage durchaus nicht an die
Spitze der Erkenntnistheorie gestellt werden darf. Wenn
ich nach der Möglichkeit eines Dinges frage, dann muß ich
vorher dasselbe erst untersucht haben. Wie aber, wenn sich
der Begriff der Erkenntnis, den Kant und seine Anhänger
haben, und von dem sie fragen, ob er möglich ist oder
nicht, selbst als durchaus unhaltbar erwiese, wenn er vor
einer eindringenden Kritik nicht standhalten könnte? Wenn
unser Erkenntnisprozeß etwas ganz anderes wäre als das
von Kant Definierte? Dann wäre die ganze Arbeit nichtig.
Kant hat den landläufigen Begriff des Erkennens angenommen
und nach seiner Möglichkeit gefragt. Nach diesem
Begriffe soll das Erkennen in einem Abbilden von außer
dem Bewußtsein stehenden, an sich bestehenden Seinsverhältnissen
bestehen. Man wird aber so lange über die
Möglichkeit der Erkenntnis nichts ausmachen können, als
man nicht die Frage nach dem Was des Erkennens selbst
beantwortet hat. Damit wird die Frage: Was ist das Erkennen?
zur ersten der Erkenntnistheorie gemacht. In bezug
auf Goethe wird es also unsere Aufgabe sein, zu zeigen,
was sich Goethe unter Erkennen vorstellte.
Die Bildung eines Einzelurteiles, die Feststellung einer
Tatsache oder Tatsachenreihe, die man nach Kant schon
Erkenntnis nennen könnte, ist im Sinne Goethes noch
durchaus nicht Erkennen. Er hätte sonst vom Stil nicht
gesagt, daß er auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis
beruhe und dadurch im Gegensatze zur einfachen Naturnachahmung
steht, bei welcher der Künstler sich an die
Gegenstände der Natur wendet, mit Treue und Fleiß ihre
Gestalten, ihre Farben auf das genaueste nachahmt, sich
gewissenhaft niemals von ihr entfernt. Dieses Entfernen
von der Sinnenwelt in ihrer Unmittelbarkeit ist bezeichnend
für Goethes Ansicht vom wirklichen Erkennen. Das
unmittelbar Gegebene ist die Erfahrung. Im Erkennen
schaffen wir aber ein Bild von dem unmittelbar Gegebenen,
das wesentlich mehr enthält, als was die Sinne, die
doch die Vermittler aller Erfahrung sind, liefern können.
Wir müssen, um im Goetheschen Sinne die Natur zu erkennen,
sie nicht in ihrer Tatsächlichkeit festhalten, sondern
sie muß sich im Prozesse des Erkennens als ein wesentlich
Höheres entpuppen, als was sie im ersten Gegenübertreten
erscheint. Die Millsche Schule nimmt an, alles,
was wir mit der Erfahrung tun können, sei ein bloßes Zusammenfassen
einzelner Dinge in Gruppen, die wir dann
als abstrakte Begriffe festhielten. Das ist kein wahres Erkennen.
Denn jene abstrakten Begriffe Mills haben keine
andere Aufgabe, als das zusammenzufassen, was sich den
Sinnen darbietet mit allen Qualitäten der unmittelbaren
Erfahrung. Ein wahres Erkennen muß zugeben, daß die
unmittelbare Gestalt der sinnenfällig-gegebenen Welt noch
nicht ihre wesentliche ist, sondern daß sich uns diese erst
im Prozesse des Erkennens enthüllt. Das Erkennen muß
uns das liefern, was uns die Sinnenerfahrung vorenthält,
was aber doch wirklich ist. Das Millsche Erkennen ist deshalb
kein wahrhaftes Erkennen, weil es nur ein ausgebildetes
sinnliches Erfahren ist. Es läßt die Dinge so, wie sie
Augen und Ohren liefern. Nicht das Gebiet des Erfahrbaren
sollen wir überschreiten und uns in ein Phantasiegebilde
verlieren, wie es die Metaphysiker älterer und neuerer
Zeit liebten, sondern wir sollen von der Gestalt des
Erfahrbaren, wie sie sich uns in dem für die Sinne Gegebenen
darstellt, zu einer solchen fortschreiten, die unsere
Vernunft befriedigt.
Es tritt nun die Frage an uns heran: Wie verhält sich
das unmittelbar Erfahrene zu dem im Prozesse des Erkennens
entstandenen Bild der Erfahrung? Wir wollen
diese Frage zuerst ganz selbständig beantworten und dann
zeigen, daß die Antwort, die wir geben, eine Konsequenz
der Goetheschen Weltanschauung ist.
Zunächst stellt sich uns die Welt als eine Mannigfaltigkeit
im Raum und in der Zeit dar. Wir nehmen räumlich
und zeitlich gesonderte Einzelheiten wahr: da diese Farbe,
dort jene Gestalt; jetzt diesen Ton, dann jenes Geräusch
usw. Nehmen wir zuerst ein Beispiel aus der unorganischen
Welt und sondern wir ganz genau das, was wir mit den
Sinnen wahrnehmen, ab von dem, was der Erkenntnisprozeß
liefert. Wir sehen einen Stein, der gegen eine Glastafel
fliegt, dieselbe durchbohrt und dann nach einer gewissen
Zeit zur Erde fällt. Wir fragen, was ist hier in unmittelbarer
Erfahrung gegeben? Eine Reihe aufeinanderfolgender
Gesichtswahrnehmungen, ausgehend von den
Orten, die der Stein nacheinander eingenommen hat, eine
Reihe von Schallwahrnehmungen beim Zerbrechen der
Scheibe, das Hinwegfliegen der Glasscherben usw. Wenn
man sich nicht täuschen will, so muß man sagen: der unmittelbaren
Erfahrung ist nichts weiter gegeben als dieses zusammenhangslose
Aggregat von Wahrnehmungsakten.
Dieselbe strenge Abgrenzung des unmittelbar Wahrgenommenen
(der sinnlichen Erfahrung) findet man auch bei
Volkelt in seiner ausgezeichneten Schrift «Kants Erkenntnistheorie
nach ihren Grundprinzipien analysiert» [Hamburg
1879], die zu dem Besten gehört, was die neuere Philosophie
hervorgebracht hat. Es ist aber durchaus nicht
einzusehen, warum Volkelt die zusammenhangslosen Wahrnehmungsbilder
als Vorstellungen auffaßt und sich damit
von vornherein den Weg zu einer möglichen objektiven
Erkenntnis abschneidet. Die unmittelbare Erfahrung von
vornherein als ein Ganzes von Vorstellungen auffassen, ist
doch entschieden ein Vorurteil. Wenn ich irgendeinen Gegenstand
vor mir habe, so sehe ich an ihm Gestalt, Farbe,
ich nehme eine gewisse Harte an ihm wahr usw. Ob dieses
Aggregat von meinen Sinnen gegebenen Bildern ein außer
mir Liegendes, ob es bloßes Vorstellungsgebilde ist: ich
weiß es von vornherein nicht. So wenig ich von vornherein
- ohne denkende Erwägung - die Erwärmung des Steines
als Folge der erwärmenden Sonnenstrahlen erkenne,
so wenig weiß ich, in welcher Beziehung die mir gegebene
Welt zu meinem Vorstellungsvermögen steht. Volkelt stellt
an die Spitze der Erkenntnistheorie den Satz: «daß wir
eine Mannigfaltigkeit so und so beschaffener Vorstellungen
haben». Daß wir eine Mannigfaltigkeit gegeben haben,
ist richtig; aber woher wissen wir, daß diese Mannigfaltigkeit
aus Vorstellungen besteht? Volkelt tut in der Tat etwas
sehr Unstatthaftes, wenn er erst behauptet: wir müssen
festhalten, was uns in unmittelbarer Erfahrung gegeben ist,
und dann die Voraussetzung, die nicht gegeben sein kann,
macht, daß die Erfahrungswelt Vorstellungswelt ist. Wenn
wir eine solche Voraussetzung machen wie es die Volkeltsche
ist, dann sind wir sofort zur oben gekennzeichneten
falschen Fragestellung in der Erkenntnistheorie gezwungen.
Sind unsere Wahrnehmungen Vorstellungen, dann ist unser
gesamtes Wissen Vorstellungswissen und es entsteht die
Frage: Wie ist eine Übereinstimmung der Vorstellung mit
dem Gegenstande möglich, den wir vorstellen?
Wo aber hat je eine wirkliche Wissenschaft mit dieser
Frage etwas zu tun? Man betrachte die Mathematik! Sie
hat ein Gebilde vor sich, das durch den Schnitt dreier Geraden
entstanden ist: ein Dreieck. Die drei Winkel α, β, γ
stehen in einer konstanten Beziehung; sie machen zusammen
einen gestreckten Winkel oder zwei Rechte aus ( =
180°). Das ist ein mathematisches Urteil. Wahrgenommen
sind die Winkel ο, β, γ. Auf Grund denkender Erwägung
stellt sich das obige Erkenntnisurteil ein. Es stellt einen Zusammenhang
dreier Wahrnehmungsbilder her. Von einem
Reflektieren auf irgendeinen hinter der Vorstellung des
Dreieckes stehenden Gegenstand ist nicht die Rede. Und
so machen es alle Wissenschaften. Sie spinnen Fäden von
Vorstellungsbild zu Vorstellungsbild, schaffen Ordnung
in dem, was der unmittelbaren Wahrnehmung ein Chaos
ist; nirgends aber kommt etwas außer dem Gegebenen in
Betracht. Wahrheit ist nicht Übereinstimmung einer Vorstellung
mit ihrem Gegenstande, sondern der Ausdruck
eines Verhältnisses zweier wahrgenommener Fakta.
Wir kommen auf unser Beispiel von dem geworfenen
Stein zurück. Wir verbinden die Gesichtswahrnehmungen,
die von den einzelnen Orten, an denen sich der Stein befindet,
ausgehen. Diese Verbindung gibt eine krumme Linie
(Wurflinie); wir erhalten das Gesetz des schiefen Wurfes;
wenn wir ferner die materielle Beschaffenheit des Glases
in Betracht ziehen, dann den fliegenden Stein als Ursache,
das Zerbrechen der Scheibe als Wirkung auffassen usw., so
haben wir das Gegebene mit Begriffen so durchtränkt, daß
es uns verständlich wird. Diese ganze Arbeit, welche die
Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung in eine begriffliche
Einheit zusammenfaßt, vollzieht sich innerhalb unseres
Bewußtseins. Der ideelle Zusammenhang der Wahrnehmungsbilder
ist nicht durch die Sinne gegeben, sondern von
unserem Geiste schlechterdings selbständig erfaßt. Für ein
mit bloßem sinnlichen Wahrnehmungsvermögen begabtes
Wesen wäre diese ganze Arbeit einfach nicht da. Es würde
für dasselbe die Außenwelt einfach jenes zusammenhangslose
Wahrnehmungschaos bleiben, das wir als das uns
zunächst (unmittelbar) Gegenübertretende charakterisiert
haben.
So ist also der Ort, wo die Wahrnehmungsbilder in ihrem
ideellen Zusammenhange erscheinen, wo den ersteren
der letztere als deren begriffliches Gegenbild entgegengehalten
wird, das menschliche Bewußtsein. Wenn nun auch
dieser begriffliche (gesetzliche) Zusammenhang seiner substantiellen
Beschaffenheit nach im Bewußtsein produziert
ist, so folgt daraus noch durchaus nicht, daß er auch seiner
Bedeutung nach nur subjektiv ist. Er entspringt vielmehr
ebensosehr seinem Inhalte nach aus der Objektivität, wie
er seiner begrifflichen Form nach aus dem Bewußtsein entspringt.
Er ist die notwendige objektive Ergänzung des
Wahrnehmungsbildes. Gerade deswegen, weil das Wahrnehmungsbild
ein unvollständiges, in sich unvollendetes ist, sind
wir gezwungen, demselben als sinnlicher Erfahrung die notwendige
Ergänzung hinzuzufügen. Wäre das unmittelbar
Gegebene sich selbst so weit genug, daß uns nicht an jedem
Punkte desselben ein Problem erwüchse, wir brauchten nimmermehr
über dasselbe hinauszugehen. Aber die Wahrnehmungsbilder
folgen durchaus nicht so aufeinander und auseinander,
daß wir sie selbst als gegenseitige Folgen voneinander
ansehen können; sie folgen vielmehr aus etwas anderem,
was der sinnlichen Auffassung verschlossen ist. Es tritt
ihnen das begriffliche Auffassen gegenüber und erfaßt
auch jenen Teil der Wirklichkeit, der den Sinnen verschlossen
bleibt. Das Erkennen wäre schlechterdings ein nutzloser
Prozeß, wenn in der Sinnenerfahrung uns ein Vollendetes
überliefert würde. Jedes Zusammenfassen, Ordnen,
Gruppieren der sinnenfälligen Tatsachen hätte keinerlei
objektiven Wert. Das Erkennen hat nur einen Sinn,
wenn wir die den Sinnen gegebene Gestalt nicht als eine
vollendete gelten lassen, wenn sie uns eine Halbheit ist,
die noch Höheres in sich birgt, was aber nicht mehr sinnlich
wahrnehmbar ist. Da tritt der Geist ein. Er nimmt
jenes Höhere wahr. Deshalb darf das Denken auch nicht
so gefaßt werden, als wenn es zu dem Inhalte der Wirklichkeit
etwas hinzubrächte. Es ist nicht mehr und nicht
weniger Organ des Wahrnehmens wie Auge und Ohr. So
wie jenes Farben, dieses Töne, so nimmt das Denken Ideen
wahr. Der Idealismus ist deshalb mit dem Prinzipe des
empirischen Forschens ganz gut vereinbar. Die Idee ist
nicht Inhalt des subjektiven Denkens, sondern Forschungsresultat.
Die Wirklichkeit tritt uns, indem wir uns ihr mit
offenen Sinnen entgegenstellen, gegenüber. Sie tritt uns in
einer Gestalt gegenüber, die wir nicht als ihre wahre ansehen
können; die letztere erreichen wir erst, wenn wir unser
Denken in Fluß bringen. Erkennen heißt: zu der halben
Wirklichkeit der Sinnenerfahrung die Wahrnehmung
des Denkens hinzufügen, auf daß ihr Bild vollständig
werde.
Es kommt alles darauf an, wie man sich das Verhältnis
von Idee und sinnenfälliger Wirklichkeit denkt. Unter der
letzteren will ich hier die Gesamtheit der durch die Sinne
dem Menschen vermittelten Anschauungen verstehen. Da
ist die am weitesten verbreitete Ansicht die, daß der Begriff
bloß ein dem Bewußtsein angehöriges Mittel sei,
durch das es sich der Daten der Wirklichkeit bemächtigt.
Das Wesen der Wirklichkeit liegt im Ansich der Dinge
selbst, so daß, wenn wir wirklich imstande wären, auf
den Urgrund der Dinge zu kommen, wir uns doch nur des
begrifflichen Abbildes desselben und keineswegs seiner
selbst bemächtigen könnten. Da sind also zwei ganz getrennte
Welten vorausgesetzt. Die objektive Außenwelt,
die ihr Wesen, die Gründe ihres Daseins in sich trägt und
die subjektiv-ideale Innenwelt, die ein begriffliches Abbild
der Außenwelt sein soll. Die letztere ist für das Objektive
ganz gleichgültig, sie wird von ihm nicht gefordert,
sie ist nur für den erkennenden Menschen da. Die Kongruenz
dieser beiden Welten würde das erkenntnistheoretische
Ideal dieser Grundansicht sein. Ich rechne zur letzteren
nicht nur die naturwissenschaftliche Richtung unserer
Zeit, sondern auch die Philosophie Kants, Schopenhauers
und der Neukantianer und nicht weniger die letzte Phase
der Philosophie Schellings. Alle diese Richtungen stimmen
darin überein, daß sie die Essenz der Welt in einem Transsubjektiven
suchen und von ihrem Standpunkte aus zugeben
müssen, daß die subjektiv-ideale Welt, die ihnen deshalb
auch bloße Vorstellungswelt ist, nichts für die Wirklichkeit
selbst, sondern einzig und allein etwas für das
menschliche Bewußtsein bedeutet.
Ich habe bereits angedeutet, daß diese Ansicht zu der
Konsequenz einer vollkommenen Kongruenz von Begriff
(Idee) und Anschauung führt. Was sich in der letzteren
vorfindet, müßte in ihrem begrifflichen Gegenbilde wieder
enthalten sein, nur in ideeller Form. Hinsichtlich des Inhaltes
müßten sich die beiden Welten vollständig decken.
Die Verhältnisse der räumlich-zeitlichen Wirklichkeit müßten
sich genau in der Idee wiederholen; nur daß statt der
wahrgenommenen Ausdehnung, Gestalt, Farbe usw. die
entsprechende Vorstellung vorhanden sein müßte. Wenn
ich z. B. ein Dreieck sehe, so müßte ich seine Umrisse, die
Größe, Richtung seiner Seiten usw. im Gedanken verfolgen
und mir eine begriffliche Photographie verfertigen.
Bei einem zweiten Dreiecke müßte ich genau dasselbe machen
und so bei jedem Gegenstande der äußeren und inneren
Sinnenwelt. Es würde sich so jedes Ding seinem Orte,
seinen Eigenschaften nach genau in meinem idealen Weltbilde
wiederfinden.
Wir müssen uns nun fragen: Entspricht diese Konsequenz
den Tatsachen? Ganz und gar nicht. Mein Begriff
des Dreieckes ist ein einziger, der alle einzelnen, angeschauten
Dreiecke umfaßt; und ich mag ihn noch so oft vorstellen,
er bleibt immer derselbe. Meine verschiedenen Vorstellungen
des Dreieckes sind alle miteinander identisch.
Ich habe überhaupt nur einen Begriff des Dreieckes.
In der Wirklichkeit stellt sich jedes Ding dar als ein
besonderes, vollbestimmtes «Dieses», dem ebenso vollbestimmte,
mit realer Wirklichkeit gesättigte «Jene» gegenüberstehen.
Dieser Mannigfaltigkeit tritt der Begriff als
strenge Einheit gegenüber. In ihm gibt es keine Besonderung,
keine Teile, er vervielfältigt sich nicht, ist, unendlich
oft vorgestellt, immer derselbe.
Es fragt sich nun: Was ist denn eigentlich der Träger
dieser Identität des Begriffes? Seine Erscheinungsform als
Vorstellung kann es in der Tat nicht sein, denn darin hatte
Berkeley wohl vollkommen recht, daß er behauptet, die
eine Vorstellung des Baumes von jetzt habe mit der desselben
Baumes in einer Minute darauf, wenn ich zwischen
beiden die Augen geschlossen halte, absolut nichts zu tun;
ebensowenig die verschiedenen Vorstellungen eines Gegenstandes
bei mehreren Individuen miteinander. Es kann die
Identität also nur im Inhalte der Vorstellung, in deren
Was liegen. Das Bedeutungsvolle, der Gehalt muß mir die
Identität verbürgen.
Damit fällt aber auch jene Ansicht, die dem Begriffe
oder der Idee allen selbständigen Inhalt abspricht. Dieselbe
glaubt nämlich, die begriffliche Einheit sei als solche
überhaupt ohne allen Inhalt; sie entstehe lediglich dadurch,
daß gewisse Bestimmungen in den Erfahrungsobjekten
hinweggelassen werden, das Gemeinsame hingegen
herausgehoben und unserem Intellekte einverleibt werde
behufs einer bequemen Zusammenfassung der Mannigfaltigkeit
der objektiven Wirklichkeit nach dem Prinzipe,
durch möglichst wenige allgemeine Einheiten - also nach
dem Prinzipe des kleinsten Kraftmaßes — die gesamte Erfahrung
mit dem Geiste zu umfassen. Neben der modernen
Naturphilosophie steht Schopenhauer auf diesem Standpunkte.
In seiner schroffsten und deshalb einseitigsten
Konsequenz aber wird er vertreten in dem Schriftchen von
Richard Avenarius: «Die Philosophie als Denken der Welt
gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena
zu einer Kritik der reinen Erfahrung» [Leipzig 1876].
Diese Ansicht beruht aber lediglich auf einer vollständigen
Verkennung nicht nur des Gehaltes des Begriffes,
sondern auch der Anschauung.
Um hier Klarheit zu schaffen, ist es notwendig, auf
den Grund zurückzugehen, der die Anschauung als ein Besonderes
dem Begriffe als einem Allgemeinen gegenüberstellt.
Man wird sich fragen müssen: Worinnen liegt denn eigentlich
das Charakteristikon des Besonderen? Ist dasselbe
begrifflich zu bestimmen? Können wir sagen: Diese begriffliche
Einheit muß in diese oder jene anschaulichen, besonderen
Mannigfaltigkeiten zerfallen? Nein, ist die ganz
bestimmte Antwort. Der Begriff selbst kennt die Besonderheit
gar nicht. Sie muß also in Elementen liegen, die dem
Begriffe als solchem gar nicht zugänglich sind. Nachdem
wir aber ein Zwischenglied zwischen Anschauung und Begriff
nicht kennen - wollte man nicht etwa Kants phantastisch-
mystische Schemen anführen, die aber heute doch
nur für Tändelei gelten können -,so müssen diese Elemente
der Anschauung selbst angehören. Der Grund der Besonderung
kann nicht aus dem Begriffe abgeleitet, sondern muß
innerhalb der Anschauung selbst gesucht werden. Das, was
die Besonderheit eines Objektes ausmacht, läßt sich nicht
begreifen, sondern nur anschauen, Darin liegt der Grund,
warum jede Philosophie scheitern muß, die aus dem Begriffe
selbst die ganze anschauliche Wirklichkeit ihrer Besonderheit
nach ableiten (deduzieren) will. Da liegt auch
der klassische Irrtum Fichtes, der die ganze Welt aus dem
Bewußtsein ableiten wollte.
Wer diese Unmöglichkeit aber der Idealphilosophie als
einen Mangel vorwirft und sie damit abfertigen will, der
handelt in der Tat um nichts vernünftiger als der Philosoph
[W. T.] Krug, ein Nachfolger Kants, der von der
Identitätsphilosophie forderte, sie solle ihm seine Schreibfeder
deduzieren.
Was die Anschauung wirklich wesentlich von der Idee
unterscheidet, ist eben dieses Element, das nicht in Begriffe
gebracht werden kann und das eben erfahren werden muß.
Dadurch stehen sich Begriff und Anschauung zwar als
wesensgleiche, jedoch verschiedene Seiten der Welt gegenüber.
Und da die letztere den ersteren fordert, wie wir dargelegt
haben, beweist sie, daß sie ihre Essenz nicht in ihrer
Besonderheit, sondern in der begrifflichen Allgemeinheit
hat. Diese Allgemeinheit muß aber der Erscheinung nach
im Subjekte erst aufgefunden werden; denn sie kann zwar
vom Subjekte an dem Objekte, nicht aber aus dem letzteren
gewonnen werden.
Der Begriff kann seinen Inhalt nicht aus der Erfahrung
entlehnen, denn er nimmt gerade das Charakteristische der
Erfahrung, die Besonderheit, nicht in sich auf. Alles, was
die letztere konstruiert, ist ihm fremd. Er muß sich also
selbst seinen Inhalt geben.
Man sagt gewöhnlich, das Erfahrungsobjekt sei individuell,
sei lebendige Anschauung, der Begriff dagegen abstrakt,
gegen die inhaltsvolle Anschauung arm, dürftig,
leer. Aber worin wird hier der Reichtum der Bestimmungen
gesucht? In der Zahl derselben, die eben bei der Unendlichkeit
des Raumes unendlich groß sein kann. Darum
ist aber der Begriff nicht weniger vollbestimmt. Die Zahl
von dort ist bei ihm durch Qualitäten ersetzt. So wie aber
im Begriffe sich die Zahl nicht findet, so fehlt der Anschauung
das Dynamisch-Qualitative der Charaktere. Der
Begriff ist ebenso individuell, ebenso inhaltsvoll wie die
Anschauung. Der Unterschied ist nur der, daß bei Erfassung
des Inhalts der Anschauung nichts notwendig ist als
offene Sinne, rein passives Verhalten der Außenwelt gegenüber,
während der ideelle Kern der Welt im Geiste
durch dessen eigenes spontanes Verhalten entstehen muß,
wenn er überhaupt zum Vorschein kommen soll. Es ist
eine ganz belanglose und müßige Redensart zu sagen: der
Begriff sei der Feind der lebendigen Anschauung. Er ist
ihr Wesen, das eigentlich treibende und wirkende Prinzip
in ihr, fügt zu ihrem Inhalte den seinen hinzu, ohne den
ersteren aufzuheben - denn er geht ihn als solcher nichts
an - und er sollte der Feind der Anschauung sein! Feind ist
er ihr nur, wenn eine sich selbst mißverstehende Philosophie
den ganzen, reichen Inhalt der Sinnenwelt aus der
Idee herausspinnen will. Denn sie liefert dann, statt der
lebendigen Natur, ein leeres Phrasenschema.
Nur auf die von uns angedeutete Weise kommt man zu
einer befriedigenden Erklärung dessen, was eigentlich Erfahrungswissen
ist. Die Notwendigkeit, zur begrifflichen
Erkenntnis fortzuschreiten, wäre schlechterdings nicht einzusehen,
wenn der Begriff nichts Neues zur sinnenfälligen
Anschauung hinzubrächte. Das reine Erfahrungswissen
dürfte keinen Schritt über die Millionen Einzelheiten hinausmachen,
die uns in der Anschauung vorliegen. Das reine
Erfahrungswissen muß konsequenterweise seinen eigenen
Inhalt negieren. Denn wozu im Begriffe noch einmal schaffen,
was in der Anschauung ja ohnehin vorhanden ist?
Der konsequente Positivismus müßte nach diesen Erwägungen
einfach jede wissenschaftliche Arbeit einstellen und
sich auf die bloßen Zufälligkeiten verlassen. Indem er das
nicht tut, führt er tatsächlich aus, was er theoretisch verneint.
Überhaupt gibt sowohl der Materialismus wie der
Realismus implicite zu, was wir behaupten. Deren Vorgehen
hat nur eine Berechtigung von unserem Standpunkte
aus, während es mit ihren eigenen theoretischen Grundanschauungen
im schreiendsten Widerspruche steht.
Von unserem Standpunkte aus erklärt sich die Notwendigkeit
wissenschaftlicher Erkenntnis und die Überschreitung
der Erfahrung ganz widerspruchslos. Als das zuerst
und unmittelbar Gegebene tritt uns die Sinnenwelt gegenüber;
sie sieht uns wie ein ungeheures Rätsel an, weil wir
das Treibende, Wirkende derselben in ihr selbst nimmermehr
finden können. Da tritt die Vernunft hinzu und hält
mit der idealen Welt der Sinnenwelt die prinzipielle Wesenheit
gegenüber, die die Lösung des Rätsels bildet. So
objektiv die Sinnenwelt, so objektiv sind diese Prinzipien.
Daß sie für die Sinne nicht, sondern nur für die Vernunft
zur Erscheinung kommen, ist für ihren Inhalt gleichgültig.
Gäbe es keine denkenden Wesen, so kämen diese Prinzipien
zwar niemals zur Erscheinung; sie wären deshalb
aber nicht minder die Essenz der Erscheinungswelt.
Damit haben wir der transzendenten Weltansicht Lokkes,
Kants, des späteren Schelling, Schopenhauers, Volkelts,
der Neukantianer und der modernen Naturforscher
eine wahrhaft immanente gegenübergestellt.
Jene suchen den Weltgrund in einem dem Bewußtsein
Fremden, Jenseitigen, die immanente Philosophie in dem,
was für die Vernunft zur Erscheinung kommt. Die transzendente
Weltansicht betrachtet die begriffliche Erkenntnis
als Bild der Welt, die immanente als die höchste Erscheinungsform
derselben. Jene kann daher nur eine formale
Erkenntnistheorie liefern, die sich auf die Frage gründet:
Welches ist das Verhältnis von Denken und Sein?
Diese stellt an die Spitze ihrer Erkenntnistheorie die Frage:
Was ist Erkennen? Jene geht von dem Vorurteil einer essentiellen
Differenz von Denken und Sein aus, diese geht
vorurteilslos auf das allein Gewisse, das Denken, los und
weiß, daß sie außer dem Denken kein Sein finden kann.
Fassen wir die an der Hand erkenntnistheoretischer Erwägungen
gewonnenen Resultate zusammen, so ergibt sich
folgendes: Wir haben von der völlig bestimmungslosen,
unmittelbaren Form der Wirklichkeit auszugehen, von
dem, was den Sinnen gegeben ist, bevor wir unser Denken
in Fluß bringen, von dem nur Gesehenen, nur Gehörten
usw. Es kommt darauf an, daß wir uns bewußt sind,
was uns die Sinne liefern und was das Denken. Die Sinne
sagen uns nicht, daß die Dinge in irgendeinem Verhältnisse
zueinander stehen, wie etwa, daß dieses Ursache,
jenes Wirkung ist. Für die Sinne sind alle Dinge gleich wesentlich
für den Weltenbau. Das gedankenlose Betrachten
weiß nicht, daß das Samenkorn auf einer höheren Stufe der
Vollkommenheit steht als das Staubkorn auf der Straße.
Für die Sinne sind beide gleichbedeutende Wesen, wenn
sie äußerlich gleich aussehen. Napoleon ist auf dieser Stufe
der Betrachtung nicht welthistorisch wichtiger als Hinz
oder Kunz im abgelegenen Gebirgsdorfe. Bis hierher ist die
Erkenntnistheorie von heute vorgedrungen. Daß sie aber
diese Wahrheiten keineswegs erschöpfend durchdacht hat,
das zeigt der Umstand, daß fast alle Erkenntnistheoretiker
den Fehler machen, diesem vorläufig unbestimmten und
bestimmungslosen Gebilde, dem wir auf der ersten Stufe
unseres Wahrnehmens gegenübertreten, sogleich das Prädikat
beizulegen, daß es Vorstellung sei. Das heißt doch
gegen die eigene, eben gewonnene Einsicht in der gröbsten
Weise verstoßen. So wenig wir, wenn wir bei der unmittelbaren
Sinnesauffassung stehen bleiben, wissen, daß der
fallende Stein die Ursache der Vertiefung an dem Orte ist,
wo er aufgefallen, so wenig wissen wir, daß er Vorstellung
ist. So wie wir zu jenem erst durch mannigfache Erwägungen
gelangen können, so könnten wir auch zu der Erkenntnis,
daß die uns gegebene Welt bloße Vorstellung sei, auch
wenn sie richtig wäre, nur durch Nachdenken kommen.
Ob das, was sie mir vermitteln, ein reales Wesen, ob es
bloß Vorstellung ist, darüber geben mir die Sinne keinen
Aufschluß. Die Sinnenwelt stellt sich uns gegenüber wie
aus der Pistole geschossen. Wir müssen, wenn wir sie in
ihrer Reinheit haben wollen, uns enthalten, ihr irgendein
charakterisierendes Prädikat beizulegen. Wir können nur
das eine sagen: Sie tritt uns gegenüber, sie ist uns gegeben.
Damit ist über sie selbst eben noch gar nichts ausgemacht.
Nur wenn wir so verfahren, versperren wir uns nicht den
Weg zu einer unbefangenen Beurteilung dieses Gegebenen.
Wenn wir ihm von vornherein ein Charakteristiken beilegen,
so hört diese Unbefangenheit auf. Wenn wir z. B.
sagen: das Gegebene sei Vorstellung, so kann die ganze
folgende Untersuchung nur unter dieser Voraussetzung geführt
werden. Wir lieferten auf diese Weise keine voraussetzungslose
Erkenntnistheorie, sondern wir beantworteten
die Frage: was ist Erkennen? unter der Voraussetzung,
daß das den Sinnen Gegebene Vorstellung ist. Das ist der
Grundfehler der Erkenntnistheorie Volkelts. Er stellt am
Beginne derselben in aller Strenge die Forderung auf, daß
die Erkenntnistheorie voraussetzungslos sein müsse. Er
stellt aber an die Spitze den Satz: daß wir eine Mannigfaltigkeit
von Vorstellungen haben. So ist seine Erkenntnistheorie
nur die Beantwortung der Frage: wie ist Erkennen
möglich unter der Voraussetzung, daß das Gegebene
eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen ist? Für uns wird
sich die Sache ganz anders stellen. Wir nehmen das Gegebene,
wie es ist: als Mannigfaltigkeit von - irgend etwas,
das sich uns selbst enthüllen wird, wenn wir uns von ihm
fortdrängen lassen. So haben wir Aussicht, zu einer objektiven
Erkenntnis zu gelangen, weil wir das Objekt selbst
sprechen lassen. Wir können hoffen, daß uns dieses Gebilde,
dem wir gegenüberstehen, alles enthüllt, wessen wir
bedürfen, wenn wir den freien Zutritt seiner Kundgebungen
zu unserem Urteilsvermögen nicht durch ein hemmendes
Vorurteil unmöglich machen. Denn selbst dann, wenn
uns die Wirklichkeit ewig rätselhaft bleiben sollte, hätte
eine solche Wahrheit nur Wert, wenn sie an der Hand der
Dinge gewonnen wäre. Völlig bedeutungslos aber wäre die
Behauptung: unser Bewußtsein sei so und so beschaffen,
deshalb können wir über die Dinge der Welt nicht ins klare
kommen. Ob unsere geistigen Kräfte ausreichen, das Wesen
der Dinge zu erfassen, müssen wir an diesen selbst erproben.
Ich kann die vollkommensten Geisteskräfte haben;
wenn die Dinge keinen Aufschluß über sich geben, so helfen
mir meine Anlagen nichts. Und umgekehrt, ich mag
wissen, daß meine Kräfte gering sind; ob sie nicht dennoch
hinreichen die Dinge zu erkennen, weiß ich deshalb
noch nicht.
Was wir weiter eingesehen haben, ist dieses: Das unmittelbar
Gegebene läßt uns in der charakterisierten Form
unbefriedigt. Es tritt uns wie eine Forderung, wie ein zu
lösendes Rätsel gegenüber. Es sagt uns: Ich bin da; aber so
wie ich dir da entgegentrete, bin ich nicht in meiner wahren
Gestalt. Indem wir diese Stimme von außen vernehmen,
indem wir uns bewußt werden, daß wir einer Halbheit,
einem Wesen gegenüberstehen, das uns seine bessere
Seite verbirgt, kündigt sich in unserem Innern die Tätigkeit
jenes Organes an, durch das wir über die andere Seite
des Wirklichen Aufschluß erlangen, durch das wir die
Halbheit zu einer Ganzheit zu ergänzen imstande sind.
Wir werden uns bewußt, daß wir das, was wir nicht
sehen, hören usw., durch das Denken ergänzen müssen.
Das Denken ist berufen, das Rätsel zu lösen, das uns die
Anschauung aufgibt.
Klarheit über dieses Verhältnis wird uns erst, wenn wir
untersuchen, warum wir von der anschaulichen Wirklichkeit
unbefriedigt, von der gedachten dagegen befriedigt
sind. Die anschauliche Wirklichkeit tritt uns als Fertiges
gegenüber. Es ist eben da; wir haben nichts dazu beigetragen,
daß es so ist. Wir fühlen uns daher einem fremden
Wesen gegenüber, das wir nicht produziert haben, ja bei
dessen Produktion wir nicht einmal gegenwärtig waren.
Wir stehen vor einem Gewordenen. Erfassen aber können
wir nur das, von dem wir wissen, wie es so geworden, wie
es zustande gekommen ist; wenn wir wissen, wo die Fäden
sind, an denen das hängt, was vor uns erscheint. Bei unserem
Denken ist das anders. Ein Gedankengebilde tritt mir
nicht gegenüber, ohne daß ich selbst an seinem Zustandekommen
mitwirke; es kommt nur so in das Feld meines
Wahrnehmens, daß ich es selbst aus dem dunklen Abgrund
der Wahrnehmungslosigkeit heraufhebe. Der Gedanke tritt
in mir nicht als fertiges Gebilde auf, wie die Sinneswahrnehmung,
sondern ich bin mir bewußt, daß, wenn ich ihn in
einer abgeschlossenen Form festhalte, ich ihn selbst auf
diese Form gebracht habe. Was mir vorliegt erscheint mir
nicht als erstes, sondern als letztes, als der Abschluß eines
Prozesses, der mit mir so verwachsen ist, daß ich immer
innerhalb seiner gestanden habe. Das aber ist es, was ich
bei einem Dinge, das in den Horizont meines Wahrnehmens
tritt, verlangen muß, um es zu begreifen. Es darf mir
nichts dunkel bleiben; es darf nichts als Abgeschlossenes
erscheinen; ich muß es selbst verfolgen bis zu jener Stufe,
wo es ein Fertiges geworden ist. Deshalb drängt uns die
unmittelbare Form der Wirklichkeit, die wir gewöhnlich
Erfahrung nennen, zu einer wissenschaftlichen Bearbeitung.
Wenn wir unser Denken in Fluß bringen, dann gehen
wir auf die uns zuerst verborgen gebliebenen Bedingungen
des Gegebenen zurück; wir arbeiten uns vom Produkt zur
Produktion empor, wir gelangen dazu, daß uns die Sinneswahrnehmung
auf dieselbe Weise durchsichtig wird wie
der Gedanke. Unser Erkenntnisbedürfnis wird so befriedigt.
Wir können also erst dann mit einem Dinge wissenschaftlich
abschließen, wenn wir das unmittelbar Wahrgenommene
mit dem Denken ganz (restlos) durchdrungen
haben. Ein Prozeß der Welt erscheint nur dann als von uns
ganz durchdrungen, wenn er unsere eigene Tätigkeit ist.
Ein Gedanke erscheint als der Abschluß eines Prozesses,
innerhalb dessen wir stehen. Das Denken ist aber der einzige
Prozeß, bei dem wir uns ganz innerhalb stellen können,
in dem wir aufgehen können. Daher muß der wissenschaftlichen
Betrachtung die erfahrene Wirklichkeit auf
dieselbe Weise als aus der Gedankenentwicklung hervorgehend
erscheinen, wie ein reiner Gedanke selbst. Das Wesen
eines Dinges erforschen heißt, im Zentrum der Gedankenwelt
einsetzen und aus diesem heraus arbeiten, bis uns
ein solches Gedankengebilde vor die Seele tritt, das uns
mit dem erfahrenen Dinge identisch erscheint. Wenn wir
von dem Wesen eines Dinges oder der Welt überhaupt
sprechen, so können wir also gar nichts anderes meinen,
als das Begreifen der Wirklichkeit als Gedanke, als Idee.
In der Idee erkennen wir dasjenige, woraus wir alles andere
herleiten müssen: das Prinzip der Dinge. Was die Philosophen
das Absolute, das ewige Sein, den Weltengrund,
was die Religionen Gott nennen, das nennen wir, auf
Grund unserer erkenntnistheoretischen Erörterungen: die
Idee. Alles, was in der Welt nicht unmittelbar als Idee erscheint,
wird zuletzt doch als aus ihr hervorgehend erkannt.
Was oberflächliche Betrachtung bar alles Anteils
an der Idee glaubt, leitet tieferes Denken aus ihr ab. Keine
andere Form des Daseins kann uns befriedigen, als die aus
der Idee hergeleitete. Nichts darf abseits stehen bleiben,
alles muß ein Teil des großen Ganzen werden, das die Idee
umspannt. Sie aber fordert kein Hinausgehen über sich
selbst. Sie ist die auf sich gebaute, in sich selbst festbegründete
Wesenheit. Das liegt nicht etwa darinnen, daß wir sie
in unserem Bewußtsein unmittelbar gegenwärtig haben.
Das liegt an ihr selbst. Wenn sie ihr Wesen nicht selbst ausspräche,
dann würde sie uns eben auch so erscheinen wie
die übrige Wirklichkeit: aufklärungsbedürftig. Das scheint
denn doch dem zu widersprechen, was wir oben sagten:
die Idee erschiene deshalb in einer uns befriedigenden
Form, weil wir bei ihrem Zustandekommen tätig mitwirken.
Das rührt aber nicht von der Organisation unseres
Bewußtseins her. Wäre die Idee nicht eine auf sich selbst
gebaute Wesenheit, so könnten wir ein solches Bewußtsein
gar nicht haben. Wenn etwas das Zentrum, aus dem es
entspringt, nicht in sich, sondern außer sich hat, so kann ich,
wenn es mir gegenübertritt, mich mit ihm nicht befriedigt
erklären, ich muß über dasselbe hinausgehen, eben zu
jenem Zentrum. Nur wenn ich auf etwas stoße, das nicht
über sich hinausweist, dann erlange ich das Bewußtsein:
jetzt stehst du innerhalb des Zentrums; hier kannst du
stehen bleiben. Mein Bewußtsein, daß ich innerhalb eines
Dinges stehe, ist nur die Folge von der objektiven Beschaffenheit
dieses Dinges, daß es sein Prinzip mit sich bringe.
Wir gelangen, indem wir uns der Idee bemächtigen, in den
Kern der Welt. Was wir hier erfassen, ist dasjenige, aus
dem alles hervorgeht. Wir werden mit diesem Prinzipe
eine Einheit; deshalb erscheint uns die Idee, die das Objektivste
ist, zugleich als das Subjektivste.
Die sinnenfällige Wirklichkeit ist uns ja gerade deshalb
so rätselhaft, weil wir ihr Zentrum nicht in ihr selbst finden.
Sie hört es auf zu sein, wenn wir erkennen, daß sie
mit der Gedankenwelt, die in uns zur Erscheinung kommt,
dasselbe Zentrum hat.
Dieses Zentrum kann nur ein einheitliches sein. Es muß
ja so sein, daß alles übrige darauf hinweist, als auf seinen
Erklärungsgrund. Gäbe es mehrere centra der Welt - mehrere
principia, aus denen die Welt zu erkennen wäre - und
wiese ein Gebiet der Wirklichkeit auf dieses, ein anderes
auf jenes Weltprinzip hin, dann wären wir, sobald wir uns
in einem Wirklichkeitsgebiet befänden, nur auf das eine
Zentrum hingewiesen. Es fiele uns gar nicht ein, noch nach
einem andern zu fragen. Nichts wüßte das eine Gebiet von
dem andern. Sie wären füreinander einfach nicht da. Es
hat deshalb gar keinen Sinn, von mehr als einer Welt zu
sprechen. Die Idee ist daher an allen Orten der Welt, in
allen Bewußtseinen eine und dieselbe. Daß es verschiedene
Bewußtseine gibt und jedes die Idee vorstellt, ändert
nichts an der Sache. Der Ideengehalt der Welt ist auf sich
selbst gebaut, in sich vollkommen. Wir erzeugen ihn nicht,
wir suchen ihn nur zu erfassen. Das Denken erzeugt ihn
nicht, sondern nimmt ihn wahr. Es ist nicht Produzent,
sondern Organ der Auffassung. So wie verschiedene Augen
einen und denselben Gegenstand sehen, so denken verschiedene
Bewußtseine einen und denselben Gedankeninhalt.
Die mannigfaltigen Bewußtseine denken ein und dasselbe;
sie nähern sich dem Einen nur von verschiedenen
Seiten. Deshalb erscheint es ihnen mannigfaltig modifiziert.
Diese Modifikation ist aber keine Verschiedenheit
der Objekte, sondern nur ein Auffassen unter andern Gesichtswinkeln.
Die Verschiedenheit der menschlichen Ansichten
ist ebenso erklärlich wie die Verschiedenheit, die
eine Landschaft für zwei an verschiedenen Orten befindliche
Beobachter aufweist. Wenn man nur überhaupt imstande
ist, bis zur Ideenwelt vorzudringen, so kann man
sicher sein, daß man zuletzt eine mit allen Menschen gemeinsame
Ideenwelt hat. Es kann sich dann höchstens noch
darum handeln, daß wir diese Welt auf recht einseitige
Weise erfassen, daß wir auf einem Standpunkte stehen,
wo sie uns gerade im ungünstigsten Lichte erscheint usw.
Der vollständig von allem Gedankeninhalt entblößten
Sinnenwelt stehen wir wohl niemals gegenüber. Höchstens
im ersten Kindesalter, wo vom Denken noch keine
Spur da ist, kommen wir der reinen Sinnesauffassung nahe.
Im gewöhnlichen Leben haben wir es mit einer Erfahrung
zu tun, die halb und halb von dem Denken durchtränkt
ist, die schon mehr oder weniger aus dem Dunkel des Anschauens
zur lichten Klarheit des geistigen Erfassens gehoben
erscheint. Die Wissenschaften arbeiten darauf hinaus,
diese Dunkelheit völlig zu überwinden und nichts in
der Erfahrung zu lassen, was nicht von dem Gedanken
durchsetzt würde. Was hat nun gegenüber den übrigen
Wissenschaften die Erkenntnistheorie für eine Aufgabe
erfüllt? Sie hat uns aufgeklärt über Zweck und Aufgabe
aller Wissenschaft. Sie hat uns gezeigt, welche Bedeutung
der Inhalt der einzelnen Wissenschaften hat. Unsere Erkenntnistheorie
ist die Wissenschaft von der Bestimmung
aller andern Wissenschaften. Sie hat uns aufgeklärt darüber,
daß das in den einzelnen Wissenschaften Gewonnene
der objektive Grund des Weltendaseins ist. Die Wissenschaften
gelangen zu einer Reihe von Begriffen; über die
eigentliche Aufgabe dieser Begriffe belehrt uns die Erkenntnistheorie.
Mit diesem charakteristischen Ergebnis
weicht unsere im Sinne der Goetheschen Denkweise gehaltene
Erkenntnistheorie von allen andern Erkenntnistheorien
der Gegenwart ab. Sie will nicht bloß einen formalen
Zusammenhang zwischen Denken und Sein feststellen;
sie will das erkenntnistheoretische Problem nicht bloß
logisch lösen, sie will zu einem positiven Resultat kommen.
Sie zeigt, was der Inhalt unseres Denkens ist; und sie findet,
daß dieses Was zugleich der objektive Weltinhalt ist.
So wird uns die Erkenntnistheorie zur bedeutungsvollsten
Wissenschaft für den Menschen. Sie klärt den Menschen
über sich selbst auf, sie zeigt ihm seine Stellung in der Welt;
sie ist damit ein Quell der Befriedigung für ihn. Sie sagt
ihm erst, wozu er berufen ist. Im Besitze ihrer Wahrheiten
fühlt sich der Mensch gehoben; sein wissenschaftliches Forschen
gewinnt eine neue Beleuchtung. Nun erst weiß er, daß
er mit dem Kern des Weltendaseins unmittelbarst verknüpft
ist, daß er diesen Kern, der allen übrigen Wesen verborgen
bleibt, enthüllt, daß in ihm der Weltgeist zur Erscheinung
kommt, daß dieser ihm innewohnt. Er sieht in sich selbst
den Vollender des Weltprozesses, er sieht, daß er berufen
ist, das zu vollenden, was die andern Kräfte der Welt nicht
vermögen, daß er der Schöpfung die Krone aufzusetzen
hat. Lehrt die Religion, daß Gott den Menschen nach seinem
Ebenbilde geschaffen hat, so lehrt uns unsere Erkenntnistheorie,
daß Gott die Schöpfung überhaupt nur bis zu
einem gewissen Punkte geführt hat. Da hat er den Menschen
entstehen lassen und dieser stellt sich, indem er sich selbst
erkennt und um sich blickt, die Aufgabe, fortzuwirken, zu
vollenden, was die Urkraft begonnen hat. Der Mensch vertieft
sich in die Welt und erkennt, was sich auf dem Boden,
der gelegt ist, weiter bauen läßt, er ersieht die Andeutung,
die der Urgeist gemacht hat und führt das Angedeutete aus.
So ist die Erkenntnistheorie zugleich die Lehre von der Bedeutung
und Bestimmung des Menschen; und sie löst diese
Aufgabe (von der «Bestimmung des Menschen») in viel
bestimmterer Weise als dies Fichte am Wendepunkte des
18. und 19. Jahrhunderts getan hat. Man gelangt durch die
Gedankengestaltung dieses starken Geistes durchaus nicht
zu jener vollen Befriedigung, die uns durch eine echte Erkenntnistheorie
werden muß.
Wir haben allem einzelnen Dasein gegenüber die Aufgabe,
es zu bearbeiten, so daß es als von der Idee ausfließend
erscheint, daß es als einzelnes ganz verflüchtigt und
aufgeht in der Idee, in deren Element wir uns versetzt fühlen.
Unser Geist hat die Aufgabe, sich so auszubilden, daß
er imstande ist, alle ihm gegebene Wirklichkeit in der Art
zu durchschauen, wie sie von der Idee ausgehend erscheint.
Wir müssen uns als fortwährende Arbeiter erweisen in dem
Sinne, daß wir jedes Erfahrungsobjekt umgestalten, so daß
es als Teil unseres ideellen Weltbildes auftritt. Damit sind
wir da angekommen, wo die Goethesche Weltbetrachtungsweise
einsetzt. Wir müssen das Gesagte so anwenden, daß
wir uns vorstellen, das von uns dargestellte Verhältnis von
Idee und Wirklichkeit sei im Goetheschen Forschen Tat;
Goethe geht den Dingen so zu Leibe, wie wir es gerechtfertigt
haben. Er sieht ja selbst sein inneres Wirken als eine
lebendige Heuristik an, die, eine unbekannte geahnete Regel
(die Idee) anerkennend, solche in der Außenwelt zu
finden und in der Außenwelt einzuführen trachtet («Sprüche
in Prosa», Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 374). Wenn
Goethe fordert, daß der Mensch seine Organe belehren soll
(«Sprüche in Prosa», ebenda S. 350), so hat das auch nur den
Sinn, daß der Mensch sich nicht einfach dem hingibt, was
ihm seine Sinne überliefern, sondern er gibt seinen Sinnen
die Richtung, daß sie ihm die Dinge im rechten Lichte zeigen.
X
WISSEN UND HANDELN IM LICHTE
DER GOETHESCHEN DENKWEISE
1. Methodologie
Wir haben das Verhältnis von der durch das wissenschaftliche
Denken gewonnenen Ideenwelt und der unmittelbar
gegebenen Erfahrung festgestellt- Wir haben Anfang und
Ende eines Prozesses kennen gelernt: Ideenentblößte Erfahrung
und ideenerfüllte Wirklichkeitsauffassung. Zwischen
beiden liegt aber menschliche Tätigkeit. Der Mensch
hat tätig das Ende aus dem Anfang hervorgehen zu lassen.
Die Art, wie er das tut, ist die Methode. Es ist nun selbstverständlich,
daß unsere Auffassung jenes Verhältnisses
von Anfang und Ende der Wissenschaft auch eine eigentümliche
Methode bedingen wird. Wovon werden wir bei
Entwicklung derselben auszugehen haben? Das wissenschaftliche
Denken muß sich Schritt für Schritt als ein
Überwinden jener dunklen Wirklichkeitsform ergeben, die
wir als unmittelbar Gegebenes bezeichnet haben, und ein
Heraufheben desselben in die lichte Klarheit der Idee. Die
Methode wird also darinnen bestehen müssen, daß wir bei
jeglichem Dinge die Frage beantworten: Welchen Anteil
hat es für die einheitliche Ideenwelt; welche Stelle nimmt
es in dem ideellen Bilde ein, das ich mir von der Welt
mache? Wenn ich das eingesehen habe, wenn ich erkannt
habe, wie ein Ding sich an meine Ideen anschließt, dann ist
mein Erkenntnisbedürfnis befriedigt. Für das letztere gibt
es nur ein Nichtbefriedigendes: wenn mir ein Ding gegenübertritt,
das sich nirgends an die von mir vertretene Anschauung
anschließen will. Das ideelle Unbehagen muß
überwunden werden, das daraus fließt, daß es irgend etwas
gibt, von dem ich mir sagen müßte: ich sehe, es ist da; wenn
ich ihm gegenübertrete, sieht es mich wie ein Fragezeichen
an; aber ich finde nirgends in der Harmonie meiner Gedanken
den Punkt, wo ich es einreihen könnte; die Fragen,
die ich in Ansehung seiner stellen muß, bleiben unbeantwortet;
ich mag mein Gedankensystem drehen und wenden,
wie ich will. Daraus ersehen wir, wessen wir in Ansehung
eines jeden Dinges bedürfen. Wenn ich ihm gegenübertrete,
starrt es mich als einzelnes an. In mir drängt die
Gedankenwelt jenem Punkte zu, wo der Begriff des Dinges
liegt. Ich ruhe nicht eher, bis das, was mir zuerst als
einzelnes gegenübergetreten ist, als Glied innerhalb der Gedankenwelt
erscheint. So löst sich das einzelne als solches
auf und erscheint in einem großen Zusammenhange. Jetzt
ist es von der andern Gedankenmasse beleuchtet, jetzt ist
es dienendes Glied; und es ist mir völlig klar, was es innerhalb
der großen Harmonie zu bedeuten hat. Das geht in
uns vor, wenn wir einem Gegenstande der Erfahrung betrachtend
gegenübertreten. Aller Fortschritt der Wissenschaft
beruht auf dem Gewahrwerden des Punktes, wo sich
irgend eine Erscheinung in die Harmonie der Gedankenwelt
eingliedern läßt. Man darf das nicht mißverstehen. Es
kann nicht so gemeint sein, als wenn jede Erscheinung durch
die hergebrachten Begriffe erklärbar sein müsse; als ob
unsere Ideenwelt abgeschlossen wäre und alles neu zu erfahrende
sich mit irgendeinem Begriffe, den wir schon
besitzen, decken müsse. Jenes Drängen der Gedankenwelt
kann auch zu einem Punkte hingehen, der bisher überhaupt
noch von keinem Menschen gedacht worden ist. Und das
ideelle Fortschreiten der Geschichte der Wissenschaft beruht
gerade darauf, daß das Denken neue Ideengebilde an
die Oberfläche wirft. Jedes solche Gedankengebilde hängt
mit tausend Fäden mit allen andern möglichen Gedanken
zusammen. Mit diesem Begriffe in dieser, mit einem andern
in einer andern Weise. Und darinnen besteht die wissenschaftliche
Methode, daß wir den Begriff einer einzelnen
Erscheinung in seinem Zusammenhange mit der übrigen
Ideenwelt aufzeigen. Wir nennen diesen Vorgang: Ableiten
(Beweisen) des Begriffes. Alles wissenschaftliche Denken
besteht aber nur darinnen, daß wir die bestehenden Übergänge
von Begriff zu Begriff finden, besteht in dem Hervorgehenlassen
eines Begriffes aus dem andern. Hin- und
Herbewegung unseres Denkens von Begriff zu Begriff, das
ist wissenschaftliche Methode. Man wird sagen, das sei ja
die alte Geschichte von der Korrespondenz von Begriffswelt
und Erfahrungswelt. Wir müßten voraussetzen, daß
die Welt außer uns (das Transsubjektive) unserer Begriffswelt
korrespondiere, wenn wir glauben sollen, daß das Hinund
Hergehen von Begriff zu Begriff zu einem Bilde der
Wirklichkeit führe. Das ist aber nur eine verfehlte Auffassung
des Verhältnisses von Einzelgebilde und Begriff. Wenn
ich einem Gebilde der Erfahrungswelt gegenübertrete, so
weiß ich überhaupt gar nicht, was es ist. Erst, wenn ich es
überwunden, wenn mir sein Begriff aufgeleuchtet hat, dann
weiß ich, was ich vor mir habe. Das will doch aber nicht
sagen, daß jenes Einzelgebilde und der Begriff zwei verschiedene
Dinge sind. Nein, sie sind dasselbe; und was mir
im besonderen gegenübertritt, ist nichts als der Begriff.
Der Grund, warum ich jenes Gebilde als abgesondertes,
von der andern Wirklichkeit getrenntes Stück sehe, ist eben
der, daß ich es seiner Wesenheit nach noch nicht erkenne,
daß es mir noch nicht als das entgegentritt, was es ist. Daraus
ergibt sich das Mittel, unsere wissenschaftliche Methode
weiter zu charakterisieren. Jedes einzelne Wirklichkeitsgebilde
repräsentiert innerhalb des Gedankensystems
einen bestimmten Inhalt. Es ist in der Allheit der Ideenwelt
begründet und kann nur im Zusammenhange mit ihr begriffen
werden. So muß notwendig jedes Ding zu einer doppelten
Denkarbeit auffordern. Zuerst ist der Gedanke in scharfen
Konturen festzustellen, der ihm entspricht, und hernach
sind alle Fäden festzustellen, die von diesem Gedanken zur
Gesamt-Gedankenwelt führen. Klarheit im einzelnen und
Tiefe im ganzen sind die zwei bedeutendsten Erfordernisse
der Wirklichkeit. Jene ist Sache des Verstandes, diese Sache
der Vernunft. Der Verstand schafft Gedankengebilde für
die einzelnen Dinge der Wirklichkeit. Er entspricht seiner
Aufgabe um so mehr, je genauer er dieselben umgrenzt, je
schärfere Konturen er zieht. Die Vernunft hat dann diese
Gebilde in die Harmonie der gesamten Ideenwelt einzureihen.
Das setzt natürlich folgendes voraus: In dem Inhalte
der Gedankengebilde, die der Verstand schafft, ist jene
Einheit schon, lebt schon ein und dasselbe Leben; nur hält
der Verstand alles künstlich auseinander. Die Vernunft
hebt, ohne die Klarheit zu verwischen, nur die Trennung
wieder auf. Der Verstand entfernt uns von der Wirklichkeit,
die Vernunft führt uns auf sie wieder zurück. Graphisch
wird sich das so darstellen:
In dem umstehenden Gebilde hängt alles zusammen;
es lebt in allen Teilen dasselbe Prinzip. Der Verstand
schafft die Trennung der einzelnen Gebilde, weil sie uns
ja in dem Gegebenen als einzelne gegenübertreten91, und die
Vernunft erkennt die Einheitlichkeit.92 Wenn wir folgende
zwei Wahrnehmungen haben: 1. die einfallenden Sonnenstrahlen
und 2. einen erwärmten Stein, so hält der Verstand
die beiden Dinge auseinander, weil sie uns als zwei gegenübertreten;
er hält das eine als Ursache, das andere als Wirkung
fest; dann tritt die Vernunft hinzu, reißt die Scheidewand
nieder und erkennt die Einheit in der Zweiheit. Alle
Begriffe, die der Verstand schafft: Ursache und Wirkung,
Substanz und Eigenschaft, Leib und Seele, Idee und Wirklichkeit,
Gott und Welt usw. sind nur da, um die einheitliche
Wirklichkeit künstlich auseinanderzuhalten; und die
Vernunft hat, ohne den damit geschaffenen Inhalt zu verwischen,
ohne die Klarheit des Verstandes mystisch zu verdunkeln,
in der Vielheit die innere Einheit aufzusuchen.
Sie kommt damit auf das zurück, wovon sich der Verstand
entfernt hat, auf die einheitliche Wirklichkeit. Will man
eine genaue Nomenklatur haben, so nenne man die Verstandsgebilde
Begriffe, die Vernunftschöpfungen Ideen.
Und man sieht, daß der Weg der Wissenschaft ist: sich
durch den Begriff zur Idee zu erheben. Und hier ist der
91 Diese Trennung ist durch die absondernden ganz ausgezogenen Linien
charakterisiert.
92 Dieselbe ist durch die punktierten Linien versinnlicht.
Ort, wo sich uns in der klarsten Weise das subjektive und
das objektive Element unseres Erkennens auseinanderlegen.
Es ist ersichtlich, daß die Trennung nur subjektiven Bestand
hat, nur durch unsern Verstand geschaffen ist. Es
kann mich nicht hindern, daß ich ein und dieselbe objektive
Einheit in Gedankengebilde zerlege, die von denen meines
Mitmenschen verschieden sind; das hindert nicht, daß
meine Vernunft in der Verbindung wieder zu derselben
objektiven Einheit gelangt, von der wir ja beide ausgegangen
sind. Das einheitliche Wirklichkeitsgebilde sei sinnbildlich
dargestellt [Figur 1]. Ich trenne es verstandesgemäß
so, wie Fig. 2; ein anderer anders, wie Fig. 3. Wir fassen
Fig. 1 Fig. 2 Fig. 3
es vernunftgemäß zusammen und erhalten dasselbe Gebilde.
Damit wird es uns erklärlich, wie die Menschen so
verschiedene Begriffe, so verschiedene Anschauungen von
der Wirklichkeit haben können, trotzdem diese doch nur
eine sein kann. Die Verschiedenheit liegt in der Verschiedenheit
unserer Verstandeswelten. Damit verbreitet sich für uns
ein Licht über die Entwicklung verschiedener wissenschaftlicher
Standpunkte. Wir begreifen, woher die vielfachen
philosophischen Standpunkte kommen, und haben nicht nötig,
ausschließlich einer die Palme der Wahrheit zuzuerkennen.
Wir wissen auch, welchen Standpunkt wir selbst gegenüber
der Vielheit menschlicher Anschauungen einzunehmen
haben. Wir werden nicht ausschließlich fragen: Was ist
wahr, was ist falsch? Wir werden immer untersuchen, in
welcher Art die Verstandeswelt eines Denkers aus der Weltharmonie
hervorgeht; wir werden zu begreifen suchen und
nicht aburteilen und sogleich als Irrtum ansehen, was mit
der eigenen Auffassung nicht übereinstimmt. Zu diesem
Quell der Verschiedenheit unserer wissenschaftlichen Standpunkte
tritt dadurch ein neuer, daß jeder einzelne Mensch
ein anderes Erfahrungsfeld hat. Es tritt ja jedem aus der gesamten
Wirklichkeit gleichsam ein Ausschnitt gegenüber.
Diesen bearbeitet sein Verstand, und der ist ihm der Vermittler
auf dem Wege zur Idee. Wenn wir also auch alle dieselbe
Idee wahrnehmen, so ist das doch immer auf andern
Gebieten der Fall. Es kann also nur das Endresultat, zu dem
wir kommen, dasselbe sein; die Wege hingegen können verschieden
sein. Es kommt überhaupt gar nicht darauf an, daß
die einzelnen Urteile und Begriffe, aus denen sich unser
Wissen zusammensetzt, übereinstimmen, sondern nur darauf,
daß sie uns zuletzt dahin führen, daß wir in dem Fahrwasser
der Idee schwimmen. Und in diesem Fahrwasser
müssen sich zuletzt alle Menschen treffen, wenn sie energisches
Denken über ihren Sonderstandpunkt hinausführt.
Es kann ja möglich sein, daß uns eine beschränkte Erfahrung
oder ein unproduktiver Geist zu einer einseitigen, unvollständigen
Ansicht führt; aber selbst die geringste Summe
dessen, was wir erfahren, muß uns zuletzt zur Idee führen;
denn zur letzteren erheben wir uns nicht durch eine
mehr oder weniger große Erfahrung, sondern allein durch
unsere Fähigkeiten als menschliche Persönlichkeit. Eine beschränkte
Erfahrung kann nur zur Folge haben, daß wir
die Idee in einseitiger Weise aussprechen, daß wir über geringe
Mittel verfügen, das Licht, das in uns leuchtet, zum
Ausdruck zu bringen; sie kann uns aber nicht überhaupt
hindern, jenes Licht in uns aufgehen zu lassen. Ob unsere
wissenschaftliche oder überhaupt Weltansicht auch vollständig
sei, das ist neben der nach ihrer geistigen Tiefe
eine ganz andere Frage. Wenn man nun an Goethe wieder
herantritt, so wird man viele seiner Darlegungen, mit unseren
Ausführungen in diesem Kapitel zusammengehalten,
als einfache Konsequenzen der letzteren erkennen. Dieses
Verhältnis halten wir für das einzig richtige zwischen Autor
und Ausleger. Wenn Goethe sagt: «Kenne ich mein Verhältnis
zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's
Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben
und es ist doch immer dieselbige» («Sprüche in Prosa»;
Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 349), so ist das nur mit Voraussetzung
dessen, was wir hier entwickelt haben, zu verstehen.
2. Dogmatische und immanente Methode
Ein wissenschaftliches Urteil kommt dadurch zustande, daß
wir entweder zwei Begriffe oder eine Wahrnehmung und
einen Begriff verbinden. Von der ersteren Art ist das Urteil:
Keine Wirkung ohne Ursache; von der letzteren: Die
Tulpe ist eine Pflanze. Das tägliche Leben erkennt dann
auch noch Urteile, wo Wahrnehmung mit Wahrnehmung
verbunden wird, z. B.: Die Rose ist rot. Wenn wir ein Urteil
vollziehen, so geschieht dies aus diesem oder jenem
Grunde. Nun kann es über diesen Grund zwei verschiedene
Ansichten geben. Die eine nimmt an, daß die sachlichen
(objektiven) Gründe, warum das Urteil, das wir
vollziehen, wahr ist, jenseits dessen liegen, was uns in den
in das Urteil eingehenden Begriffen oder Wahrnehmungen
gegeben ist. Der Grund, warum ein Urteil wahr ist, fällt
nach dieser Ansicht nicht zusammen mit den subjektiven
Gründen, aus denen wir dieses Urteil fällen. Unsere logischen
Gründe haben nach dieser Ansicht mit den objektiven
nichts zu tun. Es kann sein, daß diese Ansicht irgendeinen
Weg vorschlägt, um zu den objektiven Gründen unserer
Einsicht zu kommen; die Mittel, die unser erkennendes
Denken hat, reichen dazu nicht aus. Für das Erkennen
liegt die meine Behauptungen bedingende objektive Wesenheit
in einer mir unbekannten Welt; die Behauptung mit
ihren formellen Gründen (Widerspruchslosigkeit, Stützung
durch verschiedene Axiome usw.) allein in der meinigen.
Eine Wissenschaft, die auf dieser Anschauung beruht, ist
eine dogmatische. Eine solche dogmatische Wissenschaft ist
sowohl die theologisierende Philosophie, die sich auf den
Offenbarungsglauben stützt, als auch die moderne Erfahrungswissenschaft;
denn es gibt nicht nur ein Dogma der
Offenbarung, es gibt auch ein Dogma der Erfahrung. Das
Dogma der Offenbarung überliefert dem Menschen Wahrheiten
über Dinge, die seinem Gesichtskreise völlig entzogen
sind. Er kennt die Welt nicht, über die ihm die fertigen Behauptungen
zu glauben vorgeschrieben wird. Er kann an
die Gründe der letzteren nicht herankommen. Er kann daher
nie eine Einsicht gewinnen, warum sie wahr sind. Er
kann kein Wissen, nur einen Glauben gewinnen. Dagegen
sind aber auch die Behauptungen jener Erfahrungswissenschaft
bloße Dogmen, die da glaubt, daß man bei der bloßen,
reinen Erfahrung stehen bleiben soll und nur deren
Veränderungen beobachten, beschreiben und systematisch
zusammenstellen soll, ohne sich zu den in der bloßen unmittelbaren
Erfahrung noch nicht gegebenen Bedingungen
zu erheben. Wir gewinnen ja die Wahrheit auch in diesem
Falle nicht durch die Einsicht in die Sache, sondern sie
wird uns von außen aufgedrängt. Ich sehe, was vorgeht
und da ist, und registriere es; warum das so ist, das liegt im
Objekte. Ich sehe nur die Folge, nicht den Grund. Das
Dogma der Offenbarung beherrschte ehedem die Wissenschaft,
heute tut es das Dogma der Erfahrung. Ehedem galt
es als Vermessenheit, über die Gründe der geoffenbarten
Wahrheiten nachzudenken; heute gilt es als Unmöglichkeit,
anderes zu wissen, als was die Tatsachen aussprechen. Das
«Warum sie so und nicht anders sprechen» gilt als unerfahrbar
und deshalb unerreichbar.
Unsere Ausführungen haben gezeigt, daß die Annahme
eines Grundes, warum ein Urteil wahr ist, neben dem, warum
wir es als wahr anerkennen, ein Unding ist. Wenn wir
bis zu dem Punkte vordringen, wo uns die Wesenheit einer
Sache als Idee aufgeht, so erblicken wir in der letzteren
etwas völlig in sich Abgeschlossenes, etwas sich selbst Stützendes
und Tragendes, das gar keine Erklärung von außen
mehr fordert, so daß wir dabei stehenbleiben können. Wir
sehen an der Idee - wenn wir nur die Fähigkeit dazu haben-,
daß sie alles, was sie konstituiert, in sich selber hat, daß
wir mit ihr alles haben, wonach gefragt werden kann. Der
gesamte Seinsgrund ist in der Idee aufgegangen, hat sich in
sie ergossen, rückhaltlos, so daß wir ihn nirgends als in ihr
zu suchen haben. In der Idee haben wir nicht ein Bild von
dem, was wir zu den Dingen suchen; wir haben dieses Gesuchte
selbst. Indem die Teile unserer Ideenwelt in den Urteilen
zusammenfließen, ist es der eigene Inhalt derselben,
der das bewirkt, nicht Gründe, die außerhalb liegen. In
unserem Denken sind die sachlichen und nicht bloß die
formellen Gründe für unsere Behauptungen unmittelbar
gegenwärtig.
Damit ist die Ansicht abgewiesen, welche eine außerideelle
absolute Realität annimmt, von denen alle Dinge
einschließlich des Denkens selbst, getragen werden. Für
diese Weltansicht kann der Grund zu dem Bestehenden
überhaupt nicht in dem uns Erreichbaren gefunden werden.
Er ist der uns vorliegenden Welt nicht eingeboren, er ist
außerhalb ihrer vorhanden; ein Wesen für sich, das neben
ihr besteht. Diese Ansicht kann man Realismus nennen. Sie
tritt in zwei Formen auf. Sie nimmt entweder eine Vielzahl
von realen Wesen an, die der Welt zum Grunde liegen (Leibniz,
Herbart), oder ein einheitliches Reales (Schopenhauer).
Ein solches Seiendes kann nie als mit der Idee identisch erkannt
werden; es ist schon als wesens verschieden von ihr
vorausgesetzt. Wer sich des klaren Sinnes der Frage nach
dem Wesen der Erscheinungen bewußt wird, kann ein Anhänger
dieses Realismus nicht sein. Was hat es denn für
einen Sinn, nach dem Wesen der Welt zu fragen? Es hat
gar keinen andern Sinn, als daß, wenn ich einem Dinge
gegenübertrete, sich in mir eine Stimme geltend macht, die
mir sagt, daß das Ding letzten Endes noch etwas ganz anderes
ist, als was ich sinnfällig wahrnehme. Das, was es
noch ist, arbeitet schon in mir, drängt in mir zur Erscheinung,
während ich das Ding außer mir erblicke. Nur weil
die in mir arbeitende Ideenwelt mich drängt, die mich umgebende
Welt aus ihr zu erklären, fordere ich eine solche
Erklärung. Für ein Wesen, in dem sich keine Ideen emporarbeiten,
ist der Drang, die Dinge noch weiter zu erklären.
nicht da; sie sind an der sinnfälligen Erscheinung vollbefriedigt.
Die Forderung nach Erklärung der Welt geht hervor
aus dem Bedürfnisse des Denkens, den für letzteres erreichbaren
Inhalt mit der erscheinenden Wirklichkeit in
eins zu verschmelzen, alles begrifflich zu durchdringen; das
was wir sehen, hören usw., zu einem solchen zu machen, das
wir verstehen. Wer diese Sätze ihrer vollen Tragweite nach
in Erwägung zieht, kann unmöglich ein Anhänger des oben
charakterisierten Realismus sein. Die Welt durch ein Reales,
das nicht Idee ist, erklären zu wollen, ist ein solcher
Widerspruch, daß man gar nicht begreift, wie es überhaupt
möglich ist, daß er Anhänger gewinnen konnte. Das uns
wahrnehmbare Wirkliche durch irgend etwas zu erklären,
was sich innerhalb des Denkens gar nicht geltend macht, ja
was grundsätzlich verschieden von dem Gedanklichen sein
soll, können wir weder das Bedürfnis haben, noch ist ein
solches Beginnen möglich. Erstens: Woher sollen wir das
Bedürfnis haben, die Welt durch etwas zu erklären, das
sich uns nirgends aufdrängt, das sich uns verbirgt? Und
nehmen wir an, es trete uns entgegen, dann entsteht wieder
die Frage: in welcher Form und wo? Im Denken kann es
doch nicht sein. Und selbst wieder in der äußeren oder inneren
Wahrnehmung? Was soll es denn dann für einen Sinn
haben, die Sinneswelt durch qualitativ Gleichstehendes zu
erklären. Bliebe nur noch ein Drittes: die Annahme, wir
hätten ein Vermögen, das außergedankliche und realste
Wesen auf anderem Wege als durch Denken und Wahrnehmung
zu erreichen. Wer diese Annahme macht, ist in
den Mystizismus verfallen. Wir haben uns mit ihm nicht zu
befassen; denn uns geht nur das Verhältnis von Denken und
Sein, von Idee und Wirklichkeit an. Für den Mystizismus
muß ein Mystiker eine Erkenntnistheorie schreiben. Der
Standpunkt des späteren Schelling, wonach wir mit Hilfe
unserer Vernunft nur das Was des Weltinhaltes entwickeln,
nicht aber das Daß erreichen können, erscheint uns als das
größte Unding. Denn für uns ist das Daß die Voraussetzung
des Was, und wir wüßten nicht, wie wir zu dem Was
eines Dinges kommen sollten, dessen Daß nicht vorher
schon sichergestellt wäre. Das Daß wohnt doch dem Inhalt
meiner Vernunft schon inne, indem ich sein Was ergreife.
Diese Annahme Schellings, daß wir einen positiven Weltinhalt
haben können, ohne die Überzeugung, daß er existiere,
und daß wir dieses Daß erst durch höhere Erfahrung
gewinnen müssen, erscheint uns vor einem sich selbst verstehenden
Denken so unbegreiflich, daß wir annehmen
müssen, Schelling habe in seiner späteren Zeit den Standpunkt
seiner Jugend, der auf Goethe einen so mächtigen
Eindruck machte, selbst nicht mehr verstanden.*
Es geht nicht an, höhere Daseinsformen anzunehmen als
die, welche der Ideenwelt zukommen. Nur weil der Mensch
oft nicht imstande ist, zu begreifen, daß das Sein der Idee
ein weit höheres, volleres ist als das der wahrgenommenen
Wirklichkeit, sucht er noch eine weitere Realität. Er hält
das Ideen-Sein für ein Chimärenhaftes, der Durchtränkung
mit dem Realen Entbehrendes und ist damit nicht zufrieden.
Er kann eben die Idee in ihrer Positivität nicht erfassen,
er hat sie nur als Abstraktes; er ahnt ihre Fülle, ihre
innere Vollendetheit und Gediegenheit nicht. Wir müssen
aber an die Bildung die Anforderung stellen, daß sie sich
hinaufarbeite bis zu jenem höheren Standpunkt, wo auch
ein Sein, das nicht mit Augen gesehen, nicht mit Händen
gegriffen, sondern mit der Vernunft erfaßt werden muß,
als Reales angesehen wird. Wir haben also eigentlich einen
Idealismus begründet, der Realismus zugleich ist. Unser
Gedankengang ist: das Denken drängt nach Erklärung der
Wirklichkeit aus der Idee. Es verbirgt dieses Drängen in
die Frage: Was ist das Wesen der Wirklichkeit? Nach dem
Inhalt dieses Wesens selbst fragen wir erst am Ende der
Wissenschaft, wir machen es nicht wie der Realismus, der
ein Reales voraussetzt, um daraus dann die Wirklichkeit
abzuleiten. Wir unterscheiden uns von dem Realismus
durch das volle Bewußtsein davon, daß wir ein Mittel, die
Welt zu erklären, nur in der Idee haben. Auch der Realismus
hat nur dieses Mittel, aber er weiß es nicht. Er leitet
die Welt aus Ideen ab, aber er glaubt, er leite sie aus einer
anderen Realität her. Leibnizens Monadenwelt ist nichts
als eine Ideenwelt; aber Leibniz glaubt in ihr eine höhere
Realität als eine ideelle zu besitzen. Alle Realisten machen
den gleichen Fehler: sie sinnen Wesen aus und werden nicht
gewahr, daß sie aus der Idee nicht herauskommen. Wir haben
diesen Realismus abgewiesen, weil er sich über die
Ideenwesenheit seines Weltgrundes täuscht; wir haben aber
auch jenen falschen Idealismus abzuweisen, der da glaubt,
weil wir über die Idee nicht hinauskommen, kommen wir
über unser Bewußtsein nicht hinaus, und es seien alle uns
gegebenen Vorstellungen und alle Welt nur subjektiver
Schein, nur ein Traum, den unser Bewußtsein träumt
(Fichte). Diese Idealisten begreifen wieder nicht, daß, obzwar
wir über die Idee nicht hinauskommen, wir doch in
der Idee das Objektive haben, das in sich selbst und nicht
im Subjekt Gegründete. Sie bedenken nicht, daß, wenn wir
auch nicht aus der Einheitlichkeit des Denkens hinauskommen,
wir mit dem vernünftigen Denken mitten in die volle
Objektivität hineinkommen. Die Realisten hegreifen nicht,
daß das Objektive Idee ist, die Idealisten nicht, daß die
Idee ohjektiv ist.
Wir haben uns noch mit den Empiristen des Sinnenfälligen
zu beschäftigen, die jedes Erklären des Wirklichen
durch die Idee als eine unstatthafte philosophische Deduktion
ansehen und das Stehenbleiben beim Sinnlich-Faßbaren
fordern. Gegen diesen Standpunkt können wir einfach
das sagen, daß seine Forderung doch nur eine methodische,
nur eine formelle sein kann. Wir sollen beim Gegebenen
stehen bleiben, heißt doch nur: wir sollen uns das aneignen,
was uns gegenübertritt. Über das Was desselben kann dieser
Standpunkt am allerwenigsten etwas ausmachen; denn dieses
Was muß ihm eben von dem Gegebenen selbst kommen.
Wie man mit der Forderung der reinen Erfahrung zugleich
fordern kann, nicht über die Sinnenwelt hinauszugehen,
da doch die Idee ebenso die Forderung des Gegebenseins erfüllen
kann, ist uns völlig unbegreiflich. Das positivistische
Erfahrungsprinzip muß die Frage ganz offen lassen, was
gegeben ist, und vereinigt sich somit ganz gut mit einem
idealistischen Forschungsresultat. Dann aber ist diese Forderung
ebenfalls mit der unseren zusammenfallend. Und
wir vereinigen in unserer Ansicht alle Standpunkte, insofern
sie Berechtigung haben. Unser Standpunkt ist Idealismus,
weil er in der Idee den Weltgrund sieht; er ist Realismus,
weil er die Idee als das Reale anspricht; und er ist Positivismus
oder Empirismus, weil er zu dem Inhalt der Idee
nicht durch apriorische Konstruktion, sondern zu ihm als
einem Gegebenen kommen will. Wir haben eine empirische
Methode, die in das Reale dringt und sich im idealistischen
Forschungsresultat zuletzt befriedigt. Ein Schließen von
einem Gegebenen als einem Bekannten auf ein zugrunde
liegendes Nicht-Gegebenes, Bedingendes kennen wir nicht.
Einen Schluß, wo irgendein Glied des Schlusses nicht gegeben
ist, weisen wir ab. Das Schließen ist nur ein Übergehen
von gegebenen Elementen zu anderen ebenso gegebenen.
Wir verbinden im Schlusse a mit b durch c; aber
alles das muß gegeben sein. Wenn Volkelt sagt, unser Denken
drängt uns dazu, zu dem Gegebenen eine Voraussetzung
zu machen und es zu überschreiten, so sagen wir: in
unserem Denken drängt uns schon das, was wir zu dem
unmittelbar Gegebenen hinzufügen wollen. Wir müssen
daher jede Metaphysik abweisen. Die Metaphysik will ja
das Gegebene durch ein Nicht-Gegebenes, Erschlossenes erklären
(Wolff, Herbart). Wir sehen in dem Schließen nur
eine formelle Tätigkeit, die zu nichts Neuem führt, die nur
Übergänge zwischen Positiv-Vorliegendem herbeiführt.*
3. System der Wissenschaft
Welche Gestalt hat die fertige Wissenschaft im Lichte der
Goetheschen Denkweise? Vor allem müssen wir festhalten,
daß der gesamte Inhalt der Wissenschaft ein Gegebenes ist;
teils gegeben als Sinnenwelt von außen, teils als Ideenwelt
von innen. Alle unsere wissenschaftliche Tätigkeit wird
also darinnen bestehen, die Form, in der uns dieser Gesamtinhalt
des Gegebenen gegenübertritt, zu überwinden
und zu einer uns befriedigenden zu machen. Dies ist notwendig,
weil die innerliche Einheitlichkeit des Gegebenen
in der ersten Form des Auftretens, wo uns nur die äußere
Oberfläche erscheint, verborgen bleibt. Nun stellt sich diese
methodische Tätigkeit, die einen solchen Zusammenhang
herstellt, verschieden heraus, je nach den Erscheinungsgebieten,
die wir bearbeiten. Der erste Fall ist folgender:
Wir haben eine Mannigfaltigkeit von sinnenfällig gegebenen
Elementen. Diese stehen miteinander in Wechselbeziehung.
Diese Wechselbeziehung wird uns klar, wenn
wir uns ideell in die Sache vertiefen. Dann erscheint uns
irgendeines der Elemente durch die andern mehr oder weniger
und in dieser oder jener Weise bestimmt. Die Daseinsverhältnisse
des einen werden uns durch die des andern
begreiflich. Wir leiten die eine Erscheinung aus der andern
ab. Die Erscheinung des erwärmten Steines leiten wir als
Wirkung von den erwärmenden Sonnenstrahlen, als der
Ursache, ab. Was wir an dem einen Dinge wahrnehmen,
haben wir da erklärt, wenn wir es aus einem andern wahrnehmbaren
ableiten. Wir sehen, in welcher Weise auf diesem
Gebiete das ideelle Gesetz auftritt. Es umspannt die
Dinge der Sinnen weit, steht über ihnen. Es bestimmt die
gesetzmäßige Wirkungsweise des einen Dinges, indem sie
sie durch ein anderes bedingt sein läßt. Wir haben hier die
Aufgabe, die Reihe der Erscheinungen so zusammenzustellen,
daß eine aus der andern mit Notwendigkeit hervorgeht,
daß sie alle ein Ganzes, durch und durch Gesetzmäßiges
ausmachen. Das Gebiet, das in dieser Weise zu erklären
ist, ist die unorganische Natur. Nun treten uns in
der Erfahrung die einzelnen Erscheinungen keineswegs so
gegenüber, daß das Nächste im Raum und in der Zeit auch
das Nächste dem innern Wesen nach ist. Wir müssen erst
von dem räumlich und zeitlich Nächsten zu dem begrifflich
Nächsten übergehen. Wir müssen zu einer Erscheinung
die dem Wesen nach sich unmittelbar an sie anschließenden
suchen. Wir müssen trachten, eine sich selbst ergänzende,
sich tragende, sich gegenseitig stützende Reihe von Tatsachen
zusammenzustellen. Daraus gewinnen wir eine
Gruppe von aufeinander wirkenden sinnenfälligen Elementen
der Wirklichkeit; und das Phänomen, das sich vor uns
abwickelt, folgt unmittelbar aus den in Betracht kommenden
Faktoren in durchsichtiger, klarer Weise. Ein solches
Phänomen nennen wir mit Goethe Urphänomen oder
Grundtatsache. Dieses Urphänomen ist identisch mit dem
objektiven Naturgesetz. Die hier besprochene Zusammenstellung
kann entweder bloß in Gedanken geschehen, wie
wenn ich die drei bei einem waagrecht geworfenen Stein in
Betracht kommenden bedingenden Faktoren denke: 1. die
Stoßkraft, 2. die Anziehungskraft der Erde und 3. den
Luftwiderstand, und dann die Bahn des fliegenden Steines
aus diesen Faktoren ableite, oder aber: ich kann die einzelnen
Faktoren wirklich zusammenbringen und dann das
aus ihrer Wechselwirkung folgende Phänomen abwarten.
Das ist beim Versuche der Fall. Während uns ein Phänomen
der Außenwelt unklar ist, weil wir nur das Bedingte (die
Erscheinung), nicht die Bedingung kennen, ist uns das Phänomen,
das der Versuch liefert, klar, denn wir haben die
bedingenden Faktoren selbst zusammengestellt. Das ist der
Weg der Naturforschung, daß sie von der Erfahrung ausgehe,
um zu sehen, was wirklich ist; zu der Beobachtung
fortschreite, um zu sehen, warum dieses wirklich ist, und
sich dann zum Versuche steigere, um zu sehen, was wirklieh
sein kann. -
Leider scheint gerade jener Aufsatz Goethes verloren
gegangen zu sein, der diesen Ansichten am besten zur Stütze
dienen könnte. Er ist eine Fortsetzung des Aufsatzes: «Der
Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt» gewesen.
Wir wollen, von dem letzteren ausgehend, den möglichen
Inhalt des ersteren nach der einzigen uns zugänglichen
Quelle, dem Briefwechsel Goethes und Schillers, zu rekonstruieren
suchen. Der Aufsatz: «Der Versuch usw....» ist
hervorgegangen aus jenen Studien Goethes, die er anstellte,
um seine optischen Arbeiten zu rechtfertigen. Er ist dann
liegen geblieben, bis der Dichter im Jahre 1798 diese Studien
mit frischer Kraft aufnahm und in Gemeinschaft mit
Schiller die Grundprinzipien der naturwissenschaftlichen
Methode einer gründlichen und von allem wissenschaftlichen
Ernst getragenen Untersuchung unterzog. Am 10.
Januar 1798 (siehe Goethes Briefwechsel mit Schiller)
schickte er nun den oben erwähnten Aufsatz an Schiller zur
Erwägung und am 13. Januar kündigt er dem Freunde an,
daß er willens sei, die dort ausgesprochenen Ansichten in
einem neuen Aufsatze weiter auszuarbeiten. Dieser Arbeit
unterzog er sich auch und schon am 17. Januar ging ein
kleiner Aufsatz an Schiller ab, der eine Charakteristik der
Methoden der Naturwissenschaft enthalten hat. Dieser
Aufsatz findet sich nun in den Werken nicht. Er wäre unstreitig
derjenige, der für die Würdigung von Goethes
Grundanschauungen über die naturwissenschaftliche Methode
die besten Anhaltspunkte gewährte. Wir können aber
die Gedanken, die in demselben niedergelegt sind, aus dem
ausführlichen Briefe Schillers vom 19. Januar 1798 (Briefwechsel
Goethes mit Schiller) erkennen, wobei in Betracht
kommt, daß wir zu dem daselbst Angedeuteten vielfache
Belege und Ergänzungen in Goethes «Sprüchen in Prosa»
finden.*93
93 Vgl. Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 593, Anm.: «In meiner EinGoethe
unterscheidet drei Methoden der naturwissenschaftlichen
Forschung. Dieselben beruhen auf drei verschiedenen
Auffassungen der Phänomene. Die erste Methode
ist der gemeine Empirismus, der nicht über das empirische
Phänomen, über den unmittelbaren Tatbestand
hinausgeht. Er bleibt bei einzelnen Erscheinungen stehen.
Will der gemeine Empirismus konsequent sein, so muß er
seine ganze Tätigkeit darauf beschränken, jedes ihm aufstoßende
Phänomen genau nach allen Einzelheiten zu beschreiben,
d. i. den empirischen Tatbestand aufzunehmen.
Wissenschaft wäre ihm nur die Summe aller dieser Einzelbeschreibungen
aufgenommener Tatbestände. Gegenüber
dem gemeinen Empirismus bildet nun der Rationalismus
die nächst höhere Stufe. Dieser geht auf das wissenschaftliche
Phänomen. Diese Anschauung beschränkt sich nicht
mehr auf die bloße Beschreibung der Phänomene, sondern
sie sucht dieselben durch Aufdeckung der Ursachen, durch
Aufstellung von Hypothesen usw. zu erklären. Es ist die
Stufe, wo der Verstand aus den Erscheinungen auf deren
leitung S. XXXVIII zum 34. Bande dieser Goethe-Ausgabe sagte
ich: Leider scheint der Aufsatz verlorengegangen zu sein, der den
Ansichten Goethes über Erfahrung, Versuch und wissenschaftliches
Erkennen zur besten Stütze dienen könnte. Er ist aber nicht verlorengegangen,
sondern hat sich in der obigen Form im Goethe-Archiv
gefunden. (Vgl. Weim. Goethe-Ausgabe II. Abt. Band 11, S. 38 ff.)
Er trägt das Datum 15. Januar 1798 und ist am 17. an Schiller gesandt
worden. Er stellt sich als Fortsetzung des Aufsatzes: <Der
Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt> dar. Ich habe den
Gedankengang des Aufsatzes aus dem Goethe-Schillerschen Briefwechsel
entnommen und in genannter Einleitung S. XXXIX f. genau
in der Weise angegeben, die sich jetzt vorgefunden hat. Inhaltlich
wird durch den Aufsatz zu meinen Ausführungen nichts hinzugefügt;
wohl aber wird meine aus Goethes übrigen Arbeiten gewonnene
Ansicht über seine Methode und Erkenntnisweise in allen Punkten
bestätigt.»
Ursachen und Zusammenhänge schließt. Sowohl die erstere
wie die letzte Methode erklärt Goethe für Einseitigkeiten.
Der gemeine Empirismus ist die rohe Unwissenschaft,
weil er nie aus der bloßen Auffassung der Zufälligkeiten
herauskommt; der Rationalismus dagegen interpretiert in
die Erscheinungswelt Ursachen und Zusammenhänge hinein,
die nicht in derselben sind. Jener kann sich aus der
Fülle der Erscheinungen nicht zum freien Denken erheben,
dieser verliert dieselbe als den sicheren Boden unter seinen
Füßen und verfällt der Willkür der Einbildungskraft und
des subjektiven Einfalles. Goethe rügt die Sucht, mit Erscheinungen
sogleich durch subjektive Wirkungen Folgerungen
zu verbinden, mit den schärfsten Worten, so «Sprüche
in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 375: «Es ist
eine schlimme Sache, die doch manchem Beobachter begegnet,
mit einer Anschauung sogleich eine Folgerung zu
verknüpfen und beide für gleichgeltend zu achten», und:
«Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen
Verstandes, der die Phänomene gern los sein möchte
und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur
Worte einschiebt. Man ahnet, man sieht wohl auch, daß es
nur ein Behelf ist; liebt nicht aber Leidenschaft und Parteigeist
jederzeit Behelfe? Und mit Recht, da sie ihrer so sehr
bedürfen.» (Ebenda S. 376) Besonders tadelt Goethe den
Mißbrauch, den die Kausalbestimmung veranlaßt. Der Rationalismus
in seiner ungezügelten Phantastik sucht dort
Kausalität, wo sie, durch die Fakten zu suchen, nicht geboten
ist. In «Sprüche in Prosa» (ebenda S. 371) heißt es:
«Der eingeborenste Begriff, der notwendigste, von Ursache
und Wirkung, wird in der Anwendung die Veranlassung zu
unzähligen sich immer wiederholenden Irrtümern.» Namentlich
führt ihn seine Sucht nach einfachen Verbindungen
dahin, die Phänomene wie die Glieder einer Kette
nach Ursache und Wirkung rein der Länge nach aneinandergereiht
zu denken; während die Wahrheit doch ist, daß
irgendeine Erscheinung, die durch eine der Zeit nach frühere
kausal bedingt ist, zugleich auch noch von vielen
andern Einwirkungen abhängt. Es wird in diesem Falle
bloß die Länge und nicht die Breite der Natur in Anschlag
gebracht. Beide Wege, der gemeine Empirismus und der
Rationalismus, sind nun für Goethe wohl Durchgangspunkte
für die höchste wissenschaftliche Methode, aber
eben nur Durchgangspunkte, die überwunden werden müssen.
Und dies geschieht mit dem rationellen Empirismus,
der sich mit dem reinen Phänomen, das identisch mit dem
objektiven Naturgesetz ist, beschäftigt. Die gemeine Empirie,
die unmittelbare Erfahrung bietet uns nur Einzelnes,
Unzusammenhängendes, ein Aggregat von Erscheinungen.
Das heißt, sie bietet uns das nicht als letzten Abschluß der
wissenschaftlichen Betrachtung, wohl aber als erste Erfahrung.
Unser wissenschaftliches Bedürfnis sucht aber nur
Zusammenhängendes, begreift das Einzelne nur als Glied
einer Verbindung. So gehen das Bedürfnis des Begreifens
und die Tatsachen der Natur scheinbar auseinander. Im
Geiste ist nur Zusammenhang, in der Natur nur Sonderung,
der Geist erstrebt die Gattung, die Natur schafft nur Individuen.
Die Lösung dieses Widerspruchs ergibt sich aus der
Erwägung, daß einerseits die verbindende Kraft des Geistes
inhaltslos ist, somit allein, durch sich selbst, nichts Positives
erkennen kann, daß andererseits die Sonderung der
Naturobjekte nicht in deren Wesen selbst begründet ist,
sondern in deren räumlicher Erscheinung, daß vielmehr
bei Durchdringung des Wesens des Individuellen, des Besonderen,
dieses selbst uns auf die Gattung hinweist. Weil
die Objekte der Natur in der Erscheinung gesondert sind,
bedarf es der zusammenfassenden Kraft des Geistes, ihre
innere Einheit zu zeigen. Weil die Einheit des Verstandes
für sich leer ist, muß er sie mit den Objekten der Natur
erfüllen. So kommen auf dieser dritten Stufe Phänomen
und Geistesvermögen einander entgegen und gehen in eins
auf und der Geist kann jetzt erst vollbefriedigt sein. -
Ein weiteres Gebiet der Forschung ist jenes, wo uns das
Einzelne in seiner Daseinsweise nicht als die Folge eines
andern, neben ihm Bestehenden erscheint, wo wir es daher
auch nicht dadurch begreifen, daß wir ein anderes, Gleichartiges
zu Hilfe rufen. Hier erscheint uns eine Reihe von
sinnenfälligen Erscheinungselementen als unmittelbare
Ausgestaltung eines einheitlichen Prinzipes, und wir müssen
zu diesem Prinzipe vordringen, wenn wir die Einzelerscheinung
begreifen wollen. Wir können auf diesem Gebiete
das Phänomen nicht aus äußerer Einwirkung erklären,
wir müssen es von innen heraus ableiten. Was früher
bestimmend war, ist jetzt bloß veranlassend. Während ich
beim früheren Gebiet alles begriffen habe, wenn es mir gelungen
ist, es als Folge eines andern anzusehen, es von
einer äußeren Bedingung abzuleiten, werde ich hier zu einer
andern Fragestellung gezwungen. Wenn ich den äußeren
Einfluß kenne, so habe ich noch keinen Aufschluß darüber
erlangt, daß das Phänomen gerade in dieser und keiner anderen
Weise abläuft. Ich muß es von dem zentralen Prinzip
jenes Dinges ableiten, auf das der äußere Einfluß stattgefunden
hat. Ich kann nicht sagen: dieser äußere Einfluß
hat diese Wirkung; sondern nur: auf diesen bestimmten
äußeren Einfluß antwortet das innere Wirkungsprinzip in
dieser bestimmten Weise. Was geschieht, ist Folge einer inneren
Gesetzlichkeit. Ich muß also diese innere Gesetzlichkeit
kennen. Ich muß erforschen, was sich von innen heraus
gestaltet. Dieses sich gestaltende Prinzip, das auf diesem
Gebiete jedem Phänomen zugrunde liegt, das ich in
allem zu suchen habe, ist der Typus. Wir sind im Gebiete der
organischen Natur. Was in der unorganischen Natur Urphänomen,
das ist in der Organik Typus. Der Typus ist ein
allgemeines Bild des Organismus: die Idee desselben; die
Tierheit im Tiere. Wir mußten hier die Hauptpunkte des
schon in einem früheren Abschnitte über den «Typus» Ausgeführten
wegen des Zusammenhangs noch einmal anführen.
In den ethischen und historischen Wissenschaften haben
wir es dann mit der Idee im engeren Sinne zu tun. Die
Ethik und die Geschichte sind Idealwissenschaften. Ihre
Wirklichkeit sind Ideen. - Der Einzelwissenschaft obliegt
es, das Gegebene so weit zu bearbeiten, daß sie es bis zu
Urphänomen, Typus und den leitenden Ideen in der Geschichte
bringt. «Kann . . . der Physiker zur Erkenntnis
desjenigen gelangen, was wir ein Urphänomen genannt
haben, so ist er geborgen und der Philosoph mit ihm; er,
denn er überzeugt sich, daß er an die Grenze seiner Wissenschaft
gelangt sei, daß er sich auf der empirischen Höhe befinde,
wo er rückwärts die Erfahrung in allen ihren Stufen
überschauen und vorwärts in das Reich der Theorie, wo
nicht eintreten, doch einblicken könne. Der Philosoph ist
geborgen, denn er nimmt aus des Physikers Hand ein Letztes,
das bei ihm nun ein Erstes wird» («Entwurf einer Farbenlehre
» 720 [Natw. Schr., 3. Bd., S. 275f.]) - Hier tritt
nämlich der Philosoph mit seiner Arbeit auf. Er ergreift die
Urphänomene und bringt sie in den befriedigenden ideellen
Zusammenhang. Wir sehen, durch was im Sinne der Goetheschen
Weltanschauung die Metaphysik zu ersetzen ist:
durch eine ideengemäße Betrachtung, Zusammenstellung
und Ableitung der Urphänomene. In diesem Sinne spricht
sich Goethe wiederholt über das Verhältnis von empirischer
Wissenschaft und Philosophie aus; besonders deutlich in
seinen Briefen an Hegel. Goethe spricht in den Annalen
wiederholt von einem Schema der Naturwissenschaft.
Wenn sich dasselbe vorfände, würden wir daraus ersehen,
wie er sich selbst das Verhältnis der einzelnen Urphänomene
untereinander dachte; wie er sie in eine notwendige
Kette zusammenstellte. Eine Vorstellung davon gewinnen
wir auch, wenn wir die Tabelle berücksichtigen, die er im
1. Bd. 4. H. «Zur Naturwissenschaft» von allen möglichen
Wirkungsarten gibt:
Zufällig
Mechanisch
Physisch
Chemisch
Organisch
Psychisch
Ethisch
Religiös
Genial.
Nach dieser aufsteigenden Reihe hätte man sich bei Anordnung
der Urphänomene zu richten.* [Natw. Schr.,
4. Bd., 2. Abt., S. 294]
4. Über Erkenntnisgrenzen und Hypothesenbildung
Man spricht heute viel von Grenzen unseres Erkennens.
Unsere Fähigkeit, das Bestehende zu erklären, soll nur bis
zu einem gewissen Punkte reichen, bei dem sollen wir haltmachen.
Wir glauben in bezug auf diese Frage das Richtige
zu treffen, wenn wir sie richtig stellen. Denn es kommt ja
so vielfach nur auf eine richtige Fragestellung an. Durch
eine solche wird ein ganzes Heer von Irrtümern zerstreut.
Wenn wir bedenken, daß der Gegenstand, in bezug auf
welchen sich in uns ein Erklärungsbedürfnis geltend macht,
gegeben sein muß, so ist es klar, daß das Gegebene selbst
uns eine Grenze nicht setzen kann. Denn um überhaupt
den Anspruch zu erheben, erklärt, begriffen zu werden,
muß es uns innerhalb der gegebenen Wirklichkeit gegenübertreten.
Was nicht in den Horizont des Gegebenen eintritt,
braucht nicht erklärt zu werden. Die Grenze könnte
also nur darinnen liegen, daß uns einem gegebenen Wirklichen
gegenüber die Mittel fehlen, es zu erklären. Nun
kommt unser Erklärungsbedürfnis aber gerade daher, daß
das, als was wir ein Gegebenes ansehen wollen, durch was
wir es erklären wollen, sich in den Horizont des uns gedanklich
Gegebenen eindrängt. Weit entfernt, daß das erklärende
Wesen eines Dinges uns unbekannt wäre, ist es
vielmehr selbst das, was durch sein Auftreten im Geiste die
Erklärung notwendig macht. Was erklärt werden soll und
durch was dieses erklärt werden soll, liegen vor. Es handelt
sich nur um die Verbindung beider. Das Erklären ist
kein Suchen eines Unbekannten, nur eine Auseinandersetzung
über den gegenseitigen Bezug zweier Bekannter.
Durch irgend etwas ein Gegebenes zu erklären, von dem
wir kein Wissen haben, sollte uns nie der Einfall kommen.
Es kann also von prinzipiellen Grenzen des Erklärens gar
nicht die Rede sein. Nun kommt da freilich etwas in Betracht,
was der Theorie einer Erkenntnisgrenze einen
Schein von Recht gibt. Es kann sein, daß wir von einem
Wirklichen zwar ahnen, daß es da ist, daß es aber doch
unserer Wahrnehmung entrückt ist. Wir können irgendwelche
Spuren, Wirkungen eines Dinges wahrnehmen und
dann die Annahme machen, daß dies Ding vorhanden ist.
Und hier kann etwa von einer Grenze des Wissens gesprochen
werden. Das, was wir als nicht erreichbar voraussetzen,
ist hier aber kein solches, aus dem irgend etwas prinzipiell
zu erklären wäre; es ist ein Wahrzunehmendes, wenn
auch kein Wahrgenommenes. Die Hindernisse, warum ich
es nicht wahrnehme, sind keine prinzipiellen Erkenntnisgrenzen,
sondern rein zufällige, äußere. Ja sie können wohl
gar überwunden werden. Was ich heute bloß ahne, kann
ich morgen erfahren. Das ist aber mit einem Prinzip nicht
so; da gibt es keine äußeren Hindernisse, die ja zumeist nur
in Ort und Zeit liegen; das Prinzip ist mir innerlich gegeben.
Ich ahne es nicht aus einem andern, wenn ich es nicht
selbst erschaue.
Damit hängt nun die Theorie der Hypothese zusammen.
Eine Hypothese ist eine Annahme, die wir machen und von
deren Wahrheit wir uns nicht direkt, sondern nur durch
ihre Wirkungen überzeugen können. Wir sehen eine Erscheinungsreihe.
Sie ist uns nur erklärlich, wenn wir etwas zugrunde
legen, das wir nicht unmittelbar wahrnehmen. Darf
eine solche Annahme sich auf ein Prinzip erstrecken? Offenbar
nicht. Denn ein Inneres, das ich voraussetze, ohne es
gewahr zu werden, ist ein vollkommener Widerspruch.
Die Hypothese kann nur solches annehmen, das ich zwar
nicht wahrnehme, aber sofort wahrnehmen würde, wenn
ich die äußeren Hindernisse wegräumte. Die Hypothese
kann zwar nicht Wahrgenommenes, sie muß aber Wahrnehmbares
voraussetzen. So ist jede Hypothese in dem Fall,
daß ihr Inhalt durch eine künftige Erfahrung direkt bestätigt
werden kann. Nur Hypothesen, die aufhören können
es zu sein, haben eine Berechtigung. Hypothesen über zentrale
Wissenschaftsprinzipien haben keinen Wert. Was
nicht durch ein positiv gegebenes Prinzip, das uns bekannt
ist, erklärt wird, das ist überhaupt einer Erklärung nicht
fähig und auch nicht bedürftig.
5. Ethische und historische Wissenschaften
Die Beantwortung der Frage: «Was ist Erkennen?» hat uns
über die Stellung des Menschen im Weltall aufgeklärt. Es
kann nun nicht fehlen, daß die Ansicht, die wir für diese
Frage entwickelt haben, auch über Wert und Bedeutung des
menschlichen Handelns Licht verbreitet. Was wir in der
Welt vollbringen, dem müssen wir ja eine größere oder geringere
Bedeutung beilegen, je nachdem wir unsere Bestimmung
höher oder minder bedeutend auffassen.
Die erste Aufgabe, der wir uns nun zu unterziehen haben,
wird die Untersuchung des Charakters der menschlichen
Tätigkeit sein. Wie stellt sich das, was wir als Wirkung
menschlichen Tuns auffassen müssen, zu anderen
Wirksamkeiten innerhalb des Weltprozesses? Betrachten
wir zwei Dinge: ein Naturprodukt und ein Geschöpf
menschlicher Tätigkeit, die Kristallgestalt und etwa ein
Wagenrad. In beiden Fällen erscheint uns das vorliegende
Objekt als Ergebnis von in Begriffen ausdrückbaren Gesetzen.
Der Unterschied liegt nur darinnen, daß wir den
Kristall als das unmittelbare Produkt der ihn bestimmenden
Naturgesetzlichkeiten ansehen müssen, während beim
Wagenrad der Mensch in die Mitte zwischen Begriff und
Gegenstand tritt. Was wir im Naturprodukt als dem Wirklichen
zugrunde liegend denken, das führen wir in unserem
Handeln in die Wirklichkeit ein. Im Erkennen erfahren
wir, welches die ideellen Bedingungen der Sinneserfahrung
sind; wir bringen die Ideenwelt, die in der Wirklichkeit
schon liegt, zum Vorschein; wir schließen also den Weltprozeß
in der Hinsicht ab, daß wir den Produzenten, der
ewig die Produkte hervorgehen läßt, aber ohne unser Denken
ewig in ihnen verborgen bliebe, zur Erscheinung rufen.
Im Handeln aber ergänzen wir diesen Prozeß dadurch, daß
wir die Ideenwelt, insofern sie noch nicht Wirklichkeit ist,
in solche umsetzen. Nun haben wir die Idee als das erkannt,
was allem Wirklichen zugrunde liegt, als das Bedingende,
die Intention der Natur. Unser Erkennen führt uns
dahin, die Tendenz des Weltprozesses, die Intention der
Schöpfung aus den in der uns umgebenden Natur enthaltenen
Andeutungen zu finden. Haben wir das erreicht,
dann ist unserem Handeln die Aufgabe zuerteilt, selbständig
an der Verwirklichung jener Intention mitzuarbeiten.
Und so erscheint uns unser Handeln direkt als eine Fortsetzung
jener Art von Wirksamkeit, die auch die Natur
erfüllt. Es erscheint uns als unmittelbarer Ausfluß des
Weltgrundes. Aber doch welch ein Unterschied ist da gegenüber
der anderen (Natur-)Tätigkeit! Das Naturprodukt
hat keineswegs in sich selbst die ideelle Gesetzmäßigkeit,
von der es beherrscht erscheint. Es bedarf bei ihm des Gegenübertretens
eines höheren, des menschlichen Denkens;
dann erscheint diesem das, wovon jenes beherrscht wird.
Beim menschlichen Tun ist das anders. Da wohnt dem tätigen
Objekte unmittelbar die Idee inne; und träte ihm
ein höheres Wesen gegenüber, so könnte es in seiner Tätigkeit
nichts anderes finden, als was dieses selbst in sein Tun
gelegt hat. Denn ein vollkommenes menschliches Handeln
ist das Ergebnis unserer Absichten und nur dieses. Blicken
wir ein Naturprodukt an, das auf ein anderes wirkt, so
stellt sich die Sache so: Wir sehen eine Wirkung; diese Wirkung
ist bedingt durch in Begriffe zu fassende Gesetze.
Wollen wir aber die Wirkung begreifen, da genügt es nicht,
daß wir sie mit irgendwelchen Gesetzen zusammenhalten,
wir müssen ein zweites wahrzunehmendes - allerdings wieder
ganz in Begriffe aufzulösendes - Ding haben. Wenn
wir einen Eindruck in dem Boden sehen, so suchen wir
nach dem Gegenstande, der ihn gemacht hat. Das führt zu
dem Begriffe einer solchen Wirkung, wo die Ursache einer
Erscheinung wieder in Form einer äußeren Wahrnehmung
erscheint, d. i. aber zum Begriffe der Kraft. Die Kraft kann
uns nur da entgegentreten, wo die Idee zuerst an einem
Wahrnehmungsobjekte erscheint und erst unter dieser
Form auf ein anderes Objekt wirkt. Der Gegensatz hierzu
ist, wenn diese Vermittlung wegfällt, wenn die Idee unmittelbar
an die Sinnenwelt herantritt. Da erscheint die
Idee selbst verursachend. Und hier ist es, wo wir vom Willen
sprechen. Wille ist also die Idee selbst als Kraft aufgefaßt.
Von einem selbständigen Willen zu sprechen ist völlig
unstatthaft. Wenn der Mensch irgend etwas vollbringt, so
kann man nicht sagen, es komme zu der Vorstellung noch
der Wille hinzu. Spricht man so, so hat man die Begriffe
nicht klar erfaßt, denn, was ist die menschliche Persönlichkeit,
wenn man von der sie erfüllenden Ideenwelt absieht?
Doch ein tätiges Dasein. Wer sie anders faßte: als totes,
untätiges Naturprodukt, setzte sie ja dem Steine auf der
Straße gleich. Dieses tätige Dasein ist aber ein Abstraktum,
es ist nichts Wirkliches. Man kann es nicht fassen, es ist
ohne Inhalt. Will man es fassen, will man einen Inhalt,
dann erhält man eben die im Tun begriffene Ideenwelt. E.
v. Hartmann macht dieses Abstraktum zu einem zweiten
weit-konstituierenden Prinzip neben der Idee. Es ist aber
nichts anderes als die Idee selbst, nur in einer Form des
Auftretens. Wille ohne Idee wäre nichts. Das gleiche kann
man nicht von der Idee sagen, denn die Tätigkeit ist ein
Element von ihr, während sie die sich selbst tragende Wesenheit
ist.*
Dies zur Charakteristik des menschlichen Tuns. Wir
schreiten zu einem weiteren wesentlichen Kennzeichen desselben,
das aus dem bisher Gesagten sich mit Notwendigkeit
ergibt. Das Erklären eines Vorganges in der Natur ist
ein Zurückgehen auf die Bedingungen desselben: ein Aufsuchen
des Produzenten zu dem gegebenen Produkte. Wenn
ich eine Wirkung wahrnehme und dazu die Ursache suche,
so genügen diese zwei Wahrnehmungen keineswegs meinem
Erklärungsbedürfnisse. Ich muß zu den Gesetzen zurückgehen,
nach denen diese Ursache diese Wirkung hervorbringt.
Beim menschlichen Handeln ist das anders. Da
tritt die eine Erscheinung bedingende Gesetzlichkeit selbst
in Aktion; was ein Produkt konstituiert, tritt selbst auf den
Schauplatz des Wirkens. Wir haben es mit einem erscheinenden
Dasein zu tun, bei dem wir stehenbleiben können,
bei dem wir nicht nach den tiefer liegenden Bedingungen
zu fragen brauchen. Ein Kunstwerk haben wir begriffen,
wenn wir die Idee kennen, die in demselben verkörpert ist;
wir brauchen nach keinem weiteren gesetzmäßigen Zusammenhang
zwischen Idee (Ursache) und Werk (Wirkung)
zu fragen. Das Handeln eines Staatsmannes begreifen wir,
wenn wir seine Intentionen (Ideen) kennen; wir brauchen
nicht weiter über das, was in die Erscheinung tritt, hinauszugehen.
Dadurch also unterscheiden sich Prozesse der
Natur von Handlungen des Menschen, daß hei jenen das
Gesetz als der bedingende Hintergrund des erscheinenden
Daseins zu betrachten ist, während bei diesen das Dasein
selbst Gesetz ist und von nichts als von sich selbst bedingt
erscheint. Dadurch legt sich jeder Naturprozeß in ein Bedingendes
und ein Bedingtes auseinander, und das letztere
folgt mit Notwendigkeit aus dem ersten, während das
menschliche Handeln nur sich selbst bedingt Das aber ist
das Wirken mit Freiheit. Indem die Intentionen der Natur,
die hinter den Erscheinungen stehen und sie bedingen, in
den Menschen einziehen, werden sie selbst zur Erscheinung;
aber sie sind jetzt gleichsam rückenfrei. Wenn alle Naturprozesse
nur Manifestationen der Idee sind, so ist das
menschliche Tun die agierende Idee selbst.
Indem unsere Erkenntnistheorie zu dem Schlusse gekommen
ist, daß der Inhalt unseres Bewußtseins nicht bloß
ein Mittel sei, sich von dem Weltengrunde ein Abbild zu
machen, sondern daß dieser Weltengrund selbst in seiner
ureigensten Gestalt in unserem Denken zutage tritt, so können
wir nicht anders, als im menschlichen Handeln auch
unmittelbar das unbedingte Handeln jenes Urgrundes selbst
erkennen. Einen Weltlenker, der außerhalb unserer selbst
unseren Handlungen Ziel und Richtung setzte, kennen wir
nicht. Der Weltlenker hat sich seiner Macht begeben, hat
alles an den Menschen abgegeben, mit Vernichtung seines
Sonderdaseins, und dem Menschen die Aufgabe zuerteilt:
wirke weiter. Der Mensch findet sich in der Welt, erblickt
die Natur, in derselben die Andeutung eines Tieferen, Bedingenden,
einer Intention. Sein Denken befähigt ihn, diese
Intention zu erkennen. Sie wird sein geistiger Besitz. Er
hat die Welt durchdrungen; er tritt handelnd auf, jene Intentionen
fortzusetzen. Damit ist die hier vorgetragene
Philosophie die wahre Freiheitsphilosophie. Sie läßt für die
menschlichen Handlungen weder die Naturnotwendigkeit
gelten, noch den Einfluß eines außerweltlichen Schöpfers
oder Weltlenkers. Der Mensch wäre in dem einen wie in
dem andern Fall unfrei. Wirkte in ihm die Naturnotwendigkeit
wie in den anderen Wesen, dann vollführte er seine
Taten aus Zwang, dann wäre auch bei ihm ein Zurückgehen
auf Bedingungen notwendig, die dem erscheinenden
Dasein zugrunde liegen und von Freiheit keine Rede. Es ist
natürlich nicht ausgeschlossen, daß es unzählige menschliche
Verrichtungen gibt, die nur unter diesen Gesichtspunkt
fallen; allein diese kommen hier nicht in Betracht.
Der Mensch, insofern er ein Naturwesen ist, ist auch nach
den für das Naturwirken geltenden Gesetzen zu begreifen.
Allein weder als erkennendes noch als wahrhaft ethisches
Wesen ist sein Auftreten aus bloßen Naturgesetzen einzusehen.
Da tritt er eben aus der Sphäre der Naturwirklichkeiten
heraus. Und für diese höchste Potenz seines Daseins,
die mehr Ideal als Wirklichkeit ist, gilt das hier Festgestellte.
Des Menschen Lebensweg besteht darinnen, daß er
sich vom Naturwesen zu einem solchen entwickelt, wie wir
es hier kennengelernt haben; er soll sich frei machen von
allen Naturgesetzen und sein eigener Gesetzgeber werden.*
Aber auch den Einfluß eines außerweltlichen Lenkers
der Menschengeschicke müssen wir ablehnen. Auch da, wo
ein solcher angenommen wird, kann von wahrer Freiheit
nicht die Rede sein. Da bestimmt er die Richtung des
menschlichen Handelns und der Mensch hat auszuführen,
was ihm jener zu tun vorgesetzt. Er empfindet den Antrieb
zu seinen Handlungen nicht als Ideal, das er sich selbst vorsetzt,
sondern als Gebot jenes Lenkers; wieder ist sein Handeln
nicht unbedingt, sondern bedingt. Der Mensch fühlte
sich dann eben nicht rückenfrei, sondern abhängig, nur
Mittel für die Intentionen einer höheren Macht.
Wir haben gesehen, daß der Dogmatismus darinnen besteht,
daß der Grund, warum irgend etwas wahr ist, in einem
unserem Bewußtsein Jenseitigen, Unzugänglichen
(Transsubjektiven) gesucht wird, im Gegensatz zu unserer
Ansicht, die ein Urteil nur deshalb wahr sein läßt, weil der
Grund dazu in den im Bewußtsein liegenden, in das Urteil
einfließenden Begriffen liegt. Wer sich einen Weltengrund
außer unserer Ideenwelt denkt, der denkt sich, daß der
ideale Grund, warum von uns etwas als wahr erkannt wird,
ein anderer ist, als warum es objektiv wahr ist. So ist die
Wahrheit als Dogma aufgefaßt. Und auf dem Gebiete der
Ethik ist das Gebot das, was in der Wissenschaft das Dogma
ist. Der Mensch handelt, wenn er die Antriebe zu seinem
Handeln in Geboten sucht, nach Gesetzen, deren Begründung
nicht von ihm abhängt; er denkt sich eine Norm,
die von außen seinem Handeln vorgeschrieben ist. Er handelt
aus Pflicht. Von Pflicht zu reden, hat nur bei dieser
Auffassung Sinn. Wir müssen den Antrieb von außen empfinden
und die Notwendigkeit anerkennen, ihm zu folgen,
dann handeln wir aus Pflicht. Unsere Erkenntnistheorie
kann ein solches Handeln, da wo der Mensch in seiner sittlichen
Vollendung auftritt, nicht gelten lassen. Wir wissen
daß die Ideenwelt die unendliche Vollkommenheit selbst
ist; wir wissen, daß mit ihr die Antriebe unseres Handelns
in uns liegen; und wir müssen demzufolge nur ein solches
Handeln als ethisch gelten lassen, bei dem die Tat nur aus
der in uns liegenden Idee derselben fließt. Der Mensch vollbringt
von diesem Gesichtspunkte aus nur deshalb eine
Handlung, weil deren Wirklichkeit für ihn Bedürfnis ist.
Er handelt, weil ein innerer (eigener) Drang, nicht eine
äußere Macht, ihn treibt. Das Objekt seines Handelns, sobald
er sich einen Begriff davon macht, erfüllt ihn so, daß
er es zu verwirklichen strebt. In dem Bedürfnis nach Verwirklichung
einer Idee, in dem Drange nach der Ausgestaltung
einer Absicht soll auch der einzige Antrieb unseres
Handelns sein. In der Idee soll sich alles ausleben, was uns
zum Tun drängt. Wir handeln dann nicht aus Pflicht, wir
handeln nicht einem Triebe folgend, wir handeln aus Liebe
zu dem Objekt, auf das unsere Handlung sich erstrecken
soll. Das Objekt, indem wir es vorstellen, ruft in uns den
Drang nach einer ihm angemessenen Handlung hervor. Ein
solches Handeln ist allein ein freies. Denn müßte zu dem
Interesse, das wir an dem Objekt nehmen, noch ein zweiter
anderweitiger Anlaß kommen, dann wollten wir nicht dieses
Objekt um seiner selbst willen, wir wollten ein anderes
und vollbrächten dieses, was wir nicht wollen; wir vollführten
eine Handlung gegen unseren Willen. Das wäre
etwa beim Handeln aus Egoismus der Fall. Da nehmen wir
an der Handlung selbst kein Interesse; sie ist uns nicht Bedürfnis,
wohl aber der Nutzen, den sie uns bringt. Dann
aber empfinden wir es auch zugleich als Zwang, daß wir
jene Handlung, nur dieses Zweckes willen, vollbringen
müssen. Sie selbst ist uns nicht Bedürfnis; denn wir unterließen
sie, wenn sie den Nutzen nicht im Gefolge hätte.
Eine Handlung aber, die wir nicht um ihrer selbst willen
vollbringen, ist eine unfreie. Der Egoismus handelt unfrei.
Unfrei handelt überhaupt jeder Mensch, der eine Handlung
aus einem Anlaß vollbringt, der nicht aus dem objektiven
Inhalt der Handlung selbst folgt. Eine Handlung um ihrer
selbst willen ausführen, heißt aus Liebe handeln. Nur derjenige,
den die Liebe zum Tun, die Hingabe an die Objektivität
leitet, handelt wahrhaft frei. Wer dieser selbstlosen
Hingabe nicht fähig ist, wird seine Tätigkeit nie als eine
freie ansehen können.
Soll das Handeln des Menschen nichts anderes sein als
die Verwirklichung seines eigenen Ideengehaltes, dann ist
es natürlich, daß solcher Gehalt in ihm liegen muß. Sein
Geist muß produktiv wirken. Denn was sollte ihn mit dem
Drange erfüllen, etwas zu vollbringen, wenn nicht eine
sich in seinem Geiste heraufarbeitende Idee? Diese Idee
wird sich um so fruchtbarer erweisen, in je bestimmteren
Umrissen, mit je deutlicherem Inhalte sie im Geiste auftritt.
Denn nur das kann uns ja mit aller Gewalt zur Verwirklichung
drängen, das seinem ganzen «Was» nach vollbestimmt
ist. Das nur dunkel vorgestellte, das unbestimmt
gelassene Ideal ist als Antrieb des Handelns ungeeignet.
Was soll uns an ihm eineifern, da sein Inhalt nicht offen
und klar am Tage liegt. Die Antriebe für unser Handeln
müssen daher immer in Form individueller Intentionen
auftreten. Alles, was der Mensch Fruchtbringendes vollführt,
verdankt solchen individuellen Impulsen seine Entstehung.
Völlig wertlos erweisen sich allgemeine Sittengesetze,
ethische Normen usw., die für alle Menschen Gültigkeit
haben sollen. Wenn Kant nur dasjenige als sittlich
gelten läßt, was sich für alle Menschen als Gesetz eignet,
so ist demgegenüber zu sagen, daß alles positive Handeln
aufhören müßte, alles Große aus der Welt verschwinden
müßte, wenn jeder nur das tun sollte, was sich für alle
eignet. Nein, nicht solche vage, allgemeine ethische Normen,
sondern die individuellsten Ideale sollen unser Handeln
leiten. Nicht alles ist für alle gleich würdig zu vollbringen,
sondern dies für den, für jenen das, je nachdem
einer den Beruf zu einer Sache fühlt. J. Kreyenbühl hat
hierüber treffliche Worte in seinem Aufsatze «Die ethische
Freiheit bei Kant» (Philosophische Monatshefte, Bd.
XVIII, 3. H. [Berlin etc. 1882, S. 129 ff.]) gesagt: «Soll
ja die Freiheit meine Freiheit, die sittliche Tat meine Tat,
soll das Gute und Rechte durch mich, durch die Handlung
dieser besonderen individuellen Persönlichkeit verwirklicht
werden, so kann mir unmöglich ein allgemeines Gesetz
genügen, das von aller Individualität und Besonderheit der
beim Handeln konkurrierenden Umstände absieht und mir
befiehlt vor jeder Handlung zu prüfen, ob das ihr zugrunde
liegende Motiv der abstrakten Norm der allgemeinen Menschennatur
entspreche, ob es so, wie es in mir lebt und
wirkt, allgemein gültige Maxime werden könne.» . . . «Eine
derartige Anpassung an das allgemein Übliche und Gebräuchliche
würde jede individuelle Freiheit, jeden Fortschritt
über das Ordinäre und Hausbackene, jede bedeutende,
hervorragende und bahnbrechende ethische Leistung
unmöglich machen.»
Diese Ausführungen verbreiten Licht über jene Fragen,
die eine allgemeine Ethik zu beantworten hat. Man behandelt
die letztere ja vielfach so, als ob sie eine Summe von
Normen sei, nach denen das menschliche Handeln sich zu
richten habe. Man stellt von diesem Gesichtspunkte aus die
Ethik der Naturwissenschaft und überhaupt der Wissenschaft
vom Seienden gegenüber. Während nämlich die letztere
uns die Gesetze von dem, was besteht, was ist, vermitteln
soll, hätte uns die Ethik jene vom Seinsollenden zu lehren.
Die Ethik soll ein Kodex von allen Idealen des Menschen
sein, eine ausführliche Antwort auf die Frage: Was
ist gut? Eine solche Wissenschaft ist aber unmöglich. Es
kann keine allgemeine Antwort auf diese Frage geben. Das
ethische Handeln ist ja ein Produkt dessen, was sich im Individuum
geltend macht; es ist immer im einzelnen Fall
gegeben, nie im allgemeinen. Es gibt keine allgemeinen Gesetze
darüber, was man tun soll und was nicht. Man sehe
nur ja nicht die einzelnen Rechtssatzungen verschiedener
Völker als solche an. Sie sind auch nichts weiter als der
Ausfluß individueller Intentionen. Was diese oder jene Persönlichkeit
als sittliches Motiv empfunden hat, hat sich
einem ganzen Volke mitgeteilt, ist zum «Recht dieses Volkes
» geworden. Ein allgemeines Naturrecht, das für alle
Menschen und alle Zeiten gelte, ist ein Unding. Rechtsanschauungen
und Sittlichkeitsbegriffe kommen und gehen
mit den Völkern, ja sogar mit den Individuen. Immer ist
die Individualität maßgebend. Im obigen Sinne von einer
Ethik zu sprechen, ist also unstatthaft. Aber es gibt andere
Fragen, die in dieser Wissenschaft zu beantworten sind,
Fragen, die z. T. in diesen Erörterungen kurz beleuchtet
worden sind. Ich erwähne nur: die Feststellung des Unterschiedes
von menschlichem Handeln und Naturwirken, die
Frage nach dem Wesen des Willens und der Freiheit usw.
Alle diese Einzelaufgaben lassen sich unter die eine subsumieren:
Inwiefern ist der Mensch ein ethisches Wesen?
Das bezweckt aber nichts anderes als die Erkenntnis der
sittlichen Natur des Menschen. Es wird nicht gefragt: Was
soll der Mensch tun? sondern: Was ist das, was er tut, seinem
inneren Wesen nach? Und damit fällt jene Scheidewand,
welche alle Wissenschaft in zwei Sphären trennt: in
eine Lehre vom Seienden und eine vom Seinsollenden. Die
Ethik ist ebenso wie alle anderen Wissenschaften eine Lehre
vom Seienden. In dieser Hinsicht geht der einheitliche Zug
durch alle Wissenschaften, daß sie von einem Gegebenen
ausgehen und zu dessen Bedingungen fortschreiten. Vom
menschlichen Handeln selbst aber kann es keine Wissenschaft
geben; denn das ist unbedingt, produktiv, schöpferisch.
Die Jurisprudenz ist keine Wissenschaft, sondern
nur eine Notizensammlung jener Rechtsgewohnheiten, die
einer Volksindividualität eigen sind.*
Der Mensch gehört nun nicht allein sich selbst; er gehört
als Glied zwei höheren Totalitäten an. Erstens ist er
ein Glied seines Volkes, mit dem ihn gemeinschaftliche Sitten,
ein gemeinschaftliches Kulturleben, eine Sprache und
gemeinsame Anschauung vereinigen. Dann aber ist er auch
ein Bürger der Geschichte, das einzelne Glied in dem großen
historischen Prozesse der Menschheitsentwicklung.
Durch diese doppelte Zugehörigkeit zu einem Ganzen
scheint sein freies Handeln beeinträchtigt. Was er tut,
scheint nicht allein ein Ausfluß seines eigenen individuellen
Ichs zu sein; er erscheint bedingt durch die Gemeinsamkeiten,
die er mit seinem Volke hat, seine Individualität scheint
durch den Volkscharakter vernichtet. Bin ich denn dann
noch frei, wenn man meine Handlungen nicht allein aus
meiner, sondern wesentlich auch aus der Natur meines Volkes
erklärlich findet? Handle ich da nicht deshalb so, weil
mich die Natur gerade zum Gliede dieser Volksgenossenschaft
gemacht hat? Und mit der zweiten Zugehörigkeit ist
es nicht anders. Die Geschichte weist mir den Platz meines
Wirkens an. Ich bin von der Kulturepoche abhängig, in
der ich geboren bin; ich bin ein Kind meiner Zeit. Wenn
man aber den Menschen zugleich als erkennendes und handelndes
Wesen auffaßt, dann löst sich dieser Widerspruch.
Durch sein Erkenntnisvermögen dringt der Mensch in den
Charakter seiner Volksindividualität ein; es wird ihm klar,
wohin seine Mitbürger steuern. Wovon er so bedingt erscheint,
das überwindet er und nimmt es als vollerkannte
Vorstellung in sich auf; es wird in ihm individuell und erhält
ganz den persönlichen Charakter, den das Wirken aus
Freiheit hat. Ebenso stellt sich die Sache mit der historischen
Entwicklung, innerhalb welcher der Mensch auftritt.
Er erhebt sich zur Erkenntnis der leitenden Ideen, der
sittlichen Kräfte, die da walten; und dann wirken sie nicht
mehr als ihn bedingende, sondern sie werden in ihm zu individuellen
Triebkräften. Der Mensch muß sich eben hinaufarbeiten,
damit er nicht geleitet werde, sondern sich
selbst leite. Er muß sich nicht blindlings von seinem Volkscharakter
führen lassen, sondern sich zur Erkenntnis desselben
erheben, damit er bewußt im Sinne seines Volkes
handle. Er darf sich nicht von dem Kulturfortschritte tragen
lassen, sondern er muß die Ideen seiner Zeit zu seinen
eigenen machen. Dazu ist vor allem notwendig, daß der
Mensch seine Zeit verstehe. Dann wird er mit Freiheit ihre
Aufgabe erfüllen, dann wird er mit seiner eigenen Arbeit
an der rechten Stelle ansetzen. Hier haben die Geisteswissenschaften
(Geschichte, Kultur- und Literaturgeschichte
usw.) vermittelnd einzutreten. In den Geisteswissenschaften
hat es der Mensch mit seinen eigenen Leistungen zu tun,
mit den Schöpfungen der Kultur, der Literatur, mit der
Kunst usw. Geistiges wird durch den Geist erfaßt. Und der
Zweck der Geisteswissenschaften soll kein anderer sein, als
daß der Mensch erkenne, wohin er von dem Zufalle gestellt
ist; er soll erkennen, was schon geleistet ist, was ihm zu tun
obliegt. Er muß durch die Geisteswissenschaften den rechten
Punkt finden, um mit seiner Persönlichkeit an dem
Getriebe der Welt teilzunehmen. Der Mensch muß die Geisteswelt
kennen und nach dieser Erkenntnis seinen Anteil
an ihr bestimmen.*
Gustav Freytag sagt in der Vorrede zum ersten Bande
seiner «Bilder aus der deutschen Vergangenheit» [Leipzig
1859]: «Alle großen Schöpfungen der Volkskraft, angestammte
Religion, Sitte, Recht, Staatsbildung sind für uns
nicht mehr die Resultate einzelner Männer, sie sind organische
Schöpfungen eines hohen Lebens, welches zu jeder
Zeit nur durch das Individuum zur Erscheinung kommt,
und zu jeder Zeit den geistigen Gehalt der Individuen in sich
zu einem mächtigen Ganzen zusammenfaßt... So darf
man wohl, ohne etwas Mystisches zu sagen, von einer
Volksseele sprechen. ...Aber nicht mehr bewußt, wie die
Willenskraft eines Mannes, arbeitet das Leben eines Volkes.
Das Freie, Verständige in der Geschichte vertritt der
Mann, die Volkskraft wirkt unablässig mit dem dunklen
Zwang einer Urgewalt.» Hätte Freytag dieses Leben des
Volkes untersucht, so hätte er wohl gefunden, daß es sich
in das Wirken einer Summe von Einzelindividuen auflöst,
die jenen dunklen Zwang überwinden, das Unbewußte in
ihr Bewußtsein heraufheben, und er hätte gesehen, wie das
aus den individuellen Willensimpulsen, aus dem freien
Handeln des Menschen hervorgeht, was er als Volksseele,
als dunklen Zwang anspricht.
Aber noch etwas kommt in bezug auf das Wirken des
Menschen innerhalb seines Volkes in Betracht. Jede Persönlichkeit
repräsentiert eine geistige Potenz, eine Summe
von Kräften, die nach der Möglichkeit zu wirken suchen.
Jedermann muß deshalb den Platz finden, wo sich sein
Wirken in der zweckmäßigsten Weise in seinen Volksorganismus
eingliedern kann. Es darf nicht dem Zufalle überlassen
bleiben, ob er diesen Platz findet. Die Staatsverfassung
hat keinen anderen Zweck, als dafür zu sorgen, daß
jeder einen angemessenen Wirkungskreis finde. Der Staat
ist die Form, in der sich der Organismus eines Volkes darlebt.
Die Volkskunde und Staatswissenschaft hat die Weise
zu erforschen, inwiefern die einzelne Persönlichkeit innerhalb
des Staates zu einer ihr entsprechenden Geltung kommen
kann. Die Verfassung muß aus dem innersten Wesen
eines Volkes hervorgehen. Der Volkscharakter in einzelnen
Sätzen ausgedrückt, das ist die beste Staatsverfassung. Der
Staatsmann kann dem Volke keine Verfassung aufdrängen.
Der Staatslenker hat die tiefen Eigentümlichkeiten seines
Volkes zu erforschen und den Tendenzen, die in diesem
schlummern, durch die Verfassung die ihnen entsprechende
Richtung zu geben. Es kann vorkommen, daß die Mehrheit
des Volkes in Bahnen einlenken will, die gegen seine eigene
Natur gehen, Goethe meint, in diesem Falle habe sich der
Staatsmann von der letzteren und nicht von den zufälligen
Forderungen der Mehrheit leiten zu lassen; er habe die
Volkheit gegen das Volk in diesem Falle zu vertreten
(«Sprüche in Prosa», Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 480f.).
Hieran müssen wir noch ein Wort über die Methode der
Geschichte anschließen. Die Geschichte muß stets im Auge
haben, daß die Ursachen zu den historischen Ereignissen
in den individuellen Absichten, Plänen usw. der Menschen
zu suchen sind. Alles Ableiten der historischen Tatsachen
aus Plänen, die der Geschichte zugrunde liegen, ist ein Irrtum.
Es handelt sich immer nur darum, welche Ziele sich
diese oder jene Persönlichkeit vorgesetzt, welche Wege sie
eingeschlagen usf. Die Geschichte ist durchaus auf die Menschennatur
zu gründen. Ihr Wollen, ihre Tendenzen sind zu
ergründen.
Wir können nun wieder das hier über die ethische Wissenschaft
Gesagte durch Aussprüche Goethes belegen.
Wenn er sagt: «Die vernünftige Welt ist als ein großes unsterbliches
Individuum zu betrachten, das unaufhaltsam
das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das
Zufällige zum Herrn macht», [«Sprüche in Prosa», ebenda
S. 482], so ist das nur aus dem Verhältnisse, in dem wir
den Menschen mit der Geschichtsentwicklung erblicken, zu
erklären. - Der Hinweis auf ein positives individuelles Substrat
des Wirkens liegt in den Worten: «Unbedingte Tätigkeit,
von welcher Art sie sei, macht zuletzt bankerott»
(Ebenda S. 463). Dasselbe in: «Der geringste Mensch kann
komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner
Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt.» (Ebenda S. 443) -
Die Notwendigkeit, daß der Mensch sich zu den leitenden
Ideen seines Volkes und seiner Zeit erhebe, ist ausgesprochen
in (ebenda S. 487): «Frage sich doch jeder, mit welchem
Organ er allenfalls in seine Zeit einwirken kann und
wird», und (ebenda S. 455): «Man muß wissen, wo man
steht und wohin die andern wollen.» Unsere Ansicht von
der Pflicht ist wiederzuerkennen in (ebenda S. 460):
«Pflicht, wo man liebt, was man sich selbst befiehlt.»
Wir haben den Menschen als erkennendes und handelndes
Wesen durchaus auf sich selbst gestellt. Wir haben seine
Ideenwelt als mit dem Weltengrunde zusammenfallend bezeichnet
und haben erkannt, daß alles, was er tut, nur als
der Ausfluß seiner eigenen Individualität anzusehen ist.
Wir suchen den Kern des Daseins in dem Menschen selbst.
Ihm offenbart niemand eine dogmatische Wahrheit, ihn
treibt niemand beim Handeln. Er ist sich selbst genug. Er
muß alles durch sich selbst, nichts durch ein anderes Wesen
sein. Er muß alles aus sich selbst schöpfen. Also auch den
Quell für seine Glückseligkeit. Wir haben ja erkannt, daß
von einer Macht, die den Menschen lenkte, die sein Dasein
nach Richtung und Inhalt bestimmte, ihn zur Unfreiheit
verdammte, nicht die Rede sein kann. Soll dem Menschen
daher Glückseligkeit werden, so kann das nur durch ihn
selbst geschehen. So wenig eine äußere Macht uns die Normen
unseres Handelns vorschreibt, so wenig wird eine
solche den Dingen die Fähigkeit erteilen, daß sie in uns das
Gefühl der Befriedigung erwecken, wenn wir es nicht selbst
tun. Lust und Unlust sind für den Menschen nur da, wenn
er selbst zuerst den Gegenständen das Vermögen beilegt,
diese Gefühle in ihm wachzurufen. Ein Schöpfer, der von
außen bestimmte, was uns Lust, was Unlust machen soll,
führte uns am Gängelbande.*
Damit ist jeder Optimismus und Pessimismus widerlegt.
Der Optimismus nimmt an, daß die Welt vollkommen sei,
daß sie für den Menschen der Quell höchster Zufriedenheit
sein müsse. Sollte das aber der Fall sein, so müßte der
Mensch erst in sich jene Bedürfnisse entwickeln, wodurch
ihm diese Zufriedenheit wird. Er müßte den Gegenständen
das abgewinnen, wonach er verlangt. Der Pessimismus
glaubt, die Einrichtung der Welt sei eine solche, daß sie den
Menschen ewig unbefriedigt lasse, daß er nie glücklich sein
könne. Welch ein erbarmungswürdiges Geschöpf wäre der
Mensch, wenn ihm die Natur von außen Befriedigung böte!
Alles Wehklagen über ein Dasein, das uns nicht befriedigt,
über diese harte Welt muß schwinden gegenüber dem Gedanken,
daß uns keine Macht der Welt befriedigen knnte,
wenn wir ihr nicht zuerst selbst jene Zauberkraft verliehen,
durch die sie uns erhebt, erfreut. Befriedigung muß uns
aus dem werden, wozu wir die Dinge machen, aus unseren
eigenen Schöpfungen. Nur das ist freier Wesen würdig.
XI
VERHÄLTNIS DER GOETHESCHEN DENKWEISE
ZU ANDEREN ANSICHTEN
Wenn von dem Einflüsse älterer oder gleichzeitiger Denker
auf die Entwicklung des Goetheschen Geistes gesprochen
wird, so kann das nicht in dem Sinne geschehen, als ob er
seine Ansichten auf Grund von deren Lehren gebildet hätte.
Die Art und Weise, wie er denken mußte, wie er die Welt
ansah, lag in der ganzen Anlage seiner Natur vorgebildet.
Und zwar lag sie von frühester Jugend an in seinem Wesen.
In bezug darauf blieb er sich dann auch sein ganzes Leben
lang gleich. Es sind vornehmlich zwei bedeutsame Charakterzüge,
die hier in Betracht kommen. Der erste ist der
Drang nach den Quellen, nach der Tiefe alles Seins. Es ist
im letzten Grunde der Glaube an die Idee. Die Ahnung
eines Höheren, Besseren erfüllt Goethe stets. Man möchte
das einen tief religiösen Zug seines Geistes nennen. Was so
vielen ein Bedürfnis ist: die Dinge unter Abstreifung eines
jeglichen Heiligen zu sich herabzuziehen, das kennt er
nicht. Er hat aber das andere Bedürfnis, ein Höheres zu
ahnen und sich zu ihm emporzuarbeiten. Jedem Dinge sucht
er eine Seite abzugewinnen, wodurch es uns heilig wird.
K. J. Schröer hat das in geistvollster Weise in bezug auf
Goethes Verhalten in der Liebe gezeigt. Alles Frivole,
Leichtfertige wird abgestreift und die Liebe wird für
Goethe ein Frommsein. Dieser Grundzug seines Wesens ist
am schönsten in seinen Worten ausgesprochen:
«In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinem, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben.
Wir heißen's: fromm sein!»
Diese Seite seines Wesens ist nun [Trilogie der Leidenschaft
/ Elegie] unzertrennlich mit einer andern in Verbindung.
Er sucht an dieses Höhere nie unmittelbar heranzutreten;
er sucht sich ihm immer durch die Natur zu
nähern. «Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht
unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen
erraten» («Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt.,
S. 378). Neben dem Glauben an die Idee hat Goethe auch
den andern, daß wir die Idee durch Betrachtung der Wirklichkeit
gewinnen; es fällt ihm nicht ein, die Gottheit
anderswo zu suchen als in den Werken der Natur, aber
diesen sucht er überall ihre göttliche Seite abzugewinnen.
Wenn er in seiner Knabenzeit dem großen Gotte, der
«mit der Natur in unmittelbarer Verbindung steht» («Dichtung
und Wahrheit», I. Teil, 1. Buch), einen Altar errichtet,
so entspringt dieser Kultus schon entschieden aus dem
Glauben, daß wir das Höchste, zu dem wir gelangen können,
durch treues Pflegen des Verkehres mit der Natur gewinnen.
So ist denn Goethe jene Betrachtungsweise angeboren,
die wir erkenntnistheoretisch gerechtfertigt haben.
Er tritt an die Wirklichkeit heran in der Überzeugung,
daß alles nur eine Manifestation der Idee ist, die wir erst
gewinnen, wenn wir die Sinneserfahrung in geistiges Anschauen
hinaufheben. Diese Überzeugung lag in ihm, und
er betrachtete von Jugend auf die Welt auf Grund dieser
Voraussetzung. Kein Philosoph konnte ihm diese Überzeugung
geben. Nicht das ist es also, was Goethe bei den
Philosophen suchte. Es war etwas anderes. Wenn seine
Weise die Dinge zu betrachten auch tief in seinem Wesen
lag, so brauchte er doch eine Sprache sie auszudrücken.
Sein Wesen wirkte philosophisch, d. h. so, daß es sich nur
in philosophischen Formeln aussprechen, nur von philosophischen
Voraussetzungen aus rechtfertigen läßt. Und um
das, was er war, auch sich deutlich zum Bewußtsein zu
bringen, um das, was bei ihm lebendiges Tun war, auch zu
wissen, sah er sich bei den Philosophen um. Er suchte bei
ihnen eine Erklärung und Rechtfertigung seines Wesens.
Das ist sein Verhältnis zu den Philosophen. Zu diesem
Zwecke studierte er in der Jugend Spinoza und ließ sich
später mit den philosophischen Zeitgenossen in wissenschaftliche
Verhandlungen ein. In seinen Jünglingsjahren
schienen dem Dichter am meisten Spinoza und Giordano
Bruno sein eigenes Wesen auszusprechen. Es ist merkwürdig,
daß er beide Denker zuerst aus gegnerischen Schriften
kennen lernte und trotz dieses Umstandes erkannte,
wie ihre Lehren zu seiner Natur stehen. Besonders an seinem
Verhältnis zu Giordano Brunos Lehren sehen wir das
Gesagte erhärtet. Er lernt ihn aus Bayles Wörterbuch, wo
er heftig angegriffen wird, kennen. Und er erhält von ihm
einen so tiefen Eindruck, daß wir in jenen Teilen des
«Faust», die, der Konzeption nach, aus der Zeit um 1770
stammen, wo er Bayle las, sprachliche Anklänge an Sätze
von Bruno finden (s. Goethe-Jahrbuch Bd.VII, Frankfurt/
M. 1886). In den Tag- und Jahres-Heften erzählt der
Dichter, daß er sich wieder 1812 mit Giordano Bruno beschäftigt
habe. Auch diesmal ist der Eindruck ein gewaltiger,
und in vielen der nach diesem Jahre entstandenen
Gedichte erkennen wir Anklänge an den Philosophen von
Nola. Das alles ist aber nicht so zu nehmen, als ob Goethe
von Bruno irgend etwas entlehnt oder gelernt hätte; er
fand bei ihm nur die Formel, das, was längst in seiner Natur
lag, auszusprechen. Er fand, daß er sein eigenes Innere
am klarsten darlege, wenn er es mit den Worten jenes Denkers
tat. Bruno betrachtet die universelle Vernunft als die
Erzeugerin und Lenkerin des Weltalls. Er nennt sie den
inneren Künstler, der die Materie formt und von innen
heraus gestaltet. Sie ist die Ursache von allem Bestehenden,
und es gibt kein Wesen, an dessen Sein sie nicht liebevoll
Anteil nähme. «Das Ding sei noch so klein und winzig,
es hat in sich einen Teil von geistiger Substanz» (Giordano
Bruno, Von der Ursache usw., hg. v. A. Lasson, Heidelberg
1882). Das war ja auch Goethes Ansicht, daß wir ein Ding
erst zu beurteilen wissen, wenn wir sehen, wie es von der
allgemeinen Vernunft an seinen Ort gestellt worden ist,
wie es gerade zu dem geworden ist, als was es uns gegenübertritt.
Wenn wir mit den Sinnen wahrnehmen, so genügt
das nicht, denn die Sinne sagen uns nicht, wie ein Ding mit
der allgemeinen Weltidee zusammenhängt, was es für das
große Ganze zu bedeuten hat. Da müssen wir so schauen,
daß uns unsere Vernunft einen ideellen Untergrund schafft,
auf dem uns dann das erscheint, was uns die Sinne überliefern;
wir müssen, wie es Goethe ausdrückt, mit den
Augen des Geistes schauen. Auch um diese Überzeugung
auszusprechen, fand er bei Bruno eine Formel: «Denn wie
wir nicht mit einem und demselben Sinn Farben und Töne
erkennen, so sehen wir auch nicht mit einem und demselben
Auge das Substrat der Künste und das Substrat der Natur»,
weil wir «mit den sinnlichen Augen jenes und mit dem
Auge der Vernunft dieses sehen» (s. Lasson S. 77). Und mit
Spinoza ist es nicht anders. Spinozas Lehre beruht ja darauf,
daß die Gottheit in der Welt aufgegangen ist. Das
menschliche Wissen kann also nur bezwecken, sich in die
Welt zu vertiefen, um Gott zu erkennen. Jeder andere Weg,
zu Gott zu gelangen, muß für einen konsequent im Sinne
des Spinozismus denkenden Menschen unmöglich erscheinen.
Denn Gott hat jede eigene Existenz aufgegeben; außer
der Welt ist er nirgends. Wir müssen ihn aber da aufsuchen,
wo er ist. Jedes eigentliche Wissen muß also so beschaffen
sein, daß es uns in jedem Stücke Welterkenntnis ein Stück
Gotteserkenntnis überliefert. Das Erkennen auf seiner
höchsten Stufe ist also ein Zusammengehen mit der Gottheit.
Wir nennen es da anschauliches Wissen. Wir erkennen
die Dinge «sub specie aeternitatis», d. h. als Ausflüsse der
Gottheit. Die Gesetze, die unser Geist in der Natur erkennt,
sind also Gott in seiner Wesenheit, nicht nur von
ihm gemacht. Was wir als logische Notwendigkeit erkennen,
ist so, weil ihm das Wesen der Gottheit, d. i. die ewige
Gesetzlichkeit innewohnt. Das war eine dem Goetheschen
Geist gemäße Anschauung. Sein fester Glaube, daß uns die
Natur in all ihrem Treiben ein Göttliches offenbare, lag
ihm hier in klarsten Sätzen vor. «Ich halte mich fest und
fester an die Gottes Verehrung des Atheisten (Spinoza)»,
schreibt er an Jacobi, als dieser die Lehre Spinozas in
einem anderen Lichte erscheinen lassen wollte. [WA 7,214]
Darinnen liegt das Verwandtschaftliche mit Spinoza bei
Goethe. Und wenn man gegenüber dieser tiefen, inneren
Harmonie zwischen Goethes Wesen und Spinozas Lehre immer
und immer das rein Äußerliche hervorhebt: Goethe
wurde von Spinoza angezogen, weil er wie dieser die Endursachen
in der Welterklärung nicht dulden wollte, so zeugt
das von einer oberflächlichen Beurteilung der Sachlage. Daß
Goethe wie Spinoza die Endursachen verwarfen, war nur
eine Folge ihrer Ansichten. Man lege sich doch nur die Theorie
von den Endursachen klar vor. Es wird ein Ding nach
Dasein und Beschaffenheit dadurch erklärt, daß man seine
Notwendigkeit für ein anderes dartut. Man zeigt, dieses
Ding ist so und so beschaffen, weil jenes andere so und so
ist. Das setzt voraus, daß ein Weltengrund existiere, der
über den beiden Wesen stehe und sie so einrichte, daß sie
füreinander passen. Wenn aber der Weltengrund einem
jeden Dinge innewohnt, dann hat diese Erklärungsweise
keinen Sinn. Denn dann muß uns die Beschaffenheit eines
Dinges als Folge des in ihm wirksamen Prinzipes erscheinen.
Wir werden in der Natur eines Dinges den Grund
suchen, warum es so und nicht anders ist. Wenn wir den
Glauben haben, daß Göttliches einem jeden Dinge innewohnt,
dann wird es uns doch nicht einfallen, zur Erklärung
seiner Gesetzlichkeit nach einem äußerlichen Prinzip
zu suchen. Auch das Verhältnis Goethes zu Spinoza ist
nicht anders zu fassen, denn so, daß er bei ihm die Formeln,
die wissenschaftliche Sprache fand, um die in ihm liegende
Welt auszusprechen.
Wenn wir nun auf Goethes Beziehung zu den gleichzeitigen
Philosophen übergehen, so haben wir vor allem von
Kant zu sprechen. Kant wird allgemein als der Begründer
der heutigen Philosophie angesehen. Zu seiner Zeit rief er
eine so mächtige Bewegung hervor, daß es für jeden Gebildeten
Bedürfnis war, sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Auch für Goethe wurde diese Auseinandersetzung eine
Notwendigkeit. Sie konnte aber für ihn nicht fruchtbar
sein. Denn es besteht ein tiefer Gegensatz zwischen dem,
was die Kantsche Philosophie lehrt, und dem, was wir als
Goethesche Denkweise erkennen. Ja, man kann geradezu
sagen, daß das gesamte deutsche Denken in zwei parallelen
Richtungen abläuft, einer von der Kantschen Denkweise
durchtränkten und einer andern, die dem Goetheschen
Denken nahesteht. Indem sich aber heute die Philosophie
immer mehr Kant nähert, entfernt sie sich von Goethe und
damit geht für unsere Zeit immer mehr die Möglichkeit
verloren, die Goethesche Weltanschauung zu begreifen und
zu würdigen. Wir wollen die Hauptsätze der Kantschen
Lehre insoweit hierhersetzen, als sie Interesse für die Ansichten
Goethes haben. Der Ausgangspunkt für das menschliche
Denken ist für Kant die Erfahrung, d. h. die den
Sinnen (worinnen der innere Sinn, der uns die psychischen,
historischen usw. Tatsachen übermittelt, inbegriffen ist)
gegebene Welt. Diese ist eine Mannigfaltigkeit von Dingen
im Raume und von Prozessen in der Zeit. Daß mir gerade
dieses Ding gegenübertritt, daß ich gerade jenen Prozeß erlebe,
ist gleichgültig; es könnte auch anders sein. Ich kann
mir überhaupt die ganze Mannigfaltigkeit von Dingen und
Prozessen wegdenken. Was ich mir aber nicht wegdenken
kann, das ist Raum und Zeit. Es kann für mich nichts geben,
was nicht räumlich oder zeitlich wäre. Selbst, wenn
es ein raumloses oder zeitloses Ding gibt, kann ich nichts
davon wissen, denn ich kann mir ohne Raum und Zeit
nichts vorstellen. Ob den Dingen selbst Raum und Zeit zukomme,
weiß ich nicht; ich weiß nur, daß die Dinge für
mich in diesen Formen auftreten müssen. Raum und Zeit
sind somit die Vorbedingungen meiner sinnlichen Wahrnehmung.
Ich weiß von dem Ding an sich nichts; ich weiß
nur, wie es mir erscheinen muß, wenn es für mich da sein
soll. Kant leitet mit diesen Sätzen ein neues Problem ein.
Er tritt mit einer neuen Fragestellung in der Wissenschaft
auf. Statt wie die früheren Philosophen zu fragen: Wie
sind die Dinge beschaffen, fragt er: wie müssen uns die
Dinge erscheinen, damit sie Gegenstand unseres Wissens
werden können? Die Philosophie ist für Kant die Wissenschaft
von den Bedingungen der Möglichkeit der Welt als
einer menschlichen Erscheinung. Von dem Ding an sich
wissen wir nichts. Wir haben unsere Aufgabe noch nicht
erfüllt, wenn wir bis zur sinnlichen Anschauung einer Mannigfaltigkeit
in Zeit und Raum kommen. Wir streben darnach,
diese Mannigfaltigkeit in eine Einheit zusammenzufassen.
Und das ist Sache des Verstandes. Der Verstand ist
als eine Summe von Tätigkeiten aufzufassen, die den Zweck
haben, die Sinnenwelt nach gewissen in ihm vorgezeichneten
Formen zusammenzufassen. Er faßt zwei sinnenfällige
Wahrnehmungen zusammen, indem er z. B. die eine als
Ursache, die andere als Wirkung bezeichnet oder die eine
als Substanz, die andere als Eigenschaft usw. Auch hier ist
es die Aufgabe der philosophischen Wissenschaft, zu zeigen,
unter welchen Bedingungen es dem Verstande gelingt,
sich ein System der Welt zu bilden. So ist die Welt eigentlich
im Sinne Kants eine in den Formen der Sinnenwelt
und des Verstandes auftretende subjektive Erscheinung. Es
ist nur das Eine gewiß, daß es ein Ding an sich gibt; wie es
uns erscheint, das hängt von unserer Organisation ab. Es
ist nun auch natürlich, daß es keinen Sinn hat, jener Welt,
die der Verstand im Verein mit den Sinnen geformt hat,
eine andere als eine Bedeutung für unser Erkenntnisvermögen
zuzuschreiben. Am klarsten wird das da, wo Kant
von der Bedeutung der Ideenwelt spricht. Die Ideen sind
für ihn nichts als höhere Gesichtspunkte der Vernunft, unter
denen die niederen Einheiten, die der Verstand geschaffen,
begriffen werden. Der Verstand bringt z. B. die Seelenerscheinungen
in einen Zusammenhang; die Vernunft, als
das Ideenvermögen, faßt dann diesen Zusammenhang so,
als wenn alles von einer Seele ausginge. Das hat aber für die
Sache selbst keine Bedeutung, ist nur Orientierungsmittel
für unser Erkenntnisvermögen. Dies der Inhalt von Kants
theoretischer Philosophie, soweit er uns hier interessieren
kann. Man sieht in ihr sofort den entgegengesetzten Pol der
Goetheschen. Die gegebene Wirklichkeit wird von Kant
nach uns selbst bestimmt; sie ist so, weil wir sie so vorstellen.
Kant überspringt die eigentliche erkenntnistheoretische
Frage. Er macht am Eingange seiner Vernunftkritik zwei
Schritte, die er nicht rechtfertigt, und an diesem Fehler
krankt sein ganzes philosophisches Lehrgebäude. Er stellt
sogleich die Unterscheidung von Objekt und Subjekt auf,
ohne zu fragen, was für eine Bedeutung es denn überhaupt
hat, wenn der Verstand die Trennung zweier Wirklichkeitsgebiete
(hier erkennendes Subjekt und zu erkennendes
Objekt) vornimmt. Dann sucht er das gegenseitige Verhältnis
dieser beiden Gebiete begrifflich herzustellen, wieder
ohne zu fragen, welchen Sinn eine solche Feststellung
hat. Hätte er die erkenntnistheoretische Hauptfrage nicht
schief gesehen, so hätte er bemerkt, daß die Auseinanderhaltung
von Subjekt und Objekt nur ein Durchgangspunkt
unseres Erkennens ist, daß beiden eine tiefere, der Vernunft
erfaßbare Einheit zugrunde liegt und daß dasjenige, was
einem Dinge als Eigenschaft zuerkannt wird, insofern es
in bezug auf ein erkennendes Subjekt gedacht wird, keineswegs
nur subjektive Gültigkeit hat. Das Ding ist eine Vernunfteinheit
und die Trennung in ein «Ding an sich» und
«Ding für uns» ist Verstandesprodukt. Es geht also nicht
an, zu sagen, was dem Dinge in einer Beziehung zuerkannt
wird, kann ihm in anderer abgesprochen werden. Denn ob
ich dasselbe Ding einmal unter diesem, ein andermal unter
jenem Gesichtspunkte betrachte: es ist ja doch ein einheitliches
Ganzes.
Es ist ein Fehler, der sich durch Kants ganzes Lehrgebäude
durchzieht, daß er die sinnenfällige Mannigfaltigkeit
als etwas Festes ansieht, und daß er glaubt, Wissenschaft
bestehe darinnen, diese Mannigfaltigkeit in ein System zu
bringen. Er vermutet gar nicht, daß das Mannigfaltige kein
Letztes ist, das man überwinden muß, wenn man es begreifen
will; und deshalb wird ihm alle Theorie bloß eine Zutat,
die Verstand und Vernunft zur Erfahrung hinzubringen.
Die Idee ist ihm nicht das, was der Vernunft als der
tiefere Grund der gegebenen Welt erscheint, wenn sie die
an der Oberfläche gelegene Mannigfaltigkeit überwunden
hat, sondern nur ein methodisches Prinzip, nach dem dieselbe
die Erscheinungen behufs ihrer leichteren Übersicht
anordnet. Wir gingen nach Kantscher Anschauung ganz
fehl, wenn wir die Dinge als aus der Idee ableitbar betrachteten;
wir können nach seiner Meinung unsere Erfahrungen
nur so anordnen, als ob sie aus einer Einheit stammten. Von
dem Grund der Dinge, von dem «An sich» haben wir nach
Kant keine Ahnung. Unser Wissen von den Dingen ist nur
in bezug auf uns da, ist nur für unsere Individualität gültig.
Aus dieser Ansicht über die Welt konnte Goethe nicht
viel gewinnen. Ihm blieb die Betrachtung der Dinge in bezug
auf uns immer die ganz untergeordnete, welche die
Wirkung der Gegenstände auf unser Gefühl der Lust und
Unlust betrifft; von der Wissenschaft fordert er mehr als
bloß die Angabe, wie die Dinge in bezug auf uns sind. In
dem Aufsatz: «Der Versuch als Vermittler von Objekt und
Subjekt» (Natw. Schr., 2. Bd., S. 10 ff.) wird die Aufgabe
des Forschers bestimmt: Er soll den Maßstab zur Erkenntnis,
die Data zur Beurteilung nicht aus sich, sondern aus
dem Kreise der Dinge nehmen, die er beobachtet. Mit diesem
einzigen Satz ist der tiefe Gegensatz Kantischer und
Goethescher Denkweise gekennzeichnet. Während bei Kant
alles Urteilen über die Dinge nur ein Produkt aus Subjekt
und Objekt ist und nur ein Wissen darüber liefert, wie das
Subjekt das Objekt anschaut, geht das Subjekt bei Goethe
selbstlos in dem Objekte auf und entnimmt die Data zur
Beurteilung aus dem Kreise der Dinge. Goethe sagt daher
von Kants Schülern selbst: «Sie hörten mich wohl, konnten
mir aber nichts erwidern, noch irgend förderlich sein.»
[Natw. Schr., 2. Bd., S. 29] Mehr glaubte der Dichter aus
Kants Kritik der Urteilskraft gewonnen zu haben.
Ungleich mehr als durch Kant wurde Goethe in philosophischer
Beziehung durch Schiller gefördert. Durch ihn
wurde er nämlich wirklich um eine Stufe weiter in der Erkenntnis
seiner eigenen Anschauungsweise gebracht. Bis zu
jenem berühmten ersten Gespräch mit Schiller hatte
Goethe* eine gewisse Weise, die Welt anzuschauen, geübt.
Er hatte Pflanzen betrachtet, ihnen eine Urpflanze zugrunde
gelegt und die einzelnen Formen daraus abgeleitet.
Diese Urpflanze (und auch ein entsprechendes Urtier) hatte
sich in seinem Geiste gestaltet, war ihm bei der Erklärung
der einschlägigen Erscheinungen dienlich. Er hatte aber nie
darüber nachgedacht, was denn diese Urpflanze ihrem Wesen
nach sei. Schiller öffnete ihm die Augen, indem er ihm
sagte: sie ist eine Idee. Von jetzt ab ist sich Goethe seines
Idealismus erst bewußt. Er nennt die Urpflanze daher bis
zu jenem Gespräch eine Erfahrung, denn er glaubte sie mit
Augen zu sehen. In der später zu dem Aufsatz über die Metamorphose
der Pflanze hinzugekommenen Einleitung aber
sagt er: «So trachtete ich nunmehr das Urtier zu finden, das
heißt denn doch zuletzt, den Begriff, die Idee des Tieres.»
[Natw. Schr., 1. Bd., S. 15] Dabei ist aber festzuhalten, daß
Schiller Goethen nichts diesem Fremdes überlieferte, sondern
vielmehr sich selbst erst durch die Betrachtung des
Goetheschen Geistes zur Erkenntnis des objektiven Idealismus
durchrang. Er fand nur den Terminus für die Anschauungsweise,
die er an Goethe erkannte und bewunderte.
Wenig Förderung hat Goethe von Fichte erfahren.
Fichte bewegte sich in einer dem Goetheschen Denken viel
zu fremden Sphäre, als daß eine solche möglich gewesen
wäre. Fichte hat die Wissenschaft des Bewußtseins in der
scharfsinnigsten Weise begründet. Er hat die Tätigkeit,
durch welche das «Ich» die gegebene Welt in eine gedachte
verwandelt, in einzig musterhafter Weise abgeleitet. Dabei
hat er aber den Fehler gemacht, daß er diese Tätigkeit des
Ich nicht bloß als eine solche auffaßte, die den gegebenen
Inhalt in eine befriedigende Form bringt, die zusammenhanglos
Gegebenes in die entsprechenden Zusammenhänge
bringt; er hat sie als ein Erschaffen alles dessen angesehen,
was innerhalb des «Ich» sich abspielt. Dadurch erscheint
seine Lehre als ein einseitiger Idealismus, der seinen ganzen
Inhalt aus dem Bewußtsein nimmt. Goethe, der stets auf
das Objektive ging, konnte wohl wenig Anziehendes in
Fichtes Bewußtseinsphilosophie finden. Für das Gebiet, wo
sie gilt, fehlte Goethe das Verständnis; die Ausdehnung
aber, die ihr Fichte gab - er sah sie als Universalwissenschaft
an -, konnte dem Dichter nur als ein Irrtum erscheinen.*
Viel mehr Berührungspunkte hatte Goethe mit dem jungen
Schelling. Dieser war ein Schüler Fichtes. Er führte
aber nicht nur die Analyse der Tätigkeit des «Ich» weiter,
sondern er verfolgte auch jene Tätigkeit innerhalb des Bewußtseins,
durch welches das letztere die Natur erfaßt.
Das, was sich im Ich beim Erkennen der Natur abspielt,
schien Schelling zugleich das Objektive der Natur, das
eigentliche Prinzip in ihr zu sein. Die Natur draußen war
ihm nur eine festgewordene Form unserer Naturbegriffe.
Was in uns als Naturanschauung lebt, das erscheint uns
außen wieder, nur auseinandergezogen, räumlich-zeitlich.
Was uns von außen her als Natur entgegentritt, ist fertiges
Produkt, ist nur das Bedingte, die starr gewordene Form
eines lebendigen Prinzips. Dieses Prinzip können wir nicht
durch Erfahrung von außen her gewinnen. Wir müssen es
in unserem Innern erst schaffen. «Über die Natur philosophieren
heißt die Natur schaffen,» sagt deshalb unser Philosoph.
94 «Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata)
nennen wir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle
Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans)
nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle
Theorie).» (Einleitung zu seinem Entwurf..., Jena u. Leipzig
1799, S. 22.) «Der Gegensatz zwischen Empirie und
Wissenschaft beruht nun eben darauf, daß jene ihr Objekt
im Sein als etwas Fertiges und zustande Gebrachtes; die
Wissenschaft dagegen das Objekt im Werden und als ein
erst zustande zu Bringendes betrachtet.» (Ebenda S. 20)
94 [Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie; Jena
u. Leipzig 1799, S. 6.]
Durch diese Lehre, die Goethe teils aus Schellings Schriften,
teils aus persönlichem Umgange mit dem Philosophen
kennen lernte, wurde der Dichter wieder um eine Stufe
höher gebracht. Jetzt entwickelte sich bei ihm die Ansicht,
daß seine Tendenz darauf gehe, von dem Fertigen, dem
Produkte zu dem Werdenden, Produzierenden fortzuschreiten.
Und mit entschiedenem Anklang an Schelling
schreibt er im Aufsatz «Anschauende Urteilskraft», daß
sein Streben war, sich «durch das Anschauen einer immer
schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen
würdig zu machen» (Natw. Schr., 1. Bd., S. 116).
Durch Hegel endlich erhielt Goethe die letzte Förderung
von sehen der Philosophie. Durch ihn erlangte er nämlich
Klarheit darüber, wie sich das, was er Urphädnomen
nannte, in die Philosophie einreiht. Hegel hat die Bedeutung
des Urphänomens am tiefsten begriffen und in seinem
Briefe an Goethe vom 20. Februar 1821 trefflich charakterisiert
mit den Worten: «Das Einfache und Abstrakte, das
Sie sehr treffend das Urphänomen nennen, stellen Sie an
die Spitze, zeigen dann die konkreteren Erscheinungen auf,
als entstehend durch das Hinzukommen weiterer Einwirkungsweisen
und Umstände und regieren den ganzen Verlauf
so, daß die Reihenfolge von den einfachen Bedingungen
zu den zusammengesetzteren fortschreitet, und so rangiert,
das Verwickelte nun, durch diese Dekomposition, in
seiner Klarheit erscheint. Das Urphänomen auszuspüren,
es von den andern ihm selbst zufälligen Umgebungen zu befreien,
— es abstrakt, wie wir dies heißen, aufzufassen, dies
halte ich für eine Sache des großen geistigen Natursinns,
sowie jenen Gang überhaupt für das wahrhaft Wissenschaftliche
der Erkenntnis in diesem Felde.» . . . «Darf ich
Ew. etc. aber nun auch noch von dem besonderen Interesse
sprechen, welches ein so herausgehobenes Urphänomen für
uns Philosophen hat, daß wir nämlich ein solches Präparat
geradezu in den philosophischen Nutzen verwenden können!
Haben wir nämlich unser zunächst austernhaftes,
graues, oder ganz schwarzes Absolutes, doch gegen Luft
und Licht hingearbeitet, daß es derselben begehrlich geworden,
so brauchen wir Fensterstellen, um es vollends an
das Licht des Tages herauszuführen; unsere Schemen würden
zu Dunst verschweben, wenn wir sie so geradezu in die
bunte, verworrene Gesellschaft der widerwärtigen Welt
versetzen wollten. Hier kommen uns nun Ew. Wohlgeboren
Urphänomene vortrefflich zustatten; in diesem Zwielichte,
geistig und begreiflich durch seine Einfachheit, sichtlich
und greiflich durch seine Sinnlichkeit - begrüßen sich
die beiden Welten, unser Abstruses, und das erscheinende
Dasein, einander.» So wird durch Hegel für Goethe der
Gedanke klar, daß der empirische Forscher bis zu den Urphänomenen
zu gehen hat, und daß von da aus die Wege
des Philosophen weiterführen. Daraus geht aber auch hervor,
daß der Grundgedanke der Hegeischen Philosophie
eine Konsequenz der Goetheschen Denkweise ist. Die
Überwindung der Wirklichkeit, die Vertiefung in dieselbe,
um vom Geschaffenen zum Schaffen, vom Bedingten zur
Bedingung aufzusteigen, liegt bei Goethe, aber auch bei
Hegel zugrunde. Hegel will ja in der Philosophie nichts anderes
bieten als den ewigen Prozeß, aus dem alles, was endlich
ist, hervorgeht. Er will das Gegebene als eine Folge
dessen erkennen, was er als Unbedingtes gelten lassen kann.
So bedeutet für Goethe das Bekanntwerden mit Philosophen
und philosophischen Richtungen eine fortschreitende
Aufklärung darüber, was schon in ihm lag. Er hat für
seine Anschauung nichts gewonnen; ihm wurden nur die
Mittel an die Hand gegeben, darüber zu reden, was er tat,
was in seiner Seele vorging.
So bietet denn die Goethesche Weltansicht genugsam
Anhaltspunkte zur philosophischen Ausgestaltung. Diese
sind aber zunächst nur von den Schülern Hegels aufgegriffen
worden. Die übrige Philosophie steht der Goetheschen
Anschauung vornehm ablehnend gegenüber. Nur Schopenhauer
stützt sich in manchen Punkten auf den von ihm
hochgeschätzten Dichter. Von seiner Apologetik der Farbenlehre
werden wir in einem späteren Kapitel sprechen.
Hier kommt es auf das allgemeine Verhältnis von Schopenhauers
Lehre zu Goethe an.95 In einem Punkte kommt
der Frankfurter Philosoph an Goethe heran. Schopenhauer
weist nämlich alles Herleiten der uns gegebenen Phänomene
aus äußeren Ursachen ab und läßt nur eine innere
Gesetzmäßigkeit gelten, nur ein Herleiten einer Erscheinung
aus der andern. Das kommt scheinbar dem Goetheschen
Prinzip gleich, die Data der Erklärung aus den Dingen
selbst zu nehmen; aber eben nur scheinbar. Denn während
Schopenhauer innerhalb des Phänomenalen bleiben
will, weil wir das außer demselben liegende «An sich» im
Erkennen nicht erreichen können, da alle uns gegebenen
95 Sehr lesenswert ist Dr. Adolf Harpfs Aufsatz «Schopenhauer und
Goethe» (Philos. Monatshefte 1885). Harpf, der auch schon eine
treffliche Abhandlung über «Goethes Erkenntnisprinzip» (Philos.
Monatshefte 1884) geschrieben hat, zeigt die Übereinstimmung des
«immanenten Dogmatismus» Schopenhauers mit dem gegenständlichen
Wissen Goethes. Den prinzipiellen Unterschied zwischen
Goethe und Schopenhauer, wie wir ihn oben charakterisierten, findet
Harpf, der selbst Schopenhauerianer ist, nicht heraus. Dennoch verdienen
die Ausführungen Harpfs alle Aufmerksamkeit.
Erscheinungen nur Vorstellungen sind und unser Vorstellungsvermögen
uns nie über unser Bewußtsein hinausführt,
will Goethe innerhalb der Phänomene bleiben, weil er eben
in ihnen selbst die Data zu ihrer Erklärung sucht.
Zum Schlusse wollen wir noch die Goethesche Weltansicht
mit der bedeutsamsten wissenschaftlichen Erscheinung
unserer Zeit, mit den Anschauungen Eduard v. Hartmanns
zusammenhalten. Die «Philosophie des Unbewußten» dieses
Denkers ist ein Werk von größter geschichtlicher Bedeutung.
Mit den übrigen Schriften Hartmanns, die das
dort Skizzierte nach allen Seiten ausbauen, ja wohl in vieler
Hinsicht neue Gesichtspunkte zu jenem Hauptwerke
hinzubringen, zusammen, spiegelt sich in ihr der gesamte
geistige Inhalt unserer Zeit. Hartmann zeichnet ein bewunderungswerter
Tiefsinn und eine erstaunliche Beherrschung
des Materiales der einzelnen Wissenschaften aus. Er
steht heute auf der Hochwacht der Bildung. Man braucht
nicht sein Anhänger zu sein, und man wird ihm das rückhaltlos
zuerkennen müssen.
Seine Anschauung steht der Goetheschen nicht so ferne,
als man auf den ersten Blick glauben möchte. Wem nichts
anderes vorliegt als die «Philosophie des Unbewußten», der
wird das freilich nicht einsehen können. Denn die entschiedenen
Berührungspunkte beider Denker sieht man erst,
wenn man auf die Konsequenzen geht, die Hartmann aus
seinen Prinzipien gezogen und die er in seinen späteren
Schriften niedergelegt hat.
Hartmanns Philosophie ist Idealismus. Er will zwar
kein bloßer Idealist sein. Allein, wo er behufs der Welterklärung
etwas Positives braucht, ruft er doch die Idee zu
Hilfe. Und das Wichtigste ist, daß er die Idee überall zugründe
liegend denkt. Denn seine Annahme eines Unbewußten
hat ja keinen andern Sinn, als daß jenes, das in unserem
Bewußtsein als Idee vorhanden ist, nicht notwendig
an diese Erscheinungsform - innerhalb des Bewußtseins -
gebunden ist. Die Idee ist nicht nur vorhanden (wirksam),
wo sie bewußt wird, sondern auch in anderer Form. Sie ist
mehr denn bloßes subjektives Phänomen; sie hat eine in sich
selbst gegründete Bedeutung. Sie ist nicht bloß im Subjekte
gegenwärtig, sie ist objektives Weltprinzip. Wenn auch
Hartmann neben der Idee noch den Willen unter die die
Welt konstituierenden Prinzipien aufnimmt, so ist es doch
unbegreiflich, wie es noch immer Philosophen gibt, die ihn
für einen Schopenhauerianer ansehen. Schopenhauer hat
die Ansicht, daß aller Begriffsinhalt nur subjektiv, nur Bewußtseinsphänomen
sei, auf die Spitze getrieben. Bei ihm
kann davon gar nicht die Rede sein, daß die Idee an der
Konstitution der Welt als reales Prinzip teilgenommen hat.
Bei ihm ist der Wille ausschließlicher Weltgrund. Deswegen
konnte es Schopenhauer nie zu einer inhaltsvollen Behandlung
der philosophischen Spezialwissenschaften bringen,
während Hartmann seine Prinzipien schon in alle besonderen
Wissenschaften hinein verfolgt hat. Während
Schopenhauer über den ganzen reichen Inhalt der Geschichte
nichts zu sagen weiß, als daß er eine Manifestation
des Willens ist, weiß Ed. v. Hartmann von jeder einzelnen
historischen Erscheinung den ideellen Kern zu finden und
sie der gesamten geschichtlichen Entwicklung der Menschheit
einzugliedern. Schopenhauer kann das Einzelwesen,
die Einzelerscheinung nicht interessieren, denn er weiß von
ihr nur das eine Wesentliche zu sagen, daß sie eine Ausgestaltung
des Willens ist. Hartmann greift jedes Sonderdasein
auf und zeigt, wie überall die Idee wahrzunehmen ist.
Der Grundcharakter von Schopenhauers Weltanschauung
ist Einförmigkeit, der v. Hartmanns Einheitlichkeit. Schopenhauer
legt einen inhaltsleeren, einförmigen Drang der
Welt zugrunde, Hartmann den reichen Inhalt der Idee.
Schopenhauer legt die abstrakte Einheit zugrunde, bei Hartmann
finden wir die konkrete Idee als Prinzip, bei der die
Einheit - besser Einheitlichkeit - nur eine Eigenschaft ist.
Schopenhauer hätte nie wie Hartmann eine Geschichtsphilosophie,
nie eine Religionswissenschaft schaffen können.
Wenn Hartmann sagt: «Die Vernunft ist das logische
Formalprinzip der mit dem Willen untrennbar geeinten
Idee und regelt und bestimmt als solches den Inhalt des
Weltprozesses ohne Rest» (Philosophische Fragen der Gegenwart
»; Leipzig 1885, S. 27), so macht ihm diese Voraussetzung
möglich, in jeder Erscheinung, die uns in Natur
und Geschichte gegenübertritt, den logischen Kern, der
zwar für die Sinne nicht, wohl aber für das Denken erfaßbar
ist, aufzusuchen und sie so zu erklären. Wer diese Voraussetzung
nicht macht, wird nie rechtfertigen können,
warum er überhaupt über die Welt durch Nachdenken vermittelst
Ideen etwas ausmachen will.
Mit seinem objektiven Idealismus steht Ed. v. Hartmann
ganz auf dem Boden Goethescher Weltanschauung.
Wenn Goethe sagt: «Alles, was wir gewahr werden und
wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der
Idee» («Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt.,
S. 379), und wenn er fordert, der Mensch müsse in sich ein
solches Erkenntnisvermögen ausbilden, daß ihm die Idee
so anschaulich wird, wie den Sinnen die äußere Wahrnehmung,
so steht er auf jenem Boden, wo die Idee nicht bloß
Bewußtseinsphänomen, sondern objektives Weltprinzip ist;
das Denken ist das Aufblitzen dessen im Bewußtsein, was
objektiv die Welt konstituiert. Das Wesentliche an der
Idee ist also nicht das, was sie für uns, für unser Bewußtsein,
ist, sondern was sie an sich selbst ist. Denn durch die ihr
eigene Wesenheit liegt sie der Welt als Prinzip zugrunde.
Deshalb ist das Denken ein Gewahrwerden dessen, was an
und für sich ist. Obwohl also die Idee gar nicht zur Erscheinung
kommen würde, wenn es kein Bewußtsein gäbe,
so muß sie doch so erfaßt werden, daß nicht die Bewußtheit
ihr Charakteristikon ausmacht, sondern das, was sie
an sich ist, was in ihr selbst liegt, wozu das Bewußtwerden
nichts tut. Deshalb müssen wir nach Ed. v. Hartmann die
Idee, abgesehen von dem Bewußtwerden, als wirkendes
Unbewußtes der Welt zugrunde legen. Das ist das Wesentliche
bei Hartmann, daß wir die Idee in allem Bewußtlosen
zu suchen haben.
Mit der Unterscheidung von Bewußtem und Unbewußtem
ist aber nicht viel getan. Denn das ist ja doch nur ein
Unterschied für mein Bewußtsein. Man muß aber der Idee
in ihrer Objektivität, in ihrer vollen Inhaltlichkeit zu Leibe
gehen, man muß nicht nur darauf sehen, daß die Idee unbewußt
wirksam ist, sondern was dieses Wirksame ist.
Wäre Hartmann dabei stehen geblieben, daß die Idee unbewußt
ist, und hätte er aus diesem Unbewußten - also aus
einem einseitigen Merkmal der Idee - die Welt erklärt, er
hätte zu den vielen Systemen, die die Welt aus irgendeinem
abstrakten Formelprinzip ableiten, ein neues einförmiges
System geschaffen. Und man kann sein erstes
Hauptwerk nicht ganz von dieser Einförmigkeit freisprechen.
Aber Ed. v. Hartmanns Geist wirkt zu intensiv, zu
umfassend und tief dringend, als daß er nicht erkannt
hätte: die Idee darf nicht bloß als Unbewußtes gefaßt werden;
man muß sich vielmehr eben in das vertiefen, was man
als unbewußt anzusprechen hat, muß über diese Eigenschaft
hinaus auf dessen konkreten Inhalt gehen und daraus
die Welt der Einzelerscheinungen ableiten. So hat sich
Hartmann vom abstrakten Monisten, der er in seiner «Philosophie
des Unbewußten» noch ist, zum konkreten Monisten
herausgebildet. Und die konkrete Idee ist es, was
Goethe unter den drei Formen: Urphänomen, Typus und
«Idee im engeren Sinne» anspricht.
Das Gewahrwerden eines Objektiven in unserer Ideenwelt
und die aus diesem Gewahrwerden folgende Hingabe
an dasselbe ist es, was wir von Goethes Weltanschauung in
Ed.v. Hartmanns Philosophie wiederfinden. Hartmann ist
durch seine Philosophie des Unbewußten zu diesem Aufgehen
in der objektiven Idee geführt worden. Da er erkannte,
daß in der Bewußtheit nicht das Wesen der Idee
liegt, hatte er die letztere auch als an und für sich Bestehendes,
als Objektives anerkennen müssen. Daß er daneben
noch den Willen in die konstitutiven Weltprinzipien aufnimmt,
unterscheidet ihn freilich wieder von Goethe. Jedoch
wo Hartmann wirklich fruchtbringend ist, da kommt
das Willensmotiv gar nicht in Betracht. Daß er es überhaupt
annimmt, kommt daher, weil er die Idee als Ruhendes
ansieht, das, um zur Wirkung zu kommen, vom Willen
den Anstoß braucht. Nach Hartmann kann der Wille allein
nie zur Schöpfung der Welt kommen, denn er ist der leere
blinde Drang zum Dasein. Soll er etwas hervorbringen, so
muß die Idee hinzutreten, denn nur diese gibt ihm den Inhalt
seines Wirkens. Allein was sollen wir mit jenem Willen
anfangen? Er entschlüpft uns, indem wir ihn erfassen wollen;
denn wir können ja doch das inhaltslose, leere Drängen
nicht erfassen. Und so kommt es, daß doch alles das,
was wir wirklich von dem Weltprinzip erfassen, Idee ist,
denn das Erfaßbare muß eben Inhalt haben. Wir können
nur das Inhaltsvolle begreifen, nicht das Inhaltsleere. Sollen
wir also den Begriff Willen erfassen, so muß er ja doch
am Inhalt der Idee auftreten; er kann nur an und mit der
Idee, als die Form ihres Auftretens, erscheinen, niemals
selbständig. Was existiert, muß Inhalt haben, es kann nur
ein erfülltes, kein leeres Sein geben. Deshalb stellt Goethe
die Idee als tätig vor, als Wirksames, das keines Anstoßes
mehr bedarf. Denn das Inhaltsvolle darf und kann nicht
von einem Inhaltsleeren erst den Anstoß bekommen, ins
Dasein zu treten. Die Idee ist deshalb im Sinne Goethes als
Entelechie, d. i. schon als tätiges Dasein zu fassen; und man
muß von seiner Form als einem Tätigen zuerst abstrahieren,
wenn man es dann wieder unter dem Namen Wille hinzubringen
will. Das Willensmotiv ist auch für die positive
Wissenschaft ganz wertlos. Auch Hartmann braucht es
nicht, wo er an die konkrete Erscheinung herantritt.
Haben wir in der Naturansicht Hartmanns ein Anklingen
an Goethes Weltansicht erkannt, so finden wir es in der
Ethik jenes Philosophen noch bedeutsamer. Eduard v.
Hartmann findet, daß alles Streben nach Glück, alles Jagen
des Egoismus ethisch wertlos ist, weil wir ja doch auf
diesem Wege nie zur Befriedigung kommen können. Das
Handeln aus Egoismus und zur Befriedigung desselben
hält Hartmann für ein illusorisches. Wir sollen unsere Aufgabe,
die uns in der Welt gestellt ist, erfassen und rein um
dieser selbst willen, mit Entäußerung unseres Selbst, wirken.
Wir sollen in der Hingabe an das Objekt, ohne Anspruch,
für unser Subjekt etwas herauszuschlagen, unser
Ziel finden. Dieses letztere macht aber den Grundzug der
Ethik Goethes aus. Hartmann hätte das Wort nicht unterdrücken
sollen, das den Charakter seiner Sittenlehre ausdrückt:
die Liebe96 Wo wir keinen persönlichen Anspruch
machen, wo wir nur handeln, weil uns das Objektive treibt,
wo wir in der Tat selbst die Motive der Tätigkeit finden,
da handeln wir sittlich. Da aber handeln wir aus Liebe.
Aller Eigenwille, alles Persönliche muß da schwinden. Es
ist für Hartmanns mächtig und gesund wirkenden Geist
charakteristisch, daß er in der Theorie, trotzdem er die
Idee zuerst in der einseitigen Weise des Unbewußten gefaßt
hat, doch zum konkreten Idealismus vorgedrungen ist
und daß, trotzdem er in der Ethik vom Pessimismus ausgegangen,
ihn dieser verfehlte Standpunkt zur Sittenlehre der
Liebe geführt hat. Der Pessimismus Hartmanns hat ja nicht
den Sinn, den jene Menschen in ihn legen, die gerne über die
Fruchtlosigkeit unseres Wirkens klagen, weil sie darin eine
Berechtigung abzuleiten hoffen dafür, daß sie die Hände
in den Schoß legen und nichts vollbringen. Hartmann bleibt
nicht bei der Klage stehen; er erhebt sich über jede solche
Anwandlung zu einer reinen Ethik. Er zeigt die Wertlosigkeit
des Jagens nach dem Glück, indem er dessen Frucht-
96 Damit soll nicht behauptet werden, daß in Hartmanns Ethik der
Begriff der Liebe nicht seine Berücksichtigung finde. H. hat denselben
in phänomenaler und metaphysischer Beziehung behandelt
(siehe «Das sittliche Bewußtsein» 2. Aufl., S. 223-247, 629-631, 641,
638-641). Nur läßt er die Liebe nicht als das letzte Wort der Ethik
gelten. Die opferwillige, liebevolle Hingabe an den Weltprozeß
scheint ihm kein Letztes zu sein, sondern nur das Mittel zur Erlösung
von der Unruhe des Daseins und zur Wiedergewinnung der
verlorenen seligen Ruhe.
losigkeit enthüllt. Er weist uns damit auf unsere Tätigkeit.
Daß er überhaupt Pessimist ist, das ist sein Irrtum. Das ist
vielleich noch ein Anhängsel aus früheren Stadien seines
Denkens. Da, wo er jetzt steht, müßte er einsehen, daß der
empirische Nachweis, daß in der Welt des Wirklichen das
Nicht-Befriedigende überwiegt, den Pessimismus nicht begründen
kann. Denn der höhere Mensch kann gar nichts
anderes wünschen, als daß er sich sein Glück selbst erringen
muß. Er will es nicht als Geschenk von außen. Er will
das Glück bloß in seiner Tat haben. Hartmanns Pessimismus
löst sich vor (Hartmanns eigenem) höherem Denken
auf. Weil uns die Welt unbefriedigt läßt, schaffen wir uns
selbst das schönste Glück in unserem Wirken.
So ist uns Hartmanns Philosophie wieder ein Beweis
dafür, wie man, von verschiedenen Ausgangspunkten ausgehend,
zu dem gleichen Ziele kommt. Hartmann geht von
anderen Voraussetzungen aus als Goethe; aber in der Ausführung
tritt uns auf Schritt und Tritt Goethescher Ideengang
gegenüber. Wir haben das hier ausgeführt, weil uns
darum zu tun war, die tiefe, innere Gediegenheit der Goetheschen
Weltansicht zu zeigen. Sie liegt so tief im Weltwesen
begründet, daß wir ihren Grundzügen überall da begegnen
müssen, wo energisches Denken zu den Quellen des
Wissens vordringt. In diesem Goethe war so sehr alles ursprünglich,
so gar nichts nebensächliche Modeansicht der
Zeit, daß auch der Widerstrebende in seinem Sinne denken
muß. In einzelnen Individuen spricht sich eben das ewige
Welträtsel aus; in der Neuzeit in Goethe am bedeutungsvollsten,
deshalb kann man geradezu sagen, die Höhe der
Anschauung eines Menschen kann heute an dem Verhältnisse
gemessen werden, in welchem sie zur Goetheschen steht*
XII
GOETHE UND DIE MATHEMATIK
Zu den Haupthindernissen, die einer gerechten Würdigung
von Goethes Bedeutung für die Wissenschaft entgegenstehen,
gehört das Vorurteil, das über sein Verhältnis zur
Mathematik besteht. Dieses Vorurteil ist ein doppeltes. Einmal
glaubt man, Goethe sei ein Feind dieser Wissenschaft
gewesen und habe ihre hohe Bedeutung für das menschliche
Erkennen in arger Weise verkannt; und zweitens behauptet
man, der Dichter habe jede mathematische Behandlungsweise
aus den physikalischen Teilen der Naturlehre, die er
gepflegt, nur deshalb ausgeschieden, weil sie ihm, der sich
keiner Kultur in der Mathematik erfreute, unbequem war.
Was den ersten Punkt betrifft, so ist dagegen zu sagen,
daß Goethe wiederholt in so entschiedener Weise seiner
Bewunderung der mathematischen Wissenschaft Ausdruck
gegeben hat, daß von einer Geringschätzung derselben
durchaus nicht die Rede sein kann. Ja, er will die gesamte
Naturwissenschaft von jener Strenge durchdrungen wissen,
die der Mathematik eigen ist. «Die Bedächtlichkeit, nur
das Nächste ans Nächste zu reihen, oder vielmehr das
Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den
Mathematikern zu lernen, und selbst da, wo wir uns keiner
Rechnung bedienen, müssen wir immer so zu Werke
gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft
zu geben schuldig wären.» (Natw. Schr., 2. Bd., S. 19) «Ich
hörte mich anklagen, als sei ich ein Widersacher, ein Feind
der Mathematik überhaupt, die doch niemand höher schätzen
kann als ich .. .» [Ebenda S. 45]
Was den zweiten Vorwurf betrifft, so ist er ein solcher,
daß ihn kaum jemand im Ernste erheben kann, der einen
Einblick in Goethes Wesen getan hat. Wie oft hat sich
denn nicht Goethe gegen das Beginnen problematischer
Naturen ausgesprochen, die Zielen zustreben, unbekümmert
darum, ob sie sich damit innerhalb der Grenzen ihrer
Fähigkeiten bewegen! Und er selbst sollte dieses Gebot
überschritten, er sollte naturwissenschaftliche Ansichten
aufgestellt haben, mit Hinwegsetzung über seine Unzulänglichkeit
in mathematischen Dingen? Goethe wußte, daß der
Wege zum Wahren unendlich viele sind, und daß ein jeder
jenen wandeln kann, der seinen Fähigkeiten gemäß ist, und
er kommt ans Ziel. «Jeder Mensch muß nach seiner Weise
denken: denn er findet auf seinem Wege immer ein Wahres,
oder eine Art von Wahrem, die ihm durchs Leben hilft;
nur er darf sich nicht gehen lassen; er muß sich kontrollieren
. . . » («Sprüche in Prosa» [Natw., Schr., 4. Bd., 2. Abt.,
S. 460]). «Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn
er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten
bewegt; aber selbst schöne Vorzüge werden verdunkelt,
aufgehoben und vernichtet, wenn jenes unerläßlich
geforderte Ebenmaß abgeht.» [Ebenda S. 443]
Es wäre lächerlich, wenn man behaupten wollte, Goethe
habe, um überhaupt etwas zu leisten, sich auf ein Feld begeben,
das außerhalb seines Gesichtskreises lag. Es kommt
alles darauf an, festzustellen, was Mathematik zu leisten
hat, und wo ihre Anwendung auf Naturwissenschaft beginnt.
Darüber hat Goethe nun wirklich die gewissenhaftesten
Betrachtungen angestellt. Der Dichter entwickelt da,
wo es sich darum handelt, die Grenzen seiner produktiven
Kraft zu bestimmen, einen Scharfsinn, der nur noch von
seinem genialischen Tiefsinn übertroffen wird. Darauf
möchten wir vor allem jene aufmerksam machen, die über
Goethes wissenschaftliches Denken nichts anderes zu sagen
wissen, als daß ihm die logisch-reflektierende Denkweise
abging. Die Art, wie Goethe die Grenze zwischen
der naturwissenschaftlichen Methode, die er anwendete,
und jener der Mathematiker bestimmte, verrät eine tiefe
Einsicht in die Natur der mathematischen Wissenschaft.
Er wußte genau, welches der Grund der Gewißheit mathematischer
Lehrsätze ist; er hatte sich eine klare Vorstellung
darüber gebildet, in welchem Verhältnisse die mathematische
zu der übrigen Naturgesetzlichkeit steht.
Soll eine Wissenschaft überhaupt einen Erkenntniswert
haben, so muß sie uns ein bestimmtes Wirklichkeitsgebiet
erschließen. Es muß sich in ihr irgendeine Seite des Weltinhalts
ausprägen. Die Art, wie sie das tut, bildet den Geist
der betreffenden Wissenschaft. Diesen Geist der Mathematik
mußte Goethe kennen, um zu wissen, was in der
Naturwissenschaft ohne Hilfe des Kalküls zu erreichen
ist, und was nicht. Hier liegt der Punkt, auf den es ankommt.
Goethe selbst hat mit aller Bestimmtheit darauf
hingewiesen. Die Art, wie er es tut, verrät eine tiefe Einsicht
in die Natur des Mathematischen.
Wir wollen auf diese Natur näher eingehen. Gegenstand
der Mathematik ist die Größe, das, was ein Mehr
oder Weniger zuläßt. Die Größe ist aber nichts an sich
selbst Bestehendes. Es gibt im weiten Umkreise menschlicher
Erfahrung kein Ding, das nur Größe ist. Neben anderen
Merkmalen hat jedes Ding auch solche, die durch
Zahlen zu bestimmen sind. Da die Mathematik sich mit
Größen beschäftigt, hat sie zu ihrem Gegenstande keine in
sich vollendeten Erfahrungsobjekte, sondern nur alles das
von ihnen, was sich messen oder zählen läßt. Sie sondert
alles, was sich der letzten Operation unterwerfen läßt, von
den Dingen ab. So erhält sie eine ganze Welt von Abstraktionen,
innerhalb welcher sie dann arbeitet. Sie hat es nicht
mit Dingen zu tun, sondern nur mit Dingen, insofern sie
Größen sind. Sie muß zugeben, daß sie da nur eine Seite des
Wirklichen behandelt, und daß die letztere noch viele andere
Seiten hat, über die sie keine Macht hat. Die mathematischen
Urteile sind keine Urteile, die wirkliche Objekte
voll umfassen, sondern sie haben nur innerhalb der ideellen
Welt von Abstraktionen Gültigkeit, die wir selbst als eine
Seite der Wirklichkeit von der letzteren begrifflich abgesondert
haben. Die Mathematik abstrahiert die Größe und
die Zahl von den Dingen, stellt die ganz ideellen Bezüge
zwischen Größen und Zahlen her und schwebt so in einer
reinen Gedankenwelt. Die Dinge der Wirklichkeit, insofern
sie Größe und Zahl sind, erlauben dann die Anwendung
der mathematischen Wahrheiten. Es ist also ein entschiedener
Irrtum, zu glauben, daß man mit mathematischen
Urteilen die Gesamtnatur erfassen könne. Die Natur
ist eben nicht bloß Quantum; sie ist auch Quale, und die
Mathematik hat es nur mit dem ersteren zu tun. Es müssen
sich die mathematische Behandlung und die rein auf das
Qualitative ausgehende in die Hände arbeiten; sie werden
sich am Dinge, von dem sie jede eine Seite erfassen, begegnen.
Goethe bezeichnet dieses Verhältnis mit den Worten:
«Die Mathematik ist wie die Dialektik ein Organ des inneren
höheren Sinnes; in der Ausübung ist sie eine Kunst
wie die Beredsamkeit. Für beide hat nichts Wert als die
Form; der Gehalt ist ihnen gleichgültig. Ob die Mathematik
Pfennige oder Guineen berechne, die Rhetorik Wahres
oder Falsches verteidige, ist beiden vollkommen gleich.»
(«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 405).
Und «Entwurf einer Farbenlehre» 724 [ebenda 3. Bd.,
S. 277]: «Wer bekennt nicht, daß die Mathematik, als eines
der herrlichsten menschlichen Organe, der Physik von einer
Seite sehr vieles genutzt?» In dieser Erkenntnis sah Goethe
die Möglichkeit, daß ein Geist, der sich in Mathematik
keiner Kultur erfreut, sich mit physikalischen Problemen
befassen kann. Er muß sich auf das Qualitative beschränken.
XIII
DAS GEOLOGISCHE GRUNDPRINZIP GOETHES
Goethe wird sehr oft dort gesucht, wo er durchaus nicht
zu finden ist. Unter vielen anderen Dingen ist das bei der
Beurteilung der geologischen Forschungen des Dichters geschehen.
Viel mehr aber als irgendwo wäre es hier notwendig,
daß alles, was Goethe über Einzelheiten geschrieben,
zurückträte hinter den großartigen Intentionen, von
denen er ausging. Er muß hier vor allem nach seiner eigenen
Maxime: «In den Werken des Menschen, wie in denen
der Natur, sind eigentlich die Absichten vorzüglich der
Aufmerksamkeit wert» [«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr.,
4. Bd., 2. Abt., S. 378] und «Der Geist, aus dem wir handeln,
ist das Höchste» [Lehrjahre VII, 9] beurteilt werden.
Nicht was er erreichte, sondern wie er es anstrebte, ist für
uns das Vorbildliche. Es handelt sich nicht um eine Lehrmeinung,
sondern um eine mitzuteilende Methode. Die erste
hängt von den wissenschaftlichen Mitteln der Zeit ab und
kann überholt werden; die letzte ist hervorgegangen aus der
großen Geistesanlage Goethes und hält stand, auch wenn
die wissenschaftlichen Werkzeuge sich vervollkommnen
und die Erfahrung sich erweitert.
In die Geologie wurde Goethe durch die Beschäftigung
mit den Ilmenauer Bergwerken geführt, zu der er amtlich
verpflichtet war. Als Karl August zur Regierung kam,
widmete er sich mit großem Ernste diesem Bergwerke, das
lange vernachlässigt worden war. Es sollten zunächst die
Gründe des Verfalls desselben durch Sachverständige genau
untersucht und dann alles mögliche zur Wiederbelebung
des Betriebes getan werden. Goethe stand dabei dem
Herzog Karl August zur Seite. Er betrieb die Angelegenheit
auf das energischste. Das führte ihn denn oft in die
Bergwerke von Ilmenau. Er wollte sich mit dem Stand der
Sache selbst genau bekannt machen. Im Mai 1776 zum
erstenmal und dann noch oft war er in Ilmenau.
Mitten in dieser praktischen Sorge ging ihm nun das wissenschaftliche
Bedürfnis auf, den Gesetzen jener Erscheinungen
näher zukommen, die er da zu beobachten in der
Lage war. Die umfassende Naturanschauung, die sich in
seinem Geiste zu immer größerer Klarheit heraufarbeitete
(siehe den Aufsatz «Die Natur»; Natw. Schr., 2. Bd., S.
5 ff.), zwang ihn, das, was sich da vor seinen Augen ausbreitete,
in seinem Sinne zu erklären.
Es macht sich hier gleich eine tief in Goethes Natur liegende
Eigentümlichkeit geltend. Er hat ein wesentlich anderes
Bedürfnis als viele Forscher. Während bei letzteren
das Hauptsächliche in der Erkenntnis des Einzelnen liegt,
während sie gewöhnlich an einem ideellen Bau, einem System
nur insoweit Interesse nehmen, als es ihnen beim Beobachten
des Einzelnen behilflich ist, ist für Goethe die
Einzelheit nur Durchgangspunkt zu einer umfassenden Gesamtauffassung
des Seienden. Wir lesen in dem Aufsatz
«Die Natur»: «Sie lebt in lauter Kindern und die Mutter,
wo ist sie?»* Dasselbe Streben, nicht nur das unmittelbar
Existierende, sondern dessen tiefere Grundlage zu erkennen,
finden wir ja auch in Faust («Schau' alle Wirkungskraft
und Samen»). So wird ihm denn auch das was er auf
und unter der Erdoberfläche beobachtet, ein Mittel, in das
Rätsel der Weltbildung einzudringen. Was er am 23. Dezember
1786 an die Herzogin Luise schreibt: «Die Naturwerke
sind immer wie ein erstausgesprochenes Wort Gottes
» [WA 8, 98], beseelt all sein Forschen; und das sinnlich
Erfahrbare wird ihm zur Schrift, aus der er jenes Wort der
Schöpfung zu lesen hat. In diesem Sinne schreibt er am
22. August 1784 an Frau v. Stein: «Die große und schöne
Schrift sei immer lesbar und nur dann nicht zu entziffern,
wenn die Menschen ihre kleinlichen Vorstellungen und ihre
Beschränktheit auf unendliche Wesen übertragen wollen.»
[WA 6, 343] Dieselbe Tendenz finden wir im «Wilhelm
Meister»: «Wenn ich nun aber eben diese Spalten und Risse
als Buchstaben behandelte, sie zu entziffern hätte, sie zu
Worten bildete und sie fertig zu lesen lernte, hättest du
etwas dagegen?» [WA Abt. I, 24, 46]
So sehen wir denn den Dichter vom Ende der siebziger
Jahre an unablässig bemüht, diese Schrift zu entziffern.
Sein Streben ging dahin, sich zu einer solchen Anschauung
emporzuarbeiten, daß ihm das, was er getrennt sah, im inneren,
notwendigen Zusammenhang erscheine. Seine Methode
war «die entwickelnde, entfaltende, keineswegs die
zusammenstellende, ordnende». Ihm genügte es nicht, da
den Granit, dort den Porphyr usw. zu sehen, und sie einfach
nach äußerlichen Merkmalen aneinanderzureihen, er
strebte nach einem Gesetze, das aller Gesteinsbildung zugrunde
lag und das er sich nur im Geiste vorzuhalten
brauchte, um zu verstehen, wie da Granit, dort Porphyr
entstehen mußte. Er ging von dem Unterscheidenden auf
das Gemeinsame zurück. Am 12. Juni 1784 schrieb er an
Frau v. Stein: «Der einfache Faden, den ich mir gesponnen
habe, führt mich durch alle diese unterirdischen Labyrinthe
gar schön durch und gibt mir Übersicht selbst in der Verwirrung.
» [WA 6, 297 u. 298] Er sucht das gemeinsame
Prinzip, das je nach den verschiedenen Umständen, unter
denen es zur Geltung kommt, einmal diese, das andere Mal
jene Gesteinsart hervorbringt. Nichts in der Erfahrung ist
ihm ein Festes, bei dem man stehenbleiben könne; nur das
Prinzip, das allem zugrunde liegt, ist ein solches. Er ist daher
auch immer bestrebt, die Übergänge von Gestein zu
Gestein zu finden. Aus ihnen ist ja die Absicht, die Entstehungstendenz
viel besser zu erkennen, als aus dem in bestimmter
Weise ausgebildeten Produkt, wo ja die Natur nur
in einseitiger Weise ihr Wesen offenbart, ja gar oft bei
«ihren Spezifikationen sich in eine Sackgasse verirrt».
Es ist ein Irrtum, wenn man diese Methode Goethes damit
widerlegt zu haben glaubt, daß man darauf hinweist,
die heutige Geologie kenne ein solches Übergehen eines
Gesteines in ein anderes nicht. Goethe hat ja nie behauptet,
daß Granit tatsächlich in etwas anderes übergehe. Was einmal
Granit ist, ist fertiges, abgeschlossenes Produkt und
hat nicht mehr die innere Triebkraft, aus sich selbst heraus
ein anderes zu werden. Was aber Goethe suchte, das fehlt
der heutigen Geologie eben, das ist die Idee, das Prinzip,
das den Granit konstituiert, bevor er Granit geworden ist,
und diese Idee ist dieselbe, die auch allen anderen Bildungen
zugrunde liegt. Wenn also Goethe von einem Übergehen
eines Gesteins in ein anderes spricht, so meint er damit
nicht ein tatsächliches Umwandeln, sondern eine Entwicklung
der objektiven Idee, die sich zu den einzelnen
Gebilden ausgestaltet, jetzt diese Form festhält und Granit
wird, dann wieder eine andere Möglichkeit aus sich herausbildet
und Schiefer wird usw. Nicht eine wüste Metamorphosenlehre,
sondern konkreter Idealismus ist Goethes
Ansicht auch auf diesem Gebiete. Zur vollen Geltung mit
allem, was in ihr liegt, kann aber jenes gesteinsbildende
Prinzip nur im ganzen Erdkörper kommen. Daher wird
die Bildungsgeschichte des Erdkörpers für Goethe die
Hauptsache, und jedes Einzelne hat sich derselben einzureihen.
Es kommt ihm darauf an, welche Stelle ein Gestein
im Erdganzen einnimmt; das Einzelne interessiert ihn nur
mehr als Teil des Ganzen. Es erscheint ihm schließlich dasjenige
mineralogisch-geologische System als das richtige,
das die Vorgänge in der Erde nachschafft, das zeigt, warum
an dieser Stelle gerade das, an jener das andere entstehen
mußte. Das Vorkommen wird ihm ausschlaggebend. Er tadelt
es daher an Werners Lehre, die er sonst so hoch verehrt,
daß sie die Mineralien nicht nach dem Vorkommen, das
uns über ihr Entstehen Aufschluß gibt, als vielmehr nach
zufälligen äußeren Kennzeichen anordnet. Das vollkommene
System macht nicht der Forscher, sondern das hat
die Natur selbst gemacht.
Es ist festzuhalten, daß Goethe in der ganzen Natur
ein großes Reich, eine Harmonie sah. Er behauptet, daß
alle natürlichen Dinge von einer Tendenz beseelt sind. Was
daher gleicher Art ist, mußte für ihn von der gleichen Gesetzmäßigkeit
bedingt erscheinen. Er konnte nicht zugeben,
daß in den geologischen Erscheinungen, die ja nichts weiter
sind als anorganische Wesenheiten, andere Triebfedern
geltend sind, als in der übrigen anorganischen Natur. Die
Ausdehnung der anorganischen Wirkensgesetze auf die Geologie
ist Goethes erste geologische Tat. Dieses Prinzip war
es, das ihn bei Erklärung der böhmischen Gebirge, das ihn
bei Erklärung der am Serapis-Tempel zu Pozzuoli beobachteten
Erscheinungen leitete. Er suchte dadurch Prinzip
in die tote Erdkruste zu bringen, daß er sie als durch jene
Gesetze entstanden dachte, die wir immer vor unseren
Augen bei physikalischen Erscheinungen wirken sehen. Die
geologischen Theorien eines f James] Hutton, Elie de Beaumont
waren ihm innerlichst zuwider. Was sollte er mit Erklärungen
anfangen, die alle Naturordnung durchbrechen?
Es ist banal, wenn man so oft die Phrase hört, Goethes
ruhiger Natur habe die Theorie des Hebens und Senkens
usw. widersprochen. Nein, sie widersprach seinem Sinne
für eine einheitliche Naturanschauung. Er konnte sie dem
Naturgemäßen nicht einfügen. Und diesem Sinne verdankt
er es, daß er frühzeitig (schon 1782) zu einer Ansicht gelangte,
zu der sich die Fachgeologie erst nach Jahrzehnten
aufschwang: zur Ansicht, daß die versteinerten Tier- und
Pflanzenreste in einem notwendigen Zusammenhange mit
dem Gestein stehen, in dem sie gefunden werden. Voltaire
hatte von ihnen noch als von Naturspielen gesprochen,
weil er keine Ahnung von der Konsequenz in der Naturgesetzlichkeit
hatte. Goethe konnte ein Ding an irgendeinem
Orte begreiflich nur finden, wenn sich ein einfacher natürlicher
Zusammenhang mit der Umgebung des Dinges fand.
Es ist auch dasselbe Prinzip, das Goethe auf die fruchtbare
Idee von der Eiszeit führte (s. «Geologische Probleme und
Versuch ihrer Auflösung», Natw. Schr., 2. Bd., S. 308). Er
suchte nach einer einfachen, naturgemäßen Erklärung des
Vorkommens der auf großen Flächen weit entfernten Granitmassen.
Die Erklärung, daß sie bei dem tumultuarischen
Aufstand der weit rückwärts im Lande gelegenen Gebirge
seien dahin geschleudert worden, mußte er ja abweisen,
weil sie eine Naturtatsache nicht aus den bestehenden, wirkenden
Naturgesetzen, sondern durch eine Ausnahme von
denselben, ja ein Verlassen derselben, herleitete. Er nahm
an, daß das nördliche Deutschland einst bei großer Kälte
einen tausend Fuß hohen allgemeinen Wasserstand hatte,
daß ein großer Teil von einer Eisfläche bedeckt war, und
daß jene Granitblöcke liegengeblieben sind, nachdem das
Eis abgeschmolzen. Damit war eine auf bekannte, für uns
erfahrbare Gesetze sich stützende, Ansicht gegeben. In dieser
Geltendmachung einer allgemeinen Naturgesetzlichkeit
ist Goethes Bedeutung für die Geologie zu suchen. Wie er
den Kammerberg erklärt, ob er mit seiner Meinung über den
Karlsbader Sprudel das Richtige getroffen, ist belanglos.
«Es ist hier die Rede nicht von einer durchzusetzenden Meinung,
sondern von einer mitzuteilenden Methode, deren
sich jeder, als eines Werkzeugs, nach seiner Art, bedienen
möge.» (Goethe an Hegel 7. Okt. 1820 [WA 33, 294].)*
XIV
DIE METEOROLOGISCHEN
VORSTELLUNGEN GOETHES
Gerade so wie in der Geologie irrt man in der Meteorologie,
wenn man auf das tatsächlich von Goethe Errungene
eingeht und darinnen die Hauptsache sucht (siehe [«Versuch
einer Witterungslehre», Abschnitt «Selbstprüfung»]
Natw. Schr., 2. Bd., S. 397 f.). Seine meteorologischen Versuche
sind ja nirgends vollendet. Oberall ist nur auf die
Absicht zu sehen. Sein Denken war immer darauf gerichtet,
den prägnanten97 Punkt zu finden, von dem aus sich
eine Reihe von Erscheinungen von innen heraus regelt.
Alle Erklärung, die von da und dort Äußerungen, Zufälliges
herbeizieht, um eine regelmäßige Reihe von Phänomenen
zu verbinden, war seinem Sinne nicht gemäß. Er
suchte, wenn ihm ein Phänomen aufstieß, alles mit ihm
Verwandte, alle Tatsachen, die in denselben Kreis gehörten;
so daß ihm ein Ganzes, eine Totalität vorlag. Innerhalb
dieses Kreises mußte sich dann ein Prinzip finden,
das alle Regelmäßigkeit, ja den ganzen Kreis der verwandten
Erscheinungen als eine Notwendigkeit erscheinen
ließ. Nicht naturgemäß erschien es ihm, die Erscheinungen
dieses Kreises durch Herbeiziehung von außerhalb
desselben liegenden Verhältnissen zu erklären. Hierinnen
haben wir den Schlussel zu dem Prinzipe, das er in der Meteorologie
aufstellte, zu suchen. «Die völlige Unzulänglichkeit,
so konstante Phänomene den Planeten, dem
07 Siehe den Aufsatz: «Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches
Wort», Natw. Schr., 2. Bd., S. 31 ff.
Monde, einer unbekannten Ebbe und Flut des Luftkreises
zuzuschreiben, ließ sich Tag für Tag mehr empfinden.. .»98
«Alle dergleichen Einwirkungen aber lehnen wir ab; die
Witterungserscheinungen auf der Erde halten wir weder
für kosmisch noch planetarisch, sondern wir müssen sie
nach unseren Prämissen für rein tellurisch erklären.»*99 Er
wollte die Erscheinungen der Atmosphäre auf ihre in dem
Wesen der Erde selbst liegenden Ursachen zurückführen.
Es handelte sich zunächst darum, den Punkt zu finden, wo
sich die alles übrige bedingende Grundgesetzlichkeit unmittelbar
ausspricht. Ein solches Phänomen lieferte der
Barometerstand. Den sah denn auch Goethe als das Urphänomen
an und suchte alles übrige an ihn anzuschließen.
Das Steigen und Sinken des Barometers suchte er zu verfolgen
und darinnen glaubte er auch eine Regelmäßigkeit
wahrzunehmen. Er studierte die Schrönsche Tabelle und
fand, «daß gedachtes Steigen und Fallen an verschiedenen,
näher und ferner, nicht weniger in unterschiedenen Längen,
Breiten und Hohen gelegenen Beobachtungsorten einen
fast parallelen Gang habe».100 Da ihm dieses Steigen
und Fallen unmittelbar als Schwereerscheinung erschien, so
glaubte er in den Veränderungen des Barometers einen unmittelbaren
Ausdruck für die Qualität der Schwerkraft
selbst zu erkennen. Man muß in diese Goethesche Erklärung
nur nichts weiter hineinlegen. Goethe lehnte ja alles
Aufstellen von Hypothesen ab. Er wollte nicht mehr als
einen Ausdruck für eine zu beobachtende Erscheinung liefern,
nicht eine eigentliche, faktische Ursache, im Sinne
98 [Ebenda S. 398]
99 [Ebenda S. 378]
100 [Ebenda S. 379]
der heutigen Naturwissenschaft. An diese Erscheinung sollten
die übrigen atmosphärischen Erscheinungen naturgemäß
sich anreihen. Am meisten interessierte den Dichter
die Wolkenbildung. Für diese hatte er in der Lehre Howards
ein Mittel gefunden, die fortwährend schwankenden
Gebilde in gewissen Grundzuständen festzuhalten und
so, «was in schwankender Erscheinung lebt», mit «dauernden
Gedanken zu befestigen». Er suchte nur noch ein Mittel,
das der Umbildung der Wolkenformen zu Hilfe kam,
sowie er in jener «geistigen Leiter» ein Mittel fand, die Umbildung
der typischen Blattgestalt an der Pflanze zu erklären.
Sowie ihm dort jene geistige Leiter, so ist ihm in der
Meteorologie ein verschiedenes «Geeigenschaftetsein» der
Atmosphäre in verschiedenen Höhen der Faden, an dem
er die einzelnen Gebilde befestigt. Da wie dort muß man
festhalten, daß es Goethe nie einfallen konnte, einen solchen
Faden für ein wirkliches Gebilde anzusehen. Er war
sich genau bewußt, daß nur das einzelne Gebilde als für
die Sinne im Raume wirklich anzusehen ist, und daß alle
höheren Erklärungsprinzipien nur für die Augen des Geistes
da sind. Heutige Widerlegungen Goethes sind deshalb
vielfach ein Kampf mit Windmühlen. Man legt seinen Prinzipien
eine Wirklichkeitsform bei, die er ihnen selbst absprach,
und glaubt ihn damit überwunden zu haben. Jene
Form der Realität aber, die er zugrunde legte, die objektive,
konkrete Idee, kennt die heutige Naturlehre nicht. Goethe
muß ihr daher von dieser Seite aus fremd bleiben.*
XV
GOETHE UND DER
NATURWISSENSCHAFTLICHE ILLUSIONISMUS
Diese Darstellung ist nicht aus dem Grunde geschrieben
worden, weil in eine Goethe-Ausgabe (in Kürschners Deutscher
National-Literatur) eben auch die Farbenlehre, mit
einer begleitenden Einleitung versehen, aufgenommen werden
muß. Sie entstammt einem tiefen Geistesbedürfnisse des
Herausgebers dieser Ausgabe. Derselbe ist von dem Studium
der Mathematik und Physik ausgegangen und wurde
durch die vielen Widersprüche, die das System unserer modernen
Naturanschauung durchsetzen, mit innerer Notwendigkeit
zur kritischen Untersuchung über die methodologische
Grundlage derselben geführt. Auf das Prinzip
des strengen Erfahrungswissens wiesen ihn seine anfänglichen
Studien, auf eine streng wissenschaftliche Erkenntnistheorie
die Einsicht in jene Widersprüche. Gegen ein
Umschlagen in rein Hegeische Begriffskonstruktionen war
er durch seinen positiven Ausgangspunkt geschützt. Er
fand endlich mit Hilfe seiner erkenntnistheoretischen Studien
den Grund vieler Irrtümer der modernen Naturwissenschaft
in der ganz falschen Stellung, welche die letztere
der einfachen Sinnesempfindung angewiesen hat. Unsere
Wissenschaft verlegt alle sinnlichen Qualitäten (Ton, Farbe,
Wärme usw.) in das Subjekt und ist der Meinung, daß
«außerhalb» des Subjektes diesen Qualitäten nichts entspreche
als Bewegungsvorgänge der Materie. Diese Bewegungsvorgänge,
die das einzige im «Reiche der Natur»
Existierende sein sollen, können natürlich nicht mehr wahrgenommen
werden. Sie sind auf Grund der subjektiven
Qualitäten erschlossen.
Nun kann aber diese Erschließung konsequentem Denken
gegenüber nicht anders denn als eine Halbheit erscheinen.
Bewegung ist zunächst nur ein Begriff, den wir aus der
Sinnenwelt entlehnt haben, d. h. der uns nur an Dingen
mit jenen sinnlichen Qualitäten entgegentritt. "Wir kennen
keine Bewegung außer einer solchen an Sinnesobjekten.
Überträgt man nun dieses Prädikat auf nichtsinnliche Wesen,
wie es die Elemente der diskontinuierlichen Materie
(Atome) sein sollen, so muß man sich doch dessen klar bewußt
sein, daß durch diese Übertragung einem sinnlich
wahrgenommenen Attribut eine wesentlich anders als sinnlich
gedachte Daseinsform beigelegt wird. Demselben Widerspruch
verfällt man, wenn man zu einem wirklichen
Inhalte für den zunächst ganz leeren Atombegriff kommen
will. Es müssen ihm eben sinnliche Qualitäten, wenn
auch noch so sublimiert, beigelegt werden. Der eine legt
dem Atome Undurchdringlichkeit, Kraftwirkung, der andere
Ausdehnung u. dgl. bei, kurz ein jeder irgendwelche
aus der Sinnenwelt entlehnte Eigenschaften. Wenn man
das nicht tut, bleibt man vollständig im Leeren.
Darin liegt die Halbheit. Man macht mitten durch das
Sinnlich-Wahrnehmbare einen Strich und erklärt den einen
Teil für objektiv, den anderen für subjektiv. Nur das
eine ist konsequent: Wenn es Atome gibt, so sind diese einfach
Teile der Materie mit den Eigenschaften der Materie
und nur wegen ihrer für unsere Sinne unzugänglichen
Kleinheit nicht wahrnehmbar.
Damit aber verschwindet die Möglichkeit, in der Bewegung
der Atome etwas zu suchen, was als ein Objektives
den subjektiven Qualitäten des Tones, der Farbe usw. gegenübergestellt
werden dürfte. Und es hört auch die Möglichkeit
auf, in dem Zusammenhang zwischen der Bewegung
und der Empfindung des «Rot» z. B. mehr zu suchen
als zwischen zwei Vorgängen, die ganz der Sinnenwelt angehören.
Für den Herausgeber war es also klar: Ätherbewegung,
Atomlagerung usw. gehören auf dasselbe Blatt wie die Sinnesempfindungen
selbst. Die letzteren für subjektiv zu erklären,
ist nur das Ergebnis einer unklaren Reflexion. Erklärt
man die sinnliche Qualität für subjektiv, so muß man
es mit der Ätherbewegung geradeso tun. Wir nehmen die
letztere nicht aus einem prinzipiellen Grunde nicht wahr,
sondern nur deswegen, weil unsere Sinnesorgane nicht fein
genug organisiert sind. Das ist aber ein rein zufälliger Umstand.
Es könnte sein, daß dann die Menschheit bei zunehmender
Verfeinerung der Sinnesorgane dereinst dazu käme,
auch Ätherbewegungen unmittelbar wahrzunehmen. Wenn
dann ein Mensch jener fernen Zukunft unsere subjektivische
Theorie der Sinnesempfindungen akzeptierte, so
müßte er diese Ätherbewegungen ebenso für subjektiv erklären,
wie wir heute Farbe, Ton usw.
Man sieht, diese physikalische Theorie führt auf einen
Widerspruch, der nicht zu beheben ist.
Eine zweite Stütze hat nun diese subjektivische Ansicht
an physiologischen Erwägungen.
Die Physiologie weist nach, daß die Empfindung erst
als das letzte Resultat eines mechanischen Vorgangs auftritt,
der sich zuerst von dem außerhalb unserer Leibessubstanz
liegenden Teil der Körperwelt den Endorganen
unseres Nervensystems in den Sinnesorganen mitteilt, von
hier aus bis zum obersten Zentrum vermittelt wird, um
dann erst als Empfindung ausgelöst zu werden. Die Widersprüche
dieser physiologischen Theorie findet man in dem
Kapitel «Das <Urphänomen>» [s. S. 266 ff. dieser Schrift]
dargelegt. Als subjektiv kann man doch hier nur die Bewegungsform
der Hirnsubstanz bezeichnen. Wie weit man
auch in der Untersuchung der Vorgänge am Subjekte gehen
mag, stets muß man auf diesem Wege im Mechanischen
bleiben. Und die Empfindung wird man irgends im Zentrum
entdecken.
Es bleibt also nur die philosophische Erwägung übrig,
um über die Subjektivität und Objektivität der Empfindung
Aufschluß zu bekommen. Und diese liefert folgendes:
Was kann als «subjektiv» an der Wahrnehmung bezeichnet
werden? Ohne eine genaue Analyse des Begriffes «subjektiv
» zu haben, kann man überhaupt gar nicht vorwärtsschreiten.
Die Subjektivität kann natürlich durch nichts
anderes als durch sich selbst bestimmt werden. Alles, was
nicht durch das Subjekt bedingt nachgewiesen werden
kann, darf nicht als «subjektiv» bezeichnet werden. Nun
müssen wir uns fragen: Was können wir als dem menschlichen
Subjekte eigen bezeichnen? Das, was es an sich selbst
durch äußere oder innere Wahrnehmung erfahren kann.
Durch äußere Wahrnehmung erfassen wir die körperliche
Konstitution, durch innere Erfahrung unser eigenes Denken,
Fühlen und Wollen. Was ist nun in ersterer Hinsicht
als subjektiv zu bezeichnen? Die Konstitution des ganzen
Organismus, also auch der Sinnesorgane und des Gehirnes,
die wahrscheinlich bei jedem Menschen in etwas anderer
Modifikation erscheinen werden. Alles aber, was hier auf
diesem Wege nachgewiesen werden kann, ist nur eine bestimmte
Gestaltung in der Anordnung und Funktion der
Substanzen, wodurch die Empfindung vermittelt wird.
Subjektiv ist also eigentlich nur der Weg, den die Empfindung
durchzumachen hat, bevor sie meine Empfindung
genannt werden kann. Unsere Organisation vermittelt die
Empfindung und diese Vermittlungswege sind subjektiv;
die Empfindung selbst aber ist es nicht.
Nun bliebe also der Weg der inneren Erfahrung. Was
erfahre ich in meinem Innern, wenn ich eine Empfindung
als die meinige bezeichne? Ich erfahre, daß ich die Beziehung
auf meine Individualität in meinem Denken vollziehe,
daß ich mein Wissensgebiet auf diese Empfindung erstrecke;
aber ich bin mir dessen nicht bewußt, daß ich den
Inhalt der Empfindung erzeuge. Nur den Bezug zu mir
stelle ich fest, die Qualität der Empfindung ist eine in sich
begründete Tatsache.
Wo wir auch anfangen, innen oder außen, wir kommen
nicht bis zur Stelle, wo wir sagen könnten: Hier ist der subjektive
Charakter der Empfindung gegeben. Auf den Inhalt
der Empfindung ist der Begriff «subjektiv» nicht anwendbar.
Diese Erwägungen sind es, die mich dazu zwangen, jede
Theorie der Natur, die prinzipiell über das Gebiet der
wahrgenommenen Welt hinausgeht, als unmöglich abzulehnen
und lediglich in der Sinnenwelt das einzige Objekt
der Naturwissenschaft zu suchen. Dann aber mußte ich in
der gegenseitigen Abhängigkeit der Tatsachen eben dieser
Sinnenwelt das suchen, was wir mit Naturgesetzen aussprechen.
Und damit war ich zu jener Ansicht von der naturwissenschaftlichen
Methode gedrängt, die der Goetheschen
Farbenlehre zugrunde liegt. Wer diese Erwägungen für
richtig findet, der wird diese Farbenlehre mit ganz anderen
Augen lesen, als die modernen Naturforscher dies tun
können. Er wird sehen, daß hier nicht Goethes Hypothese
der Newtons gegenübersteht, sondern daß es sich hier um
die Frage handelt: Ist die heutige theoretische Physik zu
akzeptieren oder nicht? Wenn nicht, dann aber muß sich
auch das Licht verlieren, das diese Physik über die Farbenlehre
verbreitet. Welches unsere theoretische Grundlage
der Physik ist, mag der Leser aus den folgenden Kapiteln
erfahren, um dann von dieser Grundlage aus Goethes
Auseinandersetzungen im rechten Lichte zu sehen.*
XVI
GOETHE ALS DENKER UND FORSCHER
1. Goethe und die moderne Naturwissenschaft
Gäbe es nicht eine Pflicht, die Wahrheit rückhaltlos zu sagen,
wenn man sie erkannt zu haben glaubt, dann wären
die folgenden Ausführungen wohl ungeschrieben geblieben.
Das Urteil, das sie bei der heute herrschenden Richtung
in den Naturwissenschaften von Seiten der Fachgelehrten
erfahren werden, kann für mich nicht zweifelhaft sein.
Man wird in ihnen den dilettantenhaften Versuch eines
Menschen sehen, einer Sache das Wort zu reden, die bei
allen «Einsichtigen» längst gerichtet ist. Wenn ich mir die
Geringschätzung all derer vorhalte, die sich heute allein
berufen glauben, über naturwissenschaftliche Fragen zu
sprechen, dann muß ich mir gestehen, daß Verlockendes
im landläufigen Sinne in diesem Versuche allerdings nicht
gelegen ist. Allein ich konnte mich durch diese voraussichtlichen
Einwände doch nicht abschrecken lassen. Denn ich
kann mir alle diese Einwände ja selbst machen und weiß
daher, wie wenig stichhaltig sie sind. «Wissenschaftlich» im
Sinne der modernen Naturlehre zu denken, ist nicht eben
schwer. Wir haben ja vor nicht zu langer Zeit einen merkwürdigen
Fall erlebt. Eduard von Hartmann trat mit seiner
«Philosophie des Unbewußten» auf. Es wird heute am wenigsten
dem geistvollen Verfasser dieses Buches selbst beifallen,
dessen Unvollkommenheiten zu leugnen. Aber die
Denkrichtung, der wir da gegenüberstehen, ist eine eindringende,
den Sachen auf den Grund gehende. Sie ergriff daher
mächtig alle Geister, die nach tieferer Erkenntnis Bedürfnis
hatten. Sie durchkreuzte aber die Bahnen der an der Oberfläche
der Dinge tastenden Naturgelehrten. Diese lehnten
sich allgemein dagegen auf. Nachdem verschiedene Angriffe
von ihrer Seite ziemlich wirkungslos blieben, erschien eine
Schrift von einem anonymen Verfasser: «Das Unbewußte
vom Standpunkte des Darwinismus und der Deszendenztheorie
» [1872], die mit aller nur denkbaren kritischen
Schärfe alles gegen die neubegründete Philosophie vorbrachte,
was sich vom Standpunkte moderner Naturwissenschaft
gegen dieselbe sagen läßt. Diese Schrift machte
Aufsehen. Die Anhänger der gegenwärtigen Richtung waren
von ihr im höchsten Maße befriedigt. Sie erkannten es
öffentlich an, daß der Verfasser einer der ihrigen sei und
proklamierten seine Ausführungen als die ihrigen. Welche
Enttäuschung mußten sie erfahren! Als sich der Verfasser
wirklich nannte, war es ~ Ed. v. Hartmann. Damit ist aber
eines mit überzeugender Kraft dargetan: es ist nicht Unbekanntschaft
mit den Ergebnissen der Naturforschung,
nicht Dilettantismus der Grund, der es gewissen, nach tieferer
Einsicht strebenden Geistern unmöglich macht, sich
der Richtung anzuschließen, welche heute sich zur herrschenden
aufwerfen will. Es ist aber die Erkenntnis, daß
die Wege dieser Richtung nicht die rechten sind. Der Philosophie
wird es nicht schwer, sich auf den Standpunkt der
gegenwärtigen Naturanschauung probeweise zu stellen.
Das hat Ed. v. Hartmann durch sein Verhalten für jeden,
der sehen will, unwiderleglich gezeigt. Dies zur Bekräftigung
meiner oben gemachten Behauptung, daß es auch mir
nicht schwer wird, die Einwände, die man wider meine
Ausführungen erheben kann, mir selbst zu machen.
Man sieht wohl gegenwärtig jeden für einen Dilettanten
an, der überhaupt philosophisches Nachdenken über das
Wesen der Dinge ernst nimmt. Eine Weltanschauung haben
gilt bei unseren Zeitgenossen von der «mechanischen» oder
gar bei jenen von der «positivistischen» Denkart für eine
idealistische Schrulle. Begreiflich wird diese Ansicht freilich,
wenn man sieht, in welcher hilflosen Unkenntnis sich
diese positivistischen Denker befinden, wenn sie sich über
das «Wesen der Materie», über «die Grenzen des Erkennens
», über «die Natur der Atome» oder dergleichen Dinge
vernehmen lassen. An diesen Beispielen kann man wahre
Studien über dilettantisches Behandeln von einschneidenden
Fragen der Wissenschaft machen.*
Man muß den Mut haben, sich alles das gegenüber der
Naturwissenschaft der Gegenwart zu gestehen, trotz der
gewaltigen, bewunderungswürdigen Errungenschaften, die
dieselbe Naturwissenschaft auf technischem Gebiete zu
verzeichnen hat. Denn diese Errungenschaften haben mit
dem wahrhaften Bedürfnis nach Naturerkenntnis nichts
zu tun. Wir haben es ja gerade an Zeitgenossen erlebt, denen
wir Erfindungen verdanken, deren Bedeutung für die Zukunft
sich noch lange gar nicht einmal ahnen läßt, daß
ihnen ein tieferes wissenschaftliches Bedürfnis abgeht. Es
ist etwas ganz anderes, die Vorgänge der Natur zu beobachten,
um ihre Kräfte in den Dienst der Technik zu stellen,
als mit Hilfe dieser Vorgänge tiefer in das Wesen der
Naturwissenschaft hineinzublicken suchen. Wahre Wissenschaft
ist nur da vorhanden, wo der Geist Befriedigung
seiner Bedürfnisse sucht, ohne äußeren Zweck.
Wahre Wissenschaft im höheren Sinne des Wortes hat es
nur mit ideellen Objekten zu tun; sie kann nur Idealismus
sein. Denn sie hat ihren letzten Grund in Bedürfnissen, die
aus dem Geiste stammen. Die Natur erweckt in uns Fragen,
Probleme, die der Lösung zustreben. Aber sie kann diese
Lösung nicht selbst liefern. Nur der Umstand, daß mit unserem
Erkenntnisvermögen eine höhere Welt der Natur gegenübertritt,
das schafft auch höhere Forderungen. Einem
Wesen, dem diese höhere Natur nicht eigen wäre, gingen
diese Probleme einfach nicht auf. Sie können daher ihre
Antwort auch von keiner anderen Instanz als nur wieder
von dieser höheren Natur erhalten. Wissenschaftliche Fragen
sind daher wesentlich eine Angelegenheit, die der Geist
mit sich selbst auszumachen hat. Sie führen ihn nicht aus
seinem Elemente heraus. Das Gebiet aber, in welchem, als
in seinem ureigenen, der Geist lebt und webt, ist die Idee,
ist die Gedankenwelt. Gedankliche Fragen durch gedankliche
Antworten erledigen, das ist wissenschaftliche Tätigkeit
im höchsten Sinne des Wortes. Und alle übrigen wissenschaftlichen
Verrichtungen sind zuletzt nur dazu da,
diesem höchsten Zwecke zu dienen. Man nehme die wissenschaftliche
Beobachtung. Sie soll uns zur Erkenntnis eines
Naturgesetzes führen. Das Gesetz selbst ist rein ideell.
Schon das Bedürfnis nach einer hinter den Erscheinungen
waltenden Gesetzlichkeit entstammt dem Geiste. Ein ungeistiges
Wesen hätte dieses Bedürfnis nicht. Nun treten
wir an die Beobachtung heran! Was wollen wir durch sie
denn eigentlich erreichen? Soll uns auf die in unserem
Geiste erzeugte Frage von außen, durch die Sinnenbeobachtung,
etwas geliefert werden, das Antwort auf dieselbe
sein könnte? Nimmermehr. Denn warum sollten wir bei
einer zweiten Beobachtung uns befriedigter fühlen als bei
der ersten? Wäre der Geist überhaupt mit dem beobachteten
Objekte zufrieden, so müßte er es gleich mit dem ersten
sein. Aber die eigentliche Frage ist gar nicht die nach einer
zweiten Beobachtung, sondern nach der ideellen Grundlage
der Beobachtungen. Was läßt diese Beobachtung für
eine ideelle Erklärung zu, wie muß ich sie denken, damit
sie mir möglich erscheint? Das sind die Fragen, die uns der
Sinnenwelt gegenüber kommen. Ich muß aus den Tiefen
meines Geistes selbst das heraussuchen, was mir der Sinnenwelt
gegenüber fehlt. Wenn ich mir die höhere Natur, nach
der mein Geist der sinnlichen gegenüber strebt, nicht schaffen
kann, dann schafft sie mir keine Macht der äußeren
Welt. Die Resultate der Wissenschaft können also nur aus
dem Geiste kommen; sie können somit nur Ideen sein. Gegen
diese notwendige Überlegung kann man nichts einwenden.
Mit ihr ist aber der idealistische Charakter aller
Wissenschaft gesichert.
Die moderne Naturwissenschaft kann ihrem ganzen
Wesen nach nicht an die Idealität der Erkenntnis glauben.
Denn ihr gilt die Idee nicht als das Erste, Ursprünglichste,
Schöpferische, sondern als das letzte Produkt der materiellen
Prozesse. Sie ist sich dabei aber des Umstandes gar nicht
bewußt, daß diese ihre materiellen Prozesse nur der sinnenfällig
beobachtbaren Welt angehören, die sich aber,
tiefer erfaßt, ganz in Idee auflöst. Der in Betracht kommende
Prozeß stellt sich nämlich der Beobachtung folgendermaßen
dar: Wir nehmen mit unseren Sinnen Tatsachen
wahr, Tatsachen, die ganz nach den Gesetzen der Mechanik
verlaufen, dann Erscheinungen der Wärme, des Lichtes,
des Magnetismus, der Elektrizität, endlich des Lebensprozesses
usw. Auf der höchsten Stufe des Lebens finden
wir, daß sich dasselbe bis zur Bildung von Begriffen, Ideen
erhebt, deren Träger eben das menschliche Gehirn ist. Aus
einer solchen Gedankensphäre erwachsend finden wir unser
eigenes «Ich». Dasselbe scheint das oberste Produkt eines
durch eine lange Reihe physikalischer, chemischer und
organischer Vorgänge vermittelten komplizierten Prozesses
zu sein. Untersuchen wir aber die ideelle Welt, die den
Inhalt jenes «Ich» ausmacht, so finden wir in ihr wesentlich
mehr als bloß das Endprodukt jenes Prozesses. Wir
finden, daß die einzelnen Teile derselben in einer ganz anderen
Weise miteinander verknüpft sind, als die Teile jenes
bloß beobachteten Prozesses. Indem der eine Gedanke
in uns auftaucht, der dann einen zweiten erfordert, finden
wir, daß da ein ideeller Zusammenhang zwischen diesen
zwei Objekten ist in ganz anderer Art, als wenn ich die
Färbung eines Stoffes z. B. als Folge eines chemischen Agens
beobachte. Es ist ja ganz selbstverständlich, daß die aufeinanderfolgenden
Stadien des Gehirnprozesses im organischen
Stoffwechsel ihre Quelle haben, wenngleich der
Gehirnprozeß selbst der Träger jener Gedankengebilde ist.
Aber warum der zweite Gedanke aus dem ersten folgt, dazu
finde ich in diesem Stoffwechsel nicht, wohl aber in dem
logischen Gedankenzusammenhang den Grund. In der
Welt der Gedanken herrscht somit außer der organischen
Notwendigkeit eine höhere ideelle. Diese Notwendigkeit
nun aber, die der Geist innerhalb seiner Ideenwelt findet,
diese sucht er auch in dem übrigen Universum. Denn diese
Notwendigkeit ersteht uns ja nur dadurch, daß wir nicht
nur beobachten, sondern auch denken. Oder, mit anderen
Worten: Die Dinge erscheinen nicht mehr in einem bloß
tatsächlichen Zusammenhange, sondern durch eine innere,
ideelle Notwendigkeit verknüpft, wenn wir sie nicht bloß
durch die Beobachtung, sondern durch den Gedanken erfassen.
Man kann demgegenüber nicht sagen: Was soll alles
Erfassen der Erscheinungswelt in Gedanken, wenn die
Dinge dieser Welt vielleicht ein solches Erfassen ihrer Natur
nach gar nicht zulassen? Diese Frage kann nur der stellen,
der die ganze Sache nicht in ihrem Kerne erfaßt hat.
Die Welt der Gedanken lebt in unserem Inneren auf, sie
tritt den sinnlich beobachtbaren Objekten gegenüber und
fragt nun, welchen Bezug hat diese mir da gegenübertretende
Welt zu mir selbst? Was ist sie mir gegenüber? Ich
bin da mit meiner über aller Vergänglichkeit schwebenden
ideellen Notwendigkeit; ich habe die Kraft in mir, mich
selbst zu erklären. Wie aber erkläre ich das, was mir gegenüber
auftritt?
Hier ist es, wo sich uns eine bedeutungsvolle Frage beantwortet,
die z. B. Friedrich Theodor Vischer wiederholt
aufgeworfen und für den Angelpunkt alles philosophischen
Nachdenkens erklärt hat: jene nach dem Zusammenhange
von Geist und Natur. Was besteht für ein Verhältnis zwischen
diesen beiden, uns stets voneinander geschieden erscheinenden
Wesenheiten? Wenn man diese Frage recht
aufwirft, dann ist ihre Beantwortung nicht so schwierig,
wie es scheint. Was kann die Frage denn nur für einen
Sinn haben? Dieselbe wird ja nicht von einem Wesen gestellt,
das über Natur und Geist als dritter stünde und von diesem
seinem Standpunkte aus jenen Zusammenhang untersuchte,
sondern von der einen der beiden Wesenheiten, von dem
Geiste, selbst. Der letztere fragt: Welcher Zusammenhang
besteht zwischen mir und der Natur? Das heißt aber wieder
nichts anderes als: Wie kann ich mich selbst in eine Beziehung
zu der mir gegenüberstehenden Natur bringen? Wie
kann ich nach den in mir lebenden Bedürfnissen diese Beziehung
ausdrücken? Ich lebe in Ideen; was für eine Idee
entspricht der Natur, wie kann ich das, was ich als Natur
anschaue, als Idee ausdrücken? Es ist, als ob wir uns oftmals
durch eine verfehlte Fragestellung selbst den Weg zu
einer befriedigenden Antwort verlegten. Eine richtige
Frage ist aber schon eine halbe Antwort *
Der Geist sucht überall über die Folge der Tatsachen,
wie sie ihm die bloße Beobachtung liefert, hinauszukommen
und bis zu den Ideen der Dinge zu dringen. Die Wissenschaft
fängt eben da an, wo das Denken anfängt. In
ihren Ergebnissen liegt das in ideeller Notwendigkeit, was
den Sinnen nur als Tatsachenfolge erscheint. Diese Ergebnisse
sind nur scheinbar das letzte Produkt des oben geschilderten
Prozesses; in Wahrheit sind sie dasjenige, was
wir im ganzen Universum als die Grundlage von allem
ansehen müssen. Wo sie dann für die Beobachtung erscheinen,
das ist gleichgültig; denn davon hängt ja, wie wir
gesehen haben, ihre Bedeutung nicht ab. Sie breiten das
Netz ihrer ideellen Notwendigkeit über das ganze Universum
aus.
Wir mögen von wo immer ausgehen; wenn wir geistige
Kraft genug haben, treffen wir zuletzt auf die Idee.
Indem die moderne Physik dies vollständig verkennt,
wird sie zu einer ganzen Reihe von Irrtümern geführt.
Ich will hier nur auf einen solchen als Beispiel hinweisen.
Nehmen wir die Definition des in der Physik gewöhnlich
unter den «allgemeinen Eigenschaften der Körper» angeführten
Beharrungsvermögens. Dies wird gewöhnlich
folgendermaßen definiert: Kein Körper kann ohne äußere
Ursache den Zustand der Bewegung, in dem er sich befindet,
verändern. Diese Definition erweckt die Vorstellung,
als wenn der Begriff des an sich trägen Körpers aus der Erscheinungswelt
abstrahiert wäre. Und Mill, der nirgends
auf die Sache selbst eingeht, sondern zum Behufe einer erzwungenen
Theorie alles auf den Kopf stellt, würde keinen
Augenblick anstehen, die Sache auch so zu erklären.
Dies ist aber doch ganz unrichtig. Der Begriff des trägen
Körpers entsteht rein durch eine begriffliche Konstruktion.
Indem ich das im Raume Ausgedehnte «Körper»
nenne, kann ich mir solche Körper vorstellen, deren Veränderungen
von äußeren Einflüssen herrühren und solche,
bei denen sie aus eigenem Antrieb geschehen. Finde ich nun
in der Außenwelt etwas, was meinem gebildeten Begriffe:
«Körper, der sich nicht ohne äußeren Antrieb verändern
kann» entspricht, so nenne ich diesen träge oder dem
Gesetz des Beharrungsvermögens unterworfen. Meine Begriffe
sind nicht aus der Sinnenwelt abstrahiert, sondern
frei aus der Idee konstruiert, und mit ihrer Hilfe finde ich
mich erst in der Sinnenwelt zurecht. Die obige Definition
könnte nur lauten: Ein Körper, der nicht aus sich selbst
heraus seinen Bewegungszustand ändern kann, heißt ein
träger. Und wenn ich ihn als solchen erkannt habe, dann
kann ich alles, was mit einem trägen Körper zusammenhängt,
auch auf den in Rede stehenden anwenden.
2. Das «Urphänomen»
Könnten wir die ganze Reihe von Vorgängen verfolgen,
welche sich bei irgendeiner Sinneswahrnehmung vollziehen,
von der peripherischen Endung des Nerven im Sinnesorgane
bis in das Gehirn, so würden wir doch nirgends bis zu
jenem Punkte gelangen, an dem die mechanischen, chemischen
und organischen, kurz die raumzeitlichen Prozesse
aufhören, und das auftritt, was wir eigentlich Sinneswahrnehmung
nennen, z. B. die Empfindung der Wärme, des
Lichtes, des Tones usw. Es ist die Stelle nicht zu finden,
wo die verursachende Bewegung in ihre Wirkung, die
Wahrnehmung, überginge. Können wir dann aber überhaupt
davon sprechen, daß die beiden Dinge in dem Verhältnisse
von Ursache und Wirkung stehen?
Wir wollen einmal die Tatsachen ganz objektiv untersuchen.
Nehmen wir an, es trete eine bestimmte Empfindung
in unserem Bewußtsein auf. Sie tritt dann zugleich so
auf, daß sie uns auf irgendeinen Gegenstand verweist, von
dem sie herstammt. Wenn ich die Empfindung des Rot
habe, so verbinde ich, kraft des Inhaltes dieser Vorstellung,
in der Regel damit zugleich ein bestimmtes Ortsdatum, d. i.
eine Stelle im Raume, oder die Oberfläche eines Dinges, der
ich das, was diese Empfindung ausdrückt, zuschreibe. Nur
dann ist das nicht der Fall, wenn durch einen äußeren Einfluß
das Sinnesorgan selbst in der ihm eigentümlichen
Weise antwortet, wie wenn ich bei einem Schlag aufs Auge
eine Lichtempfindung habe. Von diesen Fällen, in denen
die Empfindungen übrigens niemals mit ihrer sonstigen
Bestimmtheit auftreten, wollen wir absehen. Sie können
uns ja, als Ausnahmefälle, über die Natur der Dinge nicht
belehren. Habe ich die Empfindung des Rot mit einem bestimmten
Ortsdatum, so werde ich zunächst an irgendein
Ding in der Außenwelt als den Träger dieser Empfindung
verwiesen. Ich kann mich nun ja wohl fragen: Welche
räumlich-zeitlichen Vorgänge spielen sich in diesem
Dinge ab, während es mir als mit der roten Farbe behaftet
erscheint? Es wird sich mir dann zeigen, daß mechanische,
chemische oder andere Vorgänge als Antwort auf meine
Frage sich darbieten. Nun kann ich weitergehen und die
Vorgänge untersuchen, die sich auf dem Wege von jenem
Dinge bis zu meinem Sinnesorgane vollzogen haben, um
die Empfindung der roten Farbe für mich zu vermitteln.
Da können sich mir nun doch auch wieder nichts anderes
als Bewegungsvorgänge oder elektrische Ströme oder chemische
Veränderungen als solche Vermittler darstellen.
Das gleiche Resultat müßte sich mir ergeben, wenn ich die
weitere Vermittlung vom Sinnesorgane bis zur Zentralstelle
im Gehirne untersuchen könnte. Was auf diesem ganzen
Wege vermittelt wird, das ist die in Rede stehende
Wahrnehmung des Rot. Wie sich diese Wahrnehmung in
einem bestimmten Dinge, das auf dem Wege von der Erregung
bis zur Wahrnehmung liegt, darstellt, das hängt
lediglich von der Natur dieses Dinges ab. Die Empfindung
ist an jedem Orte vorhanden, vom Erreger bis zum
Gehirne, aber nicht als solche, nicht expliziert, sondern so,
wie es der Natur des Gegenstandes entspricht, der an jenem
Orte sich befindet.
Daraus ergibt sich aber eine Wahrheit, die geeignet ist,
Licht zu verbreiten über die gesamte theoretische Grundlage
der Physik und Physiologie. Was erfahre ich aus der
Untersuchung eines Dinges, das von einem Prozesse, der
in meinem Bewußtsein als Empfindung auftritt, ergriffen
wird? Ich erfahre nicht mehr als die Art und Weise, wie
jenes Ding auf die Aktion, die von der Empfindung ausgeht,
antwortet, oder mit anderen Worten: wie sich eine
Empfindung in irgendeinem Gegenstande der räumlichzeitlichen
Welt auslebt. Weit entfernt, daß ein solcher
räumlich-zeitlicher Vorgang die Ursache ist, der in mir die
Empfindung auslöst, ist vielmehr das ganz andere richtig:
der räumlich-zeitliche Vorgang ist die Wirkung der Empfindung
in einem räumlich-zeitlich ausgedehnten Dinge.
Ich könnte noch beliebig viele Dinge einschalten auf dem
Wege von dem Erreger bis zu dem Wahrnehmungsorgane:
in jedem wird hierbei nur dasjenige vorgehen, was in ihm
vermöge seiner Natur vorgehen kann. Deshalb bleibt aber
doch die Empfindung dasjenige, was sich in allen diesen
Vorgängen auslebt.
Man hat also in den longitudinalen Schwingungen der
Luft bei der Schallvermittlung oder in den hypothetischen
Oszillationen des Äthers bei der Vermittlung des Lichtes
nichts anderes zu sehen als die Art und Weise, wie die betreffenden
Empfindungen in einem Medium auftreten können,
das seiner Natur nach nur der Verdünnung und Verdichtung
beziehungsweise der schwingenden Bewegung
fähig ist. Die Empfindung als solche kann ich in dieser
Welt nicht finden, weil sie einfach nicht da sein kann. In
jenen Vorgängen habe ich aber durchaus nicht das Objektive
der Empfindungsvorgänge gegeben, sondern eine Form
ihres Auftretens.
Und fragen wir uns nun: Welcher Art sind denn jene
vermittelnden Vorgänge selbst? Untersuchen wir sie denn
mit anderen Mitteln als mit Hilfe unserer Sinne? Ja, kann
ich denn meine Sinne selbst mit anderen Mitteln als nur
wieder mit eben diesen Sinnen untersuchen? Ist die peripherische
Nervenendung, sind die Windungen des Gehirnes
durch etwas anderes gegeben denn durch Sinneswahrnehmung?
All das ist gleich subjektiv und gleich objektiv,
wenn diese Unterscheidung überhaupt als berechtigt angenommen
werden könnte. Jetzt können wir die Sache
noch genauer fassen. Indem wir die Wahrnehmung von
ihrer Erregung bis zu dem Wahrnehmungsorgane verfolgen,
untersuchen wir nichts anderes als den fortwährenden
Übergang von einer Wahrnehmung zur andern. Das
«Rot» liegt uns vor als dasjenige, um dessen willen wir
überhaupt die ganze Untersuchung anstellen. Es weist uns
auf seinen Erreger. In diesem beobachten wir andere Empfindungen
als mit jenem Rot zusammenhängend. Es sind
Bewegungsvorgänge. Dieselben treten dann als weitere Bewegungsvorgänge
zwischen dem Erreger und dem Sinnesorgane
auf usw. Alles dieses aber sind gleichfalls wahrgenommene
Empfindungen. Und sie stellen nichts weiter
dar als eine Metamorphose von Vorgängen, die, soweit sie
überhaupt für die sinnliche Beobachtung in Betracht kommen,
sich ganz restlos in Wahrnehmungen auflösen.
Die wahrgenommene Welt ist also nichts anderes als
eine Summe von metamorphosierten Wahrnehmungen.
Wir mußten der Bequemlichkeit halber uns einer Ausdrucksweise
bedienen, die mit dem gegenwärtigen Resultate
nicht vollständig in Einklang zu bringen ist. Wir sagten,
jedes in den Zwischenraum zwischen Erreger und Wahrnehmungsorgan
eingeschaltete Ding bringe eine Empfindung
in der Weise zum Ausdrucke, wie es seiner Natur gemäß
ist. Streng genommen ist ja das Ding nichts weiter als
die Summe jener Vorgänge, als welche es auftritt.
Man wird uns nun entgegnen: mit dieser unserer Schlußweise
schaffen wir alles Dauernde im fortlaufenden Weltprozesse
hinweg, wir machen wie Heraklit den Fluß der
Dinge, in dem nichts bestehen bleibt, zum alleinigen Weltprinzipe.
Es müsse hinter den Erscheinungen ein «Ding an
sich», hinter der Welt der Veränderungen eine «dauernde
Materie» geben. Wir wollen denn doch einmal genauer untersuchen,
was es denn eigentlich mit dieser «dauernden
Materie», mit dieser «Dauer im Wechsel» überhaupt für
eine Bewandtnis habe.
Wenn ich mein Auge einer roten Fläche gegenüberstelle,
so tritt die Empfindung des Rot in meinem Bewußtsein
auf. Wir haben nun an dieser Empfindung Anfang,
Dauer und Ende zu unterscheiden. Der vorübergehenden
Empfindung soll nun ein dauernder objektiver Vorgang
gegenüberstehen, der als solcher wieder objektiv in der
Zeit begrenzt ist, d. h. Anfang, Dauer und Ende hat. Dieser
Vorgang aber soll an einer Materie vor sich gehen, die anfang-
und endlos, d. i. unzerstörbar, ewig ist. Diese soll
das eigentlich Dauernde im Wechsel der Prozesse sein. Die
Schlußfolgerung hätte vielleicht einige Berechtigung, wenn
der Zeitbegriff in der obigen Weise richtig auf die Empfindung
angewendet wäre. Aber müssen wir denn nicht
streng unterscheiden zwischen dem Inhalte der Empfindung
und dem Auftreten derselben? In meiner Wahrnehmung
sind freilich beide ein und dasselbe; denn es muß
doch der Inhalt der Empfindung in derselben anwesend
sein, sonst käme sie für mich ja gar nicht in Betracht. Aber
ist es für diesen Inhalt, rein als solchen genommen, nicht
ganz gleichgültig, daß er jetzt in diesem Zeitmomente gerade
in mein Bewußtsein ein- und nach so und so viel Sekunden
aus demselben wieder austritt? Das, was den Inhalt
der Empfindung, d. i. dasjenige, was allein objektiv
in Betracht kommt, ausmacht, ist davon ganz unabhängig.
Nun kann aber das doch nicht für eine wesentliche Bedingung
des Bestandes einer Sache angesehen werden, was
für deren Inhalt ganz gleichgültig ist.
Aber auch für einen objektiven Prozeß, der Anfang und
Ende hat, ist unsere Anwendung des Zeitbegriffes nicht
richtig. Wenn an einem bestimmten Dinge eine neue Eigenschaft
auftaucht, sich während einiger Zeit in verschiedenen
Entwicklungszuständen erhält und dann wieder
verschwindet, so müssen wir auch hier den Inhalt dieser
Eigenschaft als das Wesentliche ansehen. Und dieses hat als
solches absolut nichts zu tun mit den Begriffen Anfang,
Dauer und Ende. Unter dem Wesentlichen verstehen wir
hier das, wodurch ein Ding eigentlich gerade das ist, als
was es sich darstellt. Nicht daß etwas in einem bestimmten
Zeitmomente auftaucht, sondern was auftaucht, darauf
kommt es an. Die Summe aller dieser mit dem «Was» ausgedrückten
Bestimmungen macht den Inhalt der Welt aus.
Nun lebt sich dieses «Was» aber in den mannigfaltigsten
Bestimmungen, in den verschiedenartigsten Gestalten aus.
Alle diese Gestalten sind in Beziehung zueinander, sie bedingen
sich gegenseitig. Dadurch treten sie in das Verhältnis
des Auseinander nach Raum und Zeit. Aber nur einer
ganz verfehlten Auffassung des Zeitbegriffes verdankt der
Begriff der Materie seine Entstehung. Man glaubt die Welt
zum wesenlosen Schein zu verflüchtigen, wenn man der
veränderlichen Summe der Geschehnisse nicht ein in der Zeit
Beharrendes, ein Unveränderliches untergelegt dächte, das
bleibt, während seine Bestimmungen wechseln. Aber die
Zeit ist ja nicht ein Gefäß, in dem die Veränderungen sich
abspielen; sie ist nicht vor den Dingen und außerhalb derselben
da. Die Zeit ist der sinnenfällige Ausdruck für den
Umstand, daß die Tatsachen ihrem Inhalte nach voneinander
in einer Folge abhängig sind. Nehmen wir an, wir
hätten es mit dem wahrzunehmenden Tatsachenkomplex a1
b1 c1 d1 e1 zu tun. Von diesem hängt mit innerer Notwendigkeit
der andere Komplex a2 b2 c2 d2 e2 ab; ich sehe den
Inhalt dieses letzteren ein, wenn ich ihn ideell aus dem
ersteren hervorgehen lasse. Nun nehmen wir an, beide
Komplexe treten in die Erscheinung. Denn was wir früher
besprochen haben, ist das ganz unzeitliche und unräumliche
Wesen dieser Komplexe. Wenn a2 b2 c2 d2 e2 in der
Erscheinung auftreten soll, dann muß a1 b1 c1 d1 e1 ebenfalls
Erscheinung sein, und zwar so, daß nun a2 b2 c2 d2 e2
auch in seiner Abhängigkeit davon erscheint. D. h. die Erscheinung
aX b1 c1 d1 e1 muß da sein, der Erscheinung a2 b2
c2 d2 e2 Platz machen, worauf diese letztere auftritt. Hier
sehen wir, daß die Zeit erst da auftritt, wo das Wesen einer
Sache in die Erscheinung tritt. Die Zeit gehört der Erscheinungswelt
an. Sie hat mit dem Wesen selbst noch nichts zu
tun. Dieses Wesen ist nur ideell zu erfassen. Nur wer diesen
Rückgang von der Erscheinung zum Wesen in seinen Gedankengängen
nicht vollziehen kann, der hypostasiert die
Zeit als ein den Tatsachen Vorhergehendes. Dann braucht
er aber ein Dasein, welches die Veränderungen überdauert.
Als solches faßt er die unzerstörbare Materie auf. Damit
hat er sich ein Ding geschaffen, dem die Zeit nichts anhaben
soll, ein in allem Wechsel Beharrendes. Eigentlich aber
hat er nur sein Unvermögen gezeigt, von der zeitlichen Erscheinung
der Tatsachen zu ihrem Wesen vorzudringen, das
mit der Zeit nichts zu tun hat. Kann ich denn von dem
Wesen einer Tatsache sagen: es entsteht oder vergeht? Ich
kann nur sagen, daß ihr Inhalt einen andern bedingt, und
daß dann diese Bedingung als Zeitenfolge erscheint. Das
Wesen einer Sache kann nicht zerstört werden; denn es ist
außer aller Zeit und bedingt selbst die letztere. Damit haben
wir zugleich eine Beleuchtung auf zwei Begriffe geworfen,
für die noch wenig Verständnis zu finden ist, auf
Wesen und Erscheinung. Wer die Sache in unserer Weise
richtig auffaßt, der kann nach einem Beweis von der Unzerstörbarkeit
des Wesens einer Sache nicht suchen, weil
die Zerstörung den Zeitbegriff in sich schließt, der mit dem
Wesen nichts zu tun hat.
Nach diesen Ausführungen können wir sagen: Das sinnenfällige
Weltbild ist die Summe sich metamorphosier ender
Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugrunde liegende
Materie.
Unsere Bemerkungen haben uns aber noch etwas anderes
gezeigt. Wir haben gesehen, daß wir nicht von einem
subjektiven Charakter der Wahrnehmungen sprechen können.
Wir können, wenn wir eine Wahrnehmung haben, die
Vorgänge von dem Erreger an bis zu unserem Zentralorgan
verfolgen: nirgends wird hier ein Punkt zu finden sein,
wo der Sprung von der Objektivität des Nicht-Wahrgenommenen
zur Subjektivität der Wahrnehmung nachzuweisen
wäre. Damit ist der subjektive Charakter der Wahrnehmungswelt
widerlegt. Die Welt der Wahrnehmung
steht als auf sich begründeter Inhalt da, der mit Subjekt
und Objekt vorläufig noch gar nichts zu tun hat.
Mit der obigen Ausführung ist natürlich nur jener Begriff
der Materie getroffen, den die Physik ihren Betrachtungen
zugrunde legt und den sie mit dem alten, ebenfalls
unrichtigen Substanzbegriff der Metaphysik identifiziert.
Etwas anderes ist die Materie als das den Erscheinungen
zugrunde liegende eigentlich Reale, etwas anderes die Materie
als Phänomen, als Erscheinung. Auf den ersteren Begriff
allein geht unsere Betrachtung. Der letztere wird
durch sie nicht berührt. Denn wenn ich das den Raum Erfüllende
«Materie» nenne, so ist das bloß ein Wort für ein
Phänomen, dem keine höhere Realität als anderen Phänomenen
zugeschrieben wird. Ich muß mir dabei nur diesen
Charakter der Materie stets gegenwärtig halten.
Die Welt dessen, was sich uns als Wahrnehmungen darstellt,
d. h. Ausgedehntes, Bewegung, Ruhe, Kraft, Licht,
Wärme, Farbe, Ton, Elektrizität usw., das ist das Objekt
aller Wissenschaft.
Wäre nun das wahrgenommene Weltbild ein solches, daß
es so, wie es für unsere Sinne vor uns auftritt, sich ungetrübt
seiner Wesenheit nach auslebte, mit anderen Worten, wäre
alles, was in der Erscheinung auftritt, ein vollkommener,
durch nichts gestörter Abdruck der inneren Wesenheit der
Dinge, dann wäre Wissenschaft die unnötigste Sache von
der Welt. Denn die Aufgabe der Erkenntnis wäre schon
in der Wahrnehmung voll und restlos erfüllt. Ja, wir könnten
dann überhaupt gar nicht zwischen Wesen und Erscheinung
unterscheiden. Beides fiele als identisch völlig zusammen.
Das ist aber nicht der Fall. Nehmen wir an, das in der
Tatsachenwelt enthaltene Element A stehe in einem gewissen
Zusammenhang mit dem Element B. Beide Elemente
sind natürlich nach unseren Ausführungen nichts weiter
als Phänomene. Der Zusammenhang kommt wieder als
Phänomen zur Erscheinung. Dieses Phänomen wollen wir
C nennen. Was wir nun innerhalb der Tatsachenwelt feststellen
können, ist das Verhältnis von A, B und C. Nun
aber bestehen neben A, B und C in der wahrnehmbaren
Welt noch unendlich viele solcher Elemente. Nehmen wir
ein beliebiges viertes, D; es trete hinzu, und es wird sogleich
alles sich als modifiziert darstellen. Statt daß A, im
Verein mit B, C im Gefolge hat, wird durch das Hinzutreten
von D ein wesentlich anderes Phänomen E auftreten.
Hierauf kommt es an. Wenn wir einem Phänomen gegenübertreten,
so sehen wir es mannigfach bedingt. Wir
müssen alle Beziehungen suchen, wenn wir das Phänomen
verstehen sollen. Nun sind diese Beziehungen aber verschiedene,
nähere und fernere. Daß mir ein Phänomen E
gegenübertrete, daran sind andere Phänomene in näherer
oder fernerer Beziehung die Veranlassung. Einige sind unbedingt
notwendig, um überhaupt ein derartiges Phänomen
entstehen zu lassen, andere hinderten wohl nicht,
wenn sie abwesend wären, daß ein so geartetes Phänomen
entstehe; aber sie bedingen, daß es gerade so entstehe. Daraus
ersehen wir, daß wir zwischen notwendigen und zufälligen
Bedingungen einer Erscheinung unterscheiden müssen.
Phänomene nun, die so entstehen, daß dabei nur die
notwendigen Bedingungen mitwirken, können wir ursprüngliche,
die anderen abgeleitete nennen. Wenn wir die
ursprünglichen Phänomene aus ihren Bedingungen verstehen,
dann können wir durch Hinzusetzung von neuen Bedingungen
die abgeleiteten ebenfalls verstehen.
Hier wird uns die Aufgabe der Wissenschaft klar. Sie
hat durch die phänomenale Welt so weit durchzudringen,
daß sie Erscheinungen aufsucht, die nur von notwendigen
Bedingungen abhängig sind. Und der sprachlich-begriffliche
Ausdruck für solche notwendige Zusammenhänge sind
die Naturgesetze.
Wenn man einer Sphäre von Erscheinungen gegenübertritt,
dann hat man also, sobald man über die bloße Beschreibung
und Registrierung hinaus ist, zunächst diejenigen
Elemente festzustellen, die einander notwendig bedingen
und sie als Urphänomene hinzustellen. Dazu hat
man dann jene Bedingungen zu setzen, welche schon in
einem entfernteren Bezug zu jenen Elementen stehen, um
zu sehen, wie sie jene ursprünglichen Phänomene modifizieren.
Dies ist das Verhältnis der Wissenschaft zur Erscheinungswelt:
in letzterer treten die Phänomene durchaus als
abgeleitete auf, sie sind deshalb von vornherein unverständlich;
in jener treten die Urphänomene an die Spitze und die
abgeleiteten als Folge auf, wodurch der ganze Zusammenhang
verständlich wird. Das System der Wissenschaft unterscheidet
sich von dem System der Natur dadurch, daß
in jenem der Zusammenhang der Erscheinungen vom Verstande
hergestellt und dadurch verständlich gemacht wird.
Die Wissenschaft hat nie und nimmer etwas zur Erscheinungswelt
hinzuzubringen, sondern nur die verhüllten Bezüge
derselben bloßzulegen. Aller Verstandesgebrauch darf
sich nur auf die letztere Arbeit beschränken. Durch Zurückgehen
auf ein Nicht-Erscheinendes, um die Erscheinungen
zu erklären, überschreitet der Verstand und alles
wissenschaftliche Treiben ihre Befugnis.
Nur wer die unbedingte Richtigkeit dieser unserer Ableitungen
einsieht, kann Goethes Farbenlehre verstehen.
Nachzudenken darüber, was eine Wahrnehmung wie z. B.
das Licht, die Farbe sonst noch sei, außer der Wesenheit,
als welche sie auftreten, das lag Goethe ganz fern. Denn
er kannte jene Befugnis des verständigen Denkens. Ihm
war das Licht als Empfindung gegeben. Wenn er nun den
Zusammenhang zwischen Licht und Farbe erklären wollte,
so konnte das nicht durch eine Spekulation geschehen, sondern
nur durch ein Urphänomen, indem er die notwendige
Bedingung aufsuchte, die zum Lichte hinzutreten muß, um
die Farbe entstehen zu lassen. Newton sah auch die Farbe
in Verbindung mit dem Lichte auftreten, aber er dachte
nun spekulativ nach: Wie entsteht die Farbe aus dem Lichte.
Das lag in seiner spekulativen Denkweise; in Goethes gegenständlicher
und richtig sich selbst verstehender Denkweise
lag das nicht. Deshalb mußte ihm Newtons Annahme:
«Das Licht ist aus farbigen Lichtern zusammengesetzt
» als Ergebnis unrichtiger Spekulation erscheinen. Er
hielt sich nur berechtigt, über den Zusammenhang von
Licht und Farbe unter Hinzutritt einer Bedingung etwas
auszusagen, nicht aber über das Licht selbst durch Hinzuziehung
eines spekulativen Begriffes. Daher sein Satz: «Das
Licht ist das einfachste, unzerlegteste, homogenste Wesen,
das wir kennen. Es ist nicht zusammengesetzt.» Alle Aussagen
über Zusammensetzung des Lichtes sind ja nur Aussagen
des Verstandes über ein Phänomen. Die Befugnis des
Verstandes erstreckt sich aber nur auf Aussagen über den
Zusammenhang von Phänomenen.
Hiermit ist der tiefere Grund bloßgelegt, warum Goethe,
als er durchs Prisma sah, nicht zu der Theorie Newtons
sich bekennen konnte. Das Prisma hätte die erste Bedingung
sein müssen für das Zustandekommen der Farbe. Es
erwies sich aber eine andere Bedingung, die Anwesenheit
eines Dunkeln, als ursprünglicher zur Entstehung derselben;
das Prisma erst als zweite Bedingung.
Mit diesen Auseinandersetzungen glaube ich für den
Leser der Goetheschen Farbenlehre alle Hindernisse beseitigt
zu haben, die den Weg zu diesem Werke verlegen.
Hätte man nicht immerfort diese Differenz der beiden
Farbentheorien in zwei einander widersprechenden Auslegungsarten
gesucht, die man einfach nach ihrer Berechtigung
dann untersuchen wollte, so wäre die Goethesche
Farbenlehre längst in ihrer hohen wissenschaftlichen Bedeutung
gewürdigt. Nur wer ganz erfüllt ist von so grundfalschen
Vorstellungen, wie diese ist, daß man von den
Wahrnehmungen durch verständiges Nachdenken zurückgehen
müsse auf die Ursache der Wahrnehmungen, der
kann die Frage noch in der Weise aufwerfen, wie es die heutige
Physik tut. Wer sich aber wirklich klar darüber geworden
ist, daß Erklären der Erscheinungen nichts anderes
heißt, als dieselben in einem von dem Verstande hergestellten
Zusammenhange beobachten, der muß die Goethesche
Farbenlehre im Prinzipe akzeptieren. Denn sie ist
die Folge einer richtigen Anschauungsweise über das Verhältnis
unseres Denkens zur Natur. Newton hatte diese
Anschauungsweise nicht. Es fällt mir natürlich nicht ein,
alle Einzelheiten der Goetheschen Farbenlehre verteidigen
zu wollen. Was ich aufrecht erhalten wissen will, ist nur das
Prinzip. Aber es kann auch hier nicht meine Aufgabe sein,
die zu Goethes Zeit noch unbekannten Erscheinungen der
Farbenlehre aus seinem Prinzipe abzuleiten. Sollte ich dereinst
das Glück haben, Muße und Mittel zu besitzen, um
eine Farbenlehre im Goetheschen Sinne ganz auf der Höhe
der modernen Errungenschaften der Naturwissenschaft zu
schreiben, so wäre in einer solchen allein die angedeutete
Aufgabe zu lösen. Ich würde das als zu meinen schönsten
Lebensaufgaben gehörig betrachten. Diese Einleitung
konnte sich allein auf die wissenschaftlich strenge Rechtfertigung
von Goethes Denkweise in der Farbenlehre erstrecken.
In dem Folgenden soll nun auch noch ein Licht
auf den inneren Bau derselben geworfen werden.
3. Das System der Naturwissenschaft
Es könnte leicht erscheinen, als ob wir mit unseren Untersuchungen,
die dem Denken nur eine auf die Zusammenfassung
der Wahrnehmungen abzielende Befugnis zugestehen,
die selbständige Bedeutung der Begriffe und Ideen, für die
wir uns erst so energisch eingesetzt haben, nun selbst in
Frage stellen.
Nur eine ungenügende Auslegung dieser Untersuchung
kann zu dieser Ansicht führen.
Was erzielt das Denken, wenn es den Zusammenhang
der Wahrnehmungen vollzieht?
Betrachten wir zwei Wahrnehmungen A und B. Diese
sind uns zunächst als begriffsfreie Entitäten gegeben. Die
Qualitäten, die meiner Sinneswahrnehmung gegeben sind,
kann ich durch kein begriffliches Nachdenken in etwas anderes
verwandeln. Ich kann auch keine gedankliche Qualität
finden, durch die ich dasjenige, was in der sinnenfäligen
Wirklichkeit gegeben ist, konstruieren könnte, wenn
mir die Wahrnehmung mangelte. Ich kann nie einem Rotblinden
eine Vorstellung der Qualität «Rot» verschaffen,
auch wenn ich ihm dieselbe mit allen nur erdenklichen Mitteln
begrifflich umschreibe. Die Sinneswahrnehmung hat
somit ein Etwas, das nie in den Begriff eingeht; das wahrgenommen
werden muß, wenn es überhaupt Gegenstand
unserer Erkenntnis werden soll. Was für eine Rolle spielt
also der Begriff, den wir mit irgendeiner Sinneswahrnehmung
verknüpfen? Er muß offenbar ein ganz selbständiges
Element, etwas Neues hinzubringen, das wohl zur Sinneswahrnehmung
gehört, das aber in der Sinneswahrnehmung
nicht zum Vorschein kommt.
Nun ist es aber doch gewiß, daß dieses neue «Etwas»,
das der Begriff zur Sinneswahrnehmung hinzubringt, erst
das ausspricht, was unserem Erklärungsbedürfnis entgegenkommt.
Wir sind erst imstande, irgendein Element in
der Sinnenwelt zu verstehen, wenn wir einen Begriff davon
haben. Was die sinnenfällige Wirklichkeit uns bietet,
darauf können wir ja immer hinweisen; und jeder, der die
Möglichkeit hat, gerade dieses in Rede stehende Element
wahrzunehmen, weiß, um was es sich handelt. Durch den
Begriff sind wir imstande, etwas von der Sinnenwelt zu
sagen, was nicht wahrgenommen werden kann.
Daraus erhellt aber unmittelbar das Folgende. Wäre das
Wesen der Sinneswahrnehmung in der sinnlichen Qualität
erschöpft, dann könnte nicht in Form des Begriffes etwas
völlig Neues hinzukommen. Die Sinneswahrnehmung ist
also gar keine Totalität, sondern nur eine Seite einer solchen.
Und zwar jene, die bloß angeschaut werden kann.
Durch den Begriff erst wird uns das klar, was wir anschauen.
Jetzt können wir die inhaltliche Bedeutung dessen, was
wir im vorigen Kapitel methodisch entwickelt haben, aussprechen:
Durch die begriffliche Erfassung eines in der Sinnenwelt
Gegebenen gelangt erst das Was des im Anschauen
Gegebenen zur Erscheinung. Wir können den Inhalt des
Angeschauten nicht aussprechen, weil dieser Inhalt sich in
dem Wie des Angeschauten, d. h. in der Form des Auftretens
erschöpft. Somit finden wir im Begriffe das Was, den
andern Inhalt des in der Sinnenwelt in Form der Anschauung
Gegebenen.
Erst im Begriffe also bekommt die Welt ihren vollen Inhalt.
Nun haben wir aber gefunden, daß uns der Begriff
über die einzelne Erscheinung hinaus auf den Zusammenhang
der Dinge verweist. Somit stellt sich das, was in der
Sinnenwelt getrennt, vereinzelt auftritt, für den Begriff als
einheitliches Ganzes dar. So entsteht durch unsere naturwissenschaftliche
Methodik als Endziel die monistische
Naturwissenschaft; aber sie ist nicht abstrakter Monismus,
der die Einheit schon vorausnimmt, und dann die einzelnen
Tatsachen des konkreten Daseins in gezwungener
Weise darunter subsumiert, sondern der konkrete Monismus,
der Stück für Stück zeigt, daß die scheinbare Mannigfaltigkeit
des Sinnendaseins sich zuletzt nur als eine ideelle
Einheit erweist. Die Vielheit ist nur eine Form, in der sich
der einheitliche Weltinhalt ausspricht. Die Sinne, die nicht
in der Lage sind, diesen einheitlichen Inhalt zu erfassen, halten
sich an die Vielheit; sie sind geborene Pluralisten. Das
Denken aber überwindet die Vielheit und kommt so durch
eine lange Arbeit auf das einheitliche Weltprinzip zurück.
Die Art nun, wie der Begriff (die Idee) in der Sinnenwelt
sich auslebt, macht den Unterschied der Naturreiche.
Gelangt das sinnenfällig wirkliche Wesen nur zu einem solchen
Dasein, daß es völlig außerhalb des Begriffes steht,
nur von ihm als einem Gesetze in seinen Veränderungen
beherrscht wird, dann nennen wir dieses Wesen unorganisch.
Alles, was mit einem solchen vorgeht, ist auf die
Einflüsse eines anderen Wesens zurückzuführen; und wie
die beiden aufeinander wirken, das läßt sich durch ein
außer ihnen stehendes Gesetz erklären. In dieser Sphäre
haben wir es mit Phänomenen und Gesetzen zu tun, die,
wenn sie ursprünglich sind, Urphänomene heißen können.
In diesem Falle steht also das wahrzunehmende Begriffliche
außerhalb einer wahrgenommenen Mannigfaltigkeit.
Es kann aber eine sinnenfällige Einheit selbst schon über
sich hinausweisen; sie kann, wenn wir sie erfassen wollen,
uns nötigen, zu weiteren Bestimmungen als zu den uns
wahrnehmbaren fortzugehen. Dann erscheint das begrifflich
Erfaßbare als sinnenfällige Einheit. Die beiden, Begriff
und Wahrnehmung, sind zwar nicht identisch, aber
der Begriff erscheint nicht außer der sinnlichen Mannigfaltigkeit
als Gesetz, sondern in derselben als Prinzip. Er
liegt ihr als das sie Durchsetzende, nicht mehr sinnlich
Wahrnehmbare zugrunde, das wir Typus nennen. Damit
hat es die organische Naturwissenschaft zu tun.
Aber auch hier erscheint der Begriff noch nicht in seiner
ihm eigenen Form als Begriff, sondern erst als Typus.
Wo nun derselbe nicht mehr bloß als solcher, als durchsetzendes
Prinzip, sondern in seiner Begriffsform selbst
auftritt, da erscheint er als Bewußtsein, da kommt endlich
das zur Erscheinung, was auf den unteren Stufen nur dem
Wesen nach vorhanden ist. Der Begriff wird hier selbst zur
Wahrnehmung. Wir haben es mit dem selbstbewußten Menschen
zu tun.
Naturgesetz, Typus, Begriff sind die drei Formen, in
denen sich das Ideelle auslebt. Das Naturgesetz ist abstrakt,
über der sinnenfälligen Mannigfaltigkeit stehend, es beherrscht
die unorganische Naturwissenschaft. Hier fallen
Idee und Wirklichkeit ganz auseinander. Der Typus vereinigt
schon beide in einem Wesen. Das Geistige wird wirkendes
Wesen, aber es wirkt noch nicht als solches, es ist
nicht als solches da, sondern muß, wenn es seinem Dasein
nach betrachtet werden will, als sinnenfälliges angeschaut
werden. So ist es im Reiche der organischen Natur. Der
Begriff ist auf wahrnehmbare Weise vorhanden. Im menschlichen
Bewußtsein ist der Begriff selbst das Wahrnehmbare.
Anschauung und Idee decken sich. Es ist eben das
Ideelle, welches angeschaut wird. Deshalb können auf dieser
Stufe auch die ideellen Daseinskerne der unteren Naturstufen
zur Erscheinung kommen. Mit dem menschlichen
Bewußtsein ist die Möglichkeit gegeben, daß das, was
auf den unteren Stufen des Daseins bloß ist, aber nicht erscheint,
nun auch erscheinende Wirklichkeit wird.*
4. Das System der Farbenlehre
Goethes Wirken fällt in eine Zeit, in welcher das Streben
nach einem absoluten, in sich selber seine Befriedigung
findenden Wissen alle Geister mächtig erfüllte. Das Erkennen
wagt sich wieder einmal mit heiligem Eifer daran,
alle Erkenntnismittel zu untersuchen, um der Lösung der
höchsten Fragen näher zu kommen. Die Zeit der morgenländischen
Theosophie, Plato und Aristoteles, dann Descartes
und Spinoza sind in den vorangehenden Epochen der
Weltgeschichte die Repräsentanten einer gleich innerlichen
Vertiefung. Goethe ist ohne Kant, Fichte, Schelling und
Hegel nicht denkbar. War diesen Geistern vor allem der
Blick in die Tiefe, das Auge für das Höchste eigen, so
ruhte sein Anschauen auf den Dingen der unmittelbaren
Wirklichkeit. Aber in diesem Anschauen liegt etwas von
jener Tiefe selbst, Goethe übte diesen Blick in der Betrachtung
der Natur. Der Geist jener Zeit ist wie ein Fluidum
über seine Naturbetrachtungen ausgegossen. Daher das Gewaltige
derselben, das bei der Betrachtung der Einzelheiten
sich stets den großen Zug bewahrt. Goethes Wissenschaft
geht immer auf das Zentrale.
Mehr als anderswo können wir diese Wahrnehmung an
Goethes Farbenlehre machen. Sie ist ja neben dem Versuche
über die Metamorphose der Pflanze allein zu einem
abgeschlossenen Ganzen geworden. Und was für ein streng
geschlossenes, von der Natur der Sache selbst gefordertes
System stellt sie dar!
Wir wollen diesen Bau einmal, seinem inneren Gefüge
nach, betrachten.
Daß irgend etwas, was im Wesen der Natur begründet
ist, zur Erscheinung komme, dazu ist die notwendige Voraussetzung,
daß eine Gelegenheitsursache, ein Organ da
sei, in dem das eben Besagte sich darstelle. Die ewigen, ehernen
Gesetze der Natur würden zwar herrschen, auch wenn
sie nie in einem Menschengeiste sich darstellten, allein ihre
Erscheinung als solche wäre nicht möglich. Sie wären bloß
dem Wesen, nicht der Erscheinung nach da. So auch wäre
es mit der Welt des Lichtes und der Farbe, wenn kein wahrnehmendes
Auge sich ihnen entgegenstellte. Die Farbe darf
nicht in Schopenhauerscher Manier von dem Auge ihrem
Wesen nach abgeleitet werden, wohl aber muß in dem
Auge die Möglichkeit nachgewiesen werden, daß die Farbe
erscheine. Das Auge bedingt nicht die Farbe, aber es ist die
Ursache ihrer Erscheinung.
Hier muß also die Farbenlehre einsetzen. Sie muß das
Auge untersuchen, dessen Natur bloßlegen. Deshalb stellt
Goethe die physiologische Farbenlehre an den Anfang.
Aber seine Auffassung ist auch da von dem, was man gewöhnlich
unter diesem Teile der Optik versteht, wesentlich
verschieden. Er will nicht aus dem Baue des Auges
dessen Funktionen erklären, sondern er will das Auge unter
verschiedenen Bedingungen betrachten, um zur Erkenntnis
seiner Fähigkeiten und Vermögen zu kommen.
Sein Vorgang ist auch hier ein wesentlich beobachtender.
Was stellt sich ein, wenn Licht und Finsternis auf das Auge
wirken; was, wenn begrenzte Bilder in Beziehung zu demselben
treten usw.? Er fragt zunächst nicht, welche Prozesse
spielen sich im Auge ab, wenn diese oder jene Wahrnehmung
zustande kommt, sondern er sucht zu ergründen,
was durch das Auge im lebendigen Sehakt zustande kommen
kann. Für seinen Zweck ist das zunächst die allein
wichtige Frage. Die andere gehört streng genommen nicht
in das Gebiet der physiologischen Farbenlehre, sondern
in die Lehre von dem menschlichen Organismus, d. h. in
die allgemeine Physiologie. Goethe hat es nur zu tun mit
dem Auge, sofern es sieht und nicht mit der Erklärung des
Sehens aus jenen Wahrnehmungen, die wir an dem toten
Auge machen können.
Von da aus geht er dann über zu den objektiven Vorgängen,
welche die Farbenerscheinungen veranlassen. Und
hier ist wichtig festzuhalten, daß Goethe unter diesen objektiven
Vorgängen keineswegs die nicht mehr wahrnehmbaren
hypothetischen stofflichen oder Bewegungsvorgänge
im Sinne hat, sondern daß er durchaus innerhalb der wahrnehmbaren
Welt stehen bleibt. Seine physische Farbenlehre,
welche den zweiten Teil bildet, sucht die Bedingungen,
die vom Auge unabhängig sind und mit der Entstehung der
Farben zusammenhängen. Dabei sind aber diese Bedingungen
doch immer noch Wahrnehmungen. Wie mit Hilfe des
Prismas, der Linse usw. an dem Lichte die Farben entstehen,
das untersucht er hier. Er bleibt aber vorläufig dabei
stehen, die Farbe als solche in ihrem Werden zu verfolgen,
zu beobachten, wie sie an sich, abgesondert von Körpern
entsteht.
Erst in einem eigenen Kapitel, der chemischen Farbenlehre,
geht er über zu den fixierten, an den Körpern haftenden
Farben. Ist in der physiologischen Farbenlehre die
Frage beantwortet, wie können Farben überhaupt zur Erscheinung
kommen, in der physischen jene, wie kommen
die Farben unter äußeren Bedingungen zustande, so beantwortet
er hier das Problem, wie erscheint die Körperwelt
als farbige?
So schreitet Goethe von der Betrachtung der Farbe, als
eines Attributes der Erscheinungswelt, zu dieser selbst als
in jenem Attribute erscheinend vorwärts. Hier bleibt er
nicht stehen, sondern er betrachtet zuletzt die höhere Beziehung
der farbigen Körperwelt auf die Seele in dem Kapitel:
«Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe.»
Dies ist der strenge, geschlossene Weg einer Wissenschaft:
von dem Subjekte als der Bedingung wieder zurück
zu dem Subjekte als dem sich in und mit seiner Welt befriedigenden
Wesen.
Wer wird hier nicht den Drang der Zeit wiedererkennen
- vom Subjekte zum Objekte und wieder in das Subjekt
zurück —, der Hegel zur Architektonik seines ganzen
Systems geführt hat.
In diesem Sinne erscheint denn als das eigentlich optische
Hauptwerk Goethes der «Entwurf einer Farbenlehre
». Die beiden Stücke: «Beiträge zur Optik» und die
«Elemente der Farbenlehre» müssen als Vorstudien gelten.
Die «Enthüllungen der Theorie Newtons» sind nur eine
polemische Beigabe seiner Arbeit.
5. Der Goethesche Raumbegriff
Da nur bei einer mit der Goetheschen ganz zusammenfallenden
Anschauung vom Raume ein volles Verständnis
seiner physikalischen Arbeiten möglich ist, so wollen wir
hier dieselbe entwickeln. Wer zu dieser Anschauung kommen
will, der muß aus unseren bisherigen Ausführungen
folgende Überzeugung gewonnen haben: 1. Die Dinge, die
uns in der Erfahrung als einzelne gegenübertreten, haben
einen inneren Bezug aufeinander. Sie sind in Wahrheit
durch ein einheitliches Weltenband zusammengehalten. Es
lebt in ihnen allen ein gemeinsames Prinzip. 2. Wenn unser
Geist an die Dinge herantritt und das Getrennte durch ein
geistiges Band zu umfassen strebt, so ist die begriffliche
Einheit, die er herstellt, den Objekten nicht äußerlich, sondern
sie ist herausgeholt aus der inneren Wesenheit der Natur
selbst. Die menschliche Erkenntnis ist kein außer den
Dingen sich abspielender, aus bloßer subjektiver Willkür
entspringender Prozeß, sondern, was da in unserem Geist
als Naturgesetz auftritt, was sich in unserer Seele auslebt,
das ist der Herzschlag des Universums selbst.
Zu unserem jetzigen Zwecke wollen wir die alleräußerlichste
Beziehung, die unser Geist zwischen den Objekten
der Erfahrung herstellt, einer Betrachtung unterziehen.
Wir betrachten den einfachsten Fall, in dem uns die Erfahrung
zu einer geistigen Arbeit auffordert. Es seien zwei einfache
Elemente der Erscheinungswelt gegeben. Um unsere
Untersuchung nicht zu komplizieren, nehmen wir möglichst
Einfaches, z. B. zwei leuchtende Punkte. Wir wollen ganz
davon absehen, daß wir vielleicht in jedem dieser leuchtenden
Punkte selbst schon etwas ungeheuer Kompliziertes
vor uns haben, das unserem Geiste eine Aufgabe stellt. Wir
wollen auch von der Qualität der konkreten Elemente der
Sinnenwelt, die wir vor uns haben, absehen und ganz allein
den Umstand in Betracht ziehen, daß wir zwei voneinander
abgesonderte, d. h. für die Sinne abgesondert erscheinende
Elemente vor uns haben. Zwei Faktoren, die jeder
für sich geeignet sind, auf unsere Sinne einen Eindruck zu
machen: das ist alles, was wir voraussetzen. Wir wollen ferner
annehmen, daß das Dasein des einen dieser Faktoren
jenes des anderen nicht ausschließt. Ein Wahrnehmungsorgan
kann beide wahrnehmen.
Wenn wir nämlich annehmen, daß das Dasein des einen
Elementes in irgendeiner Weise abhängig von dem des anderen
ist, so stehen wir vor einem von unserem jetzigen verschiedenen
Problem. Ist das Dasein von B ein solches, daß
es das Dasein von A ausschließt und doch von ihm seinem
Wesen nach abhängig ist, dann müssen A und B in einem
Zeitverhältnis stehen. Denn die Abhängigkeit des B von A
bedingt, wenn man sich gleichzeitig vorstellt, daß das
Dasein von B jenes von A ausschließt, daß dies letztere
dem ersteren vorangeht. Doch das gehört auf ein anderes
Blatt.
Für unseren jetzigen Zweck wollen wir ein solches Verhältnis
nicht annehmen. Wir setzen voraus, daß die Dinge,
mit denen wir es zu tun haben, sich hinsichtlich ihres Daseins
nicht ausschließen, sondern vielmehr miteinander bestehende
Wesenheiten sind. Wenn von jeder durch die innere
Natur geforderten Beziehung abgesehen wird, so
bleibt nur dies übrig, daß überhaupt ein Bezug der Sonderqualitäten
besteht, daß ich von der einen auf die andere
übergehen kann. Ich kann von dem einen Erfahrungselement
zum zweiten gelangen. Für niemanden kann ein Zweifel
darüber bestehen, was das für ein Verhältnis sein kann,
das ich zwischen Dingen herstelle, ohne auf ihre Beschaffenheit,
auf ihr Wesen selbst einzugehen. Wer sich fragt,
welcher Übergang von einem Dinge zum anderen gefunden
werden kann, wenn dabei das Ding selbst gleichgültig
bleibt, der muß sich darauf unbedingt die Antwort geben:
der Raum. Jedes andere Verhältnis muß sich auf die qualitative
Beschaffenheit dessen gründen, was gesondert im Weltendasein auftritt. anderes Rücksicht als darauf, daß die Dinge eben gesonderte
sind. Wenn ich überlege: A ist oben, B unten, so bleibt
mir völlig gleichgültig, was A und B sind. Ich verbinde mit
ihnen gar keine andere Vorstellung, als daß sie eben getrennte
Faktoren der von mir mit den Sinnen aufgefaßten
Welt sind.
Was unser Geist will, wenn er an die Erfahrung herantritt,
das ist: er will die Sonderheit überwinden, er will aufzeigen,
daß in dem Einzelnen die Kraft des Ganzen zu sehen
ist. Bei der räumlichen Anschauung will er sonst gar
nichts überwinden, als die Besonderheit als solche. Er will
die allerallgemeinste Beziehung herstellen. Daß A und B
jedes nicht eine Welt für sich sind, sondern einer Gemeinsamkeit
angehören, das sagt die räumliche Betrachtung.
Dies ist der Sinn des Nebeneinander. Wäre ein jedes Ding
ein Wesen für sich, dann gebe es kein Nebeneinander. Ich
könnte überhaupt einen Bezug der Wesen aufeinander nicht
herstellen.
Wir wollen nun untersuchen, was weiteres aus dieser
Herstellung einer äußeren Beziehung zweier Besonderheiten
folgt. Zwei Elemente kann ich nur auf eine Art in solcher
Beziehung denken. Ich denke A neben B. Dasselbe
kann ich nun mit zwei anderen Elementen der Sinnenwelt
C und D machen. Ich habe dadurch einen konkreten Bezug
zwischen A und B und einen solchen zwischen C und
D festgesetzt. Ich will nun von den Elementen A, B, C und
D ganz absehen und nur die konkreten zwei Bezüge wieder
aufeinander beziehen. Es ist klar, daß ich diese als zwei besondere
Entitäten geradeso aufeinander beziehen kann, wie
A und B selbst. Was ich hier aufeinander beziehe, sind
konkrete Beziehungen. Ich kann sie a und b nennen. Wenn
ich nun noch um einen Schritt weiter gehe, so kann ich a
wieder auf b beziehen. Aber jetzt habe ich alle Besonderheit
bereits verloren. Ich finde, wenn ich a betrachte, kein
besonderes A und B mehr, welche aufeinander bezogen werden;
ebensowenig bei b. Ich finde in beiden nichts anderes,
als daß überhaupt bezogen wurde. Diese Bestimmung ist
aber in a und b ganz die gleiche. Was es mir möglich machte,
a und b noch auseinander zu halten, das war, daß sie auf A,
B, C und D hinwiesen. Lasse ich diesen Rest von Besonderheiten
weg und beziehe ich nur a und b noch aufeinander,
d. h. den Umstand, daß überhaupt bezogen wurde (nicht
daß etwas Bestimmtes bezogen wurde), dann bin ich wieder
ganz allgemein bei der räumlichen Beziehung angekommen,
von der ich ausgegangen bin. Weiter kann ich nicht
mehr gehen. Ich habe das erreicht, was ich vorher angestrebt
habe: der Raum selbst steht vor meiner Seele.
Hierin liegt das Geheimnis der drei Dimensionen. In
der ersten Dimension beziehe ich zwei konkrete Erscheinungselemente
der Sinnenwelt aufeinander; in der zweiten
Dimension beziehe ich diese räumlichen Bezüge selbst aufeinander.
Ich habe eine Beziehung zwischen Beziehungen
hergestellt. Die konkreten Erscheinungen habe ich abgestreift,
die konkreten Beziehungen sind mir geblieben. Nun
beziehe ich diese selbst räumlich aufeinander. Das heißt:
ich sehe ganz davon ab, daß es konkrete Beziehungen sind;
dann aber muß ich ganz dasselbe, was ich in der einen finde,
in der zweiten wiederfinden. Ich stelle Beziehungen zwischen
Gleichem her. Jetzt hört die Möglichkeit des Beziehens
auf, weil der Unterschied aufhört.
Das, was ich vorher als Gesichtspunkt meiner Betrachtung
angenommen habe, die ganz äußerliche Beziehung,
habe ich jetzt selbst als Sinnen Vorstellung wieder erreicht;
von der räumlichen Betrachtung bin ich, nachdem ich dreimal
die Operation durchgeführt habe, zum Raum, d. i. zu
meinem Ausgangspunkte gekommen.
Daher kann der Raum nur drei Dimensionen haben.
Was wir hier mit der Raumvorstellung unternommen haben,
ist eigentlich nur ein spezieller Fall der von uns immer
angewendeten Methode, wenn wir an die Dinge betrachtend
herantreten. Wir stellen konkrete Objekte unter einen
allgemeinen Gesichtspunkt. Dadurch gewinnen wir Begriffe
von den Einzelheiten; diese Begriffe betrachten wir
dann selbst wieder unter den gleichen Gesichtspunkten, so
daß wir dann nur mehr die Begriffe der Begriffe vor uns haben;
verbinden wir auch diese noch, dann verschmelzen sie
in jene ideelle Einheit, die mit nichts anderem mehr als mit
sich selbst unter einen Gesichtspunkt gebracht werden
könnte. Nehmen wir ein besonderes Beispiel. Ich lerne zwei
Menschen kennen: A und B. Ich betrachte sie unter dem Gesichtspunkte
der Freundschaft. In diesem Falle werde ich
einen ganz bestimmten Begriff a von der Freundschaft der
beiden Leute bekommen. Ich betrachte nun zwei andere
Menschen, C und D, unter dem gleichen Gesichtspunkte.
Ich bekomme einen anderen Begriff b von dieser Freundschaft.
Nun kann ich weiter gehen und diese beiden Freundschaftsbegriffe
aufeinander beziehen. Was mir da übrig
bleibt, wenn ich von dem Konkreten, das ich gewonnen
habe, absehe, ist der Begriff der Freundschaft überhaupt.
Diesen kann ich aber realiter auch erhalten, wenn ich die
Menschen E und F unter dem gleichen Gesichtspunkte und
ebenso G und H betrachte. In diesem wie in unzähligen
anderen Fällen kann ich den Begriff der Freundschaft überhaupt
erhalten. Alle diese Begriffe sind aber dem Wesen
nach miteinander identisch; und wenn ich sie unter dem
gleichen Gesichtspunkte betrachte, dann stellt sich heraus,
daß ich eine Einheit gefunden habe. Ich bin wieder zu dem
zurückgekehrt, wovon ich ausgegangen bin.
Der Raum ist also die Ansicht von Dingen, eine Art,
wie unser Geist sie in eine Einheit zusammenfaßt. Die drei
Dimensionen verhalten sich dabei in folgender Weise. Die
erste Dimension stellt einen Bezug zwischen zwei Sinneswahrnehmungen
her.101 Sie ist also eine konkrete Vorstellung.
Die zweite Dimension bezieht zwei konkrete Vorstellungen
aufeinander und geht dadurch in das Gebiet der
101 Sinneswahrnehmung bedeutet hier dasselbe, was Kant Empfindung
nennt.
Abstraktion über. Die dritte Dimension endlich stellt nur
noch die ideelle Einheit zwischen den Abstraktionen her.
Es ist also ganz unrichtig, die drei Dimensionen des Raumes
als völlig gleichbedeutend zu nehmen. Welche die erste ist,
hängt natürlich von den wahrgenommenen Elementen ab.
Dann aber haben die anderen eine ganz bestimmte und
andere Bedeutung als diese erste. Es war von Kant ganz
irrtümlich angenommen, daß er den Raum als totum auffaßte,
statt als eine begrifflich in sich bestimmbare Wesenheit.
Wir haben nun bisher vom Raume als von einem Verhältnis,
einer Beziehung, gesprochen. Es fragt sich nun
aber: Gibt es denn nur dieses Verhältnis des Nebeneinander?
Oder ist eine absolute Ortsbestimmung für ein jedes
Ding vorhanden? Dieses letztere ist natürlich durch unsere
obigen Erklärungen gar nicht berührt. Untersuchen wir
aber einmal, ob es ein solches Ortsverhältnis, ein ganz bestimmtes
«Da» auch gibt. Was bezeichne ich in Wirklichkeit,
wenn ich von einem solchen «Da» spreche? Doch
nichts anderes, als daß ich einen Gegenstand angebe, dem
der eigentlich in Frage kommende unmittelbar benachbart
ist. «Da» heißt in Nachbarschaft von einem durch mich
bezeichneten Objekte. Damit ist aber die absolute Ortsangabe
auf ein Raumverhältnis zurückgeführt. Die angedeutete
Untersuchung entfällt somit.
Werfen wir nun noch ganz bestimmt die Frage auf: Was
ist nach den vorausgegangenen Untersuchungen der Raum?
Nichts anderes als eine in den Dingen liegende Notwendigkeit,
ihre Besonderheit in ganz äußerlicher Weise, ohne
auf ihre Wesenheit einzugehen, zu überwinden und sie in
eine Einheit, schon als solche äußerliche, zu vereinigen. Der
Raum ist also eine Art, die Welt als eine Einheit zu erfassen.
Der Raum ist eine Idee. Nicht, wie Kant glaubte, eine
Anschauung.
6. Goethe, Newton und die Physiker
Als Goethe an die Betrachtung des Wesens der Farben
herantrat, war es wesentlich ein Kunstinteresse, das ihn auf
diesen Gegenstand brachte. Sein intuitiver Geist erkannte
bald, daß die Farbengebung in der Malerei einer tiefen Gesetzlichkeit
unterliege. Worinnen diese Gesetzlichkeit besteht,
das konnte weder er selbst entdecken, solange er sich
nur im Gebiete der Malerei theoretisierend bewegte, noch
vermochten ihm unterrichtete Maler darüber eine befriedigende
Auskunft zu geben. Diese wußten wohl praktisch,
wie sie die Farben zu mischen und anzuwenden hatten,
konnten sich aber darüber nicht in Begriffen aussprechen.
Als Goethe nun in Italien nicht nur den erhabensten Kunstwerken
dieser Art, sondern auch der farbenprächtigsten
Natur gegenübertrat, da erwachte in ihm besonders mächtig
der Drang, die Naturgesetze des Farbenwesens zu erkennen.
Über das Geschichtliche legt Goethe selbst in der «Geschichte
der Farbenlehre» ein ausführliches Bekenntnis ab.
Hier wollen wir nur das Psychologische und Sachliche auseinandersetzen.
Gleich nach seiner Rückkehr aus Italien begannen Goethes
Farbenstudien. Dieselben wurden besonders intensiv
in den Jahren 1790 und 1791, um dann den Dichter fortdauernd
bis an sein Lebensende zu beschäftigen.
Wir müssen uns den Stand der Goetheschen Weltanschauung
in dieser Zeit, am Beginne seiner Farbenstudien,
vergegenwärtigen. Damals hatte er bereits seinen großartigen
Gedanken von der Metamorphose der organischen
Wesen gefaßt. Es war ihm schon durch seine Entdeckung
des Zwischenkieferknochens die Anschauung der Einheit
alles Naturdaseins aufgegangen. Das Einzelne erschien ihm
als besondere Modifikation des idealen Prinzipes, das im
Ganzen der Natur waltet. Er hatte schon in seinen Briefen
aus Italien ausgesprochen, daß eine Pflanze nur dadurch
Pflanze ist, daß sie die «Idee der Pflanze» in sich trage.
Diese Idee galt ihm als etwas Konkretes, als mit geistigem
Inhalte erfüllte Einheit in allen besonderen Pflanzen. Sie
war mit den Augen des Leibes nicht, wohl aber mit dem
Auge des Geistes zu erfassen. Wer sie sehen kann, sieht sie
in jeder Pflanze.
Damit erscheint das ganze Reich der Pflanzen und bei
weiterer Ausgestaltung dieser Anschauung das ganze Naturreich
überhaupt als eine mit dem Geiste zu erfassende
Einheit.
Niemand aber vermag aus der bloßen Idee heraus die
Mannigfaltigkeit, die vor den äußeren Sinnen auftritt, zu
konstruieren. Die Idee vermag der intuitive Geist zu erkennen.
Die einzelnen Gestaltungen sind ihm nur zugänglich,
wenn er die Sinne nach außen richtet, wenn er beobachtet,
anschaut. Warum eine Modifikation der Idee gerade
so und nicht anders als sinnenfällige Wirklichkeit auftritt,
dazu muß der Grund nicht ausgeklügelt, sondern im
Reich der Wirklichkeit gesucht werden.
Dies ist Goethes eigenartige Anschauungsweise, die sich
wohl am besten als empirischer Idealismus kennzeichnen
läßt. Sie kann mit den Worten zusammengefaßt werden:
Den Dingen einer sinnlichen Mannigfaltigkeit, soweit sie
gleichartig sind, liegt eine geistige Einheit zugrunde, die
jene Gleichartigkeit und Zusammengehörigkeit bewirkt.
Von diesem Punkte ausgehend, entstand für Goethe die
Frage: Welche geistige Einheit liegt der Mannigfaltigkeit
der Farbenwahrnehmungen zugrunde? Was nehme ich in
jeder Farbenmodifikation wahr? Und da ward ihm bald
klar, daß das Licht die notwendige Grundlage jeder Farbe
sei. Keine Farbe ohne Licht. Die Farben aber sind die Modifikationen
des Lichtes. Und nun mußte er jenes Element
in der Wirklichkeit suchen, welches das Licht modifiziert,
spezifiziert. Er fand, daß dies die lichtlose Materie, die
tätige Finsternis, kurz das dem Licht Entgegengesetzte ist.
So war ihm jede Farbe durch Finsternis modifiziertes Licht.
Es ist vollständig unrichtig, wenn man glaubt, Goethe habe
mit dem Lichte etwa das konkrete Sonnenlicht, das gewöhnlich
«weißes Licht» genannt wird, gemeint. Nur der
Umstand, daß man sich von dieser Vorstellung nicht losmachen
kann und das auf so komplizierte Weise zusammengesetzte
Sonnenlicht als den Repräsentanten des Lichtes
an sich ansieht, verhindert das Verständnis der Goetheschen
Farbenlehre. Das Licht, wie es Goethe auffaßt, und
wie er es der Finsternis als seinem Gegenteil gegenüberstellt,
ist eine rein geistige Entität, einfach das allen Farbenempfindungen
Gemeinsame. Wenn Goethe das auch nirgends
klar ausgesprochen hat, so ist doch seine ganze Farbenlehre
so angelegt, daß nur dieses darunter verstanden
werden darf. Wenn er mit dem Sonnenlichte experimentiert,
um seine Theorie durchzuführen, so ist der Grund
davon nur der, daß das Sonnenlicht, trotzdem es das Resultat
so komplizierter Vorgänge ist, wie sie eben im Sonnenkörper
auftreten, doch für uns sich als Einheit darstellt,
die ihre Teile nur als aufgehobene in sich enthält. Das, was
wir mit Hilfe des Sonnenlichtes für die Farbenlehre gewinnen,
ist aber doch nur eine Annäherung an die Wirklichkeit.
Man darf Goethes Theorie nicht so auffassen, als wenn
nach ihr in jeder Farbe Licht und Finsternis real enthalten
wären. Nein, sondern das Wirkliche, das unserem Auge
gegenübertritt, ist nur eine bestimmte Farbennuance. Nur
der Geist vermag diese sinnenfällige Tatsache in zwei geistige
Entitäten auseinanderzulegen: Licht und Nicht-Licht.
Die äußeren Veranstaltungen, wodurch dieses geschieht,
die materiellen Vorgänge in der Materie, werden davon
nicht im mindesten berührt. Das ist eine ganz andere Sache.
Daß ein Schwingungsvorgang im Äther vorgeht, während
vor mir «Rot» auftritt, das soll nicht bestritten werden.
Aber was real eine Wahrnehmung zustande bringt, das hat,
wie wir schon gezeigt haben, mit dem Wesen des Inhaltes
gar nichts zu tun.
Man wird mir einwenden: Es läßt sich aber nachweisen,
daß alles an der Empfindung subjektiv ist und nur der Bewegungsvorgang,
der ihr zugrunde liegt, das außer unserem
Gehirne real Existierende. Dann könnte man von einer
physikalischen Theorie der Wahrnehmungen überhaupt
nicht sprechen, sondern nur von einer solchen der zugrunde
liegenden Bewegungsvorgänge. Mit diesem Beweise verhält
es sich ungefähr so: Wenn jemand an einem Orte A.
ein Telegramm an mich, der ich mich in B. befinde, aufgibt,
dann ist das, was ich von dem Telegramm in die
Hände bekomme, restlos in B. entstanden. Es ist der Telegraphist
in B.; er schreibt auf Papier, das nie in A. war,
mit Tinte, die nie in A. war; er selbst kennt A. gar nicht
usw.; kurz es läßt sich beweisen, daß in das, was mir vorliegt,
gar nichts von A. eingeflossen ist. Dennoch ist alles,
was von B. herrührt, für den Inhalt, das Wesen des Telegrammes
ganz gleichgültig; was für mich in Betracht
kommt, ist nur durch B. vermittelt. Will ich das Wesen des
Inhaltes des Telegrammes erklären, dann muß ich ganz
von dem absehen, was von B. herrührt.
Ebenso verhält es sich mit der Welt des Auges. Die Theorie
muß sich auf das dem Auge Wahrnehmbare erstrecken
und innerhalb desselben die Zusammenhänge suchen. Die
materiellen raum-zeitlichen Vorgänge mögen recht wichtig
sein für das Zustandekommen der Wahrnehmungen;
mit dem Wesen derselben haben sie nichts zu tun.
Ebenso verhält es sich mit der heute vielfach besprochenen
Frage: ob den verschiedenen Naturerscheinungen:
Licht, Wärme, Elektrizität usw. nicht ein und dieselbe Bewegungsform
im Äther zugrunde liege? Hertz hat nämlich
kürzlich gezeigt, daß die Verbreitung der elektrischen Wirkungen
im Raume denselben Gesetzen unterliegt wie die
Verbreitung der Lichtwirkungen. Daraus kann man schließen,
daß Wellen, wie sie der Träger des Lichtes sind, auch
der Elektrizität zugrunde liegen. Man hat ja auch bisher
schon angenommen, daß im Sonnenspektrum nur eine Art
von Wellenbewegung tätig ist, die sich, je nachdem sie auf
wärme-, licht- oder chemisch-empfindende Reagentien
fällt, Wärme-, Licht- oder chemische Wirkungen erzeugen.
Dies ist ja aber von vornherein klar. Wenn man untersucht,
was in dem Räumlich-Ausgedehnten vorgeht, während
die in Rede stehenden Entitäten vermittelt werden,
dann muß man auf eine einheitliche Bewegung kommen.
Denn ein Medium, in dem nur Bewegung möglich ist, muß
auf alles durch Bewegung reagieren. Es wird auch alle Vermittelungen,
die es übernehmen muß, durch Bewegung vollbringen.
Wenn ich dann die Formen dieser Bewegung untersuche,
dann erfahre ich nicht: was das Vermittelte ist,
sondern auf welche Weise es an mich gebracht wird. Es ist
einfach ein Unding, zu sagen: Wärme oder Licht seien Bewegung.
Bewegung ist nur die Reaktion der bewegungsfähigen
Materie auf das Licht.
Goethe selbst hat die Wellentheorie noch erlebt und in
ihr nichts gesehen, was mit seiner Überzeugung von dem
Wesen der Farbe nicht in Einklang zu bringen wäre.
Man muß sich nur von der Vorstellung losmachen, daß
Licht und Finsternis bei Goethe reale Wesenheiten sind,
sondern sie als bloße Prinzipien, geistige Entitäten ansehen;
dann wird man eine ganz andere Ansicht über seine Farbenlehre
gewinnen, als man sie gewöhnlich sich bildet. Wenn
man wie Newton unter dem Lichte nur eine Mischung aus
allen Farben versteht, dann verschwindet jeglicher Begriff
von dem konkreten Wesen «Licht». Dasselbe verflüchtigt
sich vollständig zu einer leeren Allgemeinvorstellung, der
in der Wirklichkeit nichts entspricht. Solche Abstraktionen
waren der Goetheschen Weltanschauung fremd. Für ihn
mußte eine jegliche Vorstellung konkreten Inhalt haben.
Nur hörte für ihn das «Konkrete» nicht beim «Physischen»
auf.
Für «Licht» hat die moderne Physik eigentlich gar keinen
Begriff. Sie kennt nur spezifizierte Lichter, Farben, die
in bestimmten Mischungen den Eindruck: Weiß hervorrufen.
Aber auch dieses «Weiß» darf nicht mit dem Lichte
an sich identifiziert werden. Weiß ist eigentlich auch nichts
weiter als eine Mischfarbe. Das «Licht» im Goetheschen
Sinne kennt die moderne Physik nicht; ebensowenig die
«Finsternis». Die Farbenlehre Goethes bewegt sich somit
in einem Gebiete, welches die Begriffsbestimmungen der
Physiker gar nicht berührt. Die Physik kennt einfach alle
die Grundbegriffe der Goetheschen Farbenlehre nicht. Sie
kann somit von ihrem Standpunkte aus diese Theorie gar
nicht beurteilen. Goethe beginnt eben da, wo die Physik
aufhört.
Es zeugt von einer ganz oberflächlichen Auffassung der
Sache, wenn man fortwährend von dem Verhältnis Goethes
zu Newton und zu der modernen Physik spricht und
dabei gar nicht daran denkt, daß damit auf zwei ganz verschiedene
Arten, die Welt anzusehen, gewiesen ist.
Wir sind der Überzeugung, daß derjenige, welcher unsere
Erörterungen über die Natur der Sinnesempfindungen
im richtigen Sinne erfaßt hat, gar keinen andern Eindruck
von der Goetheschen Farbenlehre gewinnen kann, als den
geschilderten. Wer freilich diese unsere grundlegenden
Theorien nicht zugibt, der bleibt auf dem Standpunkt der
physikalischen Optik stehen und damit lehnt er auch Goethes
Farbenlehre ab.*
XVII
GOETHE GEGEN DEN ATOMISMUS
1.
Es ist heute viel die Rede von der fruchtbaren Entwicklung
der Naturwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert.
Ich glaube, man kann mit Recht nur von bedeutungsvollen
naturwissenschaftlichen Erfahrungen sprechen, die
gemacht worden sind, und von einer Umgestaltung der
praktischen Lebensverhältnisse durch diese Erfahrungen.
Was aber die Grundvorstellungen betrifft, durch welche
die moderne Naturanschauung die Erfahrungswelt zu begreifen
sucht, so halte ich diese für ungesund und einem
energischen Denken gegenüber für unzulänglich. Ich habe
mich darüber bereits auf S. 258 ff. dieser Schrift ausgesprochen.
In jüngster Zeit hat nun ein namhafter Naturforscher
der Gegenwart, der Chemiker Wilhelm Ostwald
dieselbe Ansicht geäußert.102 Er sagt: «Vom Mathematiker
bis zum praktischen Arzt wird jeder naturwissenschaftlich
denkende Mensch auf die Frage, wie er sich die Welt <im
Innern> gestaltet denkt, seine Ansicht dahin zusammenfassen,
daß die Dinge sich aus bewegten Atomen zusammensetzen,
und daß diese Atome und die zwischen ihnen wirkenden
Kräfte die letzten Realitäten seien, aus denen die
einzelnen Erscheinungen bestehen. In hundertfältigen Wie-
102 «Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus»; Vortrag,
gehalten in der 3. allgemeinen Sitzung der Versammlung der Gesellschaft
Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Lübeck am 20. 9.1895;
Leipzig 1895. - Dies ist kurze Zeit, nachdem die betreffenden Äußerungen
Ostwalds gemacht worden sind, geschrieben.
derholungen kann man diesen Satz hören und lesen, daß
für die physikalische Welt kein anderes Verständnis gefunden
werden kann, als indem man sie auf <Mechanik
der Atome> zurückführt; Materie und Bewegung erscheinen
als die letzten Begriffe, auf welche die Mannigfaltigkeit
der Naturerscheinungen bezogen werden muß. Man
kann diese Auffassung den wissenschaftlichen Materialismus
nennen.» Ich habe in dieser Schrift S. 258 ff. gesagt,
daß die modernen physikalischen Grundanschauungen unhaltbar
sind. Dasselbe spricht Ostwald (S. 6. seines Vortrages)
mit folgenden Worten aus: «Daß diese mechanistische
Weltansicht den Zweck nicht erfüllt, für den sie ausgebildet
worden ist; daß sie mit unzweifelhaften und allgemein
bekannten und anerkannten Wahrheiten in Widerspruch
tritt.» Die Übereinstimmung der Ausführungen Ostwalds
und der meinigen geht noch weiter. Ich sage (S. 274 dieser
Schrift): «Das sinnenfällige Weltbild ist die Summe sich
metamorphosierender Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugrunde
liegende Materie.» Ostwald sagt (S. 12f.): «Wenn
wir uns aber überlegen, daß alles, was wir von einem bestimmten
Stoffe wissen, die Kenntnis seiner Eigenschaften
ist, so sehen wir, daß die Behauptung, es sei ein bestimmter
Stoff zwar noch vorhanden, hätte aber keine von seinen
Eigenschaften mehr, von einem reinen Nonsens nicht sehr
weit entfernt ist. Tatsächlich dient uns diese rein formelle
Annahme nur dazu, die allgemeinen Tatsachen der chemischen
Vorgänge, insbesondere die stöchiometrischen Massengesetze,
mit dem willkürlichen Begriffe einer an sich unveränderten
Materie zu vereinigen.» Und S. 256 dieser
Schrift ist zu lesen: «Diese Erwägungen sind es, die mich
dazu zwangen, jede Theorie der Natur, die prinzipiell über
das Gebiet der wahrgenommenen Welt hinausgeht, als unmöglich
abzulehnen und lediglich in der Sinnenwelt das
einzige Objekt der Naturwissenschaft zu suchen.» Das
Gleiche finde ich in Ostwalds Vortrag ausgesprochen auf
S. 25 und 22: «Was erfahren wir denn von der physischen
Welt? Offenbar nur das, was uns unsere Sinneswerkzeuge
davon zukommen lassen.» «Realitäten, aufweisbare und
meßbare Größen miteinander in bestimmte Beziehung zu
setzen, so daß, wenn die einen gegeben sind, die anderen
gefolgert werden können, das ist die Aufgabe der Wissenschaft
und sie kann nicht durch Unterlegung irgendeines
hypothetischen Bildes, sondern nur durch Nachweis gegenseitiger
Abhängigkeitsbeziehungen meßbarer Größen gelöst
werden.» Wenn man davon absieht, daß Ostwald im
Sinne eines Naturforschers der Gegenwart spricht, und deshalb
in der Sinnenwelt nichts als aufweisbare und meßbare
Größen sieht, so entspricht seine Ansicht vollständig der
meinigen, wie ich sie z. B. in dem Satze (S. 299) ausgesprochenhabe:
«Die Theorie muß sich auf das... Wahrnehmbare
erstrecken und innerhalb desselben die Zusammenhänge
suchen.»
Ich habe in meinen Ausführungen über Goethes Farbenlehre
den gleichen Kampf gegen die naturwissenschaftlichen
Grundvorstellungen der Gegenwart geführt wie
Prof. Ostwald in seinem Vortrage «Die Überwindung des
wissenschaftlichen Materialismus». Was ich an die Stelle
dieser Grundvorstellungen gesetzt habe, stimmt allerdings
nicht überein mit den Aufstellungen Ostwalds. Denn dieser
geht, wie ich weiter unten zeigen werde, von denselben
oberflächlichen Voraussetzungen aus wie seine Gegner, die
Anhänger des wissenschaftlichen Materialismus. Ich habe
auch ausgeführt, daß die Grundvorstellungen der modernen
Naturanschauung die Ursache der ungesunden Beurteilung
sind, die Goethes Farbenlehre erfahren hat und noch
fortwährend erfährt.
Ich möchte nun etwas genauer mich mit der modernen
Naturanschauung auseinandersetzen. Aus dem Ziel, das
sich diese Naturanschauung gesetzt hat, suche ich zu erkennen,
ob sie eine gesunde ist oder nicht.
Nicht mit Unrecht hat man die Grundformel, nach der
die moderne Naturanschauung die Welt der Wahrnehmungen
beurteilt, in den Worten des Descartes gesehen: «Ich
finde, wenn ich die körperlichen Dinge näher prüfe, daß
darin sehr wenig enthalten ist, was ich klar und deutlich
einsehe, nämlich die Größe, oder die Ausdehnung in Länge,
Tiefe, Breite, die Gestalt, die von der Endigung dieser Ausdehnung
herrührt, die Lage, welche die verschieden gestalteten
Körper unter sich haben, und die Bewegung oder
Änderung dieser Lage, welchen man die Substanz, die
Dauer und Zahl hinzufügen kann. Was die übrigen Sachen
betrifft, wie das Licht, die Farben, die Töne, Gerüche, Geschmacksempfindungen,
Wärme, Kälte und die sonstigen,
dem Tastsinn spürbaren Qualitäten (Glätte, Rauheit), so
treten sie in meinem Geiste mit solcher Dunkelheit und
Verworrenheit auf, daß ich nicht weiß, ob sie wahr oder
falsch sind, d. h. ob die Ideen, die ich von diesen Gegenständen
fasse, in der Tat die Ideen von irgendwelchen reellen
Dingen sind, oder ob sie nur chimärische Wesen vorstellen,
die nicht existieren können.» Im Sinne dieses Descartesschen
Satzes zu denken, ist den Bekennern der modernen
Naturanschauung in einem solchen Grade zur Gewohnheit
geworden, daß sie jede andere Denkweise kaum
der Beachtung wert finden. Sie sagen: Was als Licht wahrgenommen
wird, wird durch einen Bewegungsvorgang bewirkt,
der durch eine mathematische Formel ausgedrückt
werden kann. Wenn eine Farbe in der Erscheinungswelt auftritt,
führen sie diese zurück auf eine schwingende Bewegung
und berechnen die Zahl der Schwingungen in einer
bestimmten Zeit. Sie glauben, die ganze Sinnenwelt werde
erklärt sein, wenn gelungen sein wird, alle Wahrnehmungen
auf Verhältnisse zurückzuführen, die in solchen mathematischen
Formeln sich aussprechen lassen. Ein Geist, der
eine solche Erklärung geben könnte, hätte nach Ansicht
dieser Naturgelehrten das Äußerste erreicht, was dem Menschen
in bezug auf Erkenntnis der Naturerscheinungen
möglich ist. Du Bois-Reymond, ein Repräsentant dieser Gelehrten,
sagt von einem solchen Geiste: Ihm «wären die
Haare auf unserem Haupte gezählt, und ohne sein Wissen
fiele kein Sperling zur Erde». («Über die Grenzen des Naturerkennens
», [5. Aufl., Leipzig 1882] S. 13.) Die Welt
zu einem Rechenexempel zu machen, ist das Ideal der modernen
Naturanschauung.
Da ohne das Vorhandensein von Kräften die Teile der
angenommenen Materie niemals in Bewegung geraten würden,
so nehmen die modernen Naturgelehrten auch die
Kraft unter die Elemente auf, aus denen sie die Welt erklären,
und Du Bois-Reymond sagt: «Naturerkennen... ist
Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf
Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit
unabhängige Zentralkräfte bewirkt werden, oder Auflösung
der Naturvorgänge in Mechanik der Atome.» [a. a.
O., S. 10] Durch die Einführung des Kraftbegriffs geht die
Mathematik in die Mechanik über.
Die Philosophen von heute103 stehen so sehr unter dem
Einfluß der Naturgelehrten, daß sie allen Mut zu selbständigem
Denken verloren haben. Sie nehmen die Aufstellungen
der Naturgelehrten rückhaltlos an. Einer der angesehensten
deutschen Philosophen, W. Wundt1 sagt in seiner
«Logik» («Logik. [Eine Untersuchung der Prinzipien der
Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung]
», IL Bd. [Methodenlehre], 1. Abt., [2. Aufl., Stuttgart
1894], S. 266): «Mit Rücksicht... und in Anwendung
des Grundsatzes, daß wegen der qualitativen Unveränderlichkeit
der Materie alle Naturvorgänge in letzter Instanz
Bewegungen sind, betrachtet man als das Ziel der Physik
ihre vollständige Überführung in . . . angewandte Mechanik.
»
Du Bois-Reymond findet: «Es ist eine psychologische
Erfahrungstatsache, daß, wo solche Auflösung (der Naturvorgänge
in Mechanik der Atome) gelingt, unser Kausalitätsbedürfnis
vorläufig sich befriedigt fühlt.» [a. a. O., S.
10] Das mag für Du Bois-Reymond eine Erfahrungstatsache
sein. Aber es muß gesagt werden, daß es noch andere
Menschen gibt, die sich durch eine banale Erklärung der
Körperwelt - wie Du Bois-Reymond sie im Auge hat -
durchaus nicht befriedigt fühlen.
Zu diesen anderen Menschen gehört Goethe. Wessen
Kausalitätsbedürfnis befriedigt ist, wenn es ihm gelungen
ist, die Naturvorgänge auf Mechanik der Atome zurückzuführen,
dem fehlt das Organ, um Goethe zu verstehen.
103 Dies ist im Beginne der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
geschrieben. Was darüber heute zu sagen ist, darüber* [vgl. Anm.
S.21].
2.
Größe, Gestalt, Lage, Bewegung, Kraft usw. sind genau
in demselben Sinne Wahrnehmungen wie Licht, Farben,
Töne, Gerüche, Geschmacksempfindungen, Wärme, Kälte
usw. Wer die Größe eines Dinges von seinen übrigen Eigenschaften
absondert und für sich betrachtet, der hat es nicht
mehr mit einem wirklichen Dinge, sondern mit einer Abstraktion
des Verstandes zu tun. Es ist das Widersinnigste,
das sich denken läßt, einem von der sinnlichen Wahrnehmung
abgezogenen Abstraktum einen andern Grad von
Realität zuzuschreiben als einem Dinge der sinnlichen
Wahrnehmung selbst. Die Raum- und Zahlverhältnisse haben
von den übrigen Sinneswahrnehmungen nichts voraus
als ihre größere Einfachheit und leichtere Oberschaubarkeit.
Auf dieser Einfachheit und Überschaubarkeit beruht
die Sicherheit der mathematischen Wissenschaften.
Wenn die moderne Naturanschauung alle Vorgänge der
Körperwelt auf mathematisch und mechanisch Ausdrückbares
zurückführt, so beruht dies darauf, daß das Mathematische
und Mechanische für unser Denken leicht und
bequem zu handhaben ist. Und das menschliche Denken
neigt zur Bequemlichkeit. Man kann das gerade an Ostwalds
oben erwähntem Vortrage sehen. Dieser Naturgelehrte
will an Stelle von Materie und Kraft die Energie
setzen. Man höre: «Welches ist die Bedingung, damit eines
unserer (Sinnes-) Werkzeuge sich betätigt? Wir mögen die
Sache wenden, wie wir wollen, wir finden nichts Gemeinsames,
als das: Die Sinneswerkzeuge reagieren auf Energieunterschiede
zwischen ihnen und der Umgehung. In einer
Welt, deren Temperatur überall die unseres Körpers
wäre, würden wir auf keine Weise etwas von der Wärme erfahren
können, ebenso wie wir keinerlei Empfindung von
dem konstanten Atmosphärendrucke haben, unter dem
wir leben; erst wenn wir Räume anderen Druckes herstellen,
gelangen wir zu seiner Kenntnis.» (S. 25 f. des Vortrags.)
Und weiter (S. 29): «Denken Sie sich, Sie bekämen einen
Schlag mit einem Stocke! Was fühlen Sie dann, den Stock
oder seine Energie? Die Antwort kann nur eine sein: die
Energie. Denn der Stock ist das harmloseste Ding von der
Welt, solange er nicht geschwungen wird. Aber wir können
uns auch an einem ruhenden Stocke stoßen! Ganz richtig:
was wir empfinden, sind, wie schon betont, Unterschiede
der Energiezustände gegen unsere Sinnesapparate, und daher
ist es gleichgültig, ob sich der Stock gegen uns oder
wir uns gegen den Stock bewegen. Haben aber beide gleiche
und gleichgerichtete Geschwindigkeit, so existiert der Stock
für unser Gefühl nicht mehr, denn er kann nicht mit uns
in Berührung kommen und einen Energieaustausch bewerkstelligen.
» Diese Auslassungen beweisen, daß Ostwald die
Energie aus dem Gebiete der Wahrnehmungswelt aussondert,
d. h. von allem, was nicht Energie ist, abstrahiert. Er
führt alles Wahrnehmbare auf eine einzige Eigenschaft des
Wahrnehmbaren, auf die Äußerung von Energie, also auf
einen abstrakten Begriff zurück. Die Befangenheit Ostwalds
in den naturwissenschaftlichen Gewohnheiten der
Gegenwart ist deutlich erkennbar. Auch er könnte, wenn
er gefragt würde, zur Rechtfertigung seines Verfahrens
nichts anführen, als daß es für ihn eine psychologische Erfahrungstatsache
ist, daß sein Kausalitätsbedürfnis befriedigt
ist, wenn er die Naturvorgänge in Äußerungen der
Energie aufgelöst hat. Es ist im Wesen gleichgültig: ob Du
Bois-Reymond die Naturvorgänge in Mechanik der Atome,
oder Ostwald in Energieäußerungen auflöst. Beides entspringt
der Neigung des menschlichen Denkens zur Bequemlichkeit.
Ostwald sagt am Schlusse seines Vortrags (S. 34): «Ist
die Energie, so notwendig und nützlich sie auch zum Verständnis
der Natur ist, auch zureichend für diesen Zweck
(nämlich die Erklärung der Körperwelt)? Oder gibt es Erscheinungen,
welche durch die bisher bekannten Gesetze
der Energie nicht vollständig dargestellt werden können?
. . . Ich glaube der Verantwortlichkeit, die ich heute
durch meine Darlegung Ihnen gegenüber eingenommen
habe, nicht besser gerecht werden zu können, als wenn ich
hervorhebe, daß diese Frage mit Nein zu beantworten ist.
So immens die Vorzüge sind, welche die energetische Weltauffassung
vor der mechanistischen oder materialistischen
hat, so lassen sich schon jetzt, wie mir scheint, einige Punkte
bezeichnen, welche durch die bekannten Hauptsätze der
Energetik nicht gedeckt werden, und welche daher auf das
Vorhandensein von Prinzipien hinweisen, die über diese hinausgehen.
Die Energetik wird neben diesen neuen Sätzen
bestehen bleiben. Nur wird sie künftig nicht, wie wir sie
noch heute ansehen müssen, das umfassendste Prinzip für
die Bewältigung der natürlichen Erscheinungen sein, sondern
wird voraussichtlich als ein besonderer Fall noch allgemeinerer
Verhältnisse erscheinen, von deren Form wir
zurzeit allerdings kaum eine Ahnung haben.»
3.
Würden unsere Naturgelehrten auch Schriften von Leuten
lesen, die außerhalb ihrer Gilde stehen, so hätte Prof.
Ostwald eine Bemerkung wie diese nicht machen können.
Denn ich habe bereits 1891, in der erwähnten Einleitung
der Goetheschen Farbenlehre, ausgesprochen, daß wir von
solchen «Formen» allerdings eine Ahnung und mehr als
eine solche haben können, und daß in dem Ausbau der
naturwissenschaftlichen Grundvorstellungen Goethes die
Aufgabe der Naturwissenschaft der Zukunft liegt.
So wenig wie die Vorgänge der Körperwelt sich in Mechanik
der Atome, so wenig lassen sie sich in Energieverhältnisse
«auflösen». Durch ein solches Verfahren wird
nichts weiter erreicht, als daß die Aufmerksamkeit von
dem Inhalt der wirklichen Sinnenwelt abgelenkt, und einem
unwirklichen Abstraktum zugewendet wird, dessen
ärmlicher Fond von Eigenschaften doch auch nur aus derselben
Sinnenwelt entnommen ist. Man kann nicht die eine
Gruppe von Eigenschaften der Sinnenwelt: Licht, Farben,
Töne, Gerüche, Geschmäcke, Wärmeverhältnisse usw. dadurch
erklären, daß man sie «auflöst» in die andere Gruppe
von Eigenschaften derselben Sinnenwelt: Größe, Gestalt,
Lage, Zahl, Energie usw. Nicht «Auflösung» der einen
Art von Eigenschaften in die andere kann Aufgabe der
Naturwissenschaft sein, sondern Aufsuchung von Beziehungen
und Verhältnissen zwischen den wahrnehmbaren
Eigenschaften der Sinnenwelt. Wir entdecken dann gewisse
Bedingungen, unter denen eine Sinneswahrnehmung die andere
notwendig nach sich zieht. Wir finden, daß zwischen
gewissen Erscheinungen ein intimerer Zusammenhang besteht
als zwischen anderen. Wir verknüpfen die Erscheinungen
dann nicht mehr in der Weise, wie sie sich der zufälligen
Beobachtung darbieten. Denn wir erkennen, daß
gewisse Zusammenhänge von Erscheinungen notwendig
sind. Ihnen gegenüber sind andere Zusammenhänge zufällig.
Notwendige Zusammenhänge von Erscheinungen
nennt Goethe Urphänomene.
Der Ausdruck eines Urphänomens besteht immer darin,
daß man von einer bestimmten sinnlichen Wahrnehmung
sagt, sie rufe notwendig eine andere hervor. Dieser Ausdruck
ist das, was man ein Naturgesetz nennt. Wenn man
sagt: «Durch Erwärmung wird ein Körper ausgedehnt», so
hat man einen notwendigen Zusammenhang von Erscheinungen
der Sinnenwelt (Wärme, Ausdehnung) zum Ausdrucke
gebracht. Man hat ein Urphänomen erkannt und es
in Form eines Naturgesetzes ausgesprochen. Die Urphänomene
sind die von Ostwald gesuchten Formen für die allgemeinsten
Verhältnisse der unorganischen Natur.
Die Gesetze der Mathematik und Mechanik sind ebenso
nur Ausdrücke von Urphänomenen wie die Gesetze, die
andere sinnliche Zusammenhänge in eine Formel bringen.
Wenn G. Kirchhoff sagt: Die Aufgabe der Mechanik ist:
«Die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig
und auf die einfachste Weise zu beschreiben», so irrt er.
Die Mechanik beschreibt die in der Natur vor sich gehenden
Bewegungen nicht bloß auf die einfachste Weise und
vollständig, sondern sie sucht gewisse notwendige Bewegungsvorgänge
auf, die sie aus der Summe der in der Natur
vor sich gehenden Bewegungen heraushebt, und spricht
diese notwendigen Bewegungsvorgänge als mechanische
Grundgesetze aus. Es muß als ein Gipfel der Gedankenlosigkeit
bezeichnet werden, daß der Kirchhoffsche Satz
immer und immer wieder als etwas besonders Bedeutendes
angeführt wird, ohne Gefühl davon, daß die Aufstellung
des einfachsten Grundgesetzes der Mechanik ihn widerlegt.
Das Urphänomen stellt einen notwendigen Zusammenhang
von Elementen der Wahrnehmungswelt dar. Es kann
deshalb kaum etwas Unzutreffenderes gesagt werden, als
was H. Helmholtz in seiner Rede auf der Weimar er Goethe-
Versammlung vom 11. Juni 1892 vorgebracht hat: «Es ist
zu bedauern, daß Goethe zu jener Zeit die von Huyghens
schon aufgestellte Undulationstheorie des Lichtes nicht gekannt
hat; diese würde ihm ein viel richtigeres und anschaulicheres
<Urphänomen> an die Hand gegeben haben,
als der dazu kaum geeignete und sehr verwickelte Vorgang,
den er sich in den Farben trüber Medien zu diesem Ende
wählte.»104
Also die unwahrnehmbaren Undulationsbewegungen,
die zu den Lichterscheinungen von den Bekennern der modernen
Naturanschauung hinzugedacht werden, sollen
Goethe ein viel richtigeres und anschaulicheres «Urphänomen
» an die Hand gegeben haben, als der keineswegs verwickelte,
sondern sich vor unseren Augen abspielende Prozeß,
der darin besteht, daß Licht durch ein trübes Mittel
gesehen gelb, Finsternis durch ein erhelltes Mittel gesehen
blau erscheint. Die «Auflösung» der sinnlich wahrnehmbaren
Vorgänge in unwahrnehmbare mechanische Bewegungen
ist den modernen Physikern so sehr zur Gewohnheit
geworden, daß sie gar keine Ahnung davon zu haben
104 H. L. F. v. Helmholtz, Goethes Vorahnungen kommender wissenschaftlicher
Ideen usw.; Berlin 1892, S. 34.
scheinen, daß sie ein Abstraktum an die Stelle der Wirklichkeit
setzen. Aussprüche wie den Helmholtzschen wird
man erst tun dürfen, wenn alle Sätze Goethes von der Art
des folgenden aus der Welt geschafft sein werden: «Das
Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon
Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das
Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter
den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.» [«Sprüche in
Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 376] Goethe bleibt
innerhalb der Erscheinungswelt stehen; die modernen Physiker
lesen einige Fetzen aus der Erscheinungswelt auf und
versetzen diese hinter die Phänomene, um dann von diesen
hypothetischen Realitäten die Phänomene der wirklich
wahrnehmbaren Erfahrung abzuleiten.*
4.
Einzelne jüngere Physiker behaupten, sie legen dem Begriffe
der bewegten Materie keinen über die Erfahrung
hinausgehenden Sinn bei. Einer von ihnen, der das merkwürdige
Kunststück zustande bringt, Anhänger der mechanischen
Naturlehre und der indischen Mystik zugleich
zu sein. Anton Lampa (vgl. dessen «Nächte des Suchenden
», Braunschweig 1893) bemerkt gegen die Ausführungen
Ostwalds, daß dieser «einen Kampf führe, wie weiland
der tapfere Manchaner gegen die Windmühlen. Wo ist
denn der Riese des wissenschaftlichen (Ostwald meint naturwissenschaftlichen)
Materialismus? Den gibt es ja gar
nicht. Es hat einmal einen sogenannten naturwissenschaftlichen
Materialismus der Herren Büchner, Vogt und Moleschott
gegeben, ja gibt ihn noch, in der Naturwissenschaft
selbst aber existiert er nicht, in der Naturwissenschaft war
er auch nie zu Hause. Das hat Ostwald übersehen, sonst
wäre er bloß gegen die mechanische Auffassungsweise zu
Felde gezogen, was er zufolge seines Mißverständnisses nur
nebenbei tut, was er aber ohne dieses Mißverständnis wahrscheinlich
überhaupt nicht getan hätte. Kann man denn
glauben, daß eine Naturforschung, welche die Bahnen wandelt,
die Kirchhoff eingeschlagen, den Begriff der Materie
in einem solchen Sinne fassen kann, wie der Materialismus
es getan? Das ist unmöglich, das ist ein offen zutage liegender
Widerspruch. Der Begriff der Materie kann, gleich
wie jener der Kraft, bloß einen durch die Forderung nach
einer möglichst einfachen Beschreibung präzisierten, d. h.
kantisch ausgedrückt, bloß empirischen Sinn haben. Und
wenn irgendein Naturforscher mit dem Worte Materie einen
darüber hinausliegenden Sinn verbindet, so tut er das
nicht als Naturforscher, sondern als materialistischer Philosoph.
» («Die Zeit», Wien, Nr. 61 vom 30. Nov. 1895).
Lampa muß, nach diesen Worten, als Typus des normalen
Naturforschers der Gegenwart bezeichnet werden. Dieser
wendet die mechanische Naturerklärung an, weil sie
bequem zu handhaben ist. Er vermeidet es aber, über den
wahren Charakter dieser Naturerklärung nachzudenken,
weil er sich vor der Verwickelung in Widersprüche fürchtet,
denen sein Denken sich nicht gewachsen fühlt.
Wie kann jemand, der klares Denken liebt, mit dem Begriffe
der Materie einen Sinn verbinden, ohne über die Erfahrungswelt
hinauszugehen? In der Erfahrungswelt sind
Körper von bestimmter Größe und Lage, es sind Bewegungen
und Kräfte, ferner die Phänomene des Lichtes, der Farben,
der Wärme, der Elektrizität, des Lebens usw. vorhanden.
Darüber, daß die Größe, die Wärme, die Farbe usw.
an einer Materie haften, sagt die Erfahrung nichts aus.
Aufzufinden ist die Materie innerhalb der Erfahrungswelt
nirgends. Wer Materie denken will, der muß sie zu der Erfahrung
hinzudenken.
Ein solches Hinzudenken der Materie zu den Erscheinungen
der Erfahrungswelt ist in den physikalischen und
physiologischen Erwägungen zu bemerken, die in der modernen
Naturlehre unter dem Einflüsse Kants und Johannes
Müllers heimisch geworden sind. Diese Erwägungen
haben zu dem Glauben geführt, daß die äußeren Vorgänge,
die den Schall im Ohre, das Licht im Auge, die Wärme im
Organe des Wärmesinnes usw. entstehen lassen, nichts gemein
haben mit der Schallempfindung, der Licht- und Wärmeempfindung
usw. Diese äußeren Vorgänge sollen vielmehr
gewisse Bewegungen der Materie sein. Der Naturforscher
untersucht dann, welche Art von äußeren Bewegungsvorgängen
in der menschlichen Seele Schall, Licht, Farbe
usw. entstehen lassen. Er kommt zu dem Schlusse, daß sich
außerhalb des menschlichen Organismus nirgends im ganzen
Weltenraum Rot, Gelb oder Blau finde, sondern daß
es nur eine wellenförmige Bewegung einer feinen, elastischen
Materie, des Äthers, gebe, die, wenn sie durch das
Auge empfunden wird, sich als Rot, Gelb oder Blau darstellt.
Wenn kein empfindendes Auge vorhanden wäre, so
wäre auch keine Farbe, sondern nur bewegter Äther vorhanden,
meint der moderne Naturlehrer. Der Äther sei
das Objektive, die Farbe bloß etwas Subjektives, im menschlichen
Körper Gebildetes. Der Leipziger Professor Wundt,
den man zuweilen als einen der größten Philosophen der
Gegenwart preisen hört, sagt deshalb von der Materie, sie
sei ein Substrat, «das uns niemals selbst, sondern immer nur
in seinen Wirkungen anschaulich wird.» Und er findet, daß
«eine widerspruchslose Erklärung der Erscheinungen erst
gelingt», wenn man ein solches Substrat annimmt (Logik,
IL Bd., [1. Abt., 2. Aufl.,] S. 445). Der Descartessche Wahn
von deutlichen und verworrenen Vorstellungen ist zur
grundlegenden Vorstellungsart der Physik geworden.*
5.
Wessen Vorstellungsvermögen durch Descartes, Locke,
Kant und die moderne Physiologie nicht vom Grund aus
verdorben ist, der wird niemals begreifen, wie man Licht,
Farbe, Ton, Wärme usw. bloß für subjektive Zustände
des menschlichen Organismus ansehen und dennoch das
Vorhandensein einer objektiven Welt von Vorgängen
außerhalb des Organismus behaupten kann. Wer den
menschlichen Organismus zum Erzeuger der Ton-, Wärme-,
Farben- usw. -Geschehnisse macht, der muß ihn auch
zum Hervorbringer der Ausdehnung, Größe, Lage, Bewegung,
der Kräfte usw. machen. Denn diese mathematischen
und mechanischen Qualitäten sind in Wirklichkeit mit dem
übrigen Inhalte der Erfahrungswelt untrennbar verbunden.
Die Abtrennung der Raum-, Zahl- und Bewegungsverhältnisse,
sowie der Kraftäußerungen von den Wärme-,
Ton-, Farben- und den anderen Sinnesqualitäten ist nur
eine Funktion des abstrahierenden Denkens. Die Gesetze
der Mathematik und Mechanik beziehen sich auf abstrakte
Gegenstände und Vorgänge, die von der Erfahrungswelt
abgezogen sind, und können daher auch nur innerhalb der
Erfahrungswelt Anwendung finden. Werden aber auch die
mathematischen und mechanischen Formen und Verhältnisse
für bloß subjektive Zustände erklärt, dann bleibt
nichts übrig, was dem Begriffe von objektiven Dingen und
Ereignissen als Inhalt dienen könnte. Und aus einem leeren
Begriffe können keine Erscheinungen abgeleitet werden.
So lange die modernen Naturgelehrten und ihre Schleppträger,
die modernen Philosophen, daran festhalten, daß
die Sinneswahrnehmungen nur subjektive Zustände sind,
die durch objektive Vorgänge hervorgerufen werden, wird
ein gesundes Denken ihnen stets entgegenhalten, daß sie
entweder mit leeren Begriffen spielen, oder dem Objektiven
einen Inhalt zuschreiben, den sie aus der für subjektiv
erklärten Erfahrungswelt entlehnen. Ich habe in einer
Reihe von Schriften das Widersinnige der Behauptung von
der Subjektivität der Sinnesempfindungen nachgewiesen.105
Doch ich will davon absehen, ob den Bewegungsvorgängen
und den sie hervorrufenden Kräften, auf die die
neuere Physik alle Naturerscheinungen zurückführt, eine
andere Realitätsform zugeschrieben wird als den Sinneswahrnehmungen,
oder ob das nicht der Fall ist. Ich will jetzt
bloß fragen, was die mathematisch-mechanische Naturanschauung
leisten kann. Anton Lampa meint («Nächte des
Suchenden», S. 92): «Mathematische Methode und Mathematik
sind nicht identisch, denn die mathematische Me-
105 «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung
mit besonderer Rücksicht auf Schiller» (1886), Gesamtausgabe
Dornach 1960; «Wahrheit und Wissenschaft- Vorspiel einer Philosophie
der Freiheit)» (1892), Gesamtausgabe Dornach 1958; «Philosophie
der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung»
(1894), Gesamtausgabe Dornach 1972.
thode ist durchführbar ohne Anwendung von Mathematik.
Einen klassischen Beleg für diese Tatsache bieten uns innerhalb
der Physik die Experimentaluntersuchungen über
Elektrizität von Faraday, der kaum ein Binom zu quadrieren
verstand. Die Mathematik ist ja nichts als ein Mittel,
logische Operationen abzukürzen und daher in so verwickelten
Fällen noch durchzuführen, wo uns das gewöhnliche
logische Denken im Stich lassen würde. Aber sie leistet
gleichzeitig noch viel mehr: indem jede Formel implicite
ihren Werdeprozeß ausdrückt, schlägt sie eine lebendige
Brücke bis zu den elementaren Erscheinungen, welche als
Ausgangspunkt der Untersuchung gedient hatten. Die Methode
aber, welche sich der Mathematik nicht bedienen
kann - was immer der Fall ist, wenn die in die Untersuchung
eingehenden Größen nicht meßbar sind — hat daher,
um der mathematischen gleich zu kommen, nicht nur
streng logisch zu sein, sondern auch dem Geschäft der Zurückführung
auf die Grunderscheinungen eine besondere
Sorgfalt zuzuwenden, da sie der mathematischen Stütze
entbehrend gerade hier leicht straucheln kann; wenn sie
aber dieses leistet, wird sie wohl mit Recht auf den Titel
einer mathematischen Anspruch erheben, insofern damit
der Grad der Exaktheit ausgedrückt werden soll.»
Ich würde mich mit Anton Lampa nicht so ausführlich
beschäftigen, wenn er nicht durch einen Umstand ein
besonders geeignetes Beispiel eines Naturforschers der Gegenwart
wäre. Er befriedigt seine philosophischen Bedürfnisse
aus der indischen Mystik und verunreinigt deshalb
die mechanische Naturanschauung nicht wie andere mit
allerlei philosophischen Nebenvorstellungen. Die Naturlehre,
die er im Auge hat, ist sozusagen die chemisch reine
Naturansicht der Gegenwart. Ich finde, daß Lampa ein
Hauptkennzeichen der Mathematik gänzlich unberücksichtigt
gelassen hat. Wohl schlägt jede mathematische Formel
eine «lebendige Brücke» bis zu den elementaren Erscheinungen,
welche als Ausgangspunkt der Untersuchungen
gedient haben. Aber diese elementaren Erscheinungen
sind von derselben Art wie die nichtelementaren,
von denen aus die Brücke geschlagen wird. Der Mathematiker
führt die Eigenschaften komplizierter Zahl- und
Raumgebilde, sowie deren wechselseitige Beziehungen auf
die Eigenschaften und Beziehungen der einfachsten Zahlund
Raumgebilde zurück. Ebenso macht es der Mechaniker
in seinem Gebiete. Er führt zusammengesetzte Bewegungsvorgänge
und Kräftewirkungen auf einfache, leicht überschaubare
Bewegungen und Kräftewirkungen zurück. Dabei
bedient er sich der mathematischen Gesetze, insofern
Bewegungen und Kraftäußerungen durch Raumgebilde
und Zahlen ausdrückbar sind. In einer mathematischen
Formel, die ein mechanisches Gesetz zum Ausdruck bringt,
bedeuten die einzelnen Glieder nicht mehr rein mathematische
Gebilde, sondern Kräfte und Bewegungen. Die Verhältnisse,
in denen diese Glieder zueinander stehen, werden
nicht durch eine rein mathematische Gesetzmäßigkeit
bestimmt, sondern durch die Eigenschaften der Kräfte und
Bewegungen. Sobald man von diesem besonderen Inhalte
der mechanischen Formeln absieht, hat man es nicht mehr
mit mechanischer, sondern lediglich mit mathematischer
Gesetzlichkeit zu tun. Wie die Mechanik zur reinen Mathematik,
verhält sich die Physik zur Mechanik. Die Aufgabe
des Physikers ist, komplizierte Vorgänge auf dem Gebiete
der Farben-, Ton-, Wärmeerscheinungen, der Elektrizität,
des Magnetismus usw. auf einfache Geschehnisse innerhalb
der gleichen Sphäre zurückzuführen. Er hat z. B.
komplizierte Farbenvorkommnisse auf die einfachsten Farbenvorkommnisse
zurückzuführen. Dabei hat er sich der
mathematischen und mechanischen Gesetzlichkeit zu bedienen,
insofern die Farbenvorgänge in räumlich und zahlenmäßig
zu bestimmenden Formen sich abspielen. Nicht
die Zurückführung der Farben-, Ton- usw. -Vorgänge auf
Bewegungserscheinungen und Kräfteverhältnisse innerhalb
einer farb- und tonlosen Materie, sondern die Aufsuchung
der Zusammenhänge innerhalb der Farben-, Tonusw.
-Erscheinungen entspricht auf physikalischem Gebiete
der mathematischen Methode.
Die moderne Physik überspringt die Ton-, Farben- usw.
Erscheinungen als solche und betrachtet nur unveränderliche,
anziehende und abstoßende Kräfte und Bewegungen
im Raume. Unter dem Einflüsse dieser Vorstellungsart ist
die Physik heute bereits angewandte Mathematik und Mechanik
geworden, und die übrigen Gebiete der Naturwissenschaft
sind auf dem Wege, das Gleiche zu werden.*
Es ist unmöglich, eine «lebendige Brücke» zu schlagen
von der Tatsache: An diesem Orte des Raumes herrscht ein
bestimmter Bewegungsvorgang der farblosen Materie, -
und der andern Tatsache: Der Mensch sieht an diesem Orte
Rot. Aus Bewegung kann nur wieder Bewegung abgeleitet
werden. Und aus der Tatsache, daß eine Bewegung auf ein
Sinnesorgan und dadurch auf das Gehirn wirkt, folgt -
nach mathematischer und mechanischer Methode - nur,
daß das Gehirn von der Außenwelt zu gewissen Bewegungsvorgängen
veranlaßt wird, nicht aber, daß es die konkreten
Töne, Farben, Wärmeerscheinungen usw. wahrnimmt.
Dies hat auch Du Bois-Reymond erkannt. Man lese
S. 35f. seiner «Grenzen des Naturerkennens» (5. Aufl.):
«Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten
Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits,
andererseits den für mich ursprünglichen, nicht
weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen:
ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke Süßes, rieche
Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot» . . . Und S. 34: «Bewegung
kann nur Bewegung erzeugen.» Du Bois-Reymond
ist deshalb der Meinung, daß hiermit eine Grenze des Naturerkennens
zu verzeichnen ist.
Der Grund, warum man die Tatsache: «ich sehe Rot»
nicht aus einem bestimmten Bewegungsvorgang herleiten
kann, ist, meiner Ansicht nach, leicht anzugeben. Die Qualität
«Rot» und ein bestimmter Bewegungsvorgang sind in
Wirklichkeit eine untrennbare Einheit. Die Trennung der
beiden Geschehnisse kann nur eine begriffliche, im Verstande
vollzogene sein. Der dem «Rot» entsprechende Bewegungsvorgang
hat an sich keine Wirklichkeit; er ist ein
Abstraktum. Die Tatsache: «ich sehe Rot» aus einem Bewegungsvorgang
herleiten zu wollen, ist genau so absurd,
wie die Ableitung der wirklichen Eigenschaften eines in
Würfelform kristallisierten Steinsalzkörpers aus dem mathematischen
Würfel. Nicht weil eine Grenze des Erkennens
uns hindert, können wir aus Bewegungen keine anderen
Sinnesqualitäten ableiten, sondern weil eine derartige
Forderung keinen Sinn hat.
6.
Das Streben, die Farben, Töne, Wärmeerscheinungen usw.
als solche zu überspringen und nur die ihnen entsprechenden
mechanischen Vorgänge zu betrachten, kann nur aus
dem Glauben entspringen, daß den einfachen Gesetzen der
Mathematik und Mechanik ein höherer Grad von Begreiflichkeit
entspricht, als den Eigenschaften und wechselseitigen
Beziehungen der übrigen Gebilde der Wahrnehmungswelt.
Dies ist aber durchaus nicht der Fall. Die einfachsten
Eigenschaften und Verhältnisse der Raum- und
Zahlgebilde werden ohne weiteres begreiflich genannt, weil
sie sich leicht und vollkommen überschauen lassen. Zurückführung
auf einfache, beim unmittelbaren Innewerden
einleuchtende Tatbestände ist alles mathematische und mechanische
Begreifen. Der Satz, daß zwei Größen, die einer
dritten gleich sind, auch einander gleich sein müssen, wird
durch unmittelbares Innewerden des Tatbestandes, den er
ausdrückt, erkannt. In dem gleichen Sinne werden auch die
einfachen Vorkommnisse der Ton- und Farbenwelt und der
übrigen Sinneswahrnehmungen durch unmittelbare Anschauung
erkannt.
Nur weil sie durch das Vorurteil verführt sind, daß ein
einfaches mathematisches oder mechanisches Faktum begreiflicher
ist, als ein elementares Vorkommnis der Tonoder
Farbenerscheinung als solches, schalten die modernen
Physiker das Spezifische des Tones oder der Farbe aus den
Erscheinungen aus und betrachten nur die Bewegungsvorgänge,
die den Sinneswahrnehmungen entsprechen. Und
weil sie Bewegungen nicht denken können ohne etwas, das
sich bewegt, nehmen sie die aller sinnenfälligen Eigenschaften
entkleidete Materie als Träger der Bewegungen an.
Wer in diesem Vorurteil der Physiker nicht befangen ist,
der muß einsehen, daß die Bewegungsvorgänge Zustände
sind, die an die sinnenfälligen Qualitäten gebunden sind.
Der Inhalt der wellenförmigen Bewegungen, die den Tonvorkommnissen
entsprechen, sind die Tonqualitäten selbst.
Das gleiche gilt für die übrigen Sinnesqualitäten. Durch unmittelbares
Innewerden erkennen wir den Inhalt der oszillierenden
Bewegungen der Erscheinungswelt, nicht durch
Hinzudenken einer abstrakten Materie zu den Erscheinungen.
7.
Ich weiß, daß ich mit diesen Ansichten etwas ausspreche,
was den Physiker-Ohren der Gegenwart ganz unmöglich
klingt. Ich kann mich aber nicht auf den Standpunkt
Wundts stellen, der in seiner «Logik» (IL Bd., 1. Abt. [2.
Aufl. 1894]) die Denkgewohnheiten der modernen Naturforscher
für bindende logische Normen ausgibt. Die Gedankenlosigkeit,
der er sich dabei schuldig macht, wird besonders
an der Stelle klar, wo er den Versuch Ostwalds bespricht,
an die Stelle der bewegten Materie die in oszillierender
Bewegung befindliche Energie zu setzen. Wundt
bringt folgendes vor: «Es ergibt sich . .. aus der Existenz
der Interferenzerscheinungen die Notwendigkeit der Voraussetzung
irgendeiner oszillierenden Bewegung. Da aber
eine Bewegung ohne ein Substrat, das sich bewegt, undenkbar
ist, so ist damit auch die Ableitung der Lichterscheinungen
aus einem mechanischen Vorgang ein unumgängliches
Erfordernis. Allerdings hat Ostwald der letzteren
Annahme zu entgehen gesucht, indem er die <strahlende
Energie> nicht auf die Schwingungen eines materiellen Mediums
zurückführt, sondern als eine in oszillierender Bewegung
befindliche Energie definiert. Gerade dieser aus einem
anschaulichen und einem rein begrifflichen Bestandteil zusammengesetzte
Doppelbegriff scheint mir aber schlagend
zu beweisen, daß der Energiebegriff selbst eine Zerlegung
fordert, die auf Elemente der Anschauung zurückführt.
Eine reale Bewegung kann nur als die Ortsveränderung
eines im Raume gegebenen realen Substrates definiert werden.
Dieses reale Substrat kann sich uns bloß durch Kraftwirkungen,
die von ihm ausgehen, oder durch Kräftefunktionen,
als deren Träger wir es betrachten, verraten. Aber
daß solche bloß begrifflich zu fixierende Kräftefunktionen
selbst sich bewegen, dies scheint mir eine Forderung zu sein,
die nicht erfüllt werden kann, ohne daß man sich irgendein
Substrat hinzudenkt.» [a. a. O., S. 410]
Der Energiebegriff Ostwalds steht der Wirklichkeit um
vieles näher als das angeblich «reale» Substrat Wundts. Die
Erscheinungen der Wahrnehmungswelt, Licht, Wärme,
Elektrizität, Magnetismus usw., lassen sich unter den allgemeinen
Begriff der Kraftleistung, d. i. der Energie bringen.
Wenn Licht, Wärme usw. in einem Körper eine Veränderung
hervorrufen, so ist damit eben eine Kraftleistung vollzogen.
Man hat, wenn man Licht, Wärme usw. als Energie
bezeichnet, von dem den einzelnen Sinnesqualitäten spezifisch
Eigenen abgesehen und betrachtet eine allgemeine,
ihnen gemeinsam zukommende Eigenschaft.
Diese Eigenschaft erschöpft zwar nicht alles, was in den
Dingen der Wirklichkeit vorhanden ist; aber sie ist eine
reale Eigenschaft dieser Dinge. Der Begriff der Eigenschaften
hingegen, welche die von den Physikern und ihren philosophischen
Verteidigern hypothetisch angenommene Materie
haben soll, schließt einen Unsinn ein. Diese Eigenschaften
sind aus der Sinnenwelt entlehnt und sollen doch
einem Substrat zukommen, das nicht zur Sinnenwelt gehört.
Es ist unbegreiflich, wie Wundt behaupten kann, der
Begriff «strahlende Energie» sei deshalb ein unmöglicher,
weil er einen anschaulichen und einen begrifflichen Bestandteil
enthalte. Der Philosoph Wundt sieht also nicht ein, daß
jeder Begriff, der sich auf ein Ding der sinnlichen Wirklichkeit
bezieht, notwendig einen anschaulichen und einen
begrifflichen Bestandteil enthalten muß. Der Begriff
«Steinsalzwürfel» hat doch den anschaulichen Bestandteil
des sinnlich wahrnehmbaren Steinsalzes und den anderen
rein begrifflichen, den die Stereometrie feststellt.
8.
Die Entwicklung der Naturwissenschaft in den letzten
Jahrhunderten hat zur Zerstörung aller Vorstellungen geführt,
durch welche diese Wissenschaft Glied einer Weltauffassung
sein kann, die den höheren menschlichen Bedürfnissen
genügt. Sie hat dazu geführt, daß die «modernen
» wissenschaftlichen Köpfe es als absurd bezeichnen,
wenn man davon spricht, daß die Begriffe und Ideen ebenso
zur Wirklichkeit gehören, wie die im Raume wirkenden
Kräfte und die den Raum erfüllende Materie. Begriffe und
Ideen sind diesen Geistern ein Produkt des menschlichen
Gehirns und nichts weiter. Noch die Scholastiker wußten,
wie es um diese Sache steht. Aber die Scholastik wird von
der modernen Wissenschaft verachtet. Sie wird verachtet,
aber man kennt sie nicht. Man weiß vor allem nicht, was
an der Scholastik gesund und was an ihr krank ist. Gesund
an ihr ist, daß sie eine Empfindung dafür hatte, daß Begriffe
und Ideen nicht nur Hirngespinste sind, die der
menschliche Geist ersinnt, um die wirklichen Dinge zu verstehen,
sondern daß sie mit den Dingen selbst etwas, ja
mehr zu tun haben als Stoff und Kraft. Diese gesunde Empfindung
der Scholastiker ist ein Erbstück von den großen
Weltanschauungsperspektiven Platos und Aristoteles'.
Krank ist an der Scholastik die Vermischung dieser Empfindung
mit den Vorstellungen, die in die mittelalterliche
Entwicklung des Christentums eingezogen sind. Diese Entwicklung
findet den Quell alles Geistigen, also auch der
Begriffe und Ideen in dem unerkennbaren, weil außerweltlichen
Gott. Es hat den Glauben an etwas nötig, das nicht
von dieser Welt ist. Ein gesundes menschliches Denken hält
sich aber an diese Welt. Es kümmert sich um keine andere.
Aber es vergeistigt zugleich diese Welt. Es sieht in Begriffen
und Ideen Wirklichkeiten dieser Welt ebenso wie in den
durch die Sinne wahrnehmbaren Dingen und Ereignissen.
Die griechische Philosophie ist ein Ausfluß dieses gesunden
Denkens. Die Scholastik nahm noch eine Ahnung dieses
gesunden Denkens in sich auf. Aber sie strebte darnach,
diese Ahnung im Sinne des als christlich geltenden Jenseitsglaubens
umzudeuten. Nicht die Begriffe und Ideen
sollten das Tiefste sein, was der Mensch in den Vorgängen
dieser Welt erschaut, sondern Gott, sondern das Jenseits.
Wer die Idee einer Sache erfaßt hat, den zwingt nichts,
noch nach einem weiteren «Ursprung» der Sache zu suchen.
Er hat das erreicht, was das menschliche Erkenntnisbedürfnis
befriedigt. Aber was kümmerte die Scholastiker
das menschliche Erkenntnisbedürfnis? Sie wollten retten,
was sie als christliche Gottesvorstellung ansahen. Sie wollten
im jenseitigen Gott den Ursprung der Welt finden, obwohl
ihnen ihr Suchen nach dem Innern der Dinge nur
Begriffe und Ideen lieferte.*
9.
Im Verlauf der Jahrhunderte wurden die christlichen Vorstellungen
wirksamer als die dunklen Empfindungen, die
aus dem griechischen Altertum ererbt waren. Man verlor
die Empfindung für die Wirklichkeit der Begriffe und
Ideen. Man verlor damit aber auch den Glauben an den -
Geist selbst. Es begann die Anbetung des rein Materiellen:
die Ära Newtons in der Naturwissenschaft begann. Nun
war nicht mehr die Rede von der Einheit, die der Mannigfaltigkeit
der Welt zugrunde liegt. Nun wurde alle Einheit
geleugnet Die Einheit wurde herabgewürdigt zu einer
«menschlichen» Vorstellung. In der Natur sah man nur die
Vielheit, die Mannigfaltigkeit. Diese allgemeine Grundvorstellung
war es, die Newton verführte, nicht eine ursprüngliche
Einheit im Lichte zu sehen, sondern ein Zusammengesetztes.
Goethe hat in den «Materialien zur Geschichte der
Farbenlehre» einen Teil der Entwicklung naturwissenschaftlicher
Vorstellungen dargelegt. Aus seiner Darstellung ist zu
ersehen, daß die neuere Naturwissenschaft durch die allgemeinen
Vorstellungen, deren sie sich zum Erfassen der Natur
bedient, in der Farbenlehre zu ungesunden Ansichten
gelangt ist. Diese Wissenschaft hat das Verständnis dafür
verloren, was das Licht innerhalb der Reihe der Naturqualitäten
ist. Deshalb weiß sie auch nicht, wie unter gewissen
Bedingungen das Licht gefärbt erscheint, wie im
Reiche des Lichtes die Farbe entsteht.
XVIII
GOETHES WELTANSCHAUUNG IN SEINEN
«SPRÜCHEN IN PROSA»
Der Mensch ist nicht zufrieden mit dem, was die Natur
freiwillig seinem beobachtenden Geiste darbietet. Er fühlt,
daß sie, um die Mannigfaltigkeit ihrer Schöpfungen hervorzubringen,
Triebkräfte braucht, die sie dem Beobachter zunächst
verbirgt. Die Natur spricht ihr letztes Wort nicht
selbst aus. Unsere Erfahrung zeigt uns, was die Natur schaffen
kann, aber sie sagt uns nicht, wie dieses Schaffen geschieht.
In dem menschlichen Geiste selbst liegt das Mittel,
die Triebkräfte der Natur zu enthüllen. Aus dem Menschengeiste
steigen die Ideen auf, die Aufklärung darüber
bringen, wie die Natur ihre Schöpfungen zustande bringt.
Was die Erscheinungen der Außenwelt verbergen, im Innern
des Menschen wird es offenbar. Was der menschliche
Geist an Naturgesetzen erdenkt: es ist nicht zur Natur hinzu
erfunden; es ist die eigene Wesenheit der Natur, und
der Geist ist nur der Schauplatz, auf dem die Natur die
Geheimnisse ihres Wirkens sichtbar werden läßt. Was wir
an den Dingen beobachten, das ist nur ein Teil der Dinge.
Was in unserem Geiste emporquillt, wenn er sich den Dingen
gegenüberstellt, das ist der andere Teil. Dieselben Dinge
sind es, die von außen zu uns sprechen, und die in uns sprechen.
Erst wenn wir die Sprache der Außenwelt mit der
unseres Innern zusammenhalten, haben wir die volle Wirklichkeit.
Was wollten die wahren Philosophen aller Zeiten?
Nichts anderes als das Wesen der Dinge verkünden,
das diese selbst aussprechen, wenn der Geist sich ihnen als
Sprachorgan darbietet.
Wenn der Mensch sein Inneres über die Natur sprechen
läßt, so erkennt er, daß die Natur hinter dem zurückbleibt,
was sie vermöge ihrer Triebkräfte leisten könnte. Der Geist
sieht das, was die Erfahrung enthält, in vollkommenerer
Gestalt. Er findet, daß die Natur ihre Absichten mit ihren
Schöpfungen nicht erreicht. Er fühlt sich berufen, diese
Absichten in vollendeter Form darzustellen. Er schafft Gestalten,
in denen er zeigt: dies hat die Natur gewollt; aber
sie konnte es nur bis zu einem gewissen Grade vollbringen.
Diese Gestalten sind die Werke der Kunst. In ihnen schafft
der Mensch das in einer vollkommenen Weise, was die Natur
unvollkommen zeigt.
Philosoph und Künstler haben das gleiche Ziel. Sie suchen
das Vollkommene zu gestalten, das ihr Geist erschaut,
wenn sie die Natur auf sich wirken lassen. Aber es stehen
ihnen verschiedene Mittel zu Gebote, um dies Ziel zu erreichen.
In dem Philosophen leuchtet ein Gedanke, eine
Idee auf, wenn er einem Naturprozeß gegenübersteht. Diese
spricht er aus. In dem Künstler entsteht ein Bild dieses Prozesses,
das diesen vollkommener zeigt, als er sich in der
Außenwelt beobachten läßt. Philosoph und Künstler bilden
die Beobachtung auf verschiedenen Wegen weiter. Der
Künstler braucht die Triebkräfte der Natur in der Form
nicht zu kennen, in der sie sich dem Philosophen enthüllen.
Wenn er ein Ding oder einen Vorgang wahrnimmt, so entsteht
unmittelbar ein Bild in seinem Geiste, in dem die Gesetze
der Natur in vollkommenerer Form ausgeprägt sind
als in dem entsprechenden Dinge oder Vorgange der Außenwelt.
Diese Gesetze in Form des Gedankens brauchen nicht
in seinen Geist einzutreten. Erkenntnis und Kunst sind aber
doch innerlich verwandt. Sie zeigen die Anlagen der Natur,
die in der bloßen äußeren Natur nicht zur vollen Entwickelung
kommen.
Wenn nun in dem Geiste eines echten Künstlers außer
vollkommenen Bildern der Dinge auch noch die Triebkräfte
der Natur in Form von Gedanken sich aussprechen,
so tritt der gemeinsame Quell von Philosophie und Kunst
uns besonders deutlich vor Augen. Goethe ist ein solcher
Künstler. Er offenbart uns die gleichen Geheimnisse in der
Form seiner Kunstwerke und in der Form des Gedankens.
Was er in seinen Dichtungen gestaltet, das spricht er in seinen
natur- und kunstwissenschaftlichen Aufsätzen und in
seinen «Sprüchen in Prosa» in der Form des Gedankens aus.
Die tiefe Befriedigung, die von diesen Aufsätzen und Sprüchen
ausgeht, hat darin ihren Grund, daß man den Einklang
von Kunst und Erkenntnis in einer Persönlichkeit verwirklicht
sieht. Das Gefühl hat etwas Erhebendes, das bei jedem
Goetheschen Gedanken auftritt: Hier spricht jemand, der
zugleich das Vollkommene, das er in Ideen ausdrückt, im
Bilde schauen kann. Die Kraft eines solchen Gedankens
wird verstärkt durch dieses Gefühl. Was aus den höchsten
Bedürfnissen einer Persönlichkeit stammt, muß innerlich
zusammengehören. Goethes Weisheitslehren antworten auf
die Frage: Was für eine Philosophie ist der echten Kunst
gemäß? Ich versuche diese aus dem Geiste eines echten
Künstlers geborene Philosophie im Zusammenhange nachzuzeichnen.
Der Gedankeninhalt, der aus dem menschlichen Geiste
entspringt, wenn dieser sich der Außenwelt gegenüberstellt,
ist die Wahrheit. Der Mensch kann keine andere Erkenntnis
verlangen als eine solche, die er selbst hervorbringt. Wer
hinter den Dingen noch etwas sucht, das deren eigentliches
Wesen bedeuten soll, der hat sich nicht zum Bewußtsein
gebracht, daß alle Fragen nach dem Wesen der Dinge nur
aus einem menschlichen Bedürfnisse entspringen: das, was
man wahrnimmt, auch mit dem Gedanken zu durchdringen.
Die Dinge sprechen zu uns, und unser Inneres spricht,
wenn wir die Dinge beobachten. Diese zwei Sprachen stammen
aus demselben Urwesen, und der Mensch ist berufen,
deren gegenseitiges Verständnis zu bewirken. Darin besteht
das, was man Erkenntnis nennt. Und dies und nichts anderes
sucht der, der die Bedürfnisse der menschlichen Natur
versteht. Wer zu diesem Verständnisse nicht gelangt,
dem bleiben die Dinge der Außenwelt fremdartig. Er hört
aus seinem Innern das Wesen der Dinge nicht zu sich sprechen.
Deshalb vermutet er, daß dieses Wesen hinter den
Dingen verborgen sei. Er glaubt an eine Außenwelt noch
hinter der Wahrnehmungswelt. Aber die Dinge sind nur
so lange äußere Dinge, so lange man sie bloß beobachtet.
Wenn man über sie nachdenkt, hören sie auf, außer uns zu
sein. Man verschmilzt mit ihrem inneren Wesen. Für den
Menschen besteht nur so lange der Gegensatz von objektiver
äußerer Wahrnehmung und subjektiver innerer Gedankenwelt,
als er die Zusammengehörigkeit dieser Welten
nicht erkennt. Die menschliche Innenwelt ist das Innere
der Natur.
Diese Gedanken werden nicht widerlegt durch die Tatsache,
daß verschiedene Menschen sich verschiedene Vorstellungen
von den Dingen machen. Auch nicht dadurch,
daß die Organisationen der Menschen verschieden sind, so
daß man nicht weiß, ob eine und dieselbe Farbe von verschiedenen
Menschen in der ganz gleichen Weise gesehen
wird. Denn nicht darauf kommt es an, ob sich die Menschen
über eine und dieselbe Sache genau das gleiche Urteil bilden,
sondern darauf, ob die Sprache, die das Innere des
Menschen spricht, eben die Sprache ist, die das Wesen der
Dinge ausdrückt. Die einzelnen Urteile sind nach der Organisation
des Menschen und nach dem Standpunkte, von
dem aus er die Dinge betrachtet, verschieden; aber alle Urteile
entspringen dem gleichen Elemente und führen in das
Wesen der Dinge. Dieses kann in verschiedenen Gedankennuancen
zum Ausdruck kommen; aber es bleibt deshalb
doch das Wesen der Dinge.
Der Mensch ist das Organ, durch das die Natur ihre Geheimnisse
enthüllt. In der subjektiven Persönlichkeit erscheint
der tiefste Gehalt der Welt. «Wenn die gesunde Natur
des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der
Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten
Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines,
freies Entzücken gewahrt, dann würde das Weltall,
wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt,
aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens
und Wesens bewundern» (Goethe, «Winckelmann», Kürschners
National-Literatur, Bd. 27, S. 42). Nicht in dem, was
die Außenwelt liefert, liegt das Ziel des Weltalls und des
Wesens des Daseins, sondern in dem, was im menschlichen
Geiste lebt und aus ihm hervorgeht. Goethe betrachtet es
daher als einen Irrtum, wenn der Naturforscher durch Instrumente
und objektive Versuche in das Innere der Natur
dringen will, denn «der Mensch an sich selbst, insofern er
sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste
physikalische Apparat, den es geben kann, und das
ist eben das größte Unheil der neueren Physik, daß man die
Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat,
und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die
Natur erkennen, ja was sie leisten kann, dadurch beschränken
und beweisen will». «Dafür steht ja aber der Mensch
so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt.
Was ist denn eine Saite und alle mechanische Teilung derselben
gegen das Ohr des Musikers? Ja, man kann sagen,
was sind die elementarischen Erscheinungen der Natur
selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und
modifizieren muß, um sie sich einigermaßen assimilieren zu
können?» (Vgl. Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 351)
Der Mensch muß die Dinge aus seinem Geiste sprechen
lassen, wenn er ihr Wesen erkennen will. Alles, was er über
dieses Wesen zu sagen hat, ist den geistigen Erlebnissen seines
Innern entlehnt. Nur von sich aus kann der Mensch die
Welt beurteilen. Er muß anthropomorphisch denken. In die
einfachste Erscheinung, z. B. in den Stoß zweier Körper
bringt man einen Anthropomorphismus hinein, wenn man
sich darüber ausspricht. Das Urteil: «Der eine Körper
stößt den andern», ist bereits anthropomorphisch. Denn
man muß, wenn man über die bloße Beobachtung des Vorganges
hinauskommen will, das Erlebnis auf ihn übertragen,
das unser eigener Körper hat, wenn er einen Körper
der Außenwelt in Bewegung versetzt. Alle physikalischen
Erklärungen sind versteckte Anthropomorphismen. Man
vermenschlicht die Natur, wenn man sie erklärt, man legt
die inneren Erlebnisse des Menschen in sie hinein. Aber
diese subjektiven Erlebnisse sind das innere Wesen der
Dinge. Und man kann daher nicht sagen, daß der Mensch
die objektive Wahrheit, das «An sich» der Dinge nicht erkenne,
weil er sich nur subjektive Vorstellungen über sie
machen kann.106 Von einer andern als einer subjektiven
106 Goethes Anschauungen stehen in dem denkbar schärfsten Gegensatz
zur Kantschen Philosophie. Diese geht von der Auffassung aus, daß
die Vorstellungswelt von den Gesetzen des menschlichen Geistes beherrscht
werde und deshalb alles, was ihr von außen entgegengebracht
wird, in ihr nur als subjektiver Abglanz vorhanden sein könne.
Der Mensch nehme nicht das «An sich» der Dinge wahr, sondern die
Erscheinung, die dadurch entsteht, daß die Dinge ihn affizieren und
er diese Affektionen nach den Gesetzen seines Verstandes und seiner
Vernunft verbindet. Daß durch diese Vernunft das Wesen der Dinge
spricht, davon haben Kant und die Kantianer keine Ahnung. Deshalb
konnte die Kantsche Philosophie für Goethe nie etwas bedeuten.
Wenn er sich einzelne ihrer Sätze aneignete, so gab er ihnen einen
völlig anderen Sinn, als sie innerhalb der Lehre ihres Urhebers
haben. Es ist durch eine Notiz, die erst nach Eröffnung des Weimarischen
Goethe-Archivs bekannt geworden ist, klar, daß Goethe den
Gegensatz seiner Weltauffassung und der Kantschen sehr wohl
durchschaute. Für ihn liegt der Grundfehler Kants darin, daß dieser
«das subjektive Erkenntnisvermögen nun selbst als Objekt betrachtet
und den Punkt, wo subjektiv und objektiv zusammentreffen,
zwar scharf aber nicht ganz richtig sondert». Subjektiv und objektiv
treten zusammen, wenn der Mensch das, was die Außenwelt ausspricht,
und das, was sein Inneres vernehmen läßt, zum einigen Wesen
der Dinge verbindet. Dann hört aber der Gegensatz von subjektiv
und objektiv ganz auf; er verschwindet in der geeinten Wirklichkeit.
Ich habe darauf schon hingedeutet in dieser Schrift S. 218 ff.
Gegen meine damaligen Ausführungen polemisiert nun K. Vorländer
im 1. Heft der «Kantstudien». Er findet, daß meine Anschauung
über den Gegensatz von Goethescher und Kantscher Weltauffassung
«mindestens stark einseitig und mit klaren Selbstzeugnissen
Goethes in Widerspruch» sei und sich «aus dem völligen Mißverständnis
der transzendentalen Methode» Kants von meiner Seite
erkläre. Vorländer hat keine Ahnung von der Weltanschauung, in
der Goethe lebte. Mit ihm zu polemisieren würde mir gar nichts
nützen, denn wir sprechen verschiedene Sprachen. Wie klar sein
Denken ist, zeigt sich darin, daß er bei meinen Sätzen nie weiß, was
gemeint ist. Ich mache z. B. eine Bemerkung zu dem Goetheschen
Satze: «Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr
wird, betrachtet er sie in bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn
es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder
mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nützen oder
schaden. Diese ganz natürliche Art, die Sachen anzusehen und zu bemenschlichen
Wahrheit kann gar nicht die Rede sein. Denn
Wahrheit ist Hineinlegen subjektiver Erlebnisse in den objektiven
Erscheinungszusammenhang. Diese subjektiven
Erlebnisse können sogar einen ganz individuellen Charakter
annehmen. Sie sind dennoch der Ausdruck des inneren
Wesens der Dinge. Man kann in die Dinge nur hineinlegen,
was man selbst in sich erlebt hat. Demnach wird auch jeder
urteilen, scheint so leicht zu sein, als sie notwendig i s t . . . Ein weit
schwereres Tagewerk übernehmen diejenigen, deren lebhafter Trieb
nach Kenntnis die Gegenstände der Natur an sich selbst und in
ihren Verhältnissen untereinander zu beobachten strebt, sie suchen
und untersuchen, was ist, und nicht was behagt.» Meine Bemerkung
lautet: «Hier zeigt sich, wie Goethes Weltanschauung gerade der
entgegengesetzte Pol der Kantschen ist. Für Kant gibt es überhaupt
keine Ansicht über die Dinge, wie sie an sich sind, sondern nur wie
sie in bezug auf uns erscheinen. Diese Ansicht laßt Goethe nur als
ganz untergeordnete Art gelten, sich zu den Dingen in ein Verhältnis
zu setzen.» Dazu sagt Vorländer: «Diese (Worte Goethes) wollen
weiter nichts als einleitend den trivialen Unterschied zwischen dem
Angenehmen und dem Wahren auseinandersetzen. Der Forscher soll
suchen, <was ist und nicht was behagt>. Wer, wie Steiner, die letztere
allerdings sehr untergeordnete Art, sich zu den Dingen in ein Verhältnis
zu setzen, als diejenige Kants zu bezeichnen wagt, dem ist zu
raten, daß er sich erst die Grundbegriffe der Kantschen Lehre, z. B.
den Unterschied von subjektiver und objektiver Empfindung, etwa
aus § 3 der Kr. d. U. klarmache.» Nun habe ich durchaus nicht, wie
aus meinem Satze klar hervorgeht, gesagt, daß jene Art, sich zu den
Dingen in ein Verhältnis zu setzen, die Kants ist, sondern daß Goethe
die Kantsche Auffassung vom Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt
nicht entsprechend dem Verhältnis findet, in dem der Mensch
zu den Dingen steht, wenn er erkennen will, wie sie an sich sind.
Goethe ist der Ansicht, daß die Kantsche Definition nicht dem
menschlichen Erkennen, sondern nur dem Verhältnisse entspricht,
in das sich der Mensch zu den Dingen setzt, wenn er sie in bezug auf
sein Gefallen und Mißfallen betrachtet. Wer einen Satz in einer solchen
Weise mißverstehen kann wie Vorländer1 der mag es sich ersparen,
andern Leuten Ratschläge zu geben über ihre philosophische
Ausbildung, und lieber erst sich die Fähigkeit aneignen, einen Satz
richtig lesen zu lernen. Goethesche Zitate aufsuchen und sie historisch
zusammenstellen kann jeder; sie im Sinne der Goetheschen
Weltanschauung deuten, kann jedenfalls Vorländer nicht.
Mensch, gemäß seinen individuellen Erlebnissen etwas in
gewissem Sinne anderes in die Dinge hineinlegen. Wie ich
mir gewisse Vorgänge der Natur deute, ist für einen andern,
der nicht das gleiche innerlich erlebt hat, nicht ganz
zu verstehen. Es handelt sich aber gar nicht darum, daß alle
Menschen das gleiche über die Dinge denken, sondern nur
darum, daß sie, wenn sie über die Dinge denken, im Elemente
der Wahrheit leben. Man kann deshalb die Gedanken
eines andern nicht als solche betrachten und sie annehmen
oder ablehnen, sondern man soll sie als die Verkünder
seiner Individualität ansehen. «Diejenigen, welche
widersprechen und streiten, sollten mitunter bedenken, daß
nicht jede Sprache jedem verständlich sei» (Natw. Schr.,
4. Bd., 2. Abt., S. 355). Eine Philosophie kann niemals eine
allgemeingültige Wahrheit überliefern, sondern sie schildert
die inneren Erlebnisse des Philosophen, durch die er
die äußeren Erscheinungen deutet.
Wenn ein Ding durch das Organ des menschlichen Geistes
seine Wesenheit ausspricht, so kommt die volle Wirklichkeit
nur durch den Zusammenfluß des äußeren Objektiven
und des inneren Subjektiven zustande. Weder durch einseitiges
Beobachten, noch durch einseitiges Denken erkennt
der Mensch die Wirklichkeit. Diese ist nicht als etwas Fertiges
in der objektiven Welt vorhanden, sondern wird erst
durch den menschlichen Geist in Verbindung mit den Dingen
hervorgebracht. Die objektiven Dinge sind nur ein Teil
der Wirklichkeit. Wer ausschließlich die sinnliche Erfahrung
anpreist, dem muß man mit Goethe erwidern, «daß
die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist» (Natw.
Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 503). «Alles Faktische ist schon
Theorie», d. h. es offenbart sich im menschlichen Geiste ein
Ideelles, wenn er ein Faktisches betrachtet. Diese Weltauffassung,
die in den Ideen die Wesenheit der Dinge erkennt
und die Erkenntnis auffaßt als ein Einleben in das Wesen
der Dinge, ist nicht Mystik. Sie hat aber mit der Mystik das
gemein, daß sie die objektive Wahrheit nicht als etwas in
der Außenwelt Vorhandenes betrachtet, sondern als etwas,
das sich im Innern des Menschen wirklich ergreifen läßt.
Die entgegengesetzte Weltanschauung versetzt die Gründe
der Dinge hinter die Erscheinungen, in ein der menschlichen
Erfahrung jenseitiges Gebiet. Sie kann nun entweder sich
einem blinden Glauben an diese Gründe hingeben, der von
einer positiven Offenbarungsreligion seinen Inhalt erhält,
oder Verstandeshypothesen und Theorien darüber aufstellen,
wie dieses jenseitige Gebiet der Wirklichkeit beschaffen
ist. Der Mystiker sowohl wie der Bekenner der Goetheschen
Weltanschauung lehnen sowohl den Glauben an ein
Jenseitiges, wie auch die Hypothesen über ein solches ab,
und halten sich an das wirkliche Geistige, das sich in dem
Menschen selbst ausspricht. Goethe schreibt an [F. H.]
Jacobi: «Gott hat dich mit der Metaphysik gestraft und dir
einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich dagegen mit der Physik
gesegnet... Ich halte mich fest und fester an die Gottesverehrung
des Atheisten (Spinoza) . . . und überlasse
euch alles, was ihr Religion heißt und heißen müßt...
Wenn du sagst, man könne an Gott nur glauben . . . , so sage
ich dir, ich halte viel aufs Schauen.» [WA 7, 214] Was
Goethe schauen will, ist die in seiner Ideenwelt sich ausdrückende
Wesenheit der Dinge. Auch der Mystiker will
durch Versenkung in das eigene Innere die Wesenheit der
Dinge erkennen; aber er lehnt gerade die in sich klare und
durchsichtige Ideenwelt ab als untauglich zur Erlangung
einer höheren Erkenntnis. Er glaubt nicht, sein Ideenvermögen,
sondern andere Kräfte seines Innern entwickeln
zu müssen, um die Urgründe der Dinge zu schauen. Gewöhnlich
sind es unklare Empfindungen und Gefühle, in
denen der Mystiker das Wesen der Dinge zu ergreifen
glaubt. Aber Gefühle und Empfindungen gehören nur
zum subjektiven Wesen des Menschen. In ihnen spricht
sich nichts über die Dinge aus. Allein in den Ideen sprechen
die Dinge selbst. Die Mystik ist eine oberflächliche Weltanschauung,
trotzdem die Mystiker den Vernunftmenschen
gegenüber sich viel auf ihre «Tiefe» zugute tun. Sie wissen
nichts über die Natur der Gefühle, sonst würden sie sie
nicht für Aussprüche des Wesens der Welt halten; und sie
wissen nichts von der Natur der Ideen, sonst würden sie
diese nicht für flach und rationalistisch halten. Sie ahnen
nicht, was Menschen, die wirklich Ideen haben, in diesen
erleben. Aber für viele sind Ideen eben bloße Worte. Sie
können die unendliche Fülle ihres Inhaltes sich nicht aneignen.
Kein Wunder, daß sie ihre eigenen ideenlosen Worthülsen
als leer empfinden.*
* * *
Wer den wesentlichen Inhalt der objektiven Welt in dem
eigenen Innern sucht, der kann auch das Wesentliche der
sittlichen Weltordnung nur in die menschliche Natur selbst
verlegen. Wer eine jenseitige Wirklichkeit hinter der
menschlichen vorhanden glaubt, der muß in ihr auch den
Quell des Sittlichen suchen. Denn das Sittliche im höheren
Sinne kann nur aus dem Wesen der Dinge kommen. Der
Jenseitsgläubige nimmt deshalb sittliche Gebote an, denen
sich der Mensch zu unterwerfen hat. Diese Gebote gelangen
zu ihm entweder auf dem Wege einer Offenbarung,
oder sie treten als solche in sein Bewußtsein ein, wie es beim
kategorischen Imperativ Kants der Fall ist. Wie dieser aus
dem jenseitigen «An sich» der Dinge in unser Bewußtsein
kommt, darüber wird nichts gesagt. Er ist einfach da, und
man hat sich ihm zu unterwerfen. Der Erfahrungsphilosoph,
der von der reinen Sinnesbeobachtung alles Heil erwartet,
sieht in dem Sittlichen nur das Wirken der menschlichen
Triebe und Instinkte. Aus dem Studium dieser sollen
die Normen folgen, die für das sittliche Handeln maßgebend
sind.
Goethe läßt das Sittliche aus der Ideenwelt des Menschen
entstehen. Nicht objektive Normen und auch nicht
die bloße Triebwelt lenken das sittliche Handeln, sondern
die in sich klaren Ideen, durch die sich der Mensch selbst
die Richtung gibt. Ihnen folgt er nicht aus Pflicht, wie er
objektiv-sittlichen Normen folgen müßte. Und auch nicht
aus Zwang, wie man seinen Trieben und Instinkten folgt.
Sondern er dient ihnen aus Liebe. Er liebt sie, wie man ein
Kind liebt. Er will ihre Verwirklichung und setzt sich für
sie ein, weil sie ein Teil seines eigenen Wesens sind. Die Idee
ist die Richtschnur und die Liebe ist die treibende Kraft in
der Goetheschen Ethik. Ihm ist Pflicht, «wo man liebt, was
man sich selbst befiehlt» (Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt.
S. 460).
Ein Handeln im Sinne der Goetheschen Ethik ist ein
freies Handeln. Denn der Mensch ist von nichts abhängig
als von seinen eigenen Ideen. Und er ist niemandem verantwortlich
als sich selbst. Ich habe bereits in meiner «Philosophie
der Freiheit»107 den billigen Einwand entkräftet, daß
die Folge einer sittlichen Weltordnung, in der jeder nur
sich selbst gehorcht, die allgemeine Unordnung und Disharmonie
des menschlichen Handelns sein müsse. Wer diesen
Einwand macht, der übersieht, daß die Menschen gleichartige
Wesen sind und daß sie deshalb niemals sittliche
Ideen produzieren werden, die durch ihre wesentliche Verschiedenheit
einen unharmonischen Zusammenklang bewirken
werden.108
107 (Berlin 1894 [Gesamtausgabe Dornach 1973]).
l08 Wie wenig Verständnis für die ethischen Anschauungen sowohl, wie
für eine Ethik der Freiheit und des Individualismus im allgemeinen,
bei den Fachphilosophen der Gegenwart vorhanden ist, zeigt folgender
Umstand. Ich habe im Jahre 1892 in einem Aufsatz der
«Zukunft» (Nr. 5) mich für eine streng individualistische Auffassung
der Moral ausgesprochen [jetzt in «Gesammelte Aufsätze zur Kulturund
Zeitgeschichte 1887-1901»; Gesamtausgabe Dornach 1966, S.
169 ff.]. Auf diesen Aufsatz hat Ferdinand Tönnies in Kiel in einer
Broschüre: «<Ethische Kultur> und ihr Geleite. Nietzsche-Narren in
der <Zukunft> und in der <Gegenwart>...» (Berlin 1893) geantwortet.
Er hat nichts vorgebracht als die Hauptsätze der in philosophische
Formeln gebrachten Philistermoral. Von mir aber sagt er, daß ich
«auf dem Wege zum Hades keinen schlimmeren Hermes» hätte
finden können als Friedrich Nietzsche. Wahrhaft komisch wirkt es
auf mich, daß Tönnies, um mich zu verurteilen, einige von Goethes
«Sprüchen in Prosa» vorbringt. Er ahnt nicht, daß, wenn es für
mich einen Hermes gegeben hat, es nicht Nietzsche, sondern Goethe
gewesen war. Ich habe die Beziehungen der Ethik der Freiheit zur
Ethik Goethes bereits S. 195 ff. dieser Schrift dargelegt. Ich hätte die
wertlose Broschüre nicht erwähnt, wenn sie nicht symptomatisch
wäre für das in fachphilosophischen Kreisen herrschende Mißverständnis
der Weltanschauung Goethes.
Wenn der Mensch nicht die Fähigkeit hätte, Schöpfungen
hervorzubringen, die ganz in dem Sinne gestaltet sind, wie
die Werke der Natur, und nur diesen Sinn in vollkommenerer
Weise zur Anschauung bringen, als die Natur es vermag,
so gäbe es keine Kunst im Sinne Goethes. Was der
Künstler schafft, sind Naturobjekte auf einer höheren
Stufe der Vollkommenheit. Kunst ist Fortsetzung der Natur,
«denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur
gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an,
die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu
steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten
und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie
und Bedeutung aufruft und sich endlich bis zur Produktion
des Kunstwerkes erhebt» (Goethe, «Winckelmann»; Nat.-
Lit. Bd. 27, S. 47). Nach dem Anblicke der griechischen
Kunstwerke in Italien schreibt Goethe: «Diese hohen
Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von
Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht
worden.»109 Der bloßen sinnenfälligen Erfahrungswirklichkeit
gegenüber sind die Kunstwerke ein schöner
Schein; für den, der tiefer zu schauen vermag, sind sie
«eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die ohne sie
niemals offenbar wurden» ([freie Wiedergabe] vgl. Natw.
Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 494).
Nicht der Stoff, den der Künstler aus der Natur aufnimmt,
macht das Kunstwerk; sondern allein das, was der
Künstler aus seinem Innern in das Werk hineinlegt. Das
höchste Kunstwerk ist dasjenige, welches vergessen macht,
daß ihm ein natürlicher Stoff zugrunde liegt, und das lediglich
durch dasjenige unser Interesse erweckt, was der
109 Italienische Reise, 6. Sept. 1787.
Künstler aus diesem Stoffe gemacht hat. Der Künstler gestaltet
natürlich; aber er gestaltet nicht wie die Natur selbst.
In diesen Sätzen scheinen mir die Hauptgedanken ausgesprochen
zu sein, die Goethe in seinen Aphorismen über
Kunst niedergelegt hat.
Daten zur Herausgabe von Goethes «Naturwissenschaftlichen Schriften» durch Rudolf Steiner und Daten zur Herausgabe der Lexikonbände,
an denen Rudolf Steiner naturwissenschaftlicher Mitarbeiter war. (Außer dem «Pierer» ist jeweils nur die Erstausgabe verzeichnet.)
Kürschners «Deutsche
Natiortal-Literatur>>:
Goethes Werke
1884 I. (33.) Band
1887 II. (34.) Band
1890 III. (35.) Band
1897 IV. (36.) Band, 1. Abt.
IV. (36.) Band, 2. Abt.
Weimarer oder
Sophien-Ausgabe
II. Abteilung
1891 VI. Band
1892 VII., IX. Band
1893 (VIII.), XI. Band
1894 X.Band
1896 XII. Band
Ergänzend zu Goethes
«Naturwissenschaftlichen Schriften»
1886 Grundlinien einer Erkenntnistheorie
der Goetheschen Weltanschauung, mit
besonderer Rücksicht auf Schiller.
Zugleich eine Zugabe zu Goethes
«Naturwissenschaftlichen Schriften»
in Kürschners «Deutscher National-
Literatur»
1897 Goethes Weltanschauung
Lexikalische Werke
1884 Kürschners Taschen-
Konversations-Lexikon
1888 Kürschners Quart-Lexikon
Pierers Konversations-Lexikon
7. Auflage, I.Band
1889 - 2., 3,, 4. Band
1890 - 5., 6. Band
Copyright Rudolf Steiner Nach lass-Verwaltung Buch: 1 Seite: 345
P E R S O N E N R E G I S T ER
Alton, Eduard d' (1803-1854)
100 f.
Aristoteles (384-322 v. Chr.)
284, 327
Avenarius, Richard (1843-1896)
153
Batsch, August Karl (1761-1802)
39
Bayle, Pierre (1647-1906) 215
Blumenbach, Johann Friedrich
(1752-1840) 50 f., 55, 63 f.
Böttiger, Karl August (1760 bis
1835)110
Bruno, Giordano (1548-1600)
215 f.
Büchner, Ludwig (1824-1899)
314
Camper, Pieter (1722-1789) 51,
58 ff.
de Candolle, Augustin Pyrame
(1778-1841)104,115
Cohn, Ferdinand (1828-1898) 27
Cuvier, George Baron v. (1769
bis 1832) 113 f.
Darwin, Charles (1809-1882)
29 f., 34, 100
Descartes, Rene (1596-1650) 284,
305 f., 317
Dietrich, Friedrich Gottlieb (1765
bis 1850) 27
Du Bois-Reymond, Emil (1818
bis 1896) 306 f., 309 f., 322
Eckermann, Johann Peter (1792
bis 1854) 115
Einsiedel, August Hildebrand v.
(1721-1793) 44
Elie de Beaumont, Leonce (1798
bis 1874) 247
Faraday, Michael (1791-1867)
319
Fichte, Johann Gottlieb (1762 bis
1814)121, 154,167, 181, 224 f.,
284
Forster, Georg (1754-1794) 51
Freytag, Gustav (1816-1895)
208 f.
Galilei, Galileo (1564-1642) 119
Geoffroy Saint-Hilaire, Etienne
(1772-1844) 113 ff.
Gingins-Lassaraz, Frederic Charles
Baron de (1790-1863) 115
Gleichen, Wilhelm Friedrich v.
(1717-1783) 25
Haeckel, Ernst (1834-1919) 34,
104,116
Harpf, Adolf (1857-1927) 228
Hartmann, Eduard v. (1842 bis
1906) 127 f., 229 ff., 258 f.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
(1770-1831) 109, 121, 129,
226 ff., 284, 287
Helmholtz, Hermann v. (1821 bis
1894) 313 f.
Heraklit (etwa 540-480 v. Chr.)
270 f.
Herbart, Johann Friedrich (1776
bis 1841) 178,183
Herder, Johann Gottfried v.
(1744-1803) 26, 32 f., 35 f.,
46 ff., 52 f., 55, 59, 62, 66 f.
Hertz, Heinrich (1857-1894) 299
Hill, John (1716-1775) 36 f.
Holbach, Dietrich Baron v. (1723
bis 1789) 19
Humboldt, Gebrüder 68
Hutton, James (1726-1797) 247
Huyghens, Christian (1629-1695)
313
Jacobi, Friedrich Heinrich (1743
bis 1819) 25,68,76f.,80,117,217
Jacobi, Karl Maximilian (1775
bis 1858) 68
Josephi, Johann Wilhelm (1763
bis 1845) 62 f.
Kalb, Charlotte v., geb. Marschalk
von Ostheim (1761 bis
1843)67
Kant, Immanuel (1724-1804)
80 f., 109,138,142 ff., 146,151,
157,219 ff., 284, 316
Keil, Robert (1826-1894) 22, 44
Kepler, Johannes (1571-1630)
105, 107
Kirchhoff, Gustav Robert (1824
bis 1887) 312, 315
Kletteniberg, Susanna Katharina
v. (1723-1774) 18
Knebel, Karl Ludwig v. (1744 bis
1834) 9, 25 ff., 32, 39,49, 54 f.,
59,62
Kopernikus, Nikolaus (1473 bis
1543)107
Kreyenbühl, J. 204
Krug, Wilhelm Traugott (1770
bis 1842) 154
Lampa, Anton 314 f., 318 f.
Langenbeck, Konrad Johann
Martin (1776-1851) 64
Lavater, Johann Kaspar (1741
bis 1801) 40, 42 ff., 49, 77 f.
Leibniz, Gottfried Wilhelm, Freiherr
v. (1646-1716) 178,181
Linne, Karl v. (1707-1778) 23 f.,
27 f.
Locke, John (1632-1704) 157
Loder, Justus Christian v. (1753
bis 1832) 44, 52, 59, 61 f., 110
Martius, Karl Friedrich Philipp von
(1794-1868)112
Merck^ Johann Heinrich (1741 bis
1791) 26, 44 f., 50 f., 58 ff., 63 f.
Mill, John Stuart (1806-1873)
144 f., 266
Moleschott,Jakob (1822-1893)
314
Moritz, Karl Philipp (1757-1793)
38
Müller, Johannes (1801-1858)
316
Nees von Esenbeck, Christian
Gottfried (1776-1858) 101
Newton, Sir Isaak (1643-1727)
257, 279, 288, 300 f.
Oken, Lorenz (1779-1851) 47 f.
Ostwald, Wilhelm (1853-1932)
302 ff.,309 ff.,314 f., 325
Paracelsus, Theophrastus (1493
od.1494-1541) 18
Plato (427-347 v. Chr.) 284, 327
Reif fenstein, Johann Friedrich
(1719-1793) 35
Rousseau, Jean-Jacques (1712 bis
1778) 24 f.
Sachsen-Weimar-Eisenach, Karl
August, Herzog v. (1757-1828)
22, 24, 39, 44, 68, 242 f.
Sachsen-Weimar-Eisenach, Luise
Auguste, Herzogin v. (1757 bis
1830) 243 f.
Schelling, Friedrich Wilhelm v.
(1755-1854) 109,121,151,
157, 225 f., 284
Schiller, Friedrich v. (1759-1805)
68,108,138,186, 223 f.
Schieiden, Matthias Jakob (1804
bis 1881) 106
Schopenhauer, Arthur (1788 bis
1860)151,153,157,178,228,
230 f.
Schröer, Karl Julius (1825-1900)
108,213
Schrön, Ludwig Heinrich Friedrich
(1799-1875) 250
Shakespeare (1564-1616) 77,138
Sömmerring, Samuel Thomas
(1755-1830) 50, 57 ff., 63 f.,
108 f.
Spinoza, Benedictus (1632-1677)
76 ff., 80,121, 215 ff., 284
Stein, Charlotte v., geb. v.
Schardt (1742-1827) 22 f.,
25 ff., 51 f., 55, 77, 244
Stein, Friedrich v. (1772-1844) 68
Tönnies, Ferdinand (1855-1936)
342
Vic d'Azyr, Felix (1748-1794)
63
Vischer, Friedrich Theodor (1807
bis 1887) 264 f.
Vogt, Karl (1817-1895) 314
Voigt, Friedrich Sigismund (1781
bis 1850) 101
Volkelt, Johannes (1848-1930)
146, 157
Vorländer, Karl (1860-1928)
336 f.
Wackenroder, Wilhelm Heinrich
(1773-1798) 107
Waitz, Johann Christian Wilhelm
(1766-1796) 58
Weber, M. J. 64
Werner, Abraham Gottlob (1749
bis 1817) 246
Wolf, Friedrich August (1759 bis
1824)111
Woiff, Caspar Friedrich (1733 bis
1794)111,183
Wundt, Wilhelm (1832-1920)
307, 316 f., 324 ff.
Zimmermann, Johann Georg
(1728-1795) 59

Version vom 25. Juli 2023, 16:19 Uhr

RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE
SCHRIFTEN
GA 1