|
|
Zeile 1: |
Zeile 1: |
| RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE
| | __NOTOC__ |
| SCHRIFTEN
| | {| class="notiz" |
| Zur Titelerweiterung
| | |- |
| Der frühere Titel «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften» ist in der
| | |<center><div style="font-family: Times New Roman" ;"><big>RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE</big></center> |
| Ausgabe von 1987 erweitert worden in «Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftliche
| | <center><div style="font-family: Times New Roman" ;"><big>SCHRIFTEN</big></center> |
| Schriften» und durch den Untertitel «zugleich eine
| |
| Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie)». Dazu sei folgendes
| |
| bemerkt: Das tiefe Verständnis der Goetheschen Natur- und Weltauffassung,
| |
| das in diesen Einleitungen auseinandergesetzt wird, ist nur
| |
| möglich geworden, weil im jungen Rudolf Steiner ein kongenialer Ausgangspunkt
| |
| schon in Entwicklung begriffen war, als er mit der Goetheschen
| |
| Naturwissenschaft bekannt wurde. Dadurch führte die Durchdringung
| |
| der Goetheschen Schriften zugleich auch zur Entfaltung des eigenen
| |
| Ausgangspunktes und fand dabei ihren ersten schriftstellerischen Ausdruck.
| |
| Die in den Einleitungen vorgebrachten Grundanschauungen wurden
| |
| so «zugleich zu einer Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie)
| |
| ». Daneben muß aber betont werden, daß das z.B. in «Wahrheit
| |
| und Wissenschaft» und in der «Philosophie der Freiheit» sowie in den
| |
| späteren Schriften und Vorträgen vorliegende «Gedankengebäude eine in
| |
| sich selbst begründete Ganzheit ist, die nicht aus der Goetheschen Weltanschauung
| |
| abgeleitet zu werden braucht».
| |
| RUDOLF STEINER | |
| EINLEITUNGEN
| |
| ZU GOETHES
| |
| NATURWISSENSCHAFTLICHEN
| |
| SCHRIFTEN | |
| ZUGLEICH EINE GRUNDLEGUNG DER
| |
| GEISTESWISSENSCHAFT (ANTHROPOSOPHIE)
| |
| 1987
| |
|
| |
|
| INHALT
| | <center><div style="font-family: Times New Roman" ;"><big>GA 1</big></center> |
| Zur Einführung. Aus «Mein Lebensgang», Kap. VI . . 7
| |
| 1884,1. Band
| |
| I. Einleitung 9
| |
| IL Die Entstehung der Metamorphosenlehre . . . . 14
| |
| III. Die Entstehung von Goethes Gedanken über die
| |
| Bildung der Tiere 40
| |
| IV Über das Wesen und die Bedeutung von Goethes
| |
| Schriften über organische Bildung 70
| |
| V. Abschluß über Goethes morphologische Anschauungen
| |
| 116
| |
| 1887, IL Band
| |
| VI. Goethes Erkenntnis-Art 121
| |
| VII. Über die Anordnung der naturwissenschaftlichen
| |
| Schriften Goethes 130
| |
| VIII. Von der Kunst zur Wissenschaft 134
| |
| IX. Goethes Erkenntnistheorie 141
| |
| X. Wissen und Handeln im Lichte der Goetheschen
| |
| Denkweise 168
| |
| XL Verhältnis der Goetheschen Denkweise zu anderen
| |
| Ansichten 213
| |
| XII. Goethe und die Mathematik 237
| |
| XIII. Das geologische Grundprinzip Goethes . . . . 242
| |
| XIV. Die meteorologischen Vorstellungen Goethes . . 249
| |
| 1890, III. Band
| |
| XV. Goethe und der naturwissenschaftliche Illusionismus
| |
| 252
| |
| XVI. Goethe als Denker und Forscher 258
| |
| 1897, IV Band, 1. und 2. Abteilung
| |
| XVII. Goethe gegen den Atomismus 302
| |
| XVIIL Goethes Weltanschauung in seinen «Sprüchen in
| |
| Prosa» 330
| |
| Übersicht über die Herausgabetätigkeit Rudolf Steiners
| |
| in den Jahren 1884 bis 1897 345
| |
| Personenregister 346
| |
| Übersicht über die Rudolf Steiner Gesamtausgabe . . . . 349
| |
|
| |
|
| ZUR EINFÜHRUNG
| | <hr> |
| Aus Rudolf Steiners Selbstbiographie
| |
| «Mein Lebensgang», Kap. VI
| |
|
| |
|
| Auf Schröers Empfehlung hin lud mich 1883 Joseph
| | |} |
| Kürschner ein, innerhalb der von ihm veranstalteten
| |
| «Deutschen Nationalliteratur» Goethes Naturwissenschaftliche
| |
| Schriften mit Einleitungen und fortlaufenden Erklärungen
| |
| herauszugeben. Schröer, der selbst für dieses große
| |
| Sammelwerk die Dramen Goethes übernommen hatte,
| |
| sollte den ersten der von mir zu besorgenden Bände mit
| |
| einem einführenden Vorworte versehen. Er setzte in diesem
| |
| auseinander, wie Goethe als Dichter und Denker innerhalb
| |
| des neuzeitlichen Geisteslebens steht. Er sah in der
| |
| Weltanschauung, die das auf Goethe folgende naturwissenschaftliche
| |
| Zeitalter gebracht hatte, einen Abfall von der
| |
| geistigen Höhe, auf der Goethe gestanden hatte. Die Aufgabe,
| |
| die mir durch die Herausgabe von Goethes Naturwissenschaftlichen
| |
| Schriften zugefallen war, wurde in umfassender
| |
| Art in dieser Vorrede charakterisiert.
| |
|
| |
|
| Für mich schloß diese Aufgabe eine Auseinandersetzung
| | {{Absatz}} |
| mit der Naturwissenschaft auf der einen, mit Goethes ganzer
| |
| Weltanschauung auf der andern Seite ein. Ich mußte,
| |
| da ich nun mit einer solchen Auseinandersetzung vor die
| |
| Öffentlichkeit zu treten hatte, alles, was ich bis dahin als
| |
| Weltanschauung mir errungen hatte, zu einem gewissen
| |
| Abschluß bringen ...
| |
| | |
| Die Denkungsart, von der die Naturwissenschaft seit
| |
| dem Beginn ihres großen Einflusses auf die Zivilisation des
| |
| neunzehnten Jahrhunderts beherrscht war, schien mir un-
| |
| | |
| geeignet, zu einem Verständnisse dessen zu gelangen, was
| |
| Goethe für die Naturerkenntnis erstrebt und bis zu einem
| |
| hohen Grade auch erreicht hatte.
| |
| | |
| Ich sah in Goethe eine Persönlichkeit, welche durch das
| |
| besondere geistgemäße Verhältnis, in das sie den Menschen
| |
| zur Welt gesetzt hatte, auch in der Lage war, die Naturerkenntnis
| |
| in der rechten Art in das Gesamtgebiet des
| |
| menschlichen Schaffens hineinzustellen. Die Denkungsart
| |
| des Zeitalters, in das ich hineingewachsen war, schien mir
| |
| nur geeignet, Ideen über die leblose Natur auszubilden. Ich
| |
| hielt sie für ohnmächtig, mit den Erkenntniskräften an die
| |
| belebte Natur heranzutreten. Ich sagte mir, um Ideen zu
| |
| erlangen, welche ''die'' Erkenntnis des Organischen vermitteln
| |
| können, ist es notwendig, die für die unorganische Natur
| |
| tauglichen Verstandesbegriffe erst selbst zu beleben.
| |
| Denn sie erschienen mir tot und deshalb auch nur geeignet,
| |
| das Tote zu erfassen.
| |
| | |
| Wie sich in Goethes Geist die Ideen belebt haben, wie
| |
| sie ''Ideengestaltungen'' geworden sind, das versuchte ich für
| |
| eine Erklärung der Goetheschen Naturanschauung darzustellen.
| |
| | |
| Was Goethe im einzelnen über dieses oder jenes Gebiet
| |
| der Naturerkenntnis gedacht und erarbeitet hatte, schien
| |
| mir von geringerer Bedeutung neben der zentralen Entdeckung,
| |
| die ich ihm zuschreiben mußte. Diese sah ich darin,
| |
| daß er gefunden hat, wie man über das Organische denken
| |
| müsse, um ihm erkennend beizukommen.
| |
| | |
| ==I==
| |
| === EINLEITUNG ===
| |
| Am 18. August des Jahres 1787 schrieb Goethe von Italien
| |
| aus an Knebel: «Nach dem, was ich bei Neapel, in Sizilien
| |
| von Pflanzen und Fischen gesehen habe, würde ich, wenn
| |
| ich zehn Jahre jünger wäre, sehr versucht sein, eine Reise
| |
| nach Indien zu machen, ''nicht um etwas Neues zu entdecken,
| |
| sondern um das Entdeckte nach meiner Art anzusehen.''» [WA 8, 250<sup>1</sup>] In diesen Worten liegt der Gesichtspunkt,
| |
| aus dem wir Goethes wissenschaftliche Arbeiten zu
| |
| betrachten haben. Es handelt sich bei ihm nie um die Entdeckung
| |
| neuer Tatsachen, sondern um das Eröffnen eines
| |
| neuen Gesichtspunktes, um eine bestimmte Art die Natur
| |
| anzusehen. Es ist wahr, daß Goethe eine Reihe großer Einzelentdeckungen
| |
| gemacht hat, wie jene des Zwischenknochens
| |
| und der Wirbeltheorie des Schädels in der Osteologie,
| |
| der Identität aller Pflanzenorgane mit dem Stammblatte in
| |
| der Botanik usf. Aber als belebende Seele aller dieser Einzelheiten
| |
| haben wir eine großartige Naturanschauung zu betrachten,
| |
| von der sie getragen werden, haben wir in der
| |
| Lehre von den Organismen vor allem eine großartige, alles
| |
| übrige in den Schatten stellende Entdeckung ins Auge zu fassen:
| |
| die des Wesens des Organismus selbst. Jenes Prinzip,
| |
| durch welches ein Organismus das ist, als das er sich dar-
| |
| | |
| 1 [Alle Stellen aus von Goethe verfaßten Briefen sind zitiert nach
| |
| der sog. Weimarer Ausgabe (= WA) oder Sophien-Ausgabe von
| |
| Goethes Werken, Abteilung IV: Briefe, 50 Bde., Weimar 1887-1912;
| |
| die beiden Ziffern beziehen sich auf Band und Seitenzahl dieser Abteilung.
| |
| - Hinzufügungen des Herausgebers sind in eckige Klammern
| |
| gesetzt.]
| |
| | |
| stellt, die Ursachen, als deren Folge uns die Äußerungen des
| |
| Lebens erscheinen, und zwar alles, was wir in prinzipieller
| |
| Hinsicht diesbezüglich zu fragen haben, hat er dargelegt.2 Es
| |
| ist dies vom Anfange an das Ziel alles seines Strebens in bezug
| |
| auf die organischen Naturwissenschaften; bei Verfolgung
| |
| desselben drängen sich ihm jene Einzelheiten wie von
| |
| selbst auf. Er mußte sie finden, wenn er im weiteren Streben
| |
| nicht gehindert sein wollte. Die Naturwissenschaft vor
| |
| ihm, die das Wesen der Lebenserscheinungen nicht kannte
| |
| und die Organismen einfach nach der Zusammensetzung
| |
| aus Teilen, nach deren äußerlichen Merkmalen untersuchte,
| |
| so wie man dieses bei unorganischen Dingen auch macht,
| |
| mußte auf ihrem Wege oft den Einzelheiten eine falsche
| |
| Deutung geben, sie in ein falsches Licht setzen. An den
| |
| Einzelheiten als solchen kann man natürlich einen solchen
| |
| Irrtum nicht bemerken. Das erkennen wir eben erst, wenn
| |
| wir den Organismus verstehen, da die Einzelheiten für sich,
| |
| abgesondert betrachtet, das Prinzip ihrer Erklärung nicht
| |
| in sich tragen. Sie sind nur durch die Natur des Ganzen zu
| |
| erklären, weil es das Ganze ist, das ihnen Wesen und Be-
| |
| 2 Wer ein solches Ziel von vornherein für unerreichbar erklärt, der
| |
| wird zum Verständnis Goethescher Naturanschauungen nie kommen;
| |
| wer dagegen vorurteilslos, diese Frage offenlassend, an das Studium
| |
| derselben geht, der wird sie nach Beendigung desselben gewiß
| |
| bejahend beantworten. Es könnten wohl manchem durch einige
| |
| Bemerkungen Goethes selbst Bedenken aufsteigen, wie z. B. folgende
| |
| ist: «Wir hätten... ohne Anmaßung, die ersten Triebfedern der Naturwirkungen
| |
| entdecken zu wollen, auf Äußerung der Kräfte, durch
| |
| welche die Pflanze ein und dasselbe Organ nach und nach umbildet,
| |
| unsere Aufmerksamkeit gerichtet.» Allein solche Aussprüche richten
| |
| sich bei Goethe nie gegen die prinzipielle Möglichkeit, die Wesenheit
| |
| der Dinge zu erkennen, sondern er ist nur vorsichtig genug über die
| |
| physikalisch-mechanischen Bedingungen, welche dem Organismus
| |
| zugrunde liegen, nicht vorschnell abzuurteilen, da er wohl wußte,
| |
| daß solche Fragen nur im Laufe der Zeit gelöst werden können.
| |
| deutung gibt. Erst nachdem Goethe eben diese Natur des
| |
| Ganzen enthüllt hatte, wurden ihm jene irrtümlichen Auslegungen
| |
| sichtbar; sie waren mit seiner Theorie der Lebewesen
| |
| nicht zu vereinigen, sie widersprachen derselben.
| |
| Wollte er auf seinem Wege weiter gehen, so mußte er dergleichen
| |
| Vorurteile wegschaffen. Dies war beim Zwischenknochen
| |
| der Fall. Tatsachen, die nur dann von Wert und
| |
| Interesse sind, wenn man eben jene Theorie besitzt, wie
| |
| die Wirbelnatur der Schädelknochen, waren jener älteren
| |
| Naturlehre unbekannt. Alle diese Hindernisse mußten
| |
| durch Einzelerfahrungen aus dem Wege geräumt werden.
| |
| So erscheinen uns denn die letzteren bei Goethe nie als
| |
| Selbstzweck; sie müssen immer gemacht werden, um einen
| |
| großen Gedanken, um jene zentrale Entdeckung zu bestätigen.
| |
| Es ist nicht zu leugnen, daß Goethes Zeitgenossen
| |
| früher oder später zu denselben Beobachtungen kamen,
| |
| und daß heute vielleicht alle auch ohne Goethes Bestrebungen
| |
| bekannt wären; aber noch viel weniger ist zu leugnen,
| |
| daß seine große, die ganze organische Natur umspannende
| |
| Entdeckung bis heute von keinem zweiten unabhängig von
| |
| Goethe in gleich vortrefflicher Weise ausgesprochen worden
| |
| ist3, ja es fehlt uns bis heute an einer auch nur einiger-
| |
| 3 Damit wollen wir keineswegs sagen, Goethe sei in dieser Hinsicht
| |
| überhaupt nie verstanden worden. Im Gegenteil: "Wir nehmen in
| |
| dieser Ausgabe selbst wiederholt Anlaß, auf eine Reihe von Männern
| |
| hinzuweisen, die uns als Fortsetzer und Ausarbeiter Goethescher
| |
| Ideen erscheinen. Namen wie Voigt, Nees von Esenbeck, d'Alton
| |
| (der altere und der jüngere), Schelver, C. G. Carus, Martius u. a.
| |
| gehören in diese Reihe. Aber diese bauten eben auf der Grundlage
| |
| der in den Goetheschen Schriften niedergelegten Anschauungen ihre
| |
| Systeme auf, und man kann gerade von ihnen nicht sagen, daß sie
| |
| auch ohne Goethe zu ihren Begriffen gelangt wären, wogegen allermaßen
| |
| befriedigenden Würdigung derselben. Es erscheint
| |
| im Grunde gleichgültig, ob Goethe eine Tatsache zuerst
| |
| oder nur wiederentdeckt hat; sie gewinnt durch die Art, wie
| |
| er sie seiner Naturanschauung einfügt, erst ihre wahre Bedeutung.
| |
| Das ist es, was man bisher übersehen hat. Man hob
| |
| jene besonderen Tatsachen zu sehr hervor und forderte dadurch
| |
| zur Polemik auf. Wohl wies man oft auf Goethes
| |
| Überzeugung von der Konsequenz der Natur hin, allein
| |
| man beachtete nicht, daß damit nur ein ganz nebensächliches,
| |
| wenig bedeutsames Charakteristikon der Goetheschen
| |
| Anschauungen gegeben ist und daß es beispielsweise
| |
| in bezug auf die Organik die Hauptsache ist, zu zeigen,
| |
| welcher Natur das ist, welches jene Konsequenz bewahrt.
| |
| Nennt man da den Typus, so hat man zu sagen, worinnen
| |
| die Wesenheit des Typus im Sinne Goethes besteht.
| |
| Das Bedeutsame der Pflanzenmetamorphose liegt z. B.
| |
| nicht in der Entdeckung der einzelnen Tatsache, daß Blatt,
| |
| Kelch, Krone usw. identische Organe seien, sondern in dem
| |
| großartigen gedanklichen Aufbau eines lebendigen Ganzen
| |
| durcheinander wirkender Bildungsgesetze, welcher daraus
| |
| hervorgeht und der die Einzelheiten, die einzelnen Stufen
| |
| der Entwicklung, aus sich heraus bestimmt. Die Größe
| |
| dieses Gedankens, den Goethe dann auch auf die Tierwelt
| |
| auszudehnen suchte, geht einem nur dann auf, wenn man
| |
| versucht, sich denselben im Geiste lebendig zu machen,
| |
| wenn man es unternimmt ihn nachzudenken. Man wird
| |
| dann gewahr, daß er die in die Idee übersetzte Natur der
| |
| Pflanze selbst ist, die in unserem Geiste ebenso lebt wie
| |
| dings Zeitgenossen des letzteren - z. B. Josephi von Göttingen -
| |
| selbständig auf den Zwischenknochen, oder Oken auf die Wirbeltheorie
| |
| gekommen sind.
| |
| im Objekte; man bemerkt auch, daß man sich einen Organismus
| |
| bis in die kleinsten Teile hinein belebt, nicht als
| |
| toten, abgeschlossenen Gegenstand, sondern als sich Entwickelndes,
| |
| Werdendes, als die stetige Unruhe in sich selbst
| |
| vorstellt.
| |
| Indem wir nun im folgenden versuchen, alles hier Angedeutete
| |
| eingehend darzulegen, wird sich uns zugleich das
| |
| wahre Verhältnis der Goetheschen Naturanschauung zu
| |
| jener unserer Zeit offenbaren, namentlich zur Entwicklungstheorie
| |
| in moderner Gestalt.
| |
| II
| |
| DIE ENTSTEHUNG
| |
| DER METAMORPHOSENLEHRE
| |
| Wenn man der Entstehungsgeschichte von Goethes Gedanken
| |
| über die Bildung der Organismen nachgeht, so kommt
| |
| man nur allzuleicht in Zweifel über den Anteil, den man
| |
| der Jugend des Dichters, d. h. der Zeit vor seinem Eintritte
| |
| in Weimar zuzuschreiben hat. Goethe selbst dachte sehr
| |
| gering von seinen naturwissenschaftlichen Kenntnissen in
| |
| dieser Zeit: «Von dem..., was eigentlich äußere Natur
| |
| heißt, hatte ich keinen Begriff und von ihren sogenannten
| |
| drei Reichen nicht die geringste Kenntnis.» (Siehe Goethes
| |
| Naturwissenschaftliche Schriften in Kürschners Deutscher
| |
| National-Literatur4, I. Band [S. 64].) Auf diese Äußerung
| |
| gestützt, denkt man sich meistens den Beginn seines
| |
| naturwissenschaftlichen Nachdenkens erst nach seiner Ankunft
| |
| in Weimar. Dennoch erscheint es geboten, noch weiter
| |
| zurückzugehen, wenn man nicht den ganzen Geist seiner
| |
| Anschauungen unerklärt lassen will. Die belebende Gewalt,
| |
| welche seine Studien in jene Richtung lenkte, die wir
| |
| später darlegen wollen, zeigt sich schon in frühester Jugend.
| |
| Als Goethe an die Leipziger Hochschule kam, herrschte
| |
| in den naturwissenschaftlichen Bestrebungen daselbst noch
| |
| ganz jener Geist, der für einen großen Teil des achtzehnten
| |
| Jahrhunderts charakteristisch ist und der die gesamte Wissenschaft
| |
| in zwei Extreme auseinanderwarf, welche zu vereinigen
| |
| man kein Bedürfnis fühlte. Auf der einen Seite
| |
| stand die Philosophie Christian Wolffs (1679-1754), wel-
| |
| 4 [Im folgenden mit Natw. Sehr, abgekürzt.]
| |
| che sich ganz in einem abstrakten Elemente bewegte; auf
| |
| der anderen die einzelnen Wissenschaftszweige, welche in
| |
| der äußerlichen Beschreibung unendlicher Einzelheiten sich
| |
| verloren und denen jedes Bestreben mangelte, in der Welt
| |
| ihrer Objekte ein höheres Prinzip aufzusuchen. Jene Philosophie
| |
| konnte den Weg aus der Sphäre ihrer allgemeinen
| |
| Begriffe in das Reich der unmittelbaren Wirklichkeit, des
| |
| individuellen Daseins nicht finden. Da wurden die selbstverständlichsten
| |
| Dinge mit aller Ausführlichkeit behandelt.
| |
| Man erfuhr, daß das Ding ein Etwas sei, welches keinen
| |
| Widerspruch in sich habe, daß es endliche und unendliche
| |
| Substanzen gebe usw. Trat man aber mit diesen Allgemeinheiten
| |
| an die Dinge selbst heran, um deren Wirken
| |
| und Leben zu verstehen, so stand man völlig ratlos da; man
| |
| konnte keine Anwendung jener Begriffe auf die Welt, in der
| |
| wir leben und die wir verstehen wollen, machen. Die uns
| |
| umgebenden Dinge selbst aber beschrieb man in ziemlich
| |
| prinziploser Weise, rein nach dem Augenschein, nach ihren
| |
| äußerlichen Merkmalen. Es standen sich hier eine Wissenschaft
| |
| der Prinzipien, welcher der lebendige Gehalt, die
| |
| liebevolle Vertiefung in die unmittelbare Wirklichkeit
| |
| fehlte, und eine prinziplose Wissenschaft, welche des ideellen
| |
| Gehaltes ermangelte, gegenüber ohne Vermittlung, jede
| |
| für die andere unfruchtbar. Goethes gesunde Natur fand
| |
| sich von beiden Einseitigkeiten in gleicher Weise abgestoßen5
| |
| und im Widerstreite mit ihnen entwickelten sich
| |
| bei ihm Vorstellungen, die ihn später zu jener fruchtbaren
| |
| Naturauffassung führten, in welcher Idee und Erfahrung
| |
| in allseitiger Durchdringung sich gegenseitig beleben und
| |
| zu einem Ganzen werden.
| |
| 5 Siehe «Dichtung und Wahrheit», II. Teil, 6. Buch.
| |
| Der Begriff, den jene Extreme am wenigsten erfassen
| |
| konnten, entwickelte sich daher bei Goethe zuerst: der Begriff
| |
| des Lebens. Ein lebendes Wesen stellt uns, wenn wir
| |
| es seiner äußeren Erscheinung nach betrachten, eine Menge
| |
| von Einzelheiten dar, die uns als dessen Glieder oder Organe
| |
| erscheinen. Die Beschreibung dieser Glieder, ihrer
| |
| Form, gegenseitigen Lage, Größe usw. nach, kann den Gegenstand
| |
| weitläufigen Vortrages bilden, dem sich die zweite
| |
| der von uns bezeichneten Richtungen hingab. Aber in dieser
| |
| Weise kann man auch jede mechanische Zusammensetzung
| |
| aus unorganischen Körpern beschreiben. Man vergaß
| |
| völlig, daß bei dem Organismus vor allem festgehalten
| |
| werden müsse, daß hier die äußere Erscheinung von einem
| |
| inneren Prinzipe beherrscht wird, daß in jedem Organe das
| |
| Ganze wirkt. Jene äußere Erscheinung, das räumliche Nebeneinander
| |
| der Glieder kann auch nach der Zerstörung
| |
| des Lebens betrachtet werden, denn sie dauert ja noch eine
| |
| Zeitlang fort. Aber was wir an einem toten Organismus
| |
| vor uns haben, ist in Wahrheit kein Organismus mehr. Es
| |
| ist jenes Prinzip verschwunden, welches alle Einzelheiten
| |
| durchdringt. Jener Betrachtung, welche das Lehen zerstört,
| |
| um das Lehen zu erkennen, setzt Goethe frühzeitig die Möglichkeit
| |
| und das Bedürfnis einer höheren entgegen. Wir sehen
| |
| dies schon in einem Briefe aus der Straßburger Zeit
| |
| vom 14. Juli 1770, wo er von einem Schmetterlinge spricht:
| |
| «Das arme Tier zittert im Netz, streift sich die schönsten
| |
| Farben ab; und wenn man es ja unversehrt erwischt, so
| |
| steckt es doch endlich steif und leblos da; der Leichnam ist
| |
| nicht das ganze Tier, es gehört noch etwas dazu, noch ein
| |
| Hauptstück und bei der Gelegenheit, wie bei jeder andern,
| |
| ein hauptsächliches Hauptstück: das Lehen . . .» [WA 1,
| |
| 238] Derselben Anschauung sind ja auch die Worte im
| |
| «Faust» [I. Teil/Studierzimmer] entsprungen:
| |
| «Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben,
| |
| Sucht erst den Geist herauszutreiben;
| |
| Dann hat er die Teile in der Hand,
| |
| Fehlt, leider! nur das geistige Band.»
| |
| Bei dieser Negation einer Auffassung blieb aber Goethe,
| |
| wie dies bei seiner Natur wohl vorauszusetzen ist, nicht
| |
| stehen, sondern er suchte seine eigene immer mehr auszubilden,
| |
| und wir erkennen in den Andeutungen, welche wir
| |
| über sein Denken von 1769-1775 haben, gar oft schon die
| |
| Keime für seine späteren Arbeiten. Er bildet sich hier die
| |
| Idee eines Wesens aus, bei dem jeder Teil den andern belebt,
| |
| bei dem ein Prinzip alle Einzelheiten durchdringt. Im
| |
| «Faust» [I. Teil/Nacht] heißt es:
| |
| «Wie alles sich zum Ganzen webt,
| |
| Eins in dem andern wirkt und lebt.»
| |
| und im «Satyros» [4. Akt]:
| |
| «Wie im Unding das Urding erquoll,
| |
| Lichtsmacht durch die Nacht scholl,
| |
| Durchdrang die Tiefen der Wesen all,
| |
| Daß aufkeimte Begehrungs-Schwall
| |
| Und die Elemente sich erschlossen,
| |
| Mit Hunger ineinander ergossen,
| |
| Alldurchdringend, alldurchdrungen.»
| |
| Dieses Wesen wird so gedacht, daß es in der Zeit steten
| |
| Veränderungen unterworfen ist, daß aber in allen Stufen
| |
| der Veränderungen sich immer nur ein Wesen offenbart,
| |
| das sich als das Dauernde, Beständige im Wechsel behauptet.
| |
| Im «Satyros» heißt es von jenem Urdinge weiter:
| |
| «Und auf und ab sich rollend ging
| |
| Das all und ein' und ewig' Ding,
| |
| Immer verändert, immer beständig!»
| |
| Man vergleiche damit, was Goethe im Jahre 1807 als Einleitung
| |
| zu seiner Metamorphosenlehre schrieb: «Betrachten
| |
| wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden
| |
| wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes,
| |
| ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr
| |
| alles in einer steten Bewegung schwanke.» (Natw. Schr., 1.
| |
| Bd. [S. 8]) Diesem Schwankenden stellt er dort die Idee
| |
| oder «ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes
| |
| » als das Beständige entgegen. Man wird aus obiger
| |
| Stelle aus «Satyros» deutlich genug erkennen, daß der
| |
| Grund zu den morphologischen Gedanken schon in der Zeit
| |
| vor dem Eintritte in Weimar gelegt wurde.
| |
| Das, was aber festgehalten werden muß, ist, daß jene
| |
| Idee eines lebenden Wesens nicht gleich auf einen einzelnen
| |
| Organismus angewendet, sondern daß das ganze Universum
| |
| als ein solches Lebewesen vorgestellt wird. Hierzu ist
| |
| freilich in den alchymistischen Arbeiten mit Fräulein von
| |
| Klettenberg und in der Lektüre des Theophrastus Paracelsus
| |
| nach seiner Rückkehr von Leipzig (1768/69) die Veranlassung
| |
| zu suchen. Man suchte jenes das ganze Universum
| |
| durchdringende Prinzip durch irgendeinen Versuch
| |
| festzuhalten, es in einem Stoffe darzustellen.6 Doch bildet
| |
| diese ans Mystische streifende Art der Weltbetrachtung nur
| |
| eine vorübergehende Episode in Goethes Entwicklung und
| |
| 6 «Dichtung und Wahrheit», IL Teil, 8. Buch.
| |
| weicht bald einer gesunderen und objektiveren Vorstellungsweise.
| |
| Die Anschauung von dem ganzen Weltall als
| |
| einem großen Organismus, wie wir sie oben in den Stellen
| |
| aus «Faust» und «Satyros» angedeutet fanden, bleibt aber
| |
| noch aufrecht bis in die Zeit um 1780, wie wir später aus
| |
| dem Aufsatze «Die Natur» sehen werden. Sie tritt uns im
| |
| «Faust» noch einmal entgegen, und zwar da, wo der Erdgeist
| |
| als jenes den All-Organismus durchdringende Lebensprinzip
| |
| dargestellt wird [I. Teil/Nacht]:
| |
| «In Lebensfluten, im Tatensturm
| |
| Wall ich auf und ab,
| |
| Webe hin und her!
| |
| Geburt und Grab,
| |
| Ein ewiges Meer,
| |
| Ein wechselnd Weben,
| |
| Ein glühend Leben.»
| |
| Während sich so bestimmte Anschauungen in Goethes Geist
| |
| entwickelten, kam ihm in Straßburg ein Buch in die Hand,
| |
| welches eine Weltanschauung, die der seinigen gerade entgegengesetzt
| |
| ist, zur Geltung bringen wollte. Es war Holbachs
| |
| «Systeme de la nature».7 Hatte er bis dahin nur den
| |
| Umstand zu tadeln gehabt, daß man das Lebendige wie
| |
| eine mechanische Zusammenhäufung einzelner Dinge beschrieb,
| |
| so konnte er in Holbach einen Philosophen kennenlernen,
| |
| der das Lebendige wirklich für einen Mechanismus
| |
| ansah. Was dort bloß aus einer Unfähigkeit, das Leben in
| |
| seiner Wurzel zu erkennen, entsprang, das führte hier zu
| |
| einem das Leben ertötenden Dogma. Goethe sagt darüber
| |
| in «Dichtung und Wahrheit» (III. Teil, 11. Buch): «Eine
| |
| 7 «Dichtung und Wahrheit», III. Teil, 11. Buch.
| |
| Materie sollte sein von Ewigkeit, und von Ewigkeit her bewegt,
| |
| und sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links
| |
| und nach allen Seiten, ohne weiteres, die unendlichen Phänomene
| |
| des Daseins hervorbringen. Dies alles wären wir
| |
| sogar zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus
| |
| seiner bewegten Materie die Welt vor unseren Augen aufgebaut
| |
| hätte. Aber er mochte von der Natur so wenig wissen
| |
| als wir; denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepfahlt,
| |
| verläßt er sie sogleich, um dasjenige, was höher
| |
| als die Natur, oder als höhere Natur in der Natur erscheint,
| |
| zur materiellen, schweren, zwar bewegten, aber doch richtungs-
| |
| und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt
| |
| dadurch recht viel gewonnen zu haben.» Goethe konnte
| |
| darinnen nichts finden als «bewegte Materie» und im Gegensatze
| |
| dazu bildeten sich seine Begriffe von Natur immer
| |
| klarer aus. Wir finden sie im Zusammenhange dargestellt
| |
| in seinem Aufsatz «Die Natur»8, welcher um das Jahr
| |
| 1780 geschrieben ist. Da in diesem Aufsatze alle Gedanken
| |
| Goethes über die Natur, welche wir bis dahin nur zerstreut
| |
| angedeutet finden, zusammengestellt sind, so gewinnt er
| |
| eine besondere Bedeutung. Die Idee eines Wesens, welches
| |
| in beständiger Veränderung begriffen ist und dabei doch
| |
| immer identisch bleibt, tritt uns hier entgegen: «Alles ist
| |
| neu und immer das Alte.» «Sie (die Natur) verwandelt sich
| |
| ewig, und ist kein Moment Stillstehen in ihr,» aber «ihre
| |
| Gesetze sind unwandelbar.» Wir werden später sehen, daß
| |
| 8 [Natw. Schr., 2. Bd., S. 5ff.; bezüglich dieses Aufsatzes vgl. man
| |
| auch die Ausführungen Rudolf Steiners in «Grundlinien einer Erkenntnistheorie
| |
| der Goetheschen Weltanschauung», Gesamtausgabe
| |
| Dornach 1960, S. 138 (Anm. zu S. 28) und «Methodische Grundlagen
| |
| der Anthroposophie 1884—1901», Gesamtausgabe Dornach 1961,
| |
| S. 320 ff.]
| |
| Goethe in der unendlichen Menge von Pflanzengestalten
| |
| die eine Urpflanze sucht. Auch diesen Gedanken finden wir
| |
| hier schon angedeutet: «Jedes ihrer (der Natur) Werke hat
| |
| ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten
| |
| Begriff, und doch macht alles Eins aus.» Ja sogar die
| |
| Stellung, welche er später Ausnahmefällen gegenüber einnahm,
| |
| nämlich sie nicht einfach als Bildungsfehler anzusehen,
| |
| sondern aus Naturgesetzen zu erklären, spricht sich
| |
| hier schon ganz deutlich aus: «Auch das Unnatürlichste ist
| |
| Natur» und «ihre Ausnahmen sind selten.»9
| |
| Wir haben gesehen, daß Goethe sich schon vor seinem
| |
| Eintritte in Weimar einen bestimmten Begriff von einem
| |
| Organismus ausgebildet hatte. Denn wenngleich der erwähnte
| |
| Aufsatz «Die Natur» erst lange nach demselben
| |
| entstanden ist, so enthält er doch größtenteils frühere Anschauungen
| |
| Goethes. Auf eine bestimmte Gattung von Naturobjekten,
| |
| auf einzelne Wesen hatte er diesen Begriff
| |
| noch nicht angewendet. Dazu bedurfte es der konkreten
| |
| Welt der lebenden Wesen in unmittelbarer Wirklichkeit.
| |
| Der durch den menschlichen Geist hindurchgegangene Abglanz
| |
| der Natur war durchaus nicht das Element, welches
| |
| Goethe anregen konnte. Die botanischen Gespräche bei
| |
| Hofrat Ludwig in Leipzig blieben ebenso ohne tiefere Wirkung,
| |
| wie die Tischgespräche mit den medizinischen Freunden
| |
| in Straßburg. In bezug auf die wissenschaftlichen Stu-
| |
| 9 Siehe über die Autorschaft dieses Aufsatzes Anmerkung 1 am
| |
| Schlusse dieser Schrift. [Rudolf Steiner hatte die Absicht, für die
| |
| Sonderausgabe sämtlicher Einleitungen zu Goethes «Naturwissenschaftlichen
| |
| Schriften», 1.-5. Aufl., Dornach 1926, an dieser und
| |
| weiteren 35 bereits von ihm bezeichneten Stellen - diese Stellen tragen
| |
| im vorliegenden Text sämtlich einen * - Anmerkungen zu
| |
| schreiben. Er konnte diese Absicht nicht mehr verwirklichen.]
| |
| dien erscheint uns der junge Goethe ganz als der die Frische
| |
| ursprünglichen Anschauens der Natur entbehrende Faust,
| |
| welcher seine Sehnsucht nach derselben mit den Worten
| |
| ausspricht [I. Teil/Nacht]:
| |
| «Ach! könnt' ich doch auf Bergeshöhn
| |
| In deinem (des Mondes) lieben Lichte gehn,
| |
| Um Bergeshöhle mit Geistern schweben,
| |
| Auf Wiesen in deinem Dämmer weben.»
| |
| Wie eine Erfüllung dieser Sehnsucht erscheint es uns, wenn
| |
| ihm bei seinem Eintritte in Weimar gegönnt ist, «Stubenund
| |
| Stadtluft mit Land-, Wald- und Gartenatmosphäre zu
| |
| vertauschen» (Natw. Sehr., 1. Bd., S. 64).
| |
| Als die unmittelbare Anregung zum Studium der Pflanzen
| |
| haben wir des Dichters Beschäftigung mit dem Pflanzen
| |
| von Gewächsen in den ihm von dem Herzoge Karl
| |
| August geschenkten Garten zu betrachten. Die Empfangnahme
| |
| desselben von seiten Goethes erfolgte am 21. April
| |
| 1776 und das von R. Keil herausgegebene «Tagebuch» meldet
| |
| uns von nun an oft von Goethes Arbeiten in diesem Garten,
| |
| die eines seiner Lieblingsgeschäfte werden. Ein weiteres
| |
| Feld für Bestrebungen in dieser Richtung bot ihm der Thüringerwald,
| |
| wo er Gelegenheit hatte, auch die niederen Organismen
| |
| in ihren Lebenserscheinungen kennenzulernen. Es
| |
| interessieren ihn besonders die Moose und Flechten. Am
| |
| 31. Oktober 1778 bittet er Frau von Stein um Moose von
| |
| allen Sorten und womöglich mit den Wurzeln und feucht,
| |
| damit sie sich wieder fortpflanzen. Es muß uns höchst bedeutsam
| |
| erscheinen, daß Goethe sich hier schon mit dieser
| |
| tiefstehenden Organismenwelt beschäftigte und später die
| |
| Gesetze der Pflanzenorganisation doch von den höheren
| |
| Pflanzen ableitete. Wir haben dies in Erwägung dieses Umstandes
| |
| nicht, wie viele tun, einer Unterschätzung der Bedeutung
| |
| der weniger entwickelten Wesen, sondern vollbewußter
| |
| Absicht zuzuschreiben.
| |
| Nun verläßt der Dichter das Reich der Pflanzen nicht
| |
| mehr. Schon sehr früh mögen wohl Linnes Schriften vorgenommen
| |
| worden sein. Wir erfahren von der Bekanntschaft
| |
| mit denselben zuerst aus den Briefen an Frau von
| |
| Stein im Jahre 1782.
| |
| Linnes Bestrebungen gingen dahin, eine systematische
| |
| Übersichtlichkeit in die Kenntnis der Pflanzen zu bringen-
| |
| Es sollte eine gewisse Reihenfolge gefunden werden, in der
| |
| jeder Organismus an einer bestimmten Stelle steht, so daß
| |
| man ihn jederzeit leicht auffinden könne, ja daß man überhaupt
| |
| ein Mittel der Orientierung in der grenzenlosen
| |
| Menge der Einzelheiten hätte. Zu diesem Zwecke mußten
| |
| die Lebewesen nach Graden ihrer Verwandtschaft untersucht
| |
| und diesen entsprechend in Gruppen zusammengestellt
| |
| werden. Da es sich dabei vor allem darum handelte,
| |
| jede Pflanze zu erkennen und ihren Platz im Systeme leicht
| |
| aufzufinden, so mußte man insbesondere auf jene Merkmale
| |
| Rücksicht nehmen, welche die Pflanzen voneinander
| |
| unterscheiden. Um eine Verwechslung einer Pflanze mit
| |
| einer anderen unmöglich zu machen, suchte man vorzüglich
| |
| diese unterscheidenden Kennzeichen auf. Dabei wurden
| |
| von Linne und seinen Schülern äußerliche Kennzeichen,
| |
| Größe, Zahl und Stellung der einzelnen Organe als charakteristisch
| |
| angesehen. Die Pflanzen waren auf diese
| |
| Weise wohl in eine Reihe geordnet, aber so, wie man auch
| |
| eine Anzahl unorganischer Körper hätte ordnen können:
| |
| nach Merkmalen, welche dem Augenscheine, nicht der inneren
| |
| Natur der Pflanze entnommen waren. Sie erschienen
| |
| in einem äußerlichen Nebeneinander, ohne inneren, notwendigen
| |
| Zusammenhang. Bei dem bedeutsamen Begriffe,
| |
| den Goethe von der Natur eines Lebewesens hatte, konnte
| |
| ihm diese Betrachtungsweise nicht genügen. Es war da nirgends
| |
| nach dem Wesen der Pflanze geforscht. Goethe mußte
| |
| sich die Frage vorlegen: Worin besteht dasjenige «Etwas»,
| |
| welches ein bestimmtes Wesen der Natur zu einer Pflanze
| |
| macht? Er mußte ferner anerkennen, daß dieses Etwas in
| |
| allen Pflanzen in gleicher Weise vorkomme. Und doch war
| |
| die unendliche Verschiedenheit der Einzelwesen da, welche
| |
| erklärt sein wollte. Wie kommt es, daß jenes Eine sich
| |
| in so mannigfaltigen Gestalten offenbart? Dies waren wohl
| |
| die Fragen, welche Goethe beim Lesen der Linneschen
| |
| Schriften auf warf, denn er sagt ja selbst von sich: «Das,
| |
| was er - Linne - mit Gewalt auseinanderzuhalten suchte,
| |
| mußte, nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens, zur
| |
| Vereinigung anstreben».10
| |
| Ungefähr in dieselbe Zeit, wie die erste Bekanntschaft
| |
| mit Linne, fällt auch die mit den botanischen Bestrebungen
| |
| des Rousseau. Am 16. Juni 1782 schreibt Goethe an [Herzog]
| |
| Karl August: «In Rousseaus Werken finden sich ganz
| |
| allerliebste Briefe über die Botanik, worin er diese Wissenschaft
| |
| auf das faßlichste und zierlichste einer Dame vorträgt.
| |
| Es ist recht ein Muster, wie man unterrichten soll und
| |
| eine Beilage zum Emil. Ich nehme daher den Anlaß, das
| |
| schöne Reich der Blumen meinen schönen Freundinnen aufs
| |
| neue zu empfehlen.» [WA 5, 347] Rousseaus Bestrebungen
| |
| in der Pflanzenkunde mußten auf Goethe einen tiefen Eindruck
| |
| machen. Das Hervorheben einer aus dem Wesen der
| |
| 10 Vgl. Natw. Sehr., 1. Bd. [S. 68].
| |
| Pflanzen hervorgehenden und ihm entsprechenden Nomenklatur,
| |
| die Ursprünglichkeit des Beobachtern, das Betrachten
| |
| der Pflanze um ihrer selbst willen, abgesehen von allen
| |
| Nützlichkeitsprinzipien, die uns bei Rousseau entgegentreten,
| |
| alles das war ganz im Sinne Goethes. Beide hatten ja
| |
| auch das gemeinsam, daß sie nicht durch ein speziell herangezogenes
| |
| wissenschaftliches Bestreben, sondern durch
| |
| allgemein menschliche Motive zum Studium der Pflanze
| |
| gekommen waren. Dasselbe Interesse fesselte sie an denselben
| |
| Gegenstand.
| |
| Die nächsten eingehenden Beobachtungen der Pflanzenwelt
| |
| fallen in das Jahr 1784. Wilhelm Freiherr von Gleichen,
| |
| genannt Rußwurm, hatte damals zwei Schriften herausgegeben,
| |
| welche Untersuchungen zum Gegenstande hatten,
| |
| die Goethe lebhaft interessierten: «Das Neueste aus
| |
| dem Reiche der Pflanzen» (Nürnberg 1764) und «Auserlesene
| |
| mikroskopische Entdeckungen bei Pflanzen, Blumen
| |
| und Blüten, Insekten und anderen Merkwürdigkeiten»
| |
| (Nürnberg 1777-81). Beide Schriften behandelten die Befruchtungsvorgänge
| |
| an der Pflanze. Der Blütenstaub, die
| |
| Staubfäden und Stempel wurden sorgfältig untersucht und
| |
| die dabei stattfindenden Prozesse auf schön ausgeführten
| |
| Tafeln dargestellt. Diese Untersuchungen machte nun Goethe
| |
| nach. Am 12. Januar 1785 schreibt er an F.H. Jacobi:
| |
| «Ein Mikroskop ist aufgestellt, um die Versuche des v.
| |
| Gleichen, genannt Rußwurm, mit Frühlingseintritt nachzubeobachten
| |
| und zu kontrollieren.» [WA 7, 8] In demselben
| |
| Frühlinge wurde auch die Natur des Samens studiert,
| |
| wie uns ein Brief an Knebel vom 2. April 1785 zeigt: «Die
| |
| Materie vom Samen habe ich durchgedacht, soweit meine
| |
| Erfahrungen reichen.» [WA 7, 36] Bei allen diesen Untersuchungen
| |
| handelt es sich bei Goethe nicht um das Einzelne;
| |
| das Ziel seiner Bestrebungen ist, das Wesen der Pflanze zu
| |
| erforschen. Er meldet davon am 8. April 1785 an Merck,
| |
| daß er in der Botanik «hübsche Entdeckungen und Kombinationen
| |
| gemacht hat». [WA 7, 41] Auch der Ausdruck
| |
| Kombinationen beweist uns hier, daß er darauf ausgeht,
| |
| denkend sich ein Bild der Vorgänge in der Pflanzenwelt zu
| |
| entwerfen. Das Studium der Botanik näherte sich jetzt
| |
| rasch einem bestimmten Ziele. Wir müssen dabei nun freilich
| |
| daran denken, daß Goethe im Jahre 1784 den Zwischenknochen
| |
| entdeckt hat, wovon wir unten ausdrücklich
| |
| sprechen wollen und daß er damit dem Geheimnis, wie
| |
| die Natur bei der Bildung organischer Wesen verfährt, um
| |
| eine bedeutende Stufe nähergerückt war. Wir müssen ferner
| |
| daran denken, daß der erste Teil von Herders «Ideen
| |
| zur Philosophie der Geschichte» 1784 abgeschlossen wurde
| |
| und daß Gespräche über Gegenstände der Natur zwischen
| |
| Goethe und Herder damals sehr häufig waren. So berichtet
| |
| Frau von Stein an Knebel am 1. Mai 1784: «Herders neue
| |
| Schrift macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und
| |
| Tiere waren . . . Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen
| |
| Dingen und jedes, was erst durch seine Vorstellung gegangen
| |
| ist, wird äußerst interessant.» [Zur deutschen Literatur
| |
| und Geschichte, hrsg. von H. Düntzer, Bd. I, Nürnberg
| |
| 1857, S. 120.] Wir sehen daraus, welcher Art Goethes
| |
| Interesse für die größten Fragen der Wissenschaft damals
| |
| war. Es muß uns also jenes Nachdenken über die Natur der
| |
| Pflanze und die Kombinationen, die er darüber im Frühling
| |
| 1785 macht, ganz erklärlich erscheinen. Mitte April
| |
| dieses Jahres geht er nach Belvedere eigens um seine Zweifel
| |
| und Fragen zur Lösung zu bringen und am 15. Juni
| |
| [1786!] macht er an Frau von Stein folgende Mitteilung:
| |
| «Wie lesbar mir das Buch der Natur wird, kann ich dir
| |
| nicht ausdrücken, mein langes Buchstabieren hat mir geholfen,
| |
| jetzt ruckts auf einmal, und meine stille Freude
| |
| ist unaussprechlich.» [WA 7, 229] Kurz vorher will er
| |
| sogar eine kleine botanische Abhandlung für Knebel schreiben,
| |
| um ihn für diese Wissenschaft zu gewinnen.11 Die
| |
| Botanik zieht ihn so an, daß seine Reise nach Karlsbad,
| |
| die er am 20. Juni 1785 antritt, um den Sommer dort zuzubringen,
| |
| zu einer botanischen Studienreise wird. Knebel begleitete
| |
| ihn. In der Nähe von Jena treffen sie einen 17-
| |
| jährigen Jüngling, [Friedrich Gottlieb] Dietrich, dessen
| |
| Blechtrommel zeigte, daß er eben von einer botanischen
| |
| Exkursion heimkehrt. Über diese interessante Reise erfahren
| |
| wir näheres aus Goethes «Geschichte meines botanischen
| |
| Studiums» und aus einigen Mitteilungen von [Ferdinand]
| |
| Cohn12 in Breslau, der dieselben einem Manuskripte
| |
| Dietrichs entlehnen konnte. In Karlsbad bieten
| |
| nun gar oft botanische Gespräche eine angenehme Unterhaltung.
| |
| Nach Hause zurückgekehrt widmet Goethe
| |
| sich mit großer Energie dem Studium der Botanik; er
| |
| macht an der Hand von Linnes Philosophia13 Beobachtungen
| |
| über Pilze, Moose, Flechten und Algen, wie wir solches
| |
| aus seinen Briefen an Frau von Stein ersehen. Erst jetzt, wo
| |
| er bereits selbst vieles gedacht und beobachtet, wird ihm
| |
| Linne nützlicher, er findet bei ihm Aufschluß über viele
| |
| 11 «Gerne schickte ich dir eine kleine botanische Lektion, wenn sie nur
| |
| schon geschrieben wäre.» [Brief an Knebel vom] 2. April 1785.
| |
| [WA 7, 36]
| |
| 12 [«Deutsche Rundschau» (Berlin etc.) Bd. XXVIII (Juli-Sept.) 1881,
| |
| S.34f.]
| |
| 13 [Karl von Linne, «Philosophia botanica», Stockholm 1751.]
| |
| Einzelheiten, die ihm bei seinen Kombinationen vorwärts
| |
| helfen. Am 9. November 1785 berichtet er an Frau von
| |
| Stein: «Ich lese im Linne fort, denn ich muß wohl, ich habe
| |
| kein ander Buch. Es ist die beste Art, ein Buch gewiß zu
| |
| lesen, die ich Öfters praktizieren muß, besonders da ich
| |
| nicht leicht ein Buch auslese. Dieses ist aber vorzüglich
| |
| nicht zum Lesen, sondern zum Rekapitulieren gemacht
| |
| und tut mir nun treffliche Dienste, da ich über die meisten
| |
| Punkte selbst gedacht habe.» [WA 7,118] Während dieser
| |
| Studien wurde ihm immer klarer, daß es doch nur eine
| |
| Grundform sei, welche in der unendlichen Menge einzelner
| |
| Pflanzenindividuen erscheint, es wurde ihm auch diese
| |
| Grundform seihst immer anschaulicher, er erkannte ferner,
| |
| daß in dieser Grundform die Fähigkeit unendlicher Abänderung
| |
| liege, wodurch die Mannigfaltigkeit aus der Einheit
| |
| erzeugt wird. Am 9. Juli 1786 schreibt er an Frau von Stein:
| |
| «Es ist ein Gewahrwerden der . . . Form, mit der die Natur
| |
| gleichsam nur immer spielt und spielend das mannigfaltige
| |
| Lehen hervorbringt.» [WA 7, 242] Nun handelte es sich
| |
| vor allem darum, das Bleibende, Beständige, jene Urform,
| |
| mit welcher die Natur gleichsam spielt, im einzelnen zu einem
| |
| plastischen Bilde auszubilden. Dazu bedurfte es einer
| |
| Gelegenheit, das wahrhaft Konstante, Dauernde in der
| |
| Pflanzenform von dem Wechselnden, Unbeständigen zu
| |
| trennen. Zu Beobachtungen dieser Art hatte Goethe noch
| |
| ein zu kleines Gebiet durchforscht. Er mußte eine und dieselbe
| |
| Pflanze unter verschiedenen Bedingungen und Einflüssen
| |
| beobachten; denn nur dadurch fällt das Veränderliche
| |
| so recht in die Augen. Bei Pflanzen verschiedener Art
| |
| fällt es uns weniger auf. Dieses alles brachte die beglükkende
| |
| Reise nach Italien, welche er am 3. September von
| |
| Karlsbad aus angetreten hatte. Schon an der Flora der Alpen
| |
| ward manche Beobachtung gemacht. Er fand hier nicht
| |
| bloß neue von ihm noch nie gesehene Pflanzen, sondern
| |
| auch solche, die er schon kannte, aber verändert. «Wenn
| |
| in der tiefern Gegend Zweige und Stengel stärker und mastiger
| |
| waren, die Augen näher aneinanderstanden und die
| |
| Blätter breit waren, so wurden höher ins Gebirg hinauf
| |
| Zweige und Stengel zarter, die Augen rückten auseinander,
| |
| so daß von Knoten zu Knoten ein größerer Zwischenraum
| |
| stattfand und die Blätter sich lanzenförmiger bildeten. Ich
| |
| bemerkte dies bei einer Weide und einer Gentiana und überzeugte
| |
| mich, daß es nicht etwa verschiedene Arten wären.
| |
| Auch am Walchensee bemerkte ich längere und schlankere
| |
| Binsen als im Unterlande.»14Ähnliche Beobachtungen wiederholten
| |
| sich. In Venedig am Meere entdeckt er verschiedene
| |
| Pflanzen, welche ihm Eigenschaften zeigen, die ihnen
| |
| nur das alte Salz des Sandbodens, mehr aber die salzige
| |
| Luft geben konnte. Er fand da eine Pflanze, die ihm wie
| |
| unser «unschuldiger Huflattich» erschien, «hier aber mit
| |
| scharfen Waffen bewaffnet und das Blatt wie Leder, so
| |
| auch die Samenkapseln, die Stiele, alles war mastig und
| |
| fett.»15 Da sah Goethe alle äußeren Merkmale der Pflanze,
| |
| alles was an ihr dem Augenscheine angehört, unbeständig,
| |
| wechselnd. Er zieht daraus den Schluß, daß also in diesen
| |
| Eigenschaften das Wesen der Pflanze nicht liege, sondern
| |
| tiefer gesucht werden müsse. Von ähnlichen Beobachtungen,
| |
| wie hier Goethe, ging auch Darwin aus, als er seine
| |
| Zweifel über die Konstanz der äußeren Gattungs- und Artformen
| |
| zur Geltung brachte. Die Resultate aber, welche
| |
| 14 Italienische Reise, 8. Sept. 1786.
| |
| 15 Italienische Reise, 8. Okt. 1786.
| |
| von den beiden gezogen werden, sind durchaus verschieden.
| |
| Während Darwin in jenen Eigenschaften das Wesen des
| |
| Organismus in der Tat für erschöpft hält und aus der Veränderlichkeit
| |
| den Schluß zieht: Also gibt es nichts Konstantes
| |
| im Leben der Pflanzen, geht Goethe tiefer und zieht
| |
| den Schluß: Wenn jene Eigenschaften nicht konstant sind,
| |
| so muß das Konstante in einem anderen, welches jenen veränderlichen
| |
| Äußerlichkeiten zugrunde liegt, gesucht werden.
| |
| Dieses letztere auszubilden wird Goethes Ziel, während
| |
| Darwins Bestrebungen dahin gehen, die Ursachen
| |
| jener Veränderlichkeit im einzelnen zu erforschen und darzulegen.
| |
| Beide Betrachtungsweisen sind notwendig und ergänzen
| |
| einander. Man geht ganz fehl, wenn man Goethes
| |
| Größe in der organischen Wissenschaft darinnen zu finden
| |
| glaubt, daß man in ihm den bloßen Vorläufer Darwins
| |
| sieht. Seine Betrachtungsweise ist eine viel breitere; sie umfaßt
| |
| zwei Seiten: 1. Den Typus, d. i. die sich im Organismus
| |
| offenbarende Gesetzlichkeit, das Tier-Sein im Tiere, das
| |
| sich aus sich herausbildende Leben, das Kraft und Fähigkeit
| |
| hat, sich durch die in ihm liegenden Möglichkeiten in mannigfaltigen,
| |
| äußeren Gestalten (Arten, Gattungen) zu entwickeln.
| |
| 2. Die Wechselwirkung des Organismus und der
| |
| unorganischen Natur und der Organismen untereinander
| |
| (Anpassung und Kampf ums Dasein). Nur die letztere Seite
| |
| der Organik hat Darwin ausgebildet. Man kann also nicht
| |
| sagen: Darwins Theorie sei die Ausbildung von Goethes
| |
| Grundideen, sondern sie ist bloß die Ausbildung einer Seite
| |
| der letzteren. Sie blickt nur auf jene Tatsachen, welche veranlassen,
| |
| daß sich die Welt der Lebewesen in einer gewissen
| |
| Weise entwickelt, nicht aber auf jenes «Etwas», auf
| |
| welches jene Tatsachen bestimmend einwirken. Wenn die
| |
| eine Seite allein verfolgt wird, so kann sie auch durchaus
| |
| nicht zu einer vollständigen Theorie der Organismen führen,
| |
| sie muß wesentlich im Geiste Goethes verfolgt werden,
| |
| sie muß durch die andere Seite von dessen Theorie ergänzt
| |
| und vertieft werden. Ein einfacher Vergleich wird die Sache
| |
| deutlicher machen. Man nehme ein Stück Blei, mache es
| |
| durch Erhitzen flüssig und gieße es dann in kaltes Wasser.
| |
| Das Blei hat zwei aufeinander folgende Stadien seines Zustandes
| |
| durchgemacht; das erste wurde bewirkt durch die
| |
| höhere, das zweite durch die niedrigere Temperatur. Wie
| |
| sich die beiden Stadien gestalten, das hängt nun nicht allein
| |
| von der Natur der Wärme, sondern ganz wesentlich auch
| |
| von jener des Bleies ab. Ein anderer Körper würde, durch
| |
| dieselben Medien gebracht, ganz andere Zustände zeigen.
| |
| Auch die Organismen lassen sich von den sie umgebenden
| |
| Medien beeinflussen, auch sie nehmen, durch letztere veranlaßt,
| |
| verschiedene Zustände an und zwar durchaus ihrer
| |
| Natur entsprechend, entsprechend jener Wesenheit, die sie
| |
| zu Organismen macht. Und diese Wesenheit findet man in
| |
| Goethes Ideen. Derjenige, der ausgerüstet mit dem Verständnisse
| |
| dieser Wesenheit ist, der wird erst imstande sein
| |
| zu begreifen, warum die Organismen auf bestimmte Veranlassungen
| |
| gerade in einer solchen und keiner andern
| |
| Weise antworten (reagieren). Ein solcher wird erst imstande
| |
| sein, sich über die Veränderlichkeit der Erscheinungsformen
| |
| der Organismen und die damit zusammenhängenden
| |
| Gesetze der Anpassung und des Kampfes ums Dasein die
| |
| richtigen Vorstellungen zu machen.16
| |
| 16 Unnötig wohl ist es zu sagen, daß die moderne Deszendenztheorie
| |
| damit durchaus nicht bezweifelt werden soll, oder daß ihre Behauptungen
| |
| damit eingeschränkt werden sollen; im Gegenteil, es wird
| |
| ihnen erst eine sichere Basis geschaffen.
| |
| Der Gedanke der Urpflanze bildet sich immer bestimmter,
| |
| klarer in Goethes Geist aus. Im botanischen Garten zu
| |
| Padua (Italienische Reise, 27. Sept. 1786), wo er unter einer
| |
| ihm fremden Vegetation einhergeht, wird ihm der «Gedanke
| |
| immer lebendiger, daß man sich alle Pflanzengestalten
| |
| vielleicht aus einer entwickeln könne». Am 17. November
| |
| 1786 schreibt er an Knebel: «So freut mich doch mein
| |
| bißchen Botanik erst recht in diesen Landen, wo eine frohere,
| |
| weniger unterbrochene Vegetation zu Hause ist. Ich
| |
| habe schon recht artige, ins allgemeine gehende Bemerkungen
| |
| gemacht, die auch dir in der Folge angenehm sein werden.
| |
| » [WA 8, 58] Am 19. Februar 1787 (siehe Italienische
| |
| Reise) schreibt er in Rom, daß er auf dem Wege sei, «neue
| |
| schöne Verhältnisse zu entdecken, wie die Natur solch ein
| |
| Ungeheures, das wie nichts aussieht, aus dem Einfachen
| |
| das Mannigfaltigste entwickelt.» Am 25. März bittet er,
| |
| Herdern zu sagen, daß er mit der Urpflanze bald zustande
| |
| ist. Am 17. April (siehe Italienische Reise) schreibt er in
| |
| Palermo von der Urpflanze die Worte nieder: «Eine solche
| |
| muß es doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß
| |
| dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht
| |
| alle nach einem Muster gebildet wären.» Er hat im Auge
| |
| den Komplex von Bildungsgesetzen, welcher die Pflanze
| |
| organisiert, sie zu dem macht, was sie ist und wodurch wir
| |
| bei einem bestimmten Objekte der Natur zu dem Gedanken
| |
| kommen: Dieses ist eine Pflanze -, das ist die Urpflanze.*
| |
| Als solche ist sie ein Ideelles, nur im Gedanken
| |
| Festzuhaltendes; sie gewinnt aber Gestalt, sie gewinnt eine
| |
| gewisse Form, Größe, Farbe, Zahl ihrer Organe usw. Diese
| |
| äußere Gestalt ist nichts Festes, sondern sie kann unendliche
| |
| Veränderungen erleiden, welche alle jenem Komplexe von
| |
| Bildungsgesetzen gemäß sind, aus ihm mit Notwendigkeit
| |
| folgen. Hat man jene Bildungsgesetze, jenes Urbild der
| |
| Pflanze erfaßt, so hat man das in der Idee festgehalten,
| |
| was bei jedem einzelnen Pflanzenindividuum die Natur
| |
| gleichsam zugrunde legt und woraus sie dasselbe als eine
| |
| Folge ableitet und entstehen läßt. Ja man kann selbst jenem
| |
| Gesetze gemäß Pflanzengestalten erfinden, welche aus
| |
| dem Wesen der Pflanze mit Notwendigkeit folgen und
| |
| existieren könnten, wenn die notwendigen Bedingungen dazu
| |
| einträten. Goethe sucht so gleichsam das im Geiste nachzubilden,
| |
| was die Natur bei der Bildung ihrer Wesen vollzieht.
| |
| Er schreibt am 17. Mai 178717 an Herder: «Ferner
| |
| muß ich Dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung
| |
| und Organisation ganz nahe bin und daß es
| |
| das einfachste ist, was nur gedacht werden kann . .. Die
| |
| Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt,
| |
| um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem
| |
| Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch
| |
| Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen,
| |
| das heißt: die, wenn sie auch nicht existieren, doch
| |
| existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische
| |
| Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche
| |
| Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird
| |
| sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.» Es tritt
| |
| nun hier noch eine weitere Verschiedenheit der Goetheschen
| |
| Auffassung von der Darwins hervor, namentlich,
| |
| wenn man berücksichtigt, wie letztere gewöhnlich vertreten
| |
| wird.18 Diese nimmt an, daß die äußeren Einflüsse wie
| |
| 17 Italienische Reise.
| |
| 18 Wir haben hier weniger die Entwicklungslehre derjenigen Naturforscher,
| |
| die auf dem Boden der sinnenfälligen Empirie stehen, vor
| |
| mechanische Ursachen auf die Natur eines Organismus
| |
| einwirken und ihn dementsprechend verändern. Bei Goethe
| |
| sind die einzelnen Veränderungen verschiedene Äußerungen
| |
| des Urorganismus, der in sich selbst die Fähigkeit hat,
| |
| mannigfache Gestalten anzunehmen und in einem bestimmten
| |
| Falle jene annimmt, welche den ihn umgebenden
| |
| Verhältnissen der Außenwelt am angemessensten ist. Diese
| |
| äußeren Verhältnisse sind bloß Veranlassung, daß die inneren
| |
| Gestaltungskräfte in einer besonderen Weise zur Erscheinung
| |
| kommen. Diese letzteren allein sind das konstitutive
| |
| Prinzip, das Schöpferische in der Pflanze. Daher
| |
| nennt es Goethe am 6. September 178719 auch ein
| |
| (Ein und Alles) der Pflanzenwelt.
| |
| Wenn wir nun auf diese Urpflanze selbst eingehen, so
| |
| ist darüber folgendes zu sagen. Das Lebendige ist ein in sich
| |
| beschlossenes Ganze, welches seine Zustände aus sich selbst
| |
| setzt. Sowohl im Nebeneinander der Glieder, wie in der
| |
| zeitlichen Aufeinanderfolge der Zustände eines Lebewesens
| |
| ist eine Wechselbeziehung vorhanden, welche nicht durch
| |
| die sinnenfälligen Eigenschaften der Glieder bedingt erscheint,
| |
| nicht durch mechanisch-kausales Bedingtsein des
| |
| Späteren von dem Früheren, sondern welche von einem
| |
| höheren über den Gliedern und Zuständen stehenden Prinzipe
| |
| beherrscht wird. Es ist in der Natur des Ganzen bedingt,
| |
| daß ein bestimmter Zustand als der erste, ein anderer
| |
| als der letzte gesetzt wird; und auch die Aufeinanderfolge
| |
| Augen, als vielmehr die theoretischen Grundlagen, die Prinzipien,
| |
| die dem Darwinismus zugrunde gelegt werden. Vor allem natürlich
| |
| die Jenaische Schule mit Haeckel an der Spitze; in diesem Geiste
| |
| ersten Ranges hat wohl die Darwinsche Lehre mit aller ihrer Einseitigkeit
| |
| ihre konsequente Ausgestaltung gefunden.
| |
| 19 Italienische Reise.
| |
| der mittleren ist in der Idee des Ganzen bestimmt; das Vorher
| |
| ist von dem Nachher und umgekehrt abhängig; kurz,
| |
| im lebendigen Organismus ist Entwicklung des einen aus
| |
| dem andern, ein Übergang der Zustände ineinander, kein
| |
| fertiges, abgeschlossenes Sein des Einzelnen, sondern stetes
| |
| Werden. In der Pflanze tritt dieses Bedingtsein jedes einzelnen
| |
| Gliedes durch das Ganze insofern auf, als alle Organe
| |
| nach derselben Grundform gebaut sind. Am 17. Mai
| |
| 178720 schreibt Goethe diesen Gedanken an Herder mit den
| |
| Worten: «Es war mir nämlich aufgegangen, daß in demjenigen
| |
| Organ (der Pflanze), welches wir gewöhnlich als
| |
| Blatt ansprechen, der wahre Proteus verborgen liege, der
| |
| sich in allen Gestaltungen verstecken und offenbaren
| |
| könne. Rückwärts und vorwärts ist die Pflanze immer nur
| |
| Blatt, mit dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint,
| |
| daß man sich eins ohne das andere nicht denken darf.»
| |
| Während beim Tiere jenes höhere Prinzip, das jedes Einzelne
| |
| beherrscht, uns konkret entgegentritt als dasjenige,
| |
| welches die Organe bewegt, seinen Bedürfnissen gemäß gebraucht
| |
| usw., entbehrt die Pflanze noch eines solchen wirklieben
| |
| Lebensprinzipes; bei ihr offenbart sich dasselbe erst
| |
| in der unbestimmteren Weise, daß alle Organe nach demselben
| |
| Bildungstypus gebaut sind, ja daß in jedem Teile
| |
| der Möglichkeit nach die ganze Pflanze enthalten ist und
| |
| durch günstige Umstände aus demselben auch hervorgebracht
| |
| werden kann. Goethe wurde dieses besonders klar,
| |
| als in Rom Rat Reiffenstein bei einem Spaziergange mit
| |
| ihm hier und da einen Zweig abreißend behauptete, derselbe
| |
| müsse in die Erde gesteckt, fortwachsen und sich zur
| |
| ganzen Pflanze entwickeln. Die Pflanze ist also ein Wesen,
| |
| 20 Italienische Reise.
| |
| welches in aufeinanderfolgenden Zeiträumen gewisse Organe
| |
| entwickelt, welche alle sowohl untereinander, wie jedes
| |
| einzelne mit dem Ganzen nach ein und derselben Idee
| |
| gebaut sind. Jede Pflanze ist ein harmonisches Ganze von
| |
| Pflanzen.21 Als Goethe dieses klar vor Augen stand, handelte
| |
| es sich für ihn nur noch um die Einzelbeobachtungen,
| |
| die es ermöglichten, die verschiedenen Stadien der Entwicklung,
| |
| welche die Pflanze aus sich heraus setzt, im besonderen
| |
| darzulegen. Auch dazu war schon das Nötige geschehen.
| |
| Wir haben gesehen, daß Goethe schon im Frühjahr
| |
| 1785 Samen untersucht hat; von Italien aus meldet er Herdern
| |
| am 17. Mai 1787, daß er den Punkt, wo der Keim
| |
| steckt, ganz klar und zweifellos gefunden habe. [WA Abt.
| |
| I, 31, 240] Damit war für das erste Stadium des Pflanzenlebens
| |
| gesorgt. Aber auch die Einheit des Baues aller Blätter
| |
| zeigte sich bald anschaulich genug. Neben zahlreichen anderen
| |
| Beispielen fand Goethe in dieser Hinsicht vor allem
| |
| am frischen Fenchel den Unterschied der unteren und oberen
| |
| Blätter, die aber trotzdem immer dasselbe Organ sind.
| |
| Am 25. März [1787]22 bittet er Herdern zu melden, daß
| |
| seine Lehre von den Kotyledonen so sublimiert sei, daß man
| |
| schwerlich wird weitergehen können. Es war nur noch ein
| |
| kleiner Schritt zu tun, um auch die Blütenblätter, die Staubgefäße
| |
| und Stempel als metamorphosierte Blätter anzusehen.
| |
| Dazu konnten die Untersuchungen des englischen
| |
| 21 In welchem Sinne diese Einzelheiten zum Ganzen stehen, werden
| |
| wir an verschiedenen Stellen Gelegenheit haben auszuführen. Wollten
| |
| wir einen Begriff der heutigen Wissenschaft für ein solches Zusammenwirken
| |
| von belebten Teilwesen zu einem Ganzen entlehnen,
| |
| so wäre es etwa der eines «Stockes» in der Zoologie. Es ist dies eine
| |
| Art Staat von Lebewesen, ein Individuum, das wieder aus selbständigen
| |
| Individuen besteht, ein Individuum höherer Art.
| |
| 22 Italienische Reise. [WA Abt. I, 31, 75]
| |
| Botanikers Hill führen, welche damals allgemeiner bekannt
| |
| wurden und die Umbildungen einzelner Blütenorgane in
| |
| andere zum Gegenstande haben.
| |
| Indem die Kräfte, welche das Wesen der Pflanze organisieren,
| |
| ins wirkliche Dasein treten, nehmen sie eine Reihe
| |
| räumlicher Gestaltungsformen an. Es handelt sich nun um
| |
| den lebendigen Begriff, welcher diese Formen rückwärts
| |
| und vorwärts verbindet.
| |
| Wenn wir die Metamorphosenlehre Goethes, wie sie uns
| |
| aus dem Jahre 1790 vorliegt, betrachten, so finden wir darinnen,
| |
| daß bei Goethe dieser Begriff der des wechselnden
| |
| Ausdehnens und Zusammenziehens ist. Im Samen ist die
| |
| Pflanzenbildung am stärksten zusammengezogen (konzentriert).
| |
| Mit den Blättern erfolgt hierauf die erste Entfaltung,
| |
| Ausdehnung der Bildungskräfte. Was im Samen auf
| |
| einen Punkt zusammengedrängt ist, das tritt in den Blättern
| |
| räumlich auseinander. Im Kelche ziehen sich die Kräfte
| |
| wieder an einem Achsenpunkte zusammen; die Krone wird
| |
| durch die nächste Ausdehnung bewirkt; Staubgefäße und
| |
| Stempel entstehen durch die nächste Zusammenziehung;
| |
| die Frucht durch die letzte (dritte) Ausdehnung, worauf
| |
| sich die ganze Kraft des Pflanzenlebens (dies entelechische
| |
| Prinzip) wieder im höchst zusammengezogenen Zustande
| |
| im Samen verbirgt. Während wir nun so ziemlich alle Einzelheiten
| |
| des Metamorphosengedankens bis zur endlichen
| |
| Verwertung in dem 1790 erschienenen Aufsatze verfolgen
| |
| können, wird es mit dem Begriffe der Ausdehnung und Zusammenziehung
| |
| nicht so leicht gehen. Doch wird man nicht
| |
| fehlgehen, wenn man annimmt, daß dieser übrigens tief
| |
| in Goethes Geist wurzelnde Gedanke auch schon in Italien
| |
| mit dem Begriffe der Pflanzenbildung verwebt wurde. Da
| |
| der Inhalt dieses Gedankens die durch die bildenden Kräfte
| |
| bedingte größere oder geringere räumliche Entfaltung ist,
| |
| also in dem liegt, was sich an der Pflanze dem Auge unmittelbar
| |
| darbietet, so wird er wohl dann am leichtesten
| |
| entstehen, wenn man den Gesetzen der natürlichen Bildung
| |
| gemäß die Pflanze zu zeichnen unternimmt. Nun fand
| |
| Goethe in Rom einen strauchartigen Nelkenstock, welcher
| |
| ihm die Metamorphose besonders klar zeigte. Darüber
| |
| schreibt er nun: «Zur Aufbewahrung dieser Wundergestalt
| |
| kein Mittel vor mir sehend, unternahm ich es, sie genau zu
| |
| zeichnen, wobei ich immer zu mehrerer Einsicht in den
| |
| Grundbegriff der Metamorphose gelangte.»23 Solche Zeichnungen
| |
| sind vielleicht noch öfters gemacht worden und dies
| |
| konnte dann zu dem in Rede stehenden Begriff führen.*
| |
| Im September 1787 bei seinem zweiten Aufenthalte in
| |
| Rom trägt Goethe seinem Freunde Moritz die Sache vor;
| |
| er findet dabei, wie lebendig, anschaulich die Sache bei einem
| |
| solchen Vortrage wird. Es wird immer aufgeschrieben,
| |
| wie weit sie gekommen sind. Aus dieser Stelle und einigen
| |
| anderen Äußerungen Goethes erscheint es wahrscheinlich,
| |
| daß auch die Niederschrift der Metamorphosenlehre wenigstens
| |
| aphoristisch noch in Italien geschehen ist. Er sagt
| |
| weiter: «Auf diese Art - im Vortrage mit Moritz - konnt'
| |
| ich allein etwas von meinen Gedanken zu Papier bringen.»24
| |
| Es ist nun keine Frage, daß am Ende des Jahres 1789 und am
| |
| Anfange des Jahres 1790 die Arbeit in der Gestalt, wie sie
| |
| uns jetzt vorliegt, niedergeschrieben wurde; allein inwieweit
| |
| diese letztere Niederschrift bloß redaktioneller Natur
| |
| 23 [Italienische Reise / Störende Naturbetrachtungen; vgl. auch den
| |
| Brief Goethes an Knebel vom 18. Aug. 1787 (WA 8, 251).]
| |
| 24 [Italienische Reise, 28. Sept. 1787.]
| |
| war und was noch hinzukam, das wird schwer zu sagen
| |
| sein. Ein für die nächste Ostermesse angekündigtes Buch,
| |
| welches etwa dieselben Gedanken hätte enthalten können,
| |
| verleitete ihn im Herbste 1789, seine Ideen vorzunehmen
| |
| und ihre Veröffentlichung zu befördern. Am 20. November
| |
| schreibt er dem Herzoge, daß er angespornt sei, seine
| |
| botanischen Ideen zu schreiben. Am 18. Dezember überschickt
| |
| er die Schrift bereits dem Botaniker Batsch in Jena
| |
| zur Durchsicht; am 20. geht er selbst dorthin, um sich mit
| |
| Batsch zu besprechen; am 22. meldet er Knebel, daß Batsch
| |
| die Sache gut aufgenommen habe. Er kehrt nach Hause zurück,
| |
| arbeitet die Schrift noch einmal durch, überschickt
| |
| sie dann wieder an Batsch, der sie am 19. Januar 1790 zurückschickt.
| |
| Welche Erlebnisse nun die Handschrift sowohl
| |
| wie die Druckschrift machte, hat Goethe selbst ausführlich
| |
| erzählt (siehe Natw. Schr., 1. Bd. [S. 91 ff.]). Die große
| |
| Bedeutung der Metamorphosenlehre, sowie das Wesen derselben
| |
| im einzelnen werden wir unten [S. 70 ff.] in dem Aufsatze:
| |
| «Über das Wesen und die Bedeutung von Goethes
| |
| Schriften über organische Bildung» abhandeln.
| |
| III
| |
| DIE ENTSTEHUNG VON GOETHES GEDANKEN
| |
| ÜBER DIE BILDUNG DER TIERE
| |
| Lavaters großes Werk: «Physiognomische Fragmente zur
| |
| Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe» erschien
| |
| in den Jahren 1775-1778. Goethe hatte daran regen
| |
| Anteil genommen, nicht nur dadurch, daß er die Herausgabe
| |
| leitete, sondern indem er auch selbst Beiträge lieferte.
| |
| Besonders interessant ist es nun aber, daß wir in diesen Beiträgen
| |
| schon den Keim zu seinen späteren zoologischen Arbeiten
| |
| finden können.
| |
| Die Physiognomik suchte in der äußeren Form des Menschen
| |
| dessen Inneres, dessen Geist zu erkennen. Man behandelte
| |
| die Gestalt nicht um ihrer selbst willen, sondern als
| |
| Ausdruck der Seele. Goethes plastischer, zur Erkenntnis
| |
| äußerer Verhältnisse geschaffener Geist blieb dabei nicht
| |
| stehen. Mitten in jenen Arbeiten, welche die äußere Form
| |
| nur als Mittel zur Erkenntnis des Inneren behandelten,
| |
| ging ihm die Bedeutung der ersteren, der Gestalt, in ihrer
| |
| Selbständigkeit auf. Wir sehen dieses aus seinen Arbeiten
| |
| über die Tierschädel aus dem Jahre 1776, welche sich im
| |
| 2. Bande, 2. Abschnitt der «Physiognomischen Fragmente»
| |
| eingeschaltet finden.25 Er liest in diesem Jahre Aristoteles
| |
| über die Physiognomik26, findet sich dadurch zu obigen
| |
| Arbeiten angeregt, zugleich aber versucht er es, den Unterschied
| |
| des Menschen von den Tieren zu untersuchen. Er
| |
| findet diesen Unterschied in dem durch das Ganze des
| |
| 25 Vgl. Natw. Schr., 2. Bd., S. 68 ff.
| |
| 26 [Brief an J. K. Lavater, etwa 20. März 1776; WA 3, 42.]
| |
| menschlichen Baues bedingten Hervortreten des Hauptes,
| |
| in der hohen Ausbildung des menschlichen Gehirnes, zu
| |
| dem alle Teile des Körpers als zu ihrer Zentralstätte hinweisen-
| |
| «Wie die ganze Gestalt als Grundpfeiler des Gewölbes
| |
| dasteht, in dem sich der Himmel bespiegeln soll.»27
| |
| Das Gegenteil davon findet er nun beim tierischen Baue.
| |
| «Der Kopf an das Rückgrat nur angehängt! Das Gehirn,
| |
| Ende des Rückenmarks, hat nicht mehr Umfang, als zur
| |
| Auswirkung der Lebensgeister und zu Leitung eines ganz
| |
| gegenwärtig sinnlichen Geschöpfes nötig ist.»28 Mit diesen
| |
| Andeutungen hat sich Goethe über die Betrachtung einzelner
| |
| Zusammenhänge des Äußeren mit dem Inneren des
| |
| Menschen erhoben zur Auffassung eines großen Ganzen
| |
| und zur Anschauung der Gestalt als solcher. Er ist zur Ansicht
| |
| gekommen, daß das Ganze des menschlichen Baues
| |
| die Grundlage bildet zu seinen höheren Lebensäußerungen,
| |
| daß in der Eigentümlichkeit dieses Ganzen die Bedingung
| |
| liegt, welche den Menschen an die Spitze der Schöpfung
| |
| stellt. Was wir uns dabei vor allem gegenwärtig halten müssen,
| |
| ist, daß Goethe die tierische Gestalt in der ausgebildeten
| |
| menschlichen wieder aufsucht; nur daß dort die mehr
| |
| den animalischen Verrichtungen dienenden Organe in den
| |
| Vordergrund treten, gleichsam der Punkt sind, auf den die
| |
| ganze Bildung hindeutet und dem sie dient, während die
| |
| menschliche Bildung jene Organe besonders ausbildet, welche
| |
| den geistigen Funktionen dienen. Schon hier finden
| |
| wir: Was Goethe als tierischer Organismus vorschwebt, ist
| |
| nicht mehr dieser oder jener sinnlich-wirkliche, sondern
| |
| ein ideeller, der sich bei den Tieren mehr nach einer niede-
| |
| 27 Vgl. Natw. Sehr., 2. Bd., S.68 [Eingang].
| |
| 29 Ebenda.
| |
| ren, bei dem Menschen nach einer höheren Seite ausbildet.
| |
| Schon hier liegt der Keim zu dem, was Goethe später Typus
| |
| nannte und womit er «kein einzelnes Tier», sondern die
| |
| «Idee» des Tieres bezeichnen wollte. Ja noch mehr: Schon
| |
| hier findet man einen Anklang an ein später von ihm ausgesprochenes,
| |
| in seinen Konsequenzen wichtiges Gesetz, daß
| |
| nämlich «die Mannigfaltigkeit der Gestalt daher entspringt,
| |
| daß diesem oder jenem Teil ein Übergewicht über die andern
| |
| zugestanden ist.»29 Es wird ja schon hier der Gegensatz
| |
| von Tier und Mensch darinnen gesucht, daß sich eine
| |
| ideelle Gestalt nach zwei verschiedenen Richtungen hin
| |
| ausbildet, daß jedesmal ein Organsystem das Übergewicht
| |
| gewinnt und das ganze Geschöpf davon seinen Charakter
| |
| erhält.
| |
| In demselben Jahre (1776) finden wir aber auch, daß
| |
| Goethe Klarheit darüber gewinnt, wovon auszugehen ist,
| |
| wenn man die Gestalt des tierischen Organismus betrachten
| |
| will. Er erkannte, daß die Knochen die Grundfesten
| |
| der Bildung sind30, ein Gedanke, den er später aufrechterhalten
| |
| hat, indem er bei den anatomischen Arbeiten durchaus
| |
| von der Knochenlehre ausging. In diesem Jahre schreibt
| |
| er den in dieser Hinsicht wichtigen Satz nieder31: «Die beweglichen
| |
| Teile formen sich nach ihnen (den Knochen),
| |
| eigentlicher zu sagen, mit ihnen und treiben ihr Spiel nur
| |
| insoweit es die festen vergönnen.» Auch eine weitere Andeutung
| |
| in Lavaters Physiognomik: «Man kann es schon
| |
| bemerkt haben, daß ich das Knochensystem für die Grundzeichnung
| |
| des Menschen - den Schädel für das Fundament
| |
| 29 Siehe Natw. Schr., 1. Bd., S. 247.
| |
| 30 Siehe Natw. Schr., 2. Bd. [S. 68 f.].
| |
| 31 Ebenda [S. 69].
| |
| des Knochensystems und alles Fleisch beinahe nur für das
| |
| Kolorit dieser Zeichnung halte»32, mag wohl auf Goethes
| |
| Anregung, der sich mit Lavater oft über diese Dinge besprach,
| |
| geschrieben worden sein. Sie sind ja mit den von
| |
| Goethe verfaßten Andeutungen33 identisch. Nun macht
| |
| aber Goethe eine weitere Bemerkung dazu, welche wir besonders
| |
| berücksichtigen müssen: «Diese Anmerkung (daß
| |
| man an den Knochen und namentlich am Schädel am stärksten
| |
| sehen kann, wie die Knochen die Grundfesten der Bildung
| |
| sind), die hier (bei Tieren) unleugbar ist, wird bei der
| |
| Anwendung auf die Verschiedenheit der Menschenschädel
| |
| großen Widerspruch zu leiden haben.»34 Was tut Goethe hier
| |
| anderes, als das einfachere Tier im zusammengesetzten
| |
| Menschen wieder aufsuchen, wie er sich später (1795) ausdrückt!
| |
| Wir gewinnen hieraus die Überzeugung, daß die
| |
| Grundgedanken, auf welchen später Goethes Gedanken
| |
| über die Bildung der Tiere aufgebaut werden sollten, aus
| |
| der Beschäftigung mit Lavaters Physiognomik heraus im
| |
| Jahre 1776 sich bei ihm festsetzten.
| |
| In diesem Jahre beginnt auch Goethes Studium des Einzelnen
| |
| der Anatomie. Am 22. Januar 1776 schreibt er an
| |
| Lavater: «Der Herzog hat mir sechs Schädel kommen
| |
| lassen, habe herrliche Bemerkungen gemacht, die Euer
| |
| Hochwürden zu Diensten stehen, wenn dieselben Sie nicht
| |
| ohne mich fanden.» [WA 3, 20] Die weiteren Anregungen
| |
| zu einem eingehenderen Studium der Anatomie boten ihm
| |
| die Beziehungen zur Universität Jena. Wir haben die ersten
| |
| Andeutungen hierüber aus dem Jahre 1781. In dem
| |
| 32 Lavaters Fragmente II, 143.
| |
| 33 Siehe Natw. Schr., 2. Bd. [S. 69].
| |
| 34 [Ebenda.]
| |
| von Keil herausgegebenen Tagebuche bemerkt er unter dem
| |
| 15. Oktober 1781, daß er nach Jena mit dem alten Einsiedel
| |
| ging und dort Anatomie trieb. Hier war ein Gelehrter,
| |
| der Goethes Studien ungeheuer förderte: Loder. Derselbe
| |
| führt ihn denn auch weiter in die Anatomie ein, wie er am
| |
| 29. Oktober 1781 an Frau von Stein35 und am 4. November
| |
| an Karl August36 schreibt. In letzterem Briefe spricht
| |
| er nun auch die Absicht aus, den «jungen Leuten» der Zeichenakademie
| |
| «das Skelett zu erklären und sie zur Kenntnis
| |
| des menschlichen Körpers anzuführen». Er setzt hinzu:
| |
| «Ich tue es zugleich um meinet- und ihretwillen, die Methode,
| |
| die ich gewählt habe, wird sie diesen Winter über
| |
| völlig mit den Grundsäulen des Körpers bekannt machen.»
| |
| Die Einzeichnungen im Tagebuch Goethes zeigen, daß er
| |
| diese Vorlesungen wirklich gehalten und am 16. Januar beendet
| |
| hat. Gleichzeitig wird wohl viel mit Loder über den
| |
| Bau des menschlichen Körpers verhandelt worden sein. Unter
| |
| dem 6. Januar bemerkt das Tagebuch: Demonstration
| |
| des Herzens durch Loder. Haben wir nun gesehen, daß
| |
| Goethe schon 1776 weitausblickende Gedanken über den
| |
| Bau der tierischen Organisation hegte, so ist keinen Augenblick
| |
| daran zu zweifeln, daß seine jetzigen eingehenden
| |
| Beschäftigungen mit Anatomie über die Betrachtung der
| |
| Einzelheiten hinaus sich zu höheren Gesichtspunkten erhoben.
| |
| So schreibt er an Lavater und Merck am 14. November
| |
| 1781, er behandele «die Knochen als einen Text, woran
| |
| 35 «Ein beschwerlicher Liebesdienst, den ich übernommen habe, führt
| |
| mich meiner Liebhaberei naher. Loder erklärt mir alle Beine und
| |
| Muskeln, und ich werde in wenig Tagen vieles fassen.» [WA 5, 207]
| |
| 38 «Mir hat er (Loder) in diesen acht Tagen, die wir, freilich soviel als
| |
| meine Wächterschaft litt, fast ganz dazu anwandten, Osteologie und
| |
| Myologie durchdemonstriert.» [WA 5,211]
| |
| sich alles Leben und alles Menschliche anhängen läßt».
| |
| [WA 5, 217 u. 220] Bei Betrachtung eines Textes bilden
| |
| sich in unserem Geiste Bilder und Ideen, die von jenem
| |
| hervorgerufen, erzeugt erscheinen. Als einen solchen Text
| |
| behandelte Goethe die Knochen, d. h. indem er sie betrachtet,
| |
| gehen ihm Gedanken über alles Leben und alles Menschliche
| |
| auf. Es mußten sich bei ihm also bei diesen Betrachtungen
| |
| bestimmte Ideen über die Bildung des Organismus
| |
| geltend gemacht haben. Nun haben wir aus dem Jahre 1782
| |
| eine Ode von Goethe: «Das Göttliche», welche uns einigermaßen
| |
| erkennen läßt, wie er über die Beziehung des Menschen
| |
| zur übrigen Natur damals dachte. Die erste Strophe
| |
| heißt:
| |
| «Edel sei der Mensch,
| |
| Hilfreich und gut!
| |
| Denn das allein
| |
| Unterscheidet ihn
| |
| Von allen Wesen,
| |
| Die wir kennen.»
| |
| Indem in den ersten zwei Zeilen dieser Strophe der Mensch
| |
| nach seinen geistigen Eigenschaften erfaßt wird, sagt
| |
| Goethe, diese allein unterscheiden ihn von allen anderen
| |
| Wesen der Welt. Dieses «allein» zeigt uns ganz klar, daß
| |
| Goethe den Menschen seiner physischen Konstitution nach
| |
| durchaus in Übereinstimmung mit der übrigen Natur auffaßte.
| |
| Es wird bei ihm der Gedanke, auf den wir schon
| |
| oben aufmerksam machten, immer lebendiger, daß eine
| |
| Grundform die Gestalt des Menschen sowohl wie der Tiere
| |
| beherrsche, daß sie bei ersterem sich nur zu einer solchen
| |
| Vollkommenheit steigere, daß sie fähig ist, der Träger eines
| |
| freien geistigen Wesens zu sein. Seinen sinnenfälligen Eigenschaften
| |
| nach muß auch der Mensch, wie es in jener Ode
| |
| weiter heißt:
| |
| «Nach ewigen, ehrnen
| |
| Großen Gesetzen»
| |
| Seines . . . «Daseins
| |
| Kreise vollenden.»
| |
| Aber diese Gesetze bilden sich bei ihm nach einer Seite aus,
| |
| die es ihm möglich macht, daß er das «Unmögliche» vermag:
| |
| «Er unterscheidet,
| |
| Wählet und richtet;
| |
| Er kann dem Augenblick
| |
| Dauer verleihen.»
| |
| Nun muß man dazu noch bedenken, daß, während sich
| |
| diese Anschauungen bei Goethe immer bestimmter ausbildeten,
| |
| er in lebendigem Verkehre mit Herder stand, der
| |
| im Jahre 1783 seine «Ideen zu einer Philosophie der Geschichte
| |
| der Menschheit» aufzuzeichnen begann. Dieses
| |
| Werk ging beinahe hervor aus den Unterhaltungen der beiden,
| |
| und manche Idee wird wohl auf Goethe zurückzuführen
| |
| sein. Die Gedanken, welche hier ausgesprochen werden,
| |
| sind oft ganz Goethisch, nur in Herders Weise gesagt, so
| |
| daß wir aus denselben einen sicheren Schluß auf die damaligen
| |
| Gedanken Goethes machen können.
| |
| Herder hat nun im ersten Teil37 von dem Wesen der
| |
| Welt folgende Auffassung. Es muß eine Hauptform vorausgesetzt
| |
| werden, welche durch alle Wesen hindurchgeht und
| |
| sich in verschiedener Weise verwirklicht. «Vom Stein zum
| |
| 37 [Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, I.
| |
| Teil, 5. Buch-, in: Herders Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan; Berlin
| |
| 1877-1913, 13. Bd., S. 167.]
| |
| Kristall, vom Kristall zu den Metallen, von diesen zur
| |
| Pflänzenschöpfung, von den Pflanzen zum Tier, von diesem
| |
| zum Menschen sahen wir die Form der Organisation
| |
| steigen, mit ihr auch die Kräfte und Triebe des Geschöpfs
| |
| vielartiger werden, und sich endlich alle in der Gestalt des
| |
| Menschen, sofern diese sie fassen konnte, vereinen.» Der
| |
| Gedanke ist ganz klar: Eine ideelle, typische Form, die als
| |
| solche selbst nicht sinnenfällig wirklich ist, realisiert sich
| |
| in einer unendlichen Menge räumlich voneinander getrennter
| |
| und ihren Eigenschaften nach verschiedenen Wesen bis
| |
| herauf zum Menschen. Auf den niederen Stufen der Organisation
| |
| verwirklicht sie sich stets nach einer bestimmten
| |
| Richtung; nach dieser bildet sie sich besonders aus. Indem
| |
| diese typische Form bis zum Menschen heransteigt, nimmt
| |
| sie alle Bildungsprinzipien, die sie bei den niederen Organismen
| |
| immer nur einseitig ausgebildet hat, die sie auf verschiedene
| |
| Wesen verteilt hat, zusammen, um eine Gestalt
| |
| zu bilden. Daraus geht auch die Möglichkeit einer so hohen
| |
| Vollkommenheit beim Menschen hervor. Bei ihm hat die
| |
| Natur auf ein Wesen verwendet, was sie bei den Tieren auf
| |
| viele Klassen und Ordnungen zerstreut hat. Dieser Gedanke
| |
| wirkte ungemein fruchtbar auf die nachherige deutsche
| |
| Philosophie. Es sei hier die Darstellung, welche Oken später
| |
| für dieselbe Vorstellung gegeben hat, zu ihrer Verdeutlichung
| |
| erwähnt. Er sagt38: «Das Tierreich ist nur ein Tier,
| |
| d. h. die Darstellung der Tierheit mit allen ihren Organen
| |
| jedes für sich ein Ganzes. Ein einzelnes Tier entsteht, wenn
| |
| ein einzelnes Organ sich vom allgemeinen Tierleib ablöst
| |
| und dennoch die wesentlichen Tierverrichtungen ausübt.
| |
| Das Tierreich ist nur das zerstückelte höchste Tier: Mensch.»
| |
| 38 Oken, Lehrbuch der Naturphilosophie. 2. Aufl., Jena 1831, S. 389.
| |
| Es gibt nur eine Menschenzunft, nur ein Menschengeschlecht,
| |
| nur eine Menschengattung, eben weil er das ganze
| |
| Tierreich ist. So gibt es z. B. Tiere, bei denen die Tastorgane
| |
| ausgebildet sind, ja die ganze Organisation auf die
| |
| Tätigkeit des Tastens hinweist und in ihr das Ziel findet,
| |
| andere, bei denen besonders die Freßwerkzeuge ausgebildet
| |
| sind usf., kurz bei jeder Tiergattung tritt einseitig ein Organsystem
| |
| in den Vordergrund; das ganze Tier geht in demselben
| |
| auf; alles übrige tritt bei ihm in den Hintergrund. In
| |
| der menschlichen Bildung nun bilden sich alle Organe und
| |
| Organsysteme so aus, daß eines dem andern Raum genug
| |
| zur freien Entwicklung läßt, daß jedes einzelne in jene
| |
| Schranken zurücktritt, welche nötig erscheinen, um alle andern
| |
| in gleicher Weise zur Geltung kommen zu lassen. So
| |
| entsteht ein harmonisches Ineinanderwirken der einzelnen
| |
| Organe und Systeme zu einer Harmonie, welche den
| |
| Menschen zum vollkommensten, die Vollkommenheiten
| |
| aller übrigen Geschöpfe in sich vereinigenden Wesen macht.
| |
| Diese Gedanken haben nun auch den Inhalt der Gespräche
| |
| Goethes mit Herder gebildet, und Herder verleiht ihnen in
| |
| folgender Weise Ausdruck: daß «das Menschengeschlecht
| |
| als der große Zusammenfluß niederer organischer Kräfte»
| |
| anzusehen ist, «die in ihm zur Bildung der Humanität kommen
| |
| sollten». Und an einem anderen Orte: «Und so können
| |
| wir annehmen: daß der Mensch ein Mittelgeschöpf unter
| |
| den Tieren, d. i. die ausgearbeitete Form sei, in der sich die
| |
| Züge aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff
| |
| sammeln.»39
| |
| Um den Anteil, welchen Goethe an Herders Werke
| |
| «Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit»
| |
| 39 Herder, a. a. O. I. Teil, 5. Buch, bzw. I. Teil, 2. Buch.
| |
| nahm, zu kennzeichnen, wollen wir folgende Stelle aus einem
| |
| Briefe Goethes an Knebel vom 8. Dezember 1783 anführen:
| |
| «Herder schreibt eine Philosophie der Geschichte,
| |
| wie Du Dir denken kannst, von Grund aus neu. Die ersten
| |
| Kapitel haben wir vorgestern zusammen gelesen, sie sind
| |
| köstlich . . . Welt- und Naturgeschichte rast jetzt recht bei
| |
| uns.» [WA 6, 224] Die Ausführungen Herders im 3. Buch
| |
| VI und im 4. Buch I, daß die in der menschlichen Organisation
| |
| bedingte aufrechte Haltung und was damit zusammenhängt,
| |
| die Grundbedingung seiner Vernunfttätigkeit
| |
| ist, erinnert direkt an das, was Goethe 1776 im 2. Abschnitt
| |
| des zweiten Bandes der «Physiognomischen Fragmente»
| |
| Lavaters über den Geschlechtsunterschied des Menschen
| |
| von den Tieren angedeutet hat, und was wir schon oben
| |
| erwähnt haben. Es ist nur eine Ausführung jenes Gedankens.
| |
| Das alles berechtigt uns aber anzunehmen, daß Goethe
| |
| und Herder in bezug auf ihre Ansichten über die Stellung
| |
| des Menschen in der Natur in jener Zeit (1783 ff.) der
| |
| Hauptsache nach einig waren.
| |
| Nun bedingt eine solche Grundanschauung aber, daß
| |
| jedes Organ, jeder Teil eines Tieres sich im Menschen müsse
| |
| wiederfinden lassen, nur in die durch die Harmonie des
| |
| Ganzen bedingten Schranken zurückgedrängt. Ein Knochen
| |
| z. B. muß allerdings bei einer bestimmten Tiergattung
| |
| zu seiner besonderen Ausbildung kommen, muß sich hier
| |
| vordrängen, allein er muß sich bei allen übrigen auch wenigstens
| |
| angedeutet finden, ja er darf beim Menschen nicht
| |
| fehlen. Nimmt er dort jene Gestalt an, welche ihm vermöge
| |
| seiner eigenen Gesetze zukommt, so hat er sich hier einem
| |
| Ganzen zu fügen, seine eigenen Bildungsgesetze denen des
| |
| ganzen Organismus anzupassen. Fehlen aber darf er nicht,
| |
| wenn nicht in der Natur ein Riß geschehen soll, wodurch
| |
| die konsequente Ausgestaltung eines Typus gestört würde.
| |
| So stand es mit den Anschauungen bei Goethe, als er auf
| |
| einmal eine Ansicht gewahr wurde, welche diesen großen
| |
| Gedanken durchaus widersprach. Den Gelehrten der damaligen
| |
| Zeit war es vornehmlich darum zu tun, Kennzeichen
| |
| zu finden, welche eine Tiergattung von der andern
| |
| unterscheiden. Der Unterschied der Tiere von dem Menschen
| |
| sollte darin bestehen, daß die ersteren zwischen den
| |
| beiden symmetrischen Hälften des Oberkiefers einen kleinen
| |
| Knochen, den Zwischenknochen haben, der die oberen
| |
| Schneidezähne enthält, und welcher dem Menschen fehlen
| |
| soll. Als Merck im Jahre 1782 anfing, sich lebhaft für die
| |
| Knochenlehre zu interessieren und sich um Beihilfe an einige
| |
| der bekanntesten Gelehrten damaliger Zeit wandte, erhielt
| |
| er von einem derselben, dem bedeutenden Anatomen
| |
| Sömmerring, am 8. Oktober 1782 folgende Auskunft über
| |
| den Unterschied von Her und Mensch 40: «Ich wünschte, daß
| |
| Sie Blumenbach nachsähen, wegen des ossis intermaxillaris,
| |
| der ceteris paribus der einzige Knochen ist, den alle Tiere
| |
| vom Affen an, selbst der Orang Utang eingeschlossen, haben,
| |
| der sich hingegen nie beim Menschen findet; wenn Sie
| |
| diesen Knochen abrechnen, so fehlt Ihnen nichts, um nicht
| |
| alles vom Menschen auf die Tiere transferieren zu können.
| |
| Ich lege deshalb einen Kopf von einer Hirschkuh bei, um
| |
| Sie zu überzeugen, daß dieses os intermaxillare (wie es Blumenbach)
| |
| oder os incisivum (wie es Camper nennt) selbst
| |
| bei Tieren vorhanden ist, die keine Schneidezähne in der
| |
| obern Kinnlade haben.» Obwohl Blumenbach an den Schädeln
| |
| ungeborener oder junger Kinder eine Spur quasi rudi-
| |
| 40 Briefe an J. H. Merck, Darmstadt 1835 [S. 354 f.].
| |
| mentum des ossis intermaxillaris fand, ja sogar an einem
| |
| solchen Schädel einmal zwei völlig abgesonderte kleine
| |
| Knochenkerne als wahren Zwischenknochen fand, so gab
| |
| er die Existenz eines solchen doch nicht zu. Er sagt davon:
| |
| «Es ist noch himmelweit vom wahren osse intermaxillari
| |
| verschieden.» Camper, der berühmteste Anatom der Zeit,
| |
| war derselben Ansicht. Der letztere sagt41 z. B. von den
| |
| Zwischenknochen: «die nimmer by menschen gevonden
| |
| wordt, zelfs niet by de Negers.» Merck war für Camper
| |
| von der innigsten Verehrung durchdrungen und befaßte
| |
| sich mit seinen Schriften.
| |
| Nicht nur Merck, sondern auch Blumenbach und Sömmerring
| |
| standen mit Goethe im Verkehre. Der Briefwechsel
| |
| mit ersterem zeigt uns, daß Goethe an dessen Knochenuntersuchungen
| |
| den innigsten Anteil nahm und über diese
| |
| Dinge seine Gedanken mit ihm austauschte. Am 27. Oktober
| |
| 1782 ersuchte er Merck, ihm etwas von Campers Inkognito
| |
| zu schreiben und ihm dessen Briefe zu schicken.42
| |
| Ferner haben wir im April des Jahres 1783 einen Besuch
| |
| Blumenbachs in Weimar zu verzeichnen. Im September desselben
| |
| Jahres geht Goethe nach Göttingen, um dort Blumenbach
| |
| und alle Professoren zu besuchen. Am 28. September
| |
| schreibt er an Frau von Stein: «Ich habe mir vorgenommen
| |
| alle Professoren zu besuchen und Du kannst
| |
| denken, was das zu laufen gibt, um in ein paar Tagen herumzukommen.
| |
| » [WA 6, 202] Er geht hierauf nach Kassel,
| |
| wo er mit Forster und Sömmerring zusammentrifft. Von
| |
| dort aus schreibt er an Frau von Stein am 2. Oktober: «Ich
| |
| 41 In: «Natuuf kundige Verhandelingen over den orang Outang...».
| |
| Amsterdam 1782, p. 75, § 2.
| |
| 42 [WA 6,75]
| |
| sehe sehr schöne und gute Sachen und werde für meinen
| |
| stillen Fleiß belohnt. Das Glücklichste ist, daß ich nun sagen
| |
| kann, ich bin auf dem rechten Wege und es geht mir
| |
| von nun an nichts verloren.» [WA 6, 204]
| |
| In diesem Verkehr wird Goethe wohl zuerst auf die
| |
| herrschenden Ansichten über den Zwischenknochen aufmerksam
| |
| geworden sein. Bei seinen Anschauungen mußten
| |
| ihm diese sofort als ein Irrtum erscheinen. Die typische
| |
| Grundform, nach welcher alle Organismen gebaut sein müssen,
| |
| wäre damit vernichtet. Bei Goethe konnte kein Zweifel
| |
| obwalten, daß auch dieses Glied, welches bei allen höheren
| |
| Tieren mehr oder weniger ausgebildet zu finden ist,
| |
| auch an der Bildung der menschlichen Gestalt teil haben
| |
| müsse, und hier nur zurücktreten werde, weil die Organe
| |
| der Nahrungsaufnahme überhaupt hinter denen, welche
| |
| geistigen Funktionen dienen, zurücktreten. Goethe konnte
| |
| vermöge seiner ganzen Geistesrichtung nicht anders denken,
| |
| als daß ein Zwischenknochen auch beim Menschen vorhanden
| |
| sei. Es handelte sich nur um den empirischen Nachweis
| |
| desselben, nur darum, welche Gestalt er bei dem Menschen
| |
| annimmt, inwiefern er sich in das Ganze des Organismus
| |
| hier einfügt. Dieser Nachweis gelang ihm nun im
| |
| Frühling des Jahres 1784 in Gemeinschaft mit Loder, mit
| |
| dem er in Jena Menschen- und Tierschädel verglich. Goethe
| |
| kündigte die Sache am 27. März sowohl der Frau von Stein43
| |
| wie auch Herder44 an.
| |
| 43 «Es ist mir ein köstliches Vergnügen geworden, ich habe eine anatomische
| |
| Entdeckung gemacht, die wichtig und schön ist.» [WA
| |
| 6, 259]
| |
| 44 «Ich habe gefunden - weder Gold noch Silber, aber was mir eine
| |
| unsägliche Freude macht - das os intermaxillare am Menschen!»
| |
| [WA 6,258]
| |
| Man darf nun diese einzelne Entdeckung gegenüber den
| |
| großen Gedanken, von denen sie getragen ist, nicht überschätzen;
| |
| sie hatte auch für Goethe nur den Wert, ein Vorurteil
| |
| hinwegzuräumen, welches hinderlich erschien, wenn
| |
| seine Ideen bis in die äußersten Kleinigkeiten eines Organismus
| |
| konsequent verfolgt werden sollten. Als einzelne Entdeckung
| |
| erblickte sie auch Goethe nie, immer nur im Zusammenhange
| |
| mit seiner großen Naturanschauung. So haben
| |
| wir es zu verstehen, wenn er in dem obenerwähnten
| |
| Briefe an Herder sagt: «Es soll Dich auch recht herzlich
| |
| freuen, denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen, fehlt
| |
| nicht, ist auch da! Aber wie!» Und gleich erinnert er den
| |
| Freund an weitere Ausblicke: «Ich habe mir's auch in Verbindung
| |
| mit Deinem Ganzen gedacht, wie schön es da
| |
| wird.» Die Behauptung: die Tiere haben einen Zwischenknochen,
| |
| der Mensch aber keinen, konnte für Goethe keinen
| |
| Sinn haben. Liegt es in den einen Organismus bildenden
| |
| Kräften, bei den Tieren zwischen den beiden Oberkieferknochen
| |
| einen Zwischenknochen einzuschieben, so müssen
| |
| dieselben bei dem Menschen an jener Stelle, wo sich bei
| |
| den Tieren jener Knochen befindet, in wesentlich derselben,
| |
| nur der äußeren Erscheinung nach verschiedenen Weise
| |
| tätig sein. Weil Goethe sich den Organismus nie als tote,
| |
| starre Zusammensetzung, sondern immer als aus seinen inneren
| |
| Bildungskräften hervorgehend dachte, so mußte er
| |
| sich fragen: Was machen diese Kräfte im Oberkiefer des
| |
| Menschen? Es konnte sich gar nicht darum handeln, ob der
| |
| Zwischenknochen vorhanden, sondern wie er beschaffen
| |
| ist, was für eine Bildung er annimmt. Und dieses mußte empirisch
| |
| gefunden werden.
| |
| Bei Goethe wurde nun der Gedanke immer reger, ein
| |
| größeres Werk über die Natur auszuarbeiten. Wir können
| |
| dies aus verschiedenen Äußerungen entnehmen. So schreibt
| |
| er im November 1784 an Knebel, als er ihm die Abhandlung
| |
| über seine Entdeckung überschickt: «Ich habe mich
| |
| enthalten, das Resultat, worauf schon Herder in seinen
| |
| Ideen deutet, schon jetzo merken zu lassen, daß man nämlich
| |
| den Unterschied des Menseben vom Tier in nichts einzelnem
| |
| finden könne.» [WA 6, 389] Hier ist vor allem
| |
| wichtig, daß Goethe sagt, er habe sich enthalten, den
| |
| Grundgedanken schon jetzo merken zu lassen; er will das
| |
| also später in einem größeren Zusammenhange tun. Ferner
| |
| zeigt uns diese Stelle, daß die Grundgedanken, die uns bei
| |
| Goethe vor allem interessieren: die großen Ideen über den
| |
| tierischen Typus längst vor jener Entdeckung vorhanden
| |
| waren. Denn Goethe gesteht hier selbst, daß sie sich schon
| |
| in Herders Ideen angedeutet finden; die Stellen aber, in
| |
| denen dies geschieht, sind vor der Entdeckung des Zwischenknochens
| |
| geschrieben. Die Entdeckung des Zwischenknochens
| |
| ist somit nur eine Folge jener großen Anschauungen.
| |
| Für jene, welche diese Anschauungen nicht hatten,
| |
| mußte sie unverständlich bleiben. Es war ihnen das einzige
| |
| naturhistorische Merkmal genommen, wodurch sie den
| |
| Menschen von den Tieren schieden. Von jenen Gedanken,
| |
| welche Goethe beherrschten und die wir früher andeuteten,
| |
| daß die bei den Tieren zerstreuten Elemente sich in der einen
| |
| menschlichen Gestalt zu einer Harmonie vereinigen und so
| |
| trotz der Gleichheit alles Einzelnen eine Differenz im Ganzen
| |
| begründen, welche dem Menschen seinen hohen Rang
| |
| in der Reihe der Wesen anweist, davon hatten sie wenig
| |
| Ahnung. Ihr Betrachten war kein ideelles, sondern ein
| |
| äußerliches Vergleichen; und für das letztere war allerdings
| |
| der Zwischenknochen beim Menschen nicht da. Was
| |
| Goethe verlangte: mit den Augen des Geistes zu sehen, dafür
| |
| hatten sie wenig Verständnis. Das begründete denn
| |
| auch den Unterschied des Urteiles zwischen ihnen und
| |
| Goethe. Während Blumenbach, der die Sache doch auch
| |
| ganz deutlich sah, zu dem Schlusse kam: «Es ist doch himmelweit
| |
| verschieden vom wahren osse intermaxillari», urteilt
| |
| Goethe: Wie läßt sich eine noch so große äußere Verschiedenheit
| |
| bei der notwendigen inneren Identität erklären.
| |
| Goethe wollte nun offenbar diesen Gedanken konsequent
| |
| ausarbeiten und er hat sich besonders in den nun folgenden
| |
| Jahren viel damit beschäftigt. Am 1. Mai 1784
| |
| schreibt Frau von Stein an Knebel45: «Herders neue Schrift
| |
| macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und Tiere
| |
| waren . . . Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen Dingen
| |
| und jedes, was erst durch seine Vorstellung gegangen
| |
| ist, wird äußerst interessant.» In welchem Grade in Goethe
| |
| der Gedanke lebte, seine Anschauungen über die Natur in
| |
| einem größeren Werke darzustellen, das wird uns besonders
| |
| anschaulich, wenn wir sehen, daß er bei jeder neuen Entdeckung,
| |
| die ihm gelingt, nicht umhin kann, Freunden gegenüber
| |
| die Möglichkeit einer Ausdehnung seiner Gedanken
| |
| auf die ganze Natur ausdrücklich hervorzuheben. Im Jahre
| |
| 1786 schreibt er an Frau von Stein, er wolle seine Ideen
| |
| über die Weise, wie die Natur mit einer Hauptform gleichsam
| |
| spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt, «auf
| |
| alle Reiche der Natur, auf ihr ganzes Reich» ausdehnen.
| |
| Und da in Italien der Metamorphosengedanke für die
| |
| Pflanze bis in alle Einzelheiten plastisch vor seinem Geiste
| |
| 45 Wir führten ihre Worte schon oben [S. 26] in anderem Zusammenhange
| |
| an.
| |
| steht, schreibt er in Neapel am 17. Mai 1787 nieder: «Dasselbe
| |
| Gesetz wird sich auf alles... Lebendige anwenden lassen.
| |
| »46 Der erste Aufsatz der «Morphologischen Hefte»
| |
| (1817) enthält die Worte: «Mag daher das, was ich mir in
| |
| jugendlichem Mute öfters als ein Werk träumte, nun als
| |
| Entwurf, ja als fragmentarische Sammlung hervortreten.»
| |
| Daß ein solches Werk von Goethes Hand nicht zustande
| |
| kam, müssen wir beklagen. Nach alledem, was vorliegt,
| |
| wäre es eine Schöpfung geworden, welche alles, was von
| |
| dergleichen in der neueren Zeit geleistet wurde, weit hinter
| |
| sich gelassen hätte. Es wäre ein Kanon geworden, von dem
| |
| jede Bestrebung auf naturwissenschaftlichem Gebiete ausgehen
| |
| müßte und an dem man ihren geistigen Gehalt prüfen
| |
| konnte. Der tiefste philosophische Geist, welchen nur Oberflächlichkeit
| |
| Goethe absprechen kann, hätte sich hier verbunden
| |
| mit einer liebevollen Versenkung in das sinnlicherfahrungsgemäß
| |
| Gegebene; fern von jeder einseitigen
| |
| Systemsucht, welche durch ein allgemeines Schema alle
| |
| Wesen zu umfassen glaubt, würde hier jeder einzelnen Individualität
| |
| ihr Recht widerfahren sein. Wir hätten es hier
| |
| mit dem Werke eines Geistes zu tun, bei dem nicht ein einzelner
| |
| Zweig menschlichen Strebens mit Zurücksetzung
| |
| aller anderen sich hervortut, sondern bei dem die Totalität
| |
| menschlichen Seins immer im Hintergrunde schwebt, wenn
| |
| er ein einzelnes Gebiet behandelt. Dadurch bekommt jede
| |
| einzelne Tätigkeit ihre gehörige Stelle im Zusammenhange
| |
| des Ganzen. Die objektive Versenkung in die betrachteten
| |
| Gegenstände verursacht, daß der Geist in ihnen völlig aufgeht,
| |
| so daß uns Goethes Theorien so erscheinen, als ob sie
| |
| nicht ein Geist von den Gegenständen abstrahierte, sondern
| |
| 48 [Italienische Reise.]
| |
| als ob sie die Gegenstände selbst in einem Geiste bildeten,
| |
| der sich bei der Betrachtung selbst vergißt. Diese strengste
| |
| Objektivität würde Goethes Werk zum vollendetsten Werke
| |
| der Naturwissenschaft machen; es wäre ein Ideal, dem jeder
| |
| Naturforscher nachstreben müßte; es wäre für den Philosophen
| |
| ein typisches Musterbild für die Auffindung der
| |
| Gesetze objektiver Weltbetrachtung. Man kann annehmen,
| |
| daß die Erkenntnistheorie, welche jetzt als eine philosophische
| |
| Grundwissenschaft allerwärts auftritt, erst dann
| |
| wird fruchtbar werden können, wenn sie ihren Ausgangspunkt
| |
| von Goethes Betrachtungs- und Denkweise nehmen
| |
| wird. Goethe selbst gibt den Grund, warum dieses Werk
| |
| nicht zustande kam, in den Annalen zu 1790 mit den Worten
| |
| an: «Die Aufgabe war so groß, daß sie in einem zerstreuten
| |
| Leben nicht gelöst werden konnte.»
| |
| Wenn man von diesem Gesichtspunkte ausgeht, so gewinnen
| |
| die einzelnen Fragmente, welche uns von Goethes
| |
| Naturwissenschaft vorliegen, eine ungeheure Bedeutung.
| |
| Ja wir lernen sie erst recht schätzen und verstehen, wenn
| |
| wir sie als hervorgehend aus jenem großen Ganzen betrachten.
| |
| Im Jahre 1784 sollte aber, gleichsam bloß als Vorübung,
| |
| die Abhandlung über den Zwischenknochen ausgearbeitet
| |
| werden. Veröffentlicht sollte sie zunächst nicht werden,
| |
| denn Goethe schreibt am 6. März 1785 an Sömmerring
| |
| darüber: «Da meine kleine Abhandlung gar keinen Anspruch
| |
| an Publizität hat und bloß als ein Konzept anzusehen
| |
| ist, so würde mir alles, was Sie mir über diesen Gegenstand
| |
| mitteilen wollen, sehr angenehm sein.» [WA 7,
| |
| 21] Dennoch wurde sie mit aller Sorgfalt und mit Zuhilfenahme
| |
| aller nötigen Einzelstudien ausgeführt. Es wurden
| |
| sogleich junge Leute zu Hilfe genommen, welche nach Campers
| |
| Methode osteologische Zeichnungen unter Goethes
| |
| Leitung auszuführen hatten. Er bittet deshalb am 23. April
| |
| [1784] Merck [WA 6, 267f.] um Auskunft über diese Methode
| |
| und läßt sich von Sömmerring [WA 6, 277] Campersche
| |
| Zeichnungen schicken. Merck, Sömmerring und
| |
| andere Bekannte werden um Skelette und Knochen aller
| |
| Art ersucht. Am 23. April schreibt er an Merck, daß ihm
| |
| folgende Skelette sehr angenehm sein würden: « . . . eine
| |
| Myrmecophaga, Bradypus, Löwen, Tiger oder dergleichchen.
| |
| » [WA 6, 268] Am 14. Mai [WA 6, 278] ersucht er
| |
| Sömmerring um den Schädel von dessen Elefantenskelett
| |
| und den Schädel des Nilpferdes, am 16. September um die
| |
| Schädel von folgenden Tieren: «Wilde Katze, Löwe, junger
| |
| Bär, Incognitum, Ameisenbär, Kamel, Dromedar, Seelöwe.
| |
| » [WA 6, 357] Auch um einzelne Auskünfte werden
| |
| die Freunde ersucht, so Merck um die Beschreibung des
| |
| Gaumenteiles seines Rhinozeros und insbesondere um Aufklärung
| |
| darüber, «wie eigentlich das Horn des Rhinoceros
| |
| auf dem Nasenknochen sitzt». [WA 6, 267] Goethe ist in
| |
| dieser Zeit ganz in jene Studien vertieft. Der erwähnte Elefantenschädel
| |
| wird durch Waitz von vielen Seiten nach
| |
| Campers Methode gezeichnet [WA 6, 356], von Goethe
| |
| mit einem großen Schädel seines Besitzes und mit anderen
| |
| Tierschädeln verglichen, da er entdeckte, daß an jenem
| |
| Schädel die meisten Suturen noch unverwachsen waren.
| |
| [WA 6,293 f.] Er macht an diesem Schädel noch eine wichtige
| |
| Bemerkung. Man nahm bis dahin an, daß bei allen
| |
| Tieren bloß die Schneidezähne im Zwischenknochen eingefügt
| |
| seien, während die Eckzähne dem Oberkieferbein
| |
| angehörten; nur der Elefant sollte eine Ausnahme machen.
| |
| Bei ihm sollten die Eckzähne im Zwischenknochen
| |
| enthalten sein. Daß dies nicht der Fall ist, zeigt ihm nun
| |
| ebenfalls jener Schädel, wie er in einem Brief an Herder
| |
| schreibt. [WA 6, 308] Auf einer Reise nach Eisenach
| |
| [WA 6, 278] und Braunschweig, die Goethe in diesem
| |
| Sommer [1784] unternimmt, begleiten ihn seine osteologischen
| |
| Studien. Auf letzterer will er in Braunschweig einem
| |
| «ungeborenen Elefanten in das Maul sehen und mit
| |
| Zimmermann ein wackeres Gespräch führen». [WA 6, 332]
| |
| Er schreibt von diesem Fötus weiter an Merck: «Ich wollte,
| |
| wir hätten den Fötus, den sie in Braunschweig haben, in
| |
| unserm Kabinette, er sollte in kurzer Zeit seziert, skelettiert
| |
| und präpariert sein. Ich weiß nicht, wozu ein solches Monstrum
| |
| in Spiritus taugt, wenn man es nicht zergliedert und
| |
| den innern Bau erklärt.» [WA 6, 332 u. 333] Aus diesen
| |
| Studien ging denn jene Abhandlung hervor, welche im 1.
| |
| Bande [S. 277 ff.] der Naturwissenschaftlichen Schriften in
| |
| Kürschners National-Literatur mitgeteilt wird. Bei Abfassung
| |
| derselben ist Goethen Loder sehr behilflich. Unter
| |
| dessen Beistande kommt eine lateinische Terminologie zustande.
| |
| Loder besorgt ferner eine lateinische Übersetzung.
| |
| [WA 6, 407] Im November 1784 schickt Goethe die Abhandlung
| |
| an Knebel [WA 6, 389 f.] und schon am 19. Dezember
| |
| an Merck [WA 6,409 f.], obwohl er noch kurz vorher
| |
| (2. Dezember) glaubt, daß vor Ende des Jahres nicht
| |
| viel daraus werden wird. [WA 6,400 f.] Das Werk war mit
| |
| den nötigen Zeichnungen versehen. Wegen Camper war die
| |
| erwähnte lateinische Übersetzung beigefügt. Merck sollte
| |
| das Werk an Sömmerring schicken. Dieser erhielt es im Januar
| |
| 1785. Von da ging die Sache an Camper. Wenn wir
| |
| nun einen Blick auf die Art der Aufnahme werfen, die
| |
| Goethes Abhandlung gefunden, so tritt uns ein recht unerquickliches
| |
| Bild entgegen. Niemand hat anfangs das Organ,
| |
| ihn zu verstehen außer Loder, mit dem er zusammen
| |
| gearbeitet, und Herder. Merck hat über die Abhandlung
| |
| Freude, ist aber von der Wahrheit des Asserti nicht durchdrungen.
| |
| [WA 7,11 f.] Sömmerring schreibt in dem Briefe,
| |
| mit dem er die Ankunft der Abhandlung Merck anzeigt:
| |
| «Die Hauptidee hatte schon Blumenbach. Im Paragraph,
| |
| der sich anfängt: <Es wird also kein Zweifel [übrig bleiben]
| |
| >, sagt er [Goethe], <da die übrigen (Grenzen) verwachsen>;
| |
| schade nur, daß diese niemals da gewesen. Ich
| |
| habe nun Kinnbacken von Embryonen, von drei Monaten
| |
| bis zum Adulto vor mir, und an keinem ist jemals eine
| |
| Grenze vorwärts zu sehen gewesen. Und durch den Drang
| |
| der Knochen gegen einander die Sache zu erklären? Ja,
| |
| wenn die Natur als ein Schreiner mit Keil und Hammer arbeitete!
| |
| »47 Am 13. Februar 1785 schreibt Goethe an Merck:
| |
| «Von Sömmerring habe ich einen sehr leichten Brief. Er
| |
| will mir's gar ausreden. Ohe!» [WA 7,12] - Und Sömmerung
| |
| schreibt am 11. Mai 1785 an Merck: «Goethe will, wie
| |
| ich aus seinem gestrigen Briefe sehe, von seiner Idee in Ansehung
| |
| des ossis intermaxillaris noch nicht ab.»48
| |
| Und nun Camper49 Am 16. September 178550 teilte er
| |
| 47 Briefe an J. H. Merck, S. 438.
| |
| 48 Ebenda S. 448.
| |
| 49 Man nahm bisher an, daß Camper die Abhandlung anonym erhalten
| |
| habe. Sie kam ihm auf einem Umwege zu: Goethe schickte sie erst
| |
| an Sömmerring, dieser an Merck und der letztere sollte sie an Camper
| |
| gelangen lassen. Nun befindet sich aber unter den Briefen Mercks
| |
| an Camper, die noch ungedruckt sind, und die sich im Originale in
| |
| der «Bibliotheque de la societe neerlandaise pour les progres de la
| |
| medecine» zu Amsterdam befinden, ein Brief vom 17. Januar 1785
| |
| mit folgender Stelle (wir zitieren buchstäblich): «Monsieur de
| |
| Merck mit, daß die beigegebenen Tafeln durchaus nicht
| |
| nach seiner Methode gezeichnet seien. Er findet dieselben
| |
| sogar recht tadelnswert. Das Äußere des schönen Manuskriptes
| |
| wird gelobt, die lateinische Übersetzung getadelt,
| |
| ja dem Autor sogar der Rat erteilt, sich hierinnen auszubilden.
| |
| Drei Tage später51 schreibt er, daß er eine Zahl von Beobachtungen
| |
| über den Zwischenknochen gemacht habe, daß
| |
| er aber fortfahren müsse zu behaupten, der Mensch habe keinen
| |
| Zwischenknochen. Er gibt alle Beobachtungen Goethes
| |
| zu, nur nicht die auf den Menschen bezüglichen. Am 21.
| |
| März 178652 schreibt er noch einmal, daß er aus einer großen
| |
| Zahl von Beobachtungen zu dem Schlusse gekommen
| |
| sei: der Zwischenknochen existiere heim Menschen nicht.
| |
| Campers Briefe zeigen deutlich, daß er den besten Willen
| |
| hatte in die Sache einzudringen, daß er aber nicht imstande
| |
| war, Goethe auch nur im geringsten zu verstehen.
| |
| Loder sah Goethes Entdeckung sogleich in dem rechten
| |
| Lichte. Er hebt sie in seinem «Anatomischen Handbuch»
| |
| von 178853 hervor und behandelt sie von nun an in allen
| |
| Goethe, Poete celebre, conseiller intime du Duc de Weimar, vient
| |
| de m'envoier un specimen osteologicum, que doit vous etre envoie
| |
| apres que Mr. Sömring l'aura v ü . . . C'est un petit traite sur l'os
| |
| intermaxillaire, qui nous apprend entre autres la verite, que le
| |
| Triche(chus) a 4 dents incisives et que le Chameau a en deux.» Ein
| |
| Brief vom 10. März 1785 zeigt an, daß Merck die Abhandlung demnächst
| |
| an Camper schicken wird, wobei wieder der Name Goethe
| |
| ausdrücklich vorkommt: «J'aurai l'honneur de vous envoier le specimen
| |
| osteolog. de Mr. de Goethe, mon ami, par une voie, qui ne
| |
| sera pas conteuse un de ces jours.» Am 28. April 1785 spricht Merck
| |
| die Hoffnung aus, daß Camper die Sache erhalten habe, wobei wieder
| |
| «Goethe» vorkommt. Es ist somit wohl kein Zweifel, daß Camper
| |
| den Verfasser kannte.
| |
| 50 Briefe an J. H. Merck, S. 466.
| |
| 51 Ebenda, S. 469.
| |
| 52 Ebenda S. 481.
| |
| 53 Goethes Annalen zu 1790.
| |
| seinen Schriften wie eine der Wissenschaft vollgültig angehörige
| |
| Sache, an welcher nicht der mindeste Zweifel sein
| |
| kann.
| |
| Herder schreibt darüber an Knebel: «Goethe hat uns
| |
| seine Abhandlung vom Knochen vorgelegt, die sehr einfach
| |
| und schön ist; der Mensch geht auf dem wahren Naturwege,
| |
| und das Glück geht ihm entgegen».54 Herder war eben imstande,
| |
| die Sache mit dem «geistigen Auge», mit dem sie
| |
| Goethe ansah, zu betrachten. Ohne dieses konnte man mit
| |
| ihr nichts anfangen. Man kann dies am besten aus folgendem
| |
| sehen. Wilhelm Josephi (Privatdozent an der Universität
| |
| Göttingen) schreibt in seiner «Anatomie der Säugetiere
| |
| » 1787: «Man nimmt die ossa intermaxillaria mit als
| |
| ein Hauptunterscheidungszeichen der Affen vom Menschen
| |
| an; indes meinen Beobachtungen nach hat der Mensch
| |
| ebenfalls solche ossa intermaxillaria wenigstens in den ersten
| |
| Monaten seines Seins, welche aber gewöhnlich schon
| |
| früh, und zwar schon im Mutterleibe mit den wirklichen
| |
| Oberkiefern vorzüglich nach außen verwachsen, so daß
| |
| öfters noch gar keine merkliche Spur davon zurückbleibt.»
| |
| Hier ist Goethes Entdeckung allerdings auch vollkommen
| |
| ausgesprochen, aber nicht als eine aus der konsequenten
| |
| Durchführung des Typus geforderte, sondern als der Ausdruck
| |
| eines unmittelbar in die Augen fallenden Tatbestandes.
| |
| Wenn man bloß auf letzteren angewiesen ist, dann
| |
| hangt es allerdings nur vom glücklichen Zufalle ab, ob
| |
| man gerade solche Exemplare findet, an denen man die
| |
| Sache genau sehen kann. Faßt man aber die Sache in Goethes
| |
| ideeller Weise, so dienen diese besonderen Exemplare
| |
| 54 Knebels Literarischer Nachlaß etc., hg. v. Varnhagen v. Ense u. Th.
| |
| Mundt, Leipzig 1835, IL Bd., S. 236.
| |
| bloß zur Bestätigung des Gedankens, bloß dazu das, was
| |
| die Natur sonst verbirgt, offen zu demonstrieren; es kann
| |
| aber die Idee selbst an jedem beliebigen Exemplare verfolgt
| |
| werden, jedes zeigt einen besonderen Fall derselben.
| |
| Ja, wenn man die Idee besitzt, ist man imstande, durch
| |
| dieselbe gerade jene Fälle zu finden, in denen sie sich besonders
| |
| ausprägt. Ohne dieselbe aber ist man dem Zufalle
| |
| anheimgegeben. Man sieht in der Tat, daß, nachdem Goethe
| |
| durch seinen großen Gedanken die Anregung gegeben hatte,
| |
| man durch Beobachtung zahlreicher Fälle sich von der
| |
| Wahrheit seiner Entdeckung allmählich überzeugt hat.
| |
| Merck blieb wohl stets schwankend. Am 13. Februar
| |
| 1785 schickt ihm Goethe eine gesprengte obere Kinnlade
| |
| vom Menschen und vom Trichechus und gibt ihm Anhaltspunkte,
| |
| die Sache zu verstehen. Aus Goethes Brief vom 8.
| |
| April scheint es, daß Merck einigermaßen gewonnen war.
| |
| Bald aber änderte er seine Ansicht wieder, denn am 11.
| |
| November 1786 schreibt er an Sömmerring55: «Wie ich
| |
| höre, hat Vicq d'Azyr sogar Goethes sogenannte Entdekkung
| |
| in sein Werk aufgenommen.»
| |
| Sömmerring stand nach und nach von seinem Widerstande
| |
| ab. In seinem Werke: «Vom Baue des menschlichen
| |
| Körpers» sagt er (S. 160): «Goethes sinnreicher Versuch
| |
| aus der vergleichenden Knochenlehre, daß der Zwischenknochen
| |
| der Oberkinnlade dem Menschen mit den übrigen
| |
| Tieren gemein sei, von 1785, mit sehr richtigen Abbildungen,
| |
| verdiente öffentlich bekannt zu sein.»
| |
| Schwerer war wohl Blumenbach zu gewinnen. In sei-
| |
| 55 [Rudolf Wagner, Samuel Thomas von Sömmerrings Leben und Verkehr
| |
| mit seinen Zeitgenossen, 1. Abt.:] Briefe berühmter Zeitgenossen
| |
| an Sömmerring [Leipzig 1844] S. 293.
| |
| nem «Handbuch der vergleichenden Anatomie», 180556,
| |
| sprach er noch die Behauptung aus: der Mensch habe keinen
| |
| Zwischenknochen. In seinem 1830-32 geschriebenen
| |
| Auf satze: «Principes de Philosophie Zoologique» kann aber
| |
| Goethe schon von Blumenbachs Bekehrung sprechen.57 Er
| |
| trat nach persönlichem Verkehre auf Goethes Seite.58 Am
| |
| 15. Dezember 1825 liefert er Goethe sogar ein schönes Beispiel
| |
| zur Bestätigung seiner Entdeckung. Ein Athlet aus
| |
| dem Hessischen suchte bei Blumenbachs Kollegen Langenbeck
| |
| Hilfe wegen eines «ganz tierisch prominierenden os
| |
| intermaxillare».59 Von späteren Anhängern Goethescher
| |
| Ideen werden wir noch zu sprechen haben. Hier sei nur
| |
| noch erwähnt, daß M. J. Weber die Trennung des bereits
| |
| mit der Oberkinnlade verwachsenen Zwischenknochens
| |
| durch verdünnte Salpetersäure gelungen ist.60
| |
| Goethe setzte seine Knochenstudien auch nach Vollendung
| |
| jener Abhandlung fort. Die gleichzeitigen Entdeckungen
| |
| in der Pflanzenkunde machen sein Interesse an der
| |
| Natur noch zu einem regeren. Fortwährend borgt er einschlägige
| |
| Objekte von seinen Freunden. Am 7. Dezember
| |
| 178561 ist Sömmerring sogar schon ärgerlich, «daß ihm
| |
| Goethe nicht seine Köpfe wieder schickt». Aus einem Briefe
| |
| Goethes an Sömmerring vom 8. Juni 1786 erfahren wir,
| |
| daß er bis dahin noch immer Schädel von letzterem hatte.
| |
| Auch in Italien begleiteten ihn seine großen Ideen. Wäh-
| |
| 56 Ebenda - s. Anm. 55 - S. 22.
| |
| 57 Natw. Sehr., 1. Bd., S. 405.
| |
| 58 Gespräche mit Eckermann, 2. Aug. 1830.
| |
| 59 Goethes Naturwissenschaftliche Korrespondenz (1812-1832), hg. v.
| |
| F. Th. Bratranek, I. Bd., S. 51.
| |
| 60 [Froriep, Notizen aus dem Gebiet der Natur- und Heilkunde, Bd.
| |
| 19,1828, S. 283.]
| |
| 61 Briefe an J. H. Merck, S. 476.
| |
| rend sich der Gedanke der Urpflanze in seinem Geiste ausgestaltete,
| |
| kommt er auch zu Begriffen über die Gestalt des
| |
| Menschen. Am 20. Januar 1787 schreibt Goethe in Rom:
| |
| «Auf Anatomie bin ich so ziemlich vorbereitet, und ich
| |
| habe mir die Kenntnis des menschlichen Körpers, bis auf
| |
| einen gewissen Grad, nicht ohne Mühe erworben. Hier
| |
| wird man durch die ewige Betrachtung der Statuen immerfort,
| |
| aber auf eine höhere Weise, hingewiesen. Bei unserer
| |
| medizinisch-chirurgischen Anatomie kommt es bloß darauf
| |
| an, den Teil zu kennen, und hierzu dient auch wohl ein
| |
| kümmerlicher Muskel. In Rom aber wollen die Teile nichts
| |
| heißen, wenn sie nicht zugleich eine edle schöne Form darbieten.
| |
| In dem großen Lazarett San Spirito hat man den Künstlern
| |
| zulieb einen sehr schönen Muskelkörper dergestalt bereitet,
| |
| daß die Schönheit desselben in Verwunderung setzt.
| |
| Er könnte wirklich für einen geschundenen Halbgott, für
| |
| einen Marsyas gelten.
| |
| So pflegt man auch, nach Anleitung der Alten, das Skelett
| |
| nicht als eine künstlich zusammengereihte Knochenmasse
| |
| zu studieren, vielmehr zugleich mit den Bändern,
| |
| wodurch es schon Leben und Bewegung erhält.»62
| |
| Es handelte sich bei Goethe hier vor allem darum, die
| |
| Gesetze kennenzulernen, nach denen die Natur die organischen
| |
| und vorzüglich die menschlichen Gestalten bildet,
| |
| die Tendenz, welche sie bei der Formung derselben verfolgt.
| |
| So wie er in der Reihe der unendlichen Pflanzengestalten
| |
| die Urpflanze aufsucht, mit der man noch Pflanzen
| |
| ins Unendliche erfinden kann, die konsequent sein müssen,
| |
| d. h. welche jener Naturtendenz vollkommen gemäß sind
| |
| 62 [Italienische Reise.]
| |
| und welche existieren würden, wenn die geeigneten Bedingungen
| |
| da wären; ebenso hatte es Goethe in bezug auf
| |
| die Tiere und den Menschen darauf angelegt, «ideale Charaktere
| |
| zu entdecken», welche den Gesetzen der Natur
| |
| vollkommen gemäß sind. Bald nach seiner Rückkehr aus
| |
| Italien erfahren wir, daß Goethe «fleißig in anatomicis»
| |
| ist und im Jahre 1789 schreibt er an Herder: «Ich habe eine
| |
| neuentdeckte Harmoniam naturae vorzutragen.» Was hier
| |
| neu entdeckt wurde, dürfte nun ein Teil der Wirbeltheorie
| |
| des Schädels sein. Die Vollendung dieser Entdeckung fällt
| |
| aber in das Jahr 1790. Was er bis dahin wußte, war, daß
| |
| alle Knochen, welche das Hinterhaupt bilden, drei modifizierte
| |
| Rückenmarkswirbel darstellen. Goethe dachte sich
| |
| die Sache folgendermaßen. Das Gehirn stellt nur eine Rükkenmarksmasse
| |
| zur höchsten Stufe vervollkommnet dar.
| |
| Während im Rückenmarke die vorzugsweise den niedrigeren
| |
| organischen Funktionen dienenden Nerven enden
| |
| und von dort ausgehen, enden und beginnen im Gehirne die
| |
| den höheren (geistigen) Funktionen dienenden Nerven,
| |
| vorzugsweise die Sinnesnerven. Im Gehirne erscheint nur
| |
| ausgebildet, was im Rückenmarke der Möglichkeit nach
| |
| schon angedeutet ist. Das Gehirn ist ein vollkommen ausgebildetes
| |
| Mark, das Rückenmark ein noch nicht zur vollen
| |
| Entfaltung gekommenes Gehirn. Nun sind den Partien des
| |
| Rückenmarkes die Wirbelkörper der Wirbelsäule vollkommen
| |
| angebildet, sind deren notwendige Umhüllungsorgane.
| |
| Es erscheint nun auf das höchste wahrscheinlich, daß wenn
| |
| das Gehirn ein Rückenmark auf höchster Potenz ist, auch
| |
| die dasselbe umhüllenden Knochen nur höher ausgebildete
| |
| Wirbelkörper seien. Das ganze Haupt erscheint auf
| |
| diese Weise schon vorgebildet in den niedrigerstehenden
| |
| körperlichen Organen. Es sind die auch schon auf untergeordneter
| |
| Stufe tätigen Kräfte auch hier wirksam, nur
| |
| bilden sie sich im Kopfe zu der höchsten in ihnen liegenden
| |
| Potenz aus. Wieder handelte es sich für Goethe nur um den
| |
| Nachweis, wie sich denn die Sache der sinnenfälligen Wirklichkeit
| |
| nach eigentlich gestaltet? Vom Hinterhauptbein,
| |
| dem hinteren und vorderen Keilbein, sagt Goethe, erkannte
| |
| er diese Verhältnisse sehr bald; daß aber auch das Gaumbein,
| |
| die obere Kinnlade und der Zwischenknochen modifizierte
| |
| Wirbelkörper seien, erkannte er auf seiner Reise
| |
| nach Norditalien, als er auf den Dünen des Lido einen geborstenen
| |
| Schafschädel fand. Dieser Schädel war so glücklich
| |
| auseinandergefallen, daß in den einzelnen Stücken genau
| |
| die einzelnen Wirbelkörper zu erkennen waren. Goethe
| |
| zeigte diese schöne Entdeckung am 30. April 1790 der Frau
| |
| von Kalb an mit den Worten: «Sagen Sie Herdern, daß ich
| |
| der Tiergestalt und ihren mancherlei Umbildungen um eine
| |
| ganze Formel näher gerückt bin und zwar durch den sonderbarsten
| |
| Zufall.»* [WA 9, 202]
| |
| Dies war eine Entdeckung von der weittragendsten Bedeutung.*
| |
| Es war damit bewiesen, daß alle Glieder eines
| |
| organischen Ganzen der Idee nach identisch sind und daß
| |
| «innerlich ungeformte» organische Massen sich nach außen
| |
| in verschiedener Weise aufschließen, daß es ein und dasselbe
| |
| ist, was auf niederer Stufe als Rückenmarksnerv, auf
| |
| höherer als Sinnesnerv sich zu dem die Außenwelt aufnehmenden,
| |
| ergreifenden, erfassenden Sinnesorgane aufschließt.
| |
| Jedes Lebendige war damit in seiner von innen
| |
| heraus sich formenden, gestaltenbildenden Kraft aufgezeigt;
| |
| es war als wahrhaft Lebendiges jetzt erst begriffen.
| |
| Goethes Grundideen waren jetzt auch in bezug auf die Tierbildung
| |
| zu einem Abschlusse gekommen. Es war die Zeit
| |
| zur Ausarbeitung derselben gekommen, obwohl er den Plan
| |
| dazu schon früher hatte, wie uns der Briefwechsel Goethes
| |
| mit F. H. Jacobi beweist. [WA 9, 184] Als er im Juli 1790
| |
| dem Herzoge in das schlesische Lager folgte, war er dort (in
| |
| Breslau) vorzugsweise mit seinen Studien über die Bildung
| |
| der Tiere beschäftigt. Er begann dort auch wirklich seine
| |
| diesbezüglichen Gedanken aufzuzeichnen. Am 31. August
| |
| 1790 schreibt er an Friedrich von Stein: «In allem dem
| |
| Gewühle hab' ich angefangen, meine Abhandlung über
| |
| die Bildung der Tiere zu schreiben.» [WA 9, 223]
| |
| In einem umfassenden Sinn enthält die Idee des Tiertypus
| |
| das Gedicht: «Die Metamorphose der Tiere», das
| |
| 1820 im zweiten der «Morphologischen Hefte» zuerst erschienen
| |
| ist.63 In den Jahren 1790-95 nahm von naturwissenschaftlichen
| |
| Arbeiten die Farbenlehre Goethe vorzüglich
| |
| in Anspruch. Zu Anfang des Jahres 1795 war Goethe in
| |
| Jena, wo auch die Gebrüder v. Humboldt, Max Jacobi und
| |
| Schiller anwesend waren. In dieser Gesellschaft brachte
| |
| Goethe seine Ideen über vergleichende Anatomie vor. Die
| |
| Freunde fanden seine Darstellungen so bedeutsam, daß sie
| |
| ihn aufforderten, seine Gedanken zu Papier zu bringen.
| |
| Wie aus einem Schreiben Goethes an Jacobi den Älteren hervorgeht
| |
| [WA 10, 232], hat Goethe dieser Aufforderung sogleich
| |
| in Jena Genüge getan, indem er das im 1. Bande von
| |
| Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners
| |
| National-Literatur [S. 241-275] abgedruckte Schema einer
| |
| vergleichenden Knochenlehre Max Jacobi diktierte. Die einleitenden
| |
| Kapitel wurden 1796 weiter ausgeführt [Ebenda
| |
| 63 Vgl. Natw. Schr., 1. Bd., S. 344 ff., wo einzelnes noch in Anmerkungen
| |
| gesagt ist.
| |
| S. 325ff.]. In diesen Abhandlungen sind Goethes Grundanschauungen
| |
| über Tierbildung ebensosehr wie in seiner
| |
| Schrift: «Versuch, die Metamorphose der Pflanze zu erklären
| |
| » jene über Pflanzenbildung enthalten. Im Verkehre
| |
| mit Schiller ~ seit 1794 - trat ein Wendepunkt seiner Anschauungen
| |
| ein, indem er sich von nun an seiner eigenen
| |
| Verfahrungs- und Forschungsweise gegenüber betrachtend
| |
| verhielt, wobei ihm seine Anschauungsweise gegenständlich
| |
| wurde. Wir wollen nach diesen historischen Betrachtungen
| |
| uns nun zum Wesen und der Bedeutung von Goethes Anschauungen
| |
| über die Bildung der Organismen wenden.
| |
| IV
| |
| ÜBER DAS WESEN UND DIE BEDEUTUNG
| |
| VON GOETHES SCHRIFTEN
| |
| ÜBER ORGANISCHE BILDUNG
| |
| Die hohe Bedeutung von Goethes morphologischen Arbeiten
| |
| ist darin zu suchen, daß in denselben die theoretische
| |
| Grundlage und die Methode des Studiums organischer Naturen
| |
| festgestellt ist, welches eine wissenschaftliche Tat ersten
| |
| Ranges ist.
| |
| Will man dieses in der richtigen Weise würdigen, so muß
| |
| man sich vor allem den großen Unterschied gegenwärtig
| |
| halten, welcher zwischen Erscheinungen der anorganischen
| |
| und solchen der organischen Natur besteht. Eine Erscheinung
| |
| der ersteren Art ist z. B. der Stoß zweier elastischer
| |
| Kugeln aufeinander. Ist die eine Kugel ruhend und stößt
| |
| die andere in einer gewissen Richtung und mit einer gewissen
| |
| Geschwindigkeit auf dieselbe, so erhält jene ebenfalls
| |
| eine gewisse Bewegungsrichtung und eine gewisse Geschwindigkeit.
| |
| Handelt es sich nun darum, eine solche Erscheinung
| |
| zu begreifen, so kann dies nur dadurch erreicht
| |
| werden, daß wir das, was unmittelbar für die Sinne da ist,
| |
| in Begriffe verwandeln. Es muß uns dieses in dem Maße
| |
| gelingen, daß nichts Sinnenfällig-Wirkliches bleibt, welches
| |
| wir nicht begrifflich durchdrungen hätten. Wir sehen
| |
| die eine Kugel ankommen, an die andere stoßen, letztere
| |
| sich weiter bewegen. Wir haben diese Erscheinung begriffen,
| |
| wenn wir aus Masse, Richtung und Geschwindigkeit
| |
| der ersten und aus der Masse der anderen die Geschwindigkeit
| |
| und Richtung von letzterer angeben können; wenn
| |
| wir einsehen, daß unter den gegebenen Verhältnissen jene
| |
| Erscheinung mit Notwendigkeit eintreten müsse. Das letztere
| |
| heißt aber nichts anderes, als: Es muß dasjenige, was
| |
| sich unseren Sinnen darbietet, als eine notwendige Folge
| |
| dessen erscheinen, was wir ideell vorauszusetzen haben. Ist
| |
| das letztere der Fall, so können wir sagen, daß sich Begriff
| |
| und Erscheinung decken. Es ist nichts im Begriffe, was nicht
| |
| auch in der Erscheinung wäre und nichts in der Erscheinung,
| |
| was nicht auch im Begriffe wäre. Nun haben wir auf
| |
| jene Verhältnisse, als deren notwendige Folge eine Erscheinung
| |
| der unorganischen Natur auftritt, näher einzugehen.
| |
| Hier tritt der wichtige Umstand ein, daß die sinnlich wahrnehmbaren
| |
| Vorgänge der unorganischen Natur durch Verhältnisse
| |
| bedingt werden, welche ebenfalls der Sinnenwelt
| |
| angehören. In unserem Falle kommen Masse, Geschwindigkeit
| |
| und Richtung, also durchaus Verhältnisse der Sinnenweit
| |
| in Betracht. Es tritt nichts weiteres als Bedingung der
| |
| Erscheinung auf. Nur die unmittelbar sinnlich-wahrnehmbaren
| |
| Umstände bedingen sich untereinander. Eine begriffliche
| |
| Erfassung solcher Vorgänge ist also nichts anderes
| |
| als eine Ableitung von Sinnenfällig-Wirklichem aus Sinnenfällig-
| |
| Wirklichem. Räumlich-zeitliche Verhältnisse, Masse,
| |
| Gewicht oder sinnlich wahrnehmbare Kräfte wie Licht
| |
| oder Wärme sind es, welche Erscheinungen hervorrufen,
| |
| die wieder in dieselbe Reihe gehören. Ein Körper wird erwärmt
| |
| und vergrößert dadurch sein Volumen; das erste
| |
| wie das zweite gehört der Sinnenwelt an, sowohl die Ursache
| |
| wie die Wirkung. Wir brauchen also, um solche Vorgänge
| |
| zu begreifen, gar nicht aus der Sinnenwelt herauszugehen.
| |
| Wir leiten nur innerhalb derselben eine Erscheinung
| |
| aus der andern ab. Wenn wir also eine solche Erscheinung
| |
| erklären, d. h. begrifflich durchdringen wollen, so haben
| |
| wir in den Begriff keine anderen Elemente aufzunehmen
| |
| als solche, welche auch anschaulich mit unseren Sinnen
| |
| wahrzunehmen sind. Wir können alles anschauen, was wir
| |
| begreifen wollen. Und darin besteht das Decken von
| |
| Wahrnehmung (Erscheinung) und Begriff. Es bleibt uns
| |
| nichts dunkel in den Vorgängen, weil wir die Verhältnisse
| |
| kennen, aus denen sie folgen. Hiermit haben wir das
| |
| Wesen der unorganischen Natur entwickelt und zugleich
| |
| gezeigt, inwiefern wir dieselbe, ohne über sie hinauszugehen,
| |
| aus sich seihst erklären können. An dieser Erklärbarkeit hat
| |
| man nun niemals gezweifelt, seit man überhaupt angefangen
| |
| hat, über die Natur dieser Dinge zu denken. Man hat
| |
| zwar nicht immer den obigen Gedankengang durchgemacht,
| |
| aus welchem die Möglichkeit einer Deckung von
| |
| Begriff und Wahrnehmung folgt; doch hat man nie Anstand
| |
| genommen, die Erscheinungen auf die angedeutete
| |
| Weise aus der Natur ihres eigenen Wesens zu erklären.64
| |
| Anders aber verhielt es sich bis zu Goethe mit den Erscheinungen
| |
| der organischen Welt. Beim Organismus erscheinen
| |
| die für die Sinne wahrnehmbaren Verhältnisse, z.
| |
| B. Form, Größe, Farbe, Wärmeverhältnisse eines Organes,
| |
| nicht bedingt durch Verhältnisse der gleichen Art. Man
| |
| 64 Einige Philosophen behaupten, daß wir die Erscheinungen der Sinnenwelt
| |
| wohl auf ihre ursprünglichen Elemente (Kräfte) zurückführen
| |
| können, daß wir aber diese ebensowenig wie das Wesen des
| |
| Lebens erklären können. Demgegenüber ist zu bemerken, daß jene
| |
| Elemente einfach sind, d. i. sich nicht weiter aus einfacheren Elementen
| |
| zusammensetzen lassen. In ihrer Einfachheit sie abzuleiten, zu
| |
| erklären, ist aber eine Unmöglichkeit, nicht weil unser Erkenntnisvermögen
| |
| begrenzt ist, sondern weil sie auf sich selbst beruhen; sie
| |
| sind uns in ihrer Unmittelbarkeit gegenwärtig, sie sind in sich abgeschlossen,
| |
| aus nichts weiterem ableitbar.
| |
| kann z. B. von der Pflanze nicht sagen, daß Größe, Form,
| |
| Lage usw. der Wurzel die sinnlich-wahrnehmbaren Verhältnisse
| |
| am Blatte oder an der Blüte bedingen. Ein Körper,
| |
| bei dem dies der Fall wäre, wäre nicht ein Organismus, sondern
| |
| eine Maschine. Man muß vielmehr zugestehen, daß
| |
| alle sinnlichen Verhältnisse an einem lebenden Wesen nicht
| |
| als Folge von andern sinnlich-wahrnehmbaren Verhältnissen
| |
| erscheinen65, wie dies bei der unorganischen Natur der
| |
| Fall ist. Alle sinnlichen Qualitäten erscheinen hier vielmehr
| |
| als Folge eines solchen, welches nicht mehr sinnlich
| |
| wahrnehmbar ist. Sie erscheinen als Folge einer über den
| |
| sinnlichen Vorgängen schwebenden höheren Einheit. Nicht
| |
| die Gestalt der Wurzel bedingt jene des Stammes und wiederum
| |
| die Gestalt von diesem jene des Blattes usw., sondern
| |
| alle diese Formen sind bedingt durch ein über ihnen
| |
| Stehendes, welches selbst nicht wieder sinnlich-anschau-
| |
| 65 Dies ist eben der Gegensatz des Organismus zur Maschine. Bei der
| |
| letzteren ist alles Wechselwirkung der Teile. Es existiert nichts Wirkliches
| |
| in der Maschine selbst außer dieser Wechselwirkung. Das einheitliche
| |
| Prinzip, welches das Zusammenwirken jener Teile beherrscht,
| |
| fehlt im Objekte selbst und liegt außerhalb desselben in
| |
| dem Kopfe des Konstrukteurs als Plan. Nur die äußerste Kurzsichtigkeit
| |
| kann leugnen, daß gerade darinnen die Differenz zwischen
| |
| Organismus und Mechanismus besteht, daß dasjenige Prinzip, welches
| |
| das Wechselverhältnis der Teile bewirkt, beim letzteren nur außerhalb
| |
| (abstrakt) vorhanden ist, während es bei ersterem in dem Dinge
| |
| selbst wirkliches Dasein gewinnt. So erscheinen dann auch die sinnlich
| |
| wahrnehmbaren Verhältnisse des Organismus nicht als bloße
| |
| Folge auseinander, sondern als beherrscht von jenem inneren Prinzipe,
| |
| als Folge eines solchen, das nicht mehr sinnlich wahrnehmbar
| |
| ist. In dieser Hinsicht ist es ebensowenig sinnlich wahrnehmbar, wie
| |
| jener Plan im Kopfe des Konstrukteurs, der ja auch nur für den Geist
| |
| da ist; ja es ist im wesentlichen jener Plan, nur daß er jetzt eingezogen
| |
| ist in das Innere des Wesens und nicht mehr durch Vermittlung
| |
| eines Dritten - jenes Konstrukteurs - seine Wirkungen vollzieht,
| |
| sondern dieses direkt selbst tut.
| |
| licher Form ist; sie sind wohl füreinander da, nicht aber
| |
| durcheinander. Sie bedingen sich nicht untereinander, sondern
| |
| sind alle bedingt von einem anderen. Wir können hier
| |
| das, was wir sinnlich wahrnehmen, nicht wieder aus sinnlich
| |
| wahrnehmbaren Verhältnissen ableiten, wir müssen
| |
| in den Begriff der Vorgänge Elemente aufnehmen, welche
| |
| nicht der Welt der Sinne angehören, wir müssen über die
| |
| Sinnenwelt hinausgehen. Es genügt die Anschauung nicht
| |
| mehr, wir müssen die Einheit begrifflich erfassen, wenn
| |
| wir die Erscheinungen erklären wollen. Dadurch aber tritt
| |
| eine Entfernung von Anschauung und Begriff ein; sie scheinen
| |
| sich nicht mehr zu decken; der Begriff schwebt über
| |
| der Anschauung. Es wird schwer, den Zusammenhang beider
| |
| einzusehen. Während in der unorganischen Natur Begriff
| |
| und Wirklichkeit eins waren, scheinen sie hier auseinanderzugehen
| |
| und eigentlich zwei verschiedenen Welten
| |
| anzugehören. Die Anschauung, welche sich den Sinnen
| |
| unmittelbar darbietet, scheint ihre Begründung, ihre Wesenheit
| |
| nicht in sich selbst zu tragen. Das Objekt scheint
| |
| aus sich selbst nicht erklärbar, weil sein Begriff nicht von
| |
| ihm selbst, sondern von etwas anderem entnommen ist. Weil
| |
| das Objekt nicht von Gesetzen der Sinnenwelt beherrscht
| |
| erscheint, doch aber für die Sinne da ist, ihnen erscheint,
| |
| so ist es, als wenn man hier vor einem unlösbaren Widerspruche
| |
| in der Natur stünde, als wenn eine Kluft bestünde
| |
| zwischen anorganischen Erscheinungen, welche aus sich
| |
| selbst zu begreifen sind, und organischen Wesen, bei denen
| |
| ein Eingriff in die Gesetze der Natur geschieht, hei denen
| |
| allgemeingültige Gesetze auf einmal durchbrochen würden.
| |
| Diese Kluft nahm man in der Tat bis auf Goethe allgemein
| |
| in der Wissenschaft an; erst ihm gelang es, das lösende Wort
| |
| des Rätsels zu sprechen. Erklärbar aus sich selbst sollte, so
| |
| dachte man vor ihm, nur die unorganische Natur sein; bei
| |
| der organischen höre das menschliche Erkenntnisvermögen
| |
| auf. Man wird die Größe der Tat, welche Goethe vollbracht
| |
| hat, am besten ermessen, wenn man bedenkt, daß der große
| |
| Reformator der neueren Philosophie Kant jenen alten Irrtum
| |
| nicht nur vollkommen teilte, sondern sogar eine wissenschaftliche
| |
| Begründung dafür zu finden suchte, daß es
| |
| dem menschlichen Geiste nie gelingen werde, die organischen
| |
| Bildungen zu erklären. Wohl sah er die Möglichkeit
| |
| eines Verstandes ein — eines intellectus archetypus, eines
| |
| intuitiven Verstandes -, dem es gegeben wäre, den Zusammenhang
| |
| von Begriff und Wirklichkeit bei den organischen
| |
| Wesen geradeso wie bei den Anorganismen zu durchschauen;
| |
| allein dem Menschen selbst sprach er die Möglichkeit
| |
| eines solchen Verstandes ab. Der menschliche Verstand
| |
| soll nämlich nach Kant die Eigenschaft haben, daß
| |
| er sich die Einheit, den Begriff einer Sache nur als hervorgehend
| |
| aus der Zusammenwirkung der Teile - als durch
| |
| Abstraktion gewonnenes analytisches Allgemeine - denken
| |
| kann, nicht aber so, daß jeder einzelne Teil als der
| |
| Ausfluß einer bestimmten konkreten (synthetischen) Einheit,
| |
| eines Begriffes in intuitiver Form erschiene. Daher
| |
| sei es diesem Verstande auch unmöglich, die organische Natur
| |
| zu erklären, denn diese müßte ja aus dem Ganzen in die
| |
| Teile wirkend gedacht werden. Kant sagt darüber: «Unser
| |
| Verstand hat also das Eigene für die Urteilskraft, daß ihm
| |
| Erkenntnis durch denselben, durch das Allgemeine, das Besondere
| |
| nicht bestimmt wird, und dieses also von jenem
| |
| nicht abgeleitet werden kann».66 Wir müßten danach also
| |
| 6G Kant, Kritik der Urteilskraft; Ausgabe von Kehrbach, S. 294.
| |
| bei den organischen Bildungen darauf verzichten, den notwendigen
| |
| Zusammenhang der Idee des Ganzen, welche
| |
| nur gedacht werden kann mit dem, was unseren Sinnen im
| |
| Raume und in Zeit erscheint, zu erkennen. Wir müßten uns
| |
| nach Kant darauf beschränken, einzusehen, daß ein solcher
| |
| Zusammenhang existiert; die logische Forderung aber zu
| |
| erkennen, wie der allgemeine Gedanke, die Idee aus sich
| |
| heraustritt und als sinnenfällige Wirklichkeit sich offenbart,
| |
| diese könne bei den Organismen nicht erfüllt werden.
| |
| Wir müßten vielmehr annehmen, daß sich Begriff und
| |
| Wirklichkeit hier unvermittelt gegenüberstünden und durch
| |
| einen außerhalb der beiden liegenden Einfluß etwa auf dieselbe
| |
| Weise zustande gebracht worden seien, wie der
| |
| Mensch nach einer von ihm aufgeworfenen Idee irgendein
| |
| zusammengesetztes Ding, z. B. eine Maschine aufbaut. Damit
| |
| war die Möglichkeit einer Erklärung der Organismenwelt
| |
| geleugnet, ihre Unmöglichkeit sogar scheinbar bewiesen.
| |
| So standen die Dinge, als Goethe sich daran machte,
| |
| die organischen Wissenschaften zu pflegen. Aber er ging
| |
| an das Studium derselben, nachdem er durch die wiederholte
| |
| Lektüre des Philosophen Spinoza in der angemessensten
| |
| Weise darauf vorbereitet war.
| |
| Zum ersten Male machte sich Goethe an Spinoza im
| |
| Frühjahre 1774. Goethe sagt von dieser seiner ersten Bekanntschaft
| |
| mit dem Philosophen in «Dichtung und Wahrheit
| |
| »67: «Nachdem ich mich nämlich in aller Welt um ein
| |
| Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehen
| |
| hatte, geriet ich endlich an die <Ethik> dieses Mannes
| |
| ». Im Sommer desselben Jahres traf Goethe mit Friedrich
| |
| 67III. Teil, 14. Buch.
| |
| Jacobi zusammen. Letzterer, der sich ausführlicher mit Spinoza
| |
| auseinandersetzte - wovon seine Briefe «Über die Lehre
| |
| des Spinoza», 1785, zeugen -, war ganz dazu geeignet,
| |
| Goethe tiefer in das Wesen des Philosophen einzuführen.
| |
| Spinoza wurde damals auch viel besprochen, denn bei
| |
| Goethe «war noch alles in der ersten Wirkung und Gegenwirkung,
| |
| gärend und siedend».68 Einige Zeit später fand
| |
| er in der Bibliothek seines Vaters ein Buch, dessen Autor
| |
| gegen Spinoza heftig kämpfte, ja ihn bis zur vollkommenen
| |
| Fratze entstellte. Dies wurde der Anlaß, daß sich
| |
| Goethe mit dem tiefen Denker noch einmal ernstlich beschäftigte.
| |
| Er fand in seinen Schriften Aufschlüsse über die
| |
| tiefsten wissenschaftlichen Fragen, die er damals aufzuwerfen
| |
| fähig war. Im Jahre 1784 liest der Dichter Spinoza
| |
| mit Frau von Stein. Er schreibt am 19. November 1784 an
| |
| die Freundin: «Ich bringe den Spinoza lateinisch mit, wo
| |
| alles viel deutlicher... ist.» [WA 6, 392] Die Wirkung
| |
| dieses Philosophen auf Goethe war nun eine ungeheure.
| |
| Goethe selbst war sich darüber stets klar. Im Jahre 1816
| |
| schreibt er an Zelter: «Außer Shakespeare und Spinoza
| |
| wüßt' ich nicht, daß irgend ein Abgeschiedener eine solche
| |
| Wirkung auf mich getan (wie Linne).» [WA 27,219] Er betrachtet
| |
| also Shakespeare und Spinoza als die beiden Geister,
| |
| welche auf ihn den größten Einfluß ausgeübt haben.
| |
| Wie nun sich dieser Einfluß in bezug auf die Studien organischer
| |
| Bildung äußerte, das wird uns am deutlichsten, wenn
| |
| wir uns ein Wort über Lavater aus der «Italienischen Reise»
| |
| vorhalten: Lavater vertrat eben auch jene damals allgemein
| |
| gangbare Ansicht, daß ein Lebendiges nur durch einen nicht
| |
| in der Natur der Wesen selbst gelegenen Einfluß, durch
| |
| 88 [Dichtung und Wahrheit, III. Teil, 14. Buch.]
| |
| eine Störung der allgemeinen Naturgesetze entstehen könne.
| |
| Darüber schrieb denn Goethe die Worte: «Neulich fand
| |
| ich in einer leidig apostolisch-kapuzinermäßigen Deklamation
| |
| des Züricher Propheten die unsinnigen Worte: Alles,
| |
| was Leben hat, lebt durch etwas außer sich. Oder so ungefähr
| |
| klang's. Das kann nun so ein Heidenbekehrer hinschreiben,
| |
| und bei der Revision zupft ihn der Genius nicht
| |
| beim Ärmel».69 Dies ist nun ganz im Geiste Spinozas gesprochen.
| |
| Spinoza unterscheidet drei Arten von Erkenntnis.
| |
| Die erste Art ist jene, bei der wir uns bei gewissen gehörten
| |
| oder gelesenen Worten der Dinge erinnern und uns
| |
| von diesen Dingen gewisse Vorstellungen bilden, ähnlich
| |
| denen, durch welche wir die Dinge bildlich vorstellen. Die
| |
| zweite Art der Erkenntnis ist jene, bei welcher wir uns aus
| |
| zureichenden Vorstellungen von den Eigenschaften der
| |
| Dinge Gemeinbegriffe bilden. Die dritte Art der Erkenntnis
| |
| ist nun aber diejenige, bei welcher wir von der zureichenden
| |
| Vorstellung des wirklichen Wesens einiger Attribute
| |
| Gottes zur zureichenden Erkenntnis des Wesens der
| |
| Dinge fortschreiten. Diese Art der Erkenntnis nennt nun
| |
| Spinoza scientia intuitiva, das anschauende Wissen. Diese
| |
| letztere, die höchste Art der Erkenntnis, war es nun, die
| |
| Goethe anstrebte. Man muß sich dabei vor allem klar sein,
| |
| was Spinoza damit sagen will: Die Dinge sollen so erkannt
| |
| werden, daß wir in ihrem Wesen einige Attribute Gottes
| |
| erkennen. Der Gott Spinozas ist der Ideengehalt der Welt,
| |
| das treibende, alles stützende und alles tragende Prinzip.
| |
| Man kann sich nun dieses entweder so vorstellen, daß man
| |
| es als selbständiges, für sich abgesondert von den endlichen
| |
| Wesen existierendes Wesen voraussetzt, welches diese end-
| |
| 69 Italienische Reise, 5. Okt. 1787.
| |
| lichen Dinge neben sich hat, sie beherrscht und in Wechselwirkung
| |
| versetzt. Oder aber, man stellt sich dieses Wesen
| |
| als aufgegangen in den endlichen Dingen vor, so daß es
| |
| nicht mehr über und neben ihnen, sondern nur mehr in
| |
| ihnen existiert. Diese Ansicht leugnet jenes Urprinzip keineswegs,
| |
| sie erkennt es vollkommen an, nur betrachtet sie
| |
| es als ausgegossen in die Welt. Die erste Ansicht betrachtet
| |
| die endliche Welt als Offenbarung des Unendlichen, aber
| |
| dieses Unendliche bleibt in seinem Wesen erhalten, es vergibt
| |
| sich nichts. Es geht nicht aus sich heraus, es bleibt, was
| |
| es vor seiner Offenbarung war. Die zweite Ansicht sieht die
| |
| endliche Welt ebenso als eine Offenbarung des Unendlichen
| |
| an, nur nimmt sie an, daß dieses Unendliche in seinem Offenbarwerden
| |
| ganz aus sich herausgegangen ist, sich selbst,
| |
| sein eigenes Wesen und Leben in seine Schöpfung gelegt
| |
| hat, so daß es nur mehr in dieser existiert. Da nun Erkennen
| |
| offenbar ein Gewahrwerden des Wesens der Dinge ist,
| |
| dieses Wesen doch aber nur in dem Anteile, den ein endliches
| |
| Wesen von dem Urprinzipe aller Dinge hat, bestehen
| |
| kann, so heißt Erkennen ein Gewahrwerden jenes
| |
| Unendlichen in den Dingen.70 Nun nahm man, wie wir
| |
| oben ausgeführt haben, vor Goethe bei der unorganischen
| |
| Natur wohl an, daß man sie aus sich selbst erklären könne,
| |
| daß sie ihre Begründung und ihr Wesen in sich trage, nicht
| |
| so aber bei der organischen. Hier konnte man jenes Wesen,
| |
| welches sich in dem Objekte offenbart, nicht in dem letzteren
| |
| selbst erkennen. Man nahm es daher außerhalb desselben
| |
| an. Kurz: Man erklärte die organische Natur nach
| |
| der ersten Ansicht, die anorganische nach der zweiten. Die
| |
| Notwendigkeit einer einheitlichen Erkenntnis hatte, wie
| |
| 70 Einiger Attribute Gottes in denselben.
| |
| wir gesehen haben, Spinoza bewiesen. Er war zu sehr Philosoph,
| |
| als daß er diese theoretische Forderung auch auf
| |
| die speziellen Zweige der Organik hätte ausdehnen können.*
| |
| Dies blieb nun Goethe vorbehalten. Nicht nur der
| |
| obige Ausspruch, sondern noch zahlreiche andere beweisen
| |
| uns, daß er sich entschieden zur spinozistischen Auffassung
| |
| bekannte. In «Dichtung und Wahrheit»71: «Die Natur
| |
| wirkt nach ewigen, notwendigen, dergestalt göttlichen
| |
| Gesetzen, daß die Gottheit selbst daran nichts ändern
| |
| könnte.» Und in bezug auf das 1811 erschienene Buch Jacobis:
| |
| «Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung»
| |
| bemerkt Goethe72: «Wie konnte mir das Buch eines so herzlich
| |
| geliebten Freundes willkommen sein, worin ich die
| |
| These durchgeführt sehen sollte: die Natur verberge Gott.
| |
| Mußte, bei meiner reinen, tiefen, angeborenen und geübten
| |
| Anschauungsweise, die mich Gott in der Natur; die Natur
| |
| in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt hatte, so daß diese
| |
| Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existenz machte,
| |
| mußte nicht ein so seltsamer, einseitig-beschränkter Ausspruch
| |
| mich dem Geiste nach von dem edelsten Manne, dessen
| |
| Herz ich verehrend liebte, für ewig entfernen?» [WA
| |
| Abt. I, 36, 71] Goethe war sich des großen Schrittes, den er
| |
| in der Wissenschaft vollführt, vollständig bewußt; er erkannte,
| |
| daß er, indem er die Schranken zwischen anorganischer
| |
| und organischer Natur brach und Spinozas Denkweise
| |
| konsequent durchführte, eine bedeutsame Wendung der Wissenschaf
| |
| t herbeiführe. Wir finden diese Erkenntnis in dem
| |
| Aufsatz «Anschauende Urteilskraft» ausgeprochen. Nachdem
| |
| er die oben von uns mitgeteilte Kantsche Begründung
| |
| 71 IV. Teil, 16. Buch.
| |
| 72 Tag- und Jahres-Hefte 1811.
| |
| der Unfähigkeit des menschlichen Vertandes, einen Organismus
| |
| zu erklären, in der «Kritik der Urteilskraft» gefunden,
| |
| spricht er sich dagegen so aus: «Zwar scheint der Verfasser
| |
| (Kant) hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein
| |
| wenn wir ja im Sittlichen durch Glauben an Gott, Tugend
| |
| und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und
| |
| an das erste Wesen annähern sollen, so dürft' es wohl im
| |
| Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns durch das
| |
| Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen
| |
| Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte
| |
| ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes
| |
| Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar
| |
| geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so
| |
| konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer
| |
| der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst
| |
| nennt, mutig zu bestehen.» [Natw. Schr., 1. Bd. S. 116.]
| |
| Das Wesentliche eines Vorganges der unorganischen Natur
| |
| oder anders gesagt: eines der bloßen Sinnen welt angehörigen
| |
| Vorganges besteht darin, daß er durch einen anderen
| |
| ebenfalls nur der Sinnenwelt angehörigen Prozeß bewirkt
| |
| und determiniert wird. Nehmen wir nun an, der verursachende
| |
| Prozeß bestehe aus den Elementen m, c und r 73,
| |
| der bewirkte aus m', c' und r'; so ist immer bei bestimmten
| |
| m, c, und r, m', c' und r' eben durch jene bestimmt. Will ich
| |
| nun den Vorgang begreifen, so muß ich den Gesamtvorgang,
| |
| der sich aus der Ursache und Wirkung zusammensetzt,
| |
| in einem gemeinsamen Begriffe darstellen. Dieser
| |
| Begriff ist nun aber nicht derart, daß er im Vorgange selbst
| |
| liegen und daß er den Vorgang bestimmen könnte. Er faßt
| |
| 73 Masse, Richtung und Geschwindigkeit einer bewegten elastischen
| |
| Kugel.
| |
| nun beide Vorgänge in einen gemeinsamen Ausdruck zusammen.
| |
| Er bewirkt und bestimmt nicht. Nur die Objekte
| |
| der Sinnenwelt bestimmen sich. Die Elemente m, c und r
| |
| sind auch für die äußeren Sinne wahrnehmbare Elemente.
| |
| Der Begriff erscheint nur da, um dem Geiste als Mittel der
| |
| Zusammenfassung zu dienen, er drückt etwas aus, was nicht
| |
| ideell, nicht begrifflich, was sinnenfällig wirklich ist. Und
| |
| jenes etwas, was er ausdrückt, dies ist sinnenfälliges Objekt.
| |
| Auf der Möglichkeit, die Außenwelt durch die Sinne aufzufassen
| |
| und ihre Wechselwirkung durch Begriffe auszudrücken,
| |
| beruht die Erkenntnis der anorganischen Natur.
| |
| Die Möglichkeit, auf diese Art Dinge zu erkennen, sah
| |
| Kant für die einzige dem Menschen zukommende an. Dieses
| |
| Denken nannte er diskursives; was wir erkennen wollen,
| |
| ist äußere Anschauung; der Begriff, die zusammenfassende
| |
| Einheit, bloßes Mittel. Wollten wir aber die organische Natur
| |
| erkennen, so müßten wir das ideelle Moment, das Begriffliche
| |
| nicht als ein solches fassen, das ein anderes ausdrückt,
| |
| bedeutet, von diesem sich seinen Inhalt borgt, sondern
| |
| wir müßten das Ideelle als solches erkennen; es müßte
| |
| einen eigenen aus sich selbst, nicht aus der räumlich-zeitlichen
| |
| Sinnenwelt stammenden Inhalt haben. Jene Einheit,
| |
| welche dort unser Geist bloß abstrahiert, müßte sich auf
| |
| sich selbst bauen, sie müßte sich aus sich heraus gestalten,
| |
| sie müßte ihrem eigenen Wesen gemäß, nicht nach den Einflüssen
| |
| anderer Objekte gebildet sein. Die Erfassung einer
| |
| solchen aus sich selbst sich gestaltenden, sich aus eigener
| |
| Kraft offenbarenden Entität sollte dem Menschen versagt
| |
| sein. Was ist nun zu einer solchen Erfassung nötig? Eine
| |
| Urteilskraft, welche einem Gedanken auch einen anderen
| |
| als bloß einen durch die äußeren Sinne aufgenommenen
| |
| Stoff verleihen kann, eine solche, welche nicht bloß Sinnenfälliges
| |
| erfassen kann, sondern auch rein Ideelles für
| |
| sich, abgesondert von der sinnlichen Welt. Man kann nun
| |
| einen Begriff, der nicht durch Abstraktion aus der Sinnenwelt
| |
| genommen ist, sondern der einen aus ihm und nur aus
| |
| ihm fließenden Gehalt hat, einen intuitiven Begriff und
| |
| die Erkenntnis desselben eine intuitive nennen. Was daraus
| |
| folgt, ist klar: Ein Organismus kann nur im intuitiven Begriffe
| |
| erfaßt werden. Daß es dem Menschen gegönnt sei, so
| |
| zu erkennen, das zeigt Goethe durch die Tat.*
| |
| In der unorganischen Welt herrscht Wechselwirkung der
| |
| Teile einer Erscheinungsreihe, gegenseitiges Bedingtsein der
| |
| Glieder derselben durcheinander. In der organischen ist
| |
| dies nicht der Fall. Hier bestimmt nicht ein Glied eines
| |
| Wesens das andere, sondern das Ganze (die Idee) bedingt
| |
| jedes Einzelne aus sich selbst, seinem eigenen Wesen gemäß.
| |
| Dieses sich aus sich selbst Bestimmende kann man mit
| |
| Goethe eine Entelechie nennen. Entelechie ist also die sich
| |
| aus sich selbst in das Dasein rufende Kraft. Was in die
| |
| Erscheinung tritt, hat auch sinnenfälliges Dasein, aber dies
| |
| ist durch jenes entelechische Prinzip bestimmt. Daraus entspringt
| |
| auch der scheinbare Widerspruch. Der Organismus
| |
| bestimmt sich aus sich selbst, macht seine Eigenschaften
| |
| einem vorausgesetzten Prinzipe gemäß, und doch ist er
| |
| sinnlich-wirklich. Er ist also auf eine ganz andere Weise
| |
| zu seiner sinnlichen Wirklichkeit gekommen als die andern
| |
| Objekte der Sinnenwelt; er scheint daher auf nicht natürlichem
| |
| Wege entstanden zu sein. Nun ist es aber auch
| |
| ganz erklärlich, daß der Organismus in seiner Äußerlichkeit
| |
| ebenso den Einflüssen der Sinnenwelt ausgesetzt ist,
| |
| wie jeder andere Körper. Der vom Dache fallende Stein
| |
| kann ebenso ein lebendes Wesen, wie einen unorganischen
| |
| Körper treffen. Durch Aufnahme von Nahrung usw. ist
| |
| der Organismus mit der Außenwelt im Zusammenhange;
| |
| alle physischen Verhältnisse der Außenwelt wirken auf ihn
| |
| ein. Natürlich kann dies auch nur insoferne stattfinden,
| |
| als der Organismus Objekt der Sinnenwelt, räumlich-zeitliches
| |
| Objekt ist. Dieses Objekt der Außenwelt nun, das
| |
| zum Dasein gekommene entelechische Prinzip, ist die
| |
| äußere Erscheinung des Organismus. Da er hier aber nicht
| |
| nur seinen eigenen Bildungsgesetzen, sondern auch den Bedingungen
| |
| der Außenwelt unterworfen ist, nicht nur so
| |
| ist, wie er dem Wesen des sich aus sich selbst bestimmenden
| |
| entelechischen Prinzipes gemäß sein sollte, sondern so,
| |
| wie er von anderem abhängig, beeinflußt ist, so erscheint
| |
| er gleichsam sich selbst nie ganz angemessen, nie bloß seiner
| |
| eigenen Wesenheit gehorchend. Da tritt nun die menschliche
| |
| Vernunft ein und bildet sich in der Idee einen Organismus,
| |
| der nicht den Einflüssen der Außenwelt gemäß,
| |
| sondern nur jenem Prinzipe entsprechend ist. Jeder zufällige
| |
| Einfluß, der mit dem Organischen als solchem nichts
| |
| zu tun hat, fällt dabei ganz weg. Diese rein dem Organischen
| |
| im Organismus entsprechende Idee ist nun die Idee
| |
| des Urorganismus, der Typus Goethes. Hieraus sieht man
| |
| auch die hohe Berechtigung dieser Typusidee ein. Sie ist
| |
| nicht ein bloßer Verstandesbegriff, sie ist dasjenige, was in
| |
| jedem Organismus das wahrhaft Organische ist, ohne welches
| |
| derselbe nicht Organismus wäre. Sie ist sogar reeller
| |
| als jeder einzelne wirkliche Organismus, weil sie sich in
| |
| jedem Organismus offenbart. Sie drückt auch das Wesen
| |
| eines Organismus voller, reiner aus als jeder einzelne, besondere
| |
| Organismus. Sie ist auf wesentlich andere Weise
| |
| gewonnen als der Begriff eines unorganischen Vorganges.
| |
| Jener ist abgezogen, abstrahiert aus der Wirklichkeit, er ist
| |
| nicht in letzterer wirksam; die Idee des Organismus aber
| |
| ist als Entelechie im Organismus tätig, wirksam; sie ist in
| |
| der von unserer Vernunft erfaßten Form nur die Wesenheit
| |
| der Entelechie selbst. Sie faßt die Erfahrung nicht zusammen;
| |
| sie bewirkt das zu Erfahrende. Goethe drückt dies
| |
| mit den Worten aus: «Begriff ist Summe, Idee Resultat der
| |
| Erfahrung; jene zu ziehen, wird Verstand, dieses zu erfassen,
| |
| Vernunft erfordert.» (Sprüche in Prosa [Natw. Schr.,
| |
| 4. Bd., 2. Abt., S. 379]) Damit ist jene Art der Realität, die
| |
| dem Goetheschen Urorganismus (Urpflanze oder Urtier)
| |
| zukommt, erklärt. Diese Goethesche Methode ist offenbar
| |
| die einzig mögliche, um in das Wesen der Organismenwelt
| |
| einzudringen.
| |
| Beim Unorganischen ist es als wesentlich zu betrachten,
| |
| daß die Erscheinung in ihrer Mannigfaltigkeit mit der sie
| |
| erklärenden Gesetzlichkeit nicht identisch ist, sondern auf
| |
| letztere, als auf ein ihr Äußeres, bloß hinweist. Die Anschauung
| |
| - das materielle Element der Erkenntnis — die uns
| |
| durch die äußeren Sinne gegeben ist, und der Begriff - das
| |
| formelle - durch den wir die Anschauung als notwendig
| |
| erkennen, stehen einander gegenüber als zwei einander zwar
| |
| objektiv fordernde Elemente, aber so daß der Begriff nicht
| |
| in den einzelnen Gliedern einer Erscheinungsreihe selbst
| |
| liegt, sondern in einem Verhältnisse derselben zueinander.
| |
| Dieses Verhältnis, welches die Mannigfaltigkeit in ein einheitliches
| |
| Ganze zusammenfaßt, ist in den einzelnen Teilen
| |
| des Gegebenen begründet, aber als Ganzes (als Einheit)
| |
| kommt es nicht zur realen, konkreten Erscheinung. Zur
| |
| äußeren Existenz - im Objekte - kommen nur die Glieder
| |
| dieses Verhältnisses. Die Einheit, der Begriff kommt als
| |
| solcher erst in unserem Verstande zur Erscheinung. Es
| |
| kommt ihm die Aufgabe zu, das Mannigfaltige der Erscheinung
| |
| zusammenzufassen, er verhält sich zu dem letzteren
| |
| als Summe, Wir haben es hier mit einer Zweiheit zu tun, mit
| |
| der mannigfaltigen Sache, die wir anschauen, und mit der
| |
| Einheit, die wir denken. In der organischen Natur stehen
| |
| die Teile des Mannigfaltigen eines Wesens nicht in einem
| |
| solchen äußerlichen Verhältnisse zueinander. Die Einheit
| |
| kommt mit der Mannigfaltigkeit zugleich, als mit ihr identisch
| |
| in dem Angeschauten zur Realität. Das Verhältnis
| |
| der einzelnen Glieder eines Erscheinungsganzen (Organismus)
| |
| ist ein reales geworden. Es kommt nicht mehr bloß in
| |
| unserem Verstande zur konkreten Erscheinung, sondern
| |
| im Objekte selbst, in welch letzterem es die Mannigfaltigkeit
| |
| aus sich selbst hervorbringt. Der Begriff hat nicht bloß
| |
| die Rolle einer Summe, eines Zusammenfassenden, welches
| |
| sein Objekt außer sich hat; er ist mit demselben vollkommen
| |
| eins geworden. Was wir anschauen, ist nicht mehr verschieden
| |
| von dem, wodurch wir das Angeschaute denken;
| |
| wir schauen den Begriff als Idee selbst an. Daher nennt
| |
| Goethe das Vermögen, wodurch wir die organische Natur
| |
| begreifen, anschauende Urteilskraft. Das Erklärende - das
| |
| Formelle der Erkenntnis, der Begriff - und das Erklärte -
| |
| das Materielle, die Anschauung - sind identisch. Die Idee,
| |
| durch welche wir das Organische erfassen, ist somit wesentlich
| |
| verschieden von dem Begriffe, durch den wir das
| |
| Unorganische erklären; sie faßt ein gegebenes Mannigfaltige
| |
| nicht bloß - wie eine Summe - zusammen, sondern setzt
| |
| ihren eigenen Inhalt aus sich heraus. Sie ist Resultat des
| |
| Gegebenen (der Erfahrung), konkrete Erscheinung. Hierin
| |
| liegt der Grund, warum wir in der unorganischen Naturwissenschaft
| |
| von Gesetzen (Naturgesetzen) sprechen und
| |
| die Tatsachen durch sie erklären, in der organischen Natur
| |
| dies dagegen durch Typen tun. Das Gesetz ist mit der
| |
| Mannigfaltigkeit der Anschauung, die es beherrscht, nicht
| |
| ein und dasselbe, es steht über ihr; im Typus aber ist Ideelles
| |
| und Reales zur Einheit geworden, das Mannigfaltige kann
| |
| nur als ausgehend von einem Punkte des mit ihm identischen
| |
| Ganzen erklärt werden.
| |
| In der Erkenntnis dieses Verhältnisses zwischen der
| |
| Wissenschaft des Unorganischen und jener des Organischen
| |
| liegt das Bedeutsame Goethescher Forschung. Man irrt daher,
| |
| wenn man heute vielfach die letztere für eine Vorausnahme
| |
| jenes Monismus erklärt, welcher eine das Organische
| |
| wie das Unorganische umfassende einheitliche Naturanschauung
| |
| dadurch begründen will, daß er das erstere auf
| |
| dieselben Gesetze - die mechanisch-physikalischen Kategorien
| |
| und Naturgesetze - zurückzuführen bestrebt ist, von
| |
| denen das letztere bedingt wird. Wie Goethe sich eine monistische
| |
| Anschauung denkt, haben wir gesehen. Die Art,
| |
| wie er das Organische erklärt, ist wesentlich verschieden
| |
| von der, wie er beim Unorganischen vorgeht. Er will die
| |
| mechanische Erklärungsweise streng abgelehnt wissen bei
| |
| dem, was höherer Art ist (siehe «Sprüche in Prosa» [Natw.
| |
| Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 413]). Er tadelt an Kieser und
| |
| Link, daß sie die organischen Erscheinungen auf unorganische
| |
| Wirkungsweisen zurückführen wollen. (Ebenda 1.
| |
| Bd., S. 198 u. 206.)
| |
| Die Veranlassung zu der angedeuteten irrtümlichen Ansicht
| |
| über Goethe hat das Verhältnis gegeben, in das er sich
| |
| zu Kant in bezug auf die Möglichkeit einer Erkenntnis der
| |
| organischen Natur gesetzt hat. Wenn aber Kant behauptet,
| |
| daß unser Verstand die organische Natur nicht zu erklären
| |
| vermag, so meint er damit gewiß nicht, daß sie auf
| |
| mechanischer Gesetzlichkeit beruhe, und er sie nur als eine
| |
| Folge mechanisch-physikalischer Kategorien nicht fassen
| |
| kann. Der Grund von diesem Unvermögen liegt nach Kant
| |
| vielmehr gerade darin, daß unser Verstand bloß Mechanisch-
| |
| Physikalisches erklären könne und das Wesen des
| |
| Organismus nicht dieser Natur ist. Wäre es dieses, so
| |
| könnte der Verstand vermöge der ihm zu Gebote stehenden
| |
| Kategorien es sehr wohl begreifen. Goethe denkt nun
| |
| nicht etwa daran, die organische Welt trotz Kant als Mechanismus
| |
| zu erklären; sondern er behauptet, daß uns das
| |
| Vermögen keineswegs abgehe, die höhere Art der Naturwirksamkeit,
| |
| welche das Wesen des Organischen begründet,
| |
| zu erkennen.
| |
| Indem wir das vorhin Gesagte erwägen, tritt uns sogleich
| |
| ein wesentlicher Unterschied zwischen anorganischer
| |
| und organischer Natur entgegen. Weil dort jeder beliebige
| |
| Prozeß einen anderen bewirken kann, dieser wieder einen
| |
| anderen usf., so erscheint die Reihe der Vorgänge nirgends
| |
| als eine geschlossene. Alles ist in steter Wechselwirkung,
| |
| ohne daß sich eine gewisse Gruppe von Objekten der Einwirkung
| |
| anderer gegenüber abzuschließen vermöchte. Die
| |
| anorganischen Wirkungsreihen haben nirgends Anfang und
| |
| Ende; das folgende steht mit dem vorhergehenden nur in
| |
| einem zufälligen Zusammenhange. Fällt ein Stein zur Erde,
| |
| so hängt es von der zufälligen Form des Objektes, auf welches
| |
| er fällt, ab, welche Wirkung er ausübt. Anders nun ist
| |
| die Sache in einem Organismus. Hier ist die Einheit das
| |
| erste. Die auf sich gebaute Entelechie enthält eine Anzahl
| |
| sinnlicher Gestaltungsformen, von denen eine die erste, eine
| |
| andere die letzte sein muß; bei denen nur immer in ganz
| |
| bestimmter Weise die eine auf die andere folgen kann. Die
| |
| ideelle Einheit setzt aus sich heraus eine Reihe sinnenfälliger
| |
| Organe in zeitlicher Aufeinanderfolge und in räumlichem
| |
| Nebeneinandersein und schließt sich in ganz bestimmter
| |
| Weise von der übrigen Natur ab. Sie setzt ihre Zustände
| |
| aus sich heraus. Daher sind sie auch nur in der Weise zu begreifen,
| |
| daß man das aus einer ideellen Einheit hervorgehende
| |
| Gestalten aufeinanderfolgender Zustände verfolgt,
| |
| d. h. ein organisches Wesen ist nur in seinem Werden, in
| |
| seiner Entwicklung zu verstehen. Der unorganische Körper
| |
| ist abgeschlossen, starr, nur von außen zu erregen, innen
| |
| unbeweglich. Der Organismus ist die Unruhe in sich
| |
| selbst, vom Innern heraus stets sich umbildend, verwandelnd,
| |
| Metamorphosen bildend. Darauf beziehen sich folgende
| |
| Aussprüche Goethes: «Die Vernunft ist auf das Werdende,
| |
| der Verstand auf das Gewordene angewiesen; jene
| |
| bekümmert sich nicht: wozu? dieser fragt nicht: woher? -
| |
| Sie erfreut sich am Entwickeln; er wünscht alles festzuhalten,
| |
| damit er es nutzen könne» («Sprüche in Prosa»;
| |
| Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 373) und «Die Vernunft
| |
| hat nur über das Lebendige Herrschaft; die entstandene
| |
| Welt, mit der sich die Geognosie abgibt, ist tot.» [Ebenda
| |
| S.373]
| |
| Der Organismus tritt uns in der Natur in zwei Hauptformen
| |
| entgegen: als Pflanze und als Tier; in beiden auf
| |
| verschiedene Weise. Die Pflanze unterscheidet sich vom
| |
| Tiere durch den Mangel eines realen Innenlebens. Beim
| |
| Tiere tritt das letztere als Empfindung, willkürliche Bewegung
| |
| usw. auf. Die Pflanze hat ein solches seelisches Prinzip
| |
| nicht. Sie geht noch ganz in ihrer Äußerlichkeit, in der
| |
| Gestalt auf. Indem jenes entelechische Prinzip gleichsam
| |
| von einem Punkte aus das Leben bestimmt, tritt es uns in
| |
| der Pflanze in der Weise entgegen, daß alle einzelnen Organe
| |
| nach demselben Gestaltungsprinzipe gebildet sind. Die
| |
| Entelechie erscheint hier als Gestaltungskraft der einzelnen
| |
| Organe. Letztere sind alle nach einem und demselben
| |
| Bildungstypus gebaut, sie erscheinen als Modifikationen
| |
| eines Grundorganes, als Wiederholung desselben auf verschiedenen
| |
| Entwicklungsstufen. Das, was die Pflanze zur
| |
| Pflanze macht, eine gewisse formbildende Kraft, ist in jedem
| |
| Organe auf gleiche Weise wirksam. Jedes Organ erscheint
| |
| so als identisch mit allen anderen und auch mit der
| |
| ganzen Pflanze. Goethe drückt dies so aus: «Es ist mir
| |
| nämlich aufgegangen, daß in demjenigen Organ der
| |
| Pflanze, weiches wir als Blatt gewöhnlich anzusprechen
| |
| pflegen, der wahre Proteus verborgen liege, der sich in
| |
| allen Gestaltungen verstecken und offenbaren könne. Vorwärts
| |
| und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit
| |
| dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint, daß man
| |
| eins ohne das andere nicht denken darf.»74 Die Pflanze erscheint
| |
| so gleichsam aus lauter einzelnen Pflanzen zusammengesetzt,
| |
| als ein komplizierteres Individuum, das wieder
| |
| aus einfacheren besteht. Die Bildung der Pflanze schreitet
| |
| also von Stufe zu Stufe vor und bildet Organe; jedes
| |
| Organ ist mit jedem andern identisch, d. h. dem Bildungsprinzipe
| |
| nach gleich, der Erscheinung nach verschieden.
| |
| Die innere Einheit dehnt sich bei der Pflanze gleichsam
| |
| in die Breite, sie lebt sich in der Mannigfaltigkeit aus, verliert
| |
| sich in derselben, so daß sie nicht, wie wir dies später
| |
| 74 [Italienische Reise, 17. Mai 1787.]
| |
| am Tiere sehen werden, ein mit einer gewissen Selbständigkeit
| |
| ausgestattetes konkretes Dasein gewinnt, welches als
| |
| Lebenszentrum der Mannigfaltigkeit der Organe gegenübertritt
| |
| und sie als Vermittler mit der Außenwelt gebraucht.
| |
| Es entsteht nun die Frage: Wodurch wird jene Verschiedenheit
| |
| in der Erscheinung der dem inneren Prinzipe
| |
| nach identischen Pflanzenorgane herbeigeführt? Wie ist es
| |
| den Bildungsgesetzen, die alle nach einem Gestaltungsprinzipe
| |
| wirken, möglich, das eine Mal ein Laubblatt, das andere
| |
| Mal ein Kelchblatt hervorzubringen? Die Verschiedenheit
| |
| kann bei dem ganz in der Äußerlichkeit liegenden Leben
| |
| der Pflanze auch nur auf äußerlichen, d. h. räumlichen
| |
| Momenten beruhen. Als solche sieht Goethe nun eine abwechselnde
| |
| Ausdehnung und Zusammenziehung an. Indem
| |
| das entelechische, aus einem Punkte wirkende Prinzip des
| |
| Pflanzenlebens ins Dasein tritt, manifestiert es sich als
| |
| räumlich, die Bildungskräfte wirken im Raume. Sie erzeugen
| |
| Organe von bestimmter räumlicher Form. Nun
| |
| konzentrieren sich diese Kräfte entweder, sie streben gleichsam
| |
| in einen einzigen Punkt zusammen; und dies ist das
| |
| Stadium der Zusammenziehung, oder sie breiten sich aus,
| |
| entfalten sich, sie trachten sich gewissermaßen voneinander
| |
| zu entfernen: dies ist das Stadium der Ausdehnung. Im
| |
| ganzen Leben der Pflanze wechseln drei Ausdehnungen
| |
| mit drei Zusammenziehungen. Alles, was in die dem Wesen
| |
| nach identischen Bildungskräfte der Pflanze Verschiedenes
| |
| hineinkommt, rührt von dieser wechselnden Ausdehnung
| |
| und Zusammenziehung her. Zuerst ruht die ganze
| |
| Pflanze der Möglichkeit nach auf einen Punkt zusammengezogen
| |
| im Samen (a). Daraus tritt sie nun hervor und entfaltet
| |
| sich, dehnt sich aus in der Blattbildung (c). Die Bildungskräfte
| |
| stoßen sich immer mehr ab, daher erscheinen
| |
| die unteren Blätter noch roh, kompakt (cc'); je weiter aufwärts,
| |
| desto gerippter, gezackter werden sie. Was sich vorher
| |
| noch aneinanderdrangte, tritt jetzt auseinander (Blatt
| |
| d und e). Was früher in aufeinanderfolgenden Zwischenräumen
| |
| (zz') stand, das tritt in der Kelchbildung (f) wieder
| |
| an einem Punkte des Stengels auf (w). Die letztere bildet
| |
| die zweite Zusammenziehung. In der Blumenkrone tritt
| |
| neuerdings eine Entfaltung, Ausbreitung ein. Die Blumenblätter
| |
| (g) sind im Vergleiche zu den Kelchblättern feiner,
| |
| zarter; was nur von einer geringeren Intensität auf einem
| |
| Punkte, also von einer größeren Extension der Bildungskräfte
| |
| herrühren kann. In den Geschlechtsorganen [Staubgefäßen
| |
| (h) und Stempel (i)] tritt die nächste Zusammenziehung
| |
| ein, worauf in der Fruchtbildung (k) eine neue
| |
| Ausdehnung stattfindet. In dem aus der Frucht hervorgehenden
| |
| Samen (a) erscheint wieder das ganze Wesen der
| |
| Pflanze auf einen Punkt zusammengedrängt.75
| |
| Die ganze Pflanze stellt nur eine Entfaltung, eine Realisation
| |
| des in der Knospe oder im Samen der Möglichkeit
| |
| nach Ruhendem dar. Knospe und Same brauchen nur die
| |
| geeigneten äußeren Einflüsse, um zu vollkommenen Pflanzenbildungen
| |
| zu werden. Der Unterschied zwischen Knospe
| |
| und Same ist nur dieser, daß der letztere unmittelbar die
| |
| Erde zum Boden seiner Entfaltung hat, während die erstere
| |
| im allgemeinen eine Pflanzenbildung auf einer Pflanze
| |
| selbst darstellt. Der Same stellt ein Pflanzenindividuum
| |
| höherer Art dar, oder, wenn man will, einen ganzen Kreis
| |
| von Pflanzengebilden. Die Pflanze beginnt gleichsam mit
| |
| jeder Knospenbildung ein neues Stadium ihres Lebens, sie
| |
| regeneriert sich, sie konzentriert ihre Kräfte, um sie von
| |
| neuem wieder zu entfalten. Die Knospenbildung ist also
| |
| zugleich eine Unterbrechung der Vegetation. Das Pflanzenleben
| |
| kann sich zur Knospe zusammenziehen, wenn die
| |
| Bedingungen eigentlichen realen Lebens mangeln, um sich
| |
| bei Eintritt derselben neuerdings zu entfalten. Die Unter-
| |
| 75 Die Frucht entsteht durch Auswachsung des unteren Teiles des
| |
| Stempels (Fruchtknotens 1); sie stellt ein späteres Stadium desselben
| |
| dar, kann also nur getrennt gezeichnet werden. In der Fruchtbildung
| |
| tritt die letzte Ausdehnung ein. Das Pflanzenleben differenziert sich
| |
| in ein abschließendes Organ, eigentliche Frucht, und in den Samen;
| |
| in der ersteren sind gleichsam alle Momente der Erscheinung
| |
| vereinigt, sie ist bloße Erscheinung, sie entfremdet sich dem Leben,
| |
| wird totes Produkt. Im Samen sind alle inneren, wesentlichen Momente
| |
| des Pflanzenlebens konzentriert. Aus ihm entsteht eine neue
| |
| Pflanze. Er ist fast ganz ideell geworden, die Erscheinung ist bei
| |
| ihm auf ein Minimum reduziert.
| |
| brechung der Vegetation im Winter beruht darauf. Goethe
| |
| sagt darüber76: «Es ist gar interessant, zu bemerken, wie
| |
| eine lebhaft fortgesetzte und durch starke Kälte nicht unterbrochene
| |
| Vegetation wirkt; hier gibt's keine Knospen,
| |
| und man lernt erst begreifen, was eine Knospe sei.» Was
| |
| also bei uns in der Knospe verborgen ruht, ist dort offen
| |
| am Tage; es ist also wahres Pflanzenleben, was in der letzteren
| |
| liegt; nur fehlen die Bedingungen seiner Entfaltung.
| |
| Man hat sich nun ganz besonders gegen den Begriff
| |
| abwechselnder Ausdehnung und Zusammenziehung bei
| |
| Goethe gewendet. Alle Angriffe darauf aber gehen von einem
| |
| Mißverständnisse aus. Man glaubt, daß diese Begriffe
| |
| nur dann Gültigkeit haben könnten, wenn sich eine physikalische
| |
| Ursache für sie finden ließe, wenn man eine Wirkungsweise
| |
| der in der Pflanze wirkenden Gesetze nachweisen
| |
| könnte, aus welcher ein solches Ausdehnen und Zusammenziehen
| |
| folge. Dies zeigt nur, daß man die Sache auf die
| |
| Spitze statt auf die Basis stellt. Es ist nichts vorauszusetzen,
| |
| was die Ausdehnung oder Zusammenziehung bewirkt; im
| |
| Gegenteile: alles andere ist Folge der ersteren, sie bewirken
| |
| eine fortschreitende Metamorphose von Stufe zu Stufe.
| |
| Man kann sich eben den Begriff nicht in seiner selbsteigenen,
| |
| in seiner intuitiven Form vorstellen; man verlangt,
| |
| daß er das Resultat eines äußeren Vorganges darstellen soll.
| |
| Man kann sich Ausdehnung und Zusammenziehung nur als
| |
| bewirkt, nicht als bewirkend denken. Goethe sieht Ausdehnung
| |
| und Zusammenziehung nicht so an, als ob sie aus
| |
| der Natur der an der Pflanze vor sich gehenden unorganischen
| |
| Prozesse folgen würden, sondern er betrachtet sie als
| |
| die Art, wie sich jenes innere entelechische Prinzip gestal-
| |
| 76 Italienische Reise, 2. Dez. 1786.
| |
| tet. Er konnte sie also nicht als Summe, als Zusammenfassung
| |
| sinnenfälliger Vorgänge ansehen und aus solchen deduzieren,
| |
| sondern er mußte sie als eine Folge des innern
| |
| einheitlichen Prinzips selbst ableiten.
| |
| Das Pflanzenleben wird unterhalten durch den Stoffwechsel.
| |
| In bezug auf diesen tritt eine wesentliche Verschiedenheit
| |
| zwischen jenen Organen ein, welche näher
| |
| der Wurzel sind, d. h. dem Organe, das die Nahrungsaufnahme
| |
| aus der Erde besorgt, und jenen, welche den bereits
| |
| durch andere Organe hindurchgegangenen Nahrungsstoff
| |
| bekommen. Erstere erscheinen unmittelbar von ihrer äußeren
| |
| anorganischen Umgebung abhängig, diese dagegen von
| |
| den ihnen vorhergehenden organischen Teilen. Jedes folgende
| |
| Organ erhält daher eine gleichsam für sich, durch
| |
| das vorhergehende zubereitete Nahrung. Die Natur schreitet
| |
| vom Samen zur Frucht in einer Stufenfolge fort, so daß
| |
| das Nachfolgende als Resultat des Vorangehenden erscheint.
| |
| Und dieses Fortschreiten nennt Goethe ein Fortschreiten
| |
| auf einer geistigen Leiter. Nichts weiter als das
| |
| von uns Angedeutete liegt in seinen Worten, «daß ein oberer
| |
| Knoten, indem er aus dem vorhergehenden entsteht
| |
| und die Säfte mittelbar durch ihn empfängt, solche feiner
| |
| und filtrierter erhalten, auch von der inzwischen geschehenen
| |
| Einwirkung der Blätter genießen, sich selbst feiner
| |
| ausbilden und seinen Blättern und Augen feinere Säfte zubringen
| |
| müsse». Alle diese Dinge werden verständlich,
| |
| wenn man ihnen den von Goethe gemeinten Sinn beilegt.
| |
| Die hier dargelegten Ideen sind die im Wesen der Urpflanze
| |
| gelegenen Elemente und zwar in der bloß dieser
| |
| selbst angemessenen Weise, nicht so, wie sie in einer bestimmten
| |
| Pflanze zur Erscheinung kommen, wo sie nicht
| |
| mehr ursprünglich, sondern den äußeren Verhältnissen angemessen
| |
| sind.
| |
| Beim Tierleben tritt nun freilich etwas anderes ein. Das
| |
| Leben verliert sich hier nicht in der Äußerlichkeit, sondern
| |
| es separiert sich, sondert sich von der Körperlichkeit ab
| |
| und gebraucht die körperliche Erscheinung nur noch als
| |
| sein Werkzeug. Es äußert sich nicht mehr als bloßes Vermögen,
| |
| einen Organismus von innen heraus zu gestalten,
| |
| sondern es äußert sich in einem Organismus als etwas, was
| |
| noch außer dem Organismus, als dessen beherrschende
| |
| Macht, da ist. Das Tier erscheint als eine in sich beschlossene
| |
| Welt, ein Mikrokosmos in viel höherem Sinne als die
| |
| Pflanze. Es hat ein Zentrum, dem jedes Organ dient.
| |
| «So ist jeglicher Mund geschickt die Speise zu fassen,
| |
| Welche dem Körper gebührt, es sei nun schwächlich und zahnlos
| |
| Oder mächtig der Kiefer gezähnt; in jeglichem Falle
| |
| Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung.
| |
| Auch bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze
| |
| Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis.»77
| |
| Bei der Pflanze ist in jedem Organ die ganze Pflanze,
| |
| aber das Lebensprinzip existiert nirgends als ein bestimmtes
| |
| Zentrum, die Identität der Organe liegt in der Gestaltung
| |
| nach denselben Gesetzen. Beim Tiere erscheint jedes
| |
| Organ als aus jenem Zentrum kommend, das Zentrum bildet
| |
| seinem Wesen gemäß alle Organe. Die Gestalt des Tieres
| |
| ist also die Grundlage für sein äußerliches Dasein. Sie
| |
| ist aber von innen bestimmt. Die Lebensweise muß sich also
| |
| nach jenen inneren Gestaltungsprinzipien richten. Andrerseits
| |
| ist die innere Bildung in sich unumschränkt, frei; sie
| |
| 77 [«Metamorphose der Tiere»]; vgl. Natw. Schr., 1. Bd., S. 344.
| |
| kann sich den äußeren Einflüssen innerhalb gewisser Grenzen
| |
| fügen; doch ist diese Bildung eine durch die innere Natur
| |
| des Typus und nicht durch mechanische Einwirkungen
| |
| von außen bestimmte. Die Anpassung kann also nicht so
| |
| weit gehen, daß sie den Organismus nur als ein Produkt
| |
| der Außenwelt erscheinen ließe. Seine Bildung ist eine in
| |
| Grenzen eingeschränkte.
| |
| «Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie;
| |
| Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich.»78
| |
| Wäre jedes tierische Wesen nur den im Urtier liegenden
| |
| Prinzipien gemäß, so wären sie alle gleich. Nun aber gliedert
| |
| sich der tierische Organismus in eine Menge von Organsystemen,
| |
| die jedes bis zu einem bestimmten Grad der
| |
| Ausbildung kommen können. Dieses begründet nun eine
| |
| verschiedenartige Entwicklung. Der Idee nach gleichberechtigt
| |
| mit allen andern, kann sich doch ein System besonders
| |
| in den Vordergrund drängen, kann den im tierischen
| |
| Organismus liegenden Vorrat von Bildungskräften auf sich
| |
| verwenden und ihn den anderen Organen entziehen. Das
| |
| Tier erscheint so nach der Richtung jenes Organsystems hin
| |
| besonders ausgebildet. Ein anderes Tier erscheint nach einer
| |
| anderen Richtung gebildet. Hierin liegt die Möglichkeit
| |
| der Differenzierung des Urorganismus bei seinem Übergange
| |
| in die Erscheinung in Gattungen und Arten.
| |
| Die wirklichen (tatsächlichen) Ursachen der Differenzierung
| |
| sind damit aber noch nicht gegeben. Hier treten in
| |
| ihre Rechte: die Anpassung, welcher zufolge der Organismus
| |
| den ihn umgebenden äußeren Verhältnissen gemäß
| |
| [Metamorphose der Tiere, a. a. O. S. 345.]
| |
| gestaltet, und der Kampf ums Dasein, der darauf hinarbeitet,
| |
| daß nur die den obwaltenden Umständen am besten
| |
| angepaßten Wesen sich erhalten. Anpassung und Kampf
| |
| ums Dasein könnten aber am Organismus gar nichts bewirken,
| |
| wenn das den Organismus konstituierende Prinzip
| |
| nicht ein solches wäre, das bei stets aufrecht erhaltener innerer
| |
| Einheit die mannigfaltigsten Formen annehmen kann.
| |
| Der Zusammenhang der äußeren Bildungskräfte mit diesem
| |
| Prinzipe ist keineswegs so aufzufassen, als wenn die ersteren
| |
| auf die letzteren etwa in der Art bestimmend einwirkten,
| |
| wie ein unorganisches Wesen auf ein anderes. Die äußeren
| |
| Verhältnisse sind zwar die Veranlassung, daß sich der
| |
| Typus in einer bestimmten Form ausbildet; diese Form
| |
| selbst aber ist nicht aus den äußeren Bedingungen, sondern
| |
| aus dem inneren Prinzipe herzuleiten. Man wird bei dieser
| |
| Erklärung die ersteren immer aufzusuchen haben, die
| |
| Gestalt selbst aber hat man nicht als ihre Folge zu betrachten.
| |
| Das Ableiten von Gestaltungsformen eines Organismus
| |
| aus der umgebenden Außenwelt durch bloße Kausalität
| |
| würde Goethe geradeso verworfen haben, wie er es mit
| |
| dem teleologischen Prinzip getan hat, wonach die Form
| |
| eines Organes auf einen äußeren Zweck, dem es zu dienen
| |
| hätte, zurückgeführt wurde.
| |
| Bei denjenigen Organsystemen des Tieres, bei denen es
| |
| mehr auf die Äußerlichkeit des Baues ankommt, z. B. bei
| |
| den Knochen, da tritt auch jenes bei den Pflanzen beobachtete
| |
| Gesetz wieder hervor, wie bei der Bildung der Schädelknochen.
| |
| Die Gabe Goethes, die innere Gesetzmäßigkeit in
| |
| rein äußerlichen Formen zu erkennen, tritt hier ganz besonders
| |
| hervor.
| |
| Der Unterschied, der mit diesen Anschauungen Goethes
| |
| zwischen Pflanze und Tier festgestellt wird, könnte belanglos
| |
| erscheinen angesichts dessen, daß die neuere Wissenschaft
| |
| Gründe zu berechtigten Zweifeln an einer festen
| |
| Grenze zwischen Pflanze und Tier hat. Der Unmöglichkeit
| |
| der Aufstellung einer solchen Grenze war sich aber
| |
| Goethe schon bewußt (siehe Natw. Schr., 1. Bd., S. 11).
| |
| Dennoch gibt es bestimmte Definitionen von Pflanze und
| |
| Tier. Das hängt mit seiner ganzen Naturanschauung zusammen.
| |
| Er nimmt in der Erscheinung überhaupt kein
| |
| Konstantes, Festes an; denn in letzterer schwankt alles in
| |
| steter Bewegung. Das im Begriffe festzuhaltende Wesen
| |
| einer Sache ist aber nicht schwankenden Formen zu entnehmen,
| |
| sondern gewissen mittleren Stufen, auf denen es
| |
| sich beobachten läßt (siehe a. a. O., S. 8). Es ist für Goethes
| |
| Anschauung ganz natürlich, daß man bestimmte Definitionen
| |
| aufstellt und diese trotzdem in der Erfahrung von gewissen
| |
| Übergangsgebilden nicht festgehalten werden. Ja
| |
| er sieht gerade darin das bewegliche Leben der Natur.
| |
| Mit diesen Ideen hat Goethe die theoretische Grundlage
| |
| für die organische Wissenschaft begründet. Er hat das Wesen
| |
| des Organismus gefunden. Man kann dieses leicht verkennen,
| |
| wenn man verlangt, daß der Typus, jenes sich aus
| |
| sich heraus gestaltete Prinzip (Entelechie), selbst durch etwas
| |
| anderes erklärt werden solle. Aber dies ist eine unbegründete
| |
| Forderung, weil der Typus, in intuitiver Form
| |
| festgehalten, sich selbst erklärt. Für jeden, der jenes «Sichnach-
| |
| sich-selbst-Formen» des entelechischen Prinzipes erfaßt
| |
| hat, bildet dieses die Lösung des Lebensrätsels. Eine
| |
| andere Losung ist unmöglich, weil jene das Wesen der
| |
| Sache selbst ist. Wenn der Darwinismus einen Urorganismus
| |
| voraussetzen muß, so kann man von Goethe sagen,
| |
| daß er das Wesen jenes Urorganismus entdeckt hat.79 Goethe
| |
| ist es, welcher mit dem bloßen Nebeneinander reihen der
| |
| Gattungen und Arten brach und eine Regeneration der organischen
| |
| Wissenschaft dem Wesen des Organismus gemäß
| |
| vornahm. Während die Vor-Goethesche Systematik ebenso
| |
| viele verschiedene Begriffe (Ideen) brauchte, als äußerlich
| |
| verschiedene Gattungen existieren, zwischen denen sich
| |
| keine Vermittlung fand, erklärte Goethe, daß der Idee nach
| |
| alle Organismen gleich, nur der Erscheinung nach verschieden
| |
| sind; und er erklärte, warum sie es sind. Damit war die
| |
| philosophische Grundlage für ein wissenschaftliches System
| |
| der Organismen geschaffen. Es handelte sich nur noch
| |
| um die Ausführung desselben. Es müßte gezeigt werden, wie
| |
| alle realen Organismen nur Offenbarungen einer Idee seien
| |
| und wie sie sich in einem bestimmten Falle offenbaren.
| |
| Die große Tat, welche damit in der Wissenschaft getan
| |
| war, wurde auch mannigfach von tiefer gebildeten Gelehrten
| |
| anerkannt. Der jüngere d'Alton80 schreibt am 6.
| |
| 79 In der modernen. Naturlehre versteht man unter Urorganismus gewöhnlich
| |
| eine Urzelle (Urzytode), d. h. ein einfaches Wesen, welches
| |
| auf der untersten Stufe der organischen Entwicklung steht. Man
| |
| hat hier ein ganz bestimmtes, reales, sinnenfällig wirkliches Wesen
| |
| im Auge. Wenn man im Goetheschen Sinne von Urorganismus
| |
| spricht, so ist nicht dieses ins Auge zu fassen, sondern jene Essenz
| |
| (Wesenheit), jenes gestaltende, entelechische Prinzip, welches bewirkt,
| |
| daß jene Urzelle ein Organismus ist. Dieses Prinzip kommt
| |
| im einfachsten Organismus ebenso wie im vollendetsten zur Erscheinung,
| |
| nur in verschiedener Ausbildung. Es ist die Tierheit im Tiere,
| |
| das, wodurch ein Wesen ein Organismus ist. Darwin setzt es von
| |
| Anfang an voraus; es ist da, wird eingeführt und dann sagt er von
| |
| ihm, daß es auf die Einflüsse der Außenwelt in dieser oder jener
| |
| Weise reagierte. Es ist bei ihm ein unbestimmtes X, dieses unbestimmte
| |
| X sucht Goethe zu erklären.
| |
| 80 Goethes Naturwissenschaftliche Korrespondenz (1812-1823), hg. v.
| |
| F. TL Bratranek, 1. Bd., [Leipzig 1874,] S. 28.
| |
| Juli 1827 an Goethe: «Ich würde es für die schönste Belohnung
| |
| erachten, wenn Euer Exzellenz, dem die Naturwissenschaft
| |
| nicht allein eine völlige Umgestaltung in
| |
| großartigen Überblicken und neuen Ansichten der Botanik,
| |
| sondern selbst vielfache treffliche Bereicherungen in dem
| |
| Gebiete der Knochenlehre verdankt, in vorliegenden Blättern
| |
| ein beifallswertes Bestreben erkennten.» Nees von
| |
| Esenbeck81 am 24. Juni 1820: «In Ihrer Schrift, die Sie
| |
| einen <Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären>,
| |
| nannten, hat zuerst die Pflanze unter uns über sich
| |
| selbst geredet und in dieser schönen Vermenschlichung auch
| |
| mich, als ich noch jung war, bestrickt.» Endlich Voigt82
| |
| am 6. Juni 1831: «Mit lebhafter Teilnahme und untertänigem
| |
| Dank habe ich die kleine Schrift über die Metamorphose
| |
| empfangen, welche mich als so frühen Teilnehmer an
| |
| dieser Lehre nun auch auf das verbindlichste historisch
| |
| einverleibt. Es ist sonderbar, man ist gegen die animalische
| |
| Metamorphose - ich meine nicht die alte der Insekten, sondern
| |
| die von der Wirbelsäule ausgehende - billiger gewesen,
| |
| als gegen die vegetabilische. Abgesehen von den Plagiaten
| |
| und Mißbräuchen, möchte die stille Anerkennung
| |
| darin ihren Grund haben, daß man bei ihr weniger zu riskieren
| |
| glaubte. Denn beim Skelett bleiben die isolierten
| |
| Knochen ewig dieselben, in der Botanik aber droht die Metamorphose
| |
| die ganze Terminologie und folglich die Bestimmung
| |
| der Spezies umzuwerfen, und da fürchten sich
| |
| denn die Schwachen, weil sie nicht wissen, wohin so etwas
| |
| führen könne.» Hier ist volles Verständnis der Goetheschen
| |
| Ideen vorhanden. Es ist das Bewußtsein da, daß eine neue
| |
| 81 Ebenda, 2. Bd., [Leipzig 1874] S. 19 f.
| |
| 82 Ebenda, 2. Bd., S. 366.
| |
| Art der Anschauung des Individuellen Platz greifen müsse;
| |
| und aus dieser neuen Anschauung sollte erst die neue Systematik,
| |
| die Betrachtung des Besonderen hervorgehen. Der
| |
| auf sich selbst gebaute Typus enthält die Möglichkeit, bei
| |
| seinem Eintreten in die Erscheinung unendlich mannigfaltige
| |
| Formen anzunehmen; und diese Formen sind der Gegenstand
| |
| unserer sinnlichen Anschauung, sie sind die im
| |
| Raume und in der Zeit lebenden Gattungen und Arten der
| |
| Organismen. Indem unser Geist jene allgemeine Idee, den
| |
| Typus erfaßt, hat er das ganze Organismenreich in seiner
| |
| Einheit begriffen. Wenn er nun die Gestaltung des Typus in
| |
| jeder besonderen Erscheinungsform anschaut, wird ihm die
| |
| letztere begreiflich; sie erscheint ihm als eine der Stufen,
| |
| der Metamorphosen, in denen sich der Typus verwirklicht.
| |
| Und diese verschiedenen Stufen aufzuzeigen, sollte das Wesen
| |
| der durch Goethe zu begründenden Systematik sein. Sowohl
| |
| im Tier- wie im Pflanzenreiche herrscht eine aufsteigende
| |
| Entwicklungsreihe; die Organismen gliedern sich
| |
| in vollkommene und unvollkommene. Wie ist dieses möglich?
| |
| Die ideelle Form, der Typus der Organismen hat eben
| |
| das Charakteristische, daß er aus räumlich zeitlichen Elementen
| |
| besteht. Es erschien deshalb auch Goethe als eine
| |
| sinnlich-übersinnliche Form. Er enthält räumlich-zeitliche
| |
| Formen als ideelle Anschauung (intuitiv). Wenn er nun in
| |
| die Erscheinung tritt, kann die wahrhaft (nicht mehr intuitiv)
| |
| sinnliche Form jener ideellen völlig entsprechen oder
| |
| nicht; es kann der Typus zu seiner vollkommenen Ausbildung
| |
| kommen oder nicht. Die niederen Organismen sind
| |
| eben dadurch die niederen, daß ihre Erscheinungsform
| |
| nicht völlig dem organischen Typus entspricht. Je mehr
| |
| äußere Erscheinung und organischer Typus in einem bestimmten
| |
| Wesen sich decken, desto vollkommener ist dasselbe.
| |
| Dies ist der objektive Grund einer aufsteigenden Entwicklungsreihe.
| |
| Die Aufzeigung dieses Verhältnisses bei
| |
| jeder Organismenform ist die Aufgabe einer systematischen
| |
| Darstellung. Bei Aufstellung des Typus, der Urorganismen,
| |
| kann aber hierauf keine Rücksicht genommen
| |
| werden; es kann sich dabei nur darum handeln, eine Form
| |
| zu finden, welche den vollkommensten Ausdruck des Typus
| |
| darstellt. Eine solche soll Goethes Urpflanze bieten.
| |
| Man hat Goethe den Vorwurf gemacht, daß er bei Aufstellung
| |
| seines Typus auf die Welt der Kryptogamen keine
| |
| Rücksicht genommen habe. Wir haben schon früher darauf
| |
| hingewiesen, daß dieses nur in völlig bewußter Weise
| |
| geschehen kann, da er sich mit dem Studium dieser Pflanzen
| |
| auch beschäftigt hat. Es hat aber seinen objektiven
| |
| Grund. Die Kryptogamen sind eben jene Pflanzen, in denen
| |
| die Urpflanze nur höchst einseitig zum Ausdrucke kommt;
| |
| sie stellen die Pflanzenidee in einer einseitigen sinnenfälligen
| |
| Form dar. Sie können an der aufgestellten Idee beurteilt
| |
| werden; diese selbst aber kommt in den Phanerogamen
| |
| erst zu ihrem völligen Ausbruche.
| |
| Was aber hier zu sagen ist, ist dieses, daß Goethe diese
| |
| Ausführung seiner Grundgedanken nie vollbracht hat, daß
| |
| er das Reich des Besonderen zu wenig betreten hat. Daher
| |
| bleiben alle seine Arbeiten fragmentarisch. Seine Absicht,
| |
| auch hier Licht zu schaffen, zeigen uns seine Worte in der
| |
| «Italienischen Reise» (27. September 1786), daß es ihm mit
| |
| Hilfe seiner Ideen möglich sein werde, «Geschlechter und
| |
| Arten wahrhaft zu bestimmen, welches, wie mich dünkt,
| |
| bisher sehr willkürlich geschieht». Dieses Vorhaben hat er
| |
| nicht ausgeführt, den Zusammenhang seiner allgemeinen
| |
| Gedanken mit der Welt des Besonderen, mit der Wirklichkeit
| |
| der einzelnen Formen nicht besonders dargelegt. Dies
| |
| sah er selbst als einen Mangel seiner Fragmente an; er
| |
| schreibt am 28. Juni 1828 darauf bezüglich an [F. J.] Soret
| |
| von de Candolle: «Auch wird mir immer klarer, wie
| |
| er die Intentionen ansieht, in denen ich mich fortbewege
| |
| und die in meinem kurzen Aufsatze über die Metamorphose
| |
| zwar deutlich genug ausgesprochen sind, deren Bezug aber
| |
| auf die Erfahrungsbotanik, wie ich längst weiß, nicht deutlich
| |
| genug hervorgeht.» [WA 44, 161] Dies ist wohl auch
| |
| der Grund, warum Goethes Anschauungen so mißverstanden
| |
| wurden; denn sie wurden es nur deshalb, weil sie überhaupt
| |
| nicht verstanden wurden.
| |
| In Goethes Begriffen erhalten wir auch eine ideelle Erklärung
| |
| für die durch Darwin und Haeckel gefundene Tatsache,
| |
| daß die Entwicklungsgeschichte des Individuums eine
| |
| Repetition der Stammesgeschichte repräsentiert. Denn für
| |
| mehr als eine unerklärte Tatsache kann das, was Haeckel
| |
| hier bietet, doch nicht genommen werden. Es ist die Tatsache*,
| |
| daß jedes Individuum alle jene Entwicklungsstadien
| |
| in abgekürzter Form durchmacht, welche uns zugleich
| |
| die Paläontologie als gesonderte organische Formen aufweist.
| |
| Haeckel und seine Anhänger erklären dieses aus dem
| |
| Gesetze der Vererbung. Aber letzteres ist selbst nichts anderes
| |
| als ein abgekürzter Ausdruck für die angeführte Tatsache.
| |
| Die Erklärung dafür ist, daß jene Formen sowie jedes
| |
| Individuum die Erscheinungsformen eines und desselben
| |
| Urbildes sind, welches in aufeinanderfolgenden Zeitperioden
| |
| die der Möglichkeit nach in ihm liegenden Gestaltungskräfte
| |
| zur Entfaltung bringt. Jedes höhere Individuum
| |
| ist eben dadurch vollkommener, daß es durch die
| |
| günstigen Einflüsse seiner Umgebung nicht gehindert wird,
| |
| sich seiner inneren Natur nach völlig frei zu entfalten.
| |
| Muß das Individuum dagegen durch verschiedene Einwirkungen
| |
| gezwungen auf einer niedrigeren Stufe stehenbleiben,
| |
| so kommen nur einige von seinen inneren Kräften zur
| |
| Erscheinung, und es ist dann bei ihm das ein Ganzes, was bei
| |
| jenem vollkommeneren Individuum nur ein Teil eines Ganzen
| |
| ist. Und auf diese Weise erscheint der höhere Organismus
| |
| in seiner Entwicklung aus den niedrigeren zusammengesetzt
| |
| oder auch die niedrigeren erscheinen in ihrer Entwicklung
| |
| als Teile des höheren. Wir müssen daher in der
| |
| Entwicklung eines höheren Tieres die Entwicklung aller
| |
| niedrigeren wieder erblicken (biogenetisches Gesetz). Sowie
| |
| der Physiker nicht damit zufrieden ist, bloß die Tatsachen
| |
| auszusprechen und zu beschreiben, sondern nach
| |
| den Gesetzen derselben forscht, d. h. nach den Begriffen
| |
| der Erscheinungen, so kann es auch demjenigen, der in die
| |
| Natur der organischen Wesen eindringen will, nicht genügen,
| |
| wenn er bloß die Tatsachen der Verwandtschaft,
| |
| Vererbung, Kampf ums Dasein usw. anführt, sondern er
| |
| will die diesen Dingen zugrunde liegenden Ideen erkennen.
| |
| Dieses Streben finden wir bei Goethe. Was dem Physiker
| |
| die drei Keplerschen Gesetze, das sind dem Organiker die
| |
| Goetheschen Typusgedanken. Ohne sie ist uns die Welt ein
| |
| bloßes Labyrinth von Tatsachen. Dies wurde oft mißverstanden.
| |
| Man behauptet, der Begriff der Metamorphose im
| |
| Sinne Goethes wäre ein bloßes Bild, das sich im Grunde
| |
| nur in unserem Verstande durch Abstraktion vollzogen hat.
| |
| Es wäre Goethe unklar gewesen, daß der Begriff von Verwandlung
| |
| der Blätter in Blütenorgane nur dann einen Sinn
| |
| habe, wenn letztere, z. B. die Staubgefäße, einmal wirkliche
| |
| Blätter waren. Allein dies stellt Goethes Anschauungen auf
| |
| den Kopf. Es wird ein sinnenfälliges Organ zum prinzipiell
| |
| ersten gemacht und das andere auf sinnenfällige Weise daraus
| |
| abgeleitet. So hat es Goethe nie gemeint. Bei ihm ist dasjenige,
| |
| welches der Zeit nach das erste ist, durchaus nicht
| |
| auch der Idee, dem Prinzipe nach das erste. Nicht weil die
| |
| Staubgefäße einmal wahre Blätter waren, sind sie letzteren
| |
| heute verwandt; nein, sondern weil sie ideell, ihrem inneren
| |
| Wesen nach verwandt sind, erschienen sie einmal als
| |
| wahre Blätter, Die sinnliche Verwandlung ist nur Folge
| |
| der ideellen Verwandtschaft und nicht umgekehrt. Heute
| |
| ist der empirische Tatbestand der Identität aller Seitenorgane
| |
| der Pflanze bestimmt, aber warum nennt man diese
| |
| identisch? Nach Schieiden, weil sich dieselben an der Achse
| |
| alle so entwickeln, daß sie als seitliche Hervorragungen hinausgeschoben
| |
| werden, in der Weise, daß die seitliche Zellenbildung
| |
| nur an dem ursprünglichen Körper bleibt und
| |
| an der zuerst gebildeten Spitze sich keine neuen Zellen bilden.
| |
| Dies ist eine rein äußerliche Verwandtschaft, und man
| |
| betrachtet als die Folge davon die Idee der Identität. Anders
| |
| ist die Sache wieder bei Goethe. Die Seitenorgane sind
| |
| bei ihm ihrer Idee, ihrem inneren Wesen nach identisch;
| |
| daher erscheinen sie auch nach außen als identische Bildungen.
| |
| Die sinnenfällige Verwandtschaft ist bei ihm eine
| |
| Folge der inneren, ideellen. Die Goethesche Auffassung unterscheidet
| |
| sich von der materialistischen durch die Fragestellungen;
| |
| beide widersprechen einander nicht, sie ergänzen
| |
| einander. Goethes Ideen bilden zu jener die Grundlage.
| |
| Nicht nur eine dichterische Prophezeiung späterer Entdekkungen
| |
| sind Goethes Ideen, sondern selbständige theoretische
| |
| Entdeckungen, die noch lange nicht genug gewürdigt
| |
| sind, an denen die Naturwissenschaft noch lange zehren
| |
| wird. Wenn die empirischen Tatsachen, die er benützte,
| |
| längst durch genauere Detailforschungen überholt, teilweise
| |
| sogar widerlegt sein werden; die aufgestellten Ideen
| |
| sind ein für allemal grundlegend für die Organik, denn sie
| |
| sind von jenen empirischen Tatsachen unabhängig. Wie
| |
| jeder neu aufgefundene Planet nach Keplers Gesetzen um
| |
| seinen Fixstern kreisen muß, so muß jeder Vorgang in der
| |
| organischen Natur nach Goethes Ideen geschehen. Lange
| |
| vor Kepler und Kopernikus sah man die Vorgänge am gestirnten
| |
| Himmel. Diese fanden erst die Gesetze. Lange vor
| |
| Goethe beobachtete man das organische Naturreich, Goethe
| |
| fand dessen Gesetze. Goethe ist der Kopernikus und Kepler
| |
| der organischen Welt.
| |
| Man kann sich das Wesen der Goetheschen Theorie auch
| |
| auf folgende Weise klar machen. Neben der gewöhnlichen
| |
| empirischen Mechanik, welche nur die Tatsachen sammelt,
| |
| gibt es noch eine rationale Mechanik, welche aus der inneren
| |
| Natur der mechanischen Grundprinzipien die aprioristischen
| |
| Gesetze als notwendige deduziert. Sowie die erstere
| |
| zur letzteren, so verhalten sich Darwins, Haeckels
| |
| usw. Theorien zur rationalen Organik Goethes. Diese Seite
| |
| seiner Theorie war Goethe vom Anfange an nicht sogleich
| |
| klar. Später freilich spricht er sie schon ganz entschieden
| |
| aus. Wenn er am 21. Januar 1832 an Heinr. Wilh. Ferd.
| |
| Wackenroder schreibt: «Fahren Sie fort, mit allem, was Sie
| |
| interessiert, mich bekannt zu machen; es schließt sich irgendwo
| |
| an meine Betrachtungen an» [WA 49,211 ], so will er damit
| |
| nur sagen, daß er die Grundprinzipien der organischen
| |
| Wissenschaft gefunden habe, aus denen sich alles übrige
| |
| müsse ableiten lassen. In früherer Zeit aber wirkte das alles
| |
| unbewußt in seinem Geiste und er behandelte die Tatsachen
| |
| darnach.83 Gegenständlich wurde es ihm erst durch jenes
| |
| erste wissenschaftliche Gespräch mit Schiller, welches wir
| |
| unten mitteilen.84 Schiller erkannte sogleich die ideelle Natur
| |
| von Goethes Urpflanze und behauptete, einer solchen
| |
| könne keine Wirklichkeit angemessen sein. Das regte Goethe
| |
| an, über das Verhältnis dessen, was er Typus nannte, zur
| |
| empirischen Wirklichkeit nachzudenken. Er traf hier auf
| |
| ein Problem, welches zu den bedeutsamsten des menschlichen
| |
| Forschens überhaupt gehört: das Problem des Zusammenhangs
| |
| von Idee und Wirklichkeit, von Denken und Erfahrung.
| |
| Das wurde ihm immer klarer: die einzelnen empirischen
| |
| Objekte entsprechen keines seinem Typus vollkommen;
| |
| kein Wesen der Natur war mit ihm identisch.
| |
| Der Inhalt des Typusbegriffes kann also nicht aus der Sinnenwelt
| |
| als solcher stammen, obwohl er an derselben gewonnen
| |
| wird. Er muß also in dem Typus selbst liegen; die
| |
| Idee des Urwesens konnte nur eine solche sein, welche vermöge
| |
| einer in ihr selbst liegenden Notwendigkeit einen Inhalt
| |
| aus sich entwickelt, der dann in anderer Form - in
| |
| Form der Anschauung - in der Erscheinungswelt auftritt.
| |
| Es ist in dieser Hinsicht interessant, zu sehen, wie Goethe
| |
| selbst empirischen Naturforschern gegenüber für die Rechte
| |
| der Erfahrung und die strenge Auseinanderhaltung von
| |
| Idee und Objekt eintritt. Sömmerring übersendet ihm im
| |
| Jahre 1786 ein Buch, in dem er (Sömmerring) den Versuch
| |
| macht, den Sitz der Seele zu entdecken. Goethe findet in
| |
| 83 Goethe empfand dies sein unbewußtes Handeln oft als Dumpfheit.
| |
| Siehe K. J. Schröer, Faust von Goethe, 6. Aufl., Stuttgart 1926, Bd.
| |
| II, S. XXXIV ff.
| |
| 84 Natw. Schr., 1. Bd., S. 108 ff.
| |
| einem Briefe, den er am 28. August 1796 an Sömmerring
| |
| richtet, daß dieser zu viel Metaphysik mit seinen Anschauungen
| |
| verwoben habe; eine Idee über Gegenstände der Erfahrung
| |
| habe keine Berechtigung, wenn sie über diese hinausginge,
| |
| wenn sie nicht im Wesen der Objekte selbst begründet
| |
| ist. Bei Objekten der Erfahrung sei die Idee ein
| |
| Organ, das als notwendigen Zusammenhang zu fassen, was
| |
| sonst im blinden Neben- und Nacheinander bloß wahrgenommen
| |
| würde. Daraus aber, daß die Idee nichts Neues zu
| |
| dem Objekte hinzubringen darf, folgt, daß das letztere
| |
| selbst, seinem eigenen Wesen nach ein Ideelles ist, daß überhaupt
| |
| die empirische Realität zwei Seiten haben muß: die
| |
| eine, wonach sie Besonderes, Individuelles, die andere, wonach
| |
| sie Ideell-Allgemeines ist.
| |
| Der Umgang mit den zeitgenössischen Philosophen sowie
| |
| die Lektüre der Werke derselben führte Goethe manchen
| |
| Gesichtspunkt in dieser Hinsicht zu. Schellings Werk
| |
| «Von der Weltseele» und dessen «[Erster] Entwurf eines
| |
| Systems der Naturphilosophie» ([Goethes] Annalen zu
| |
| 1798-1799) sowie Steffens «Grundzüge der philosophischen
| |
| Naturwissenschaft» wirkten befruchtend auf ihn ein.
| |
| Auch mit Hegel wurde manches durchgesprochen. Diese
| |
| Anregungen führten endlich dahin, daß Kant, mit dem sich
| |
| Goethe schon einmal, durch Schiller angeregt, beschäftigt
| |
| hatte, wieder vorgenommen wurde. 1817 (siehe Annalen)
| |
| betrachtete er geschichtlich dessen Einfluß auf seine Ideen
| |
| über Natur und natürliche Dinge. Diesem auf das Zentrale
| |
| der Wissenschaft gehenden Nachdenken verdanken wir die
| |
| Aufsätze:
| |
| Glückliches Ereignis,
| |
| Anschauende Urteilskraft,
| |
| Bedenken und Ergebung,
| |
| Bildungstrieb,
| |
| Das Unternehmen wird entschuldigt,
| |
| Die Absicht eingeleitet,
| |
| Der Inhalt bevorwortet,
| |
| Geschichte meines botanischen Studiums,
| |
| Entstehen des Aufsatzes über Metamorphose der
| |
| Pflanzen.
| |
| Alle diese Aufsätze sprechen den oben schon angedeuteten
| |
| Gedanken aus, daß jedes Objekt zwei Seiten hat: die eine
| |
| unmittelbare seines Erscheinens (Erscheinungsform), die
| |
| zweite, welche sein Wesen enthält. So gelangt Goethe zu
| |
| der allein befriedigenden Naturanschauung, welche die
| |
| eine wahrhaft objektive Methode begründet. Wenn eine
| |
| Theorie die Idee als etwas dem Objekte selbst Fremdes,
| |
| bloß Subjektives betrachtet, so kann sie nicht behaupten,
| |
| wahrhaft objektiv zu sein, wenn sie sich nur überhaupt der
| |
| Idee bedient. Goethe aber kann behaupten, nichts zu den
| |
| Objekten hinzuzufügen, was nicht schon in ihnen selbst
| |
| läge.
| |
| Auch ins Einzelne, Tatsächliche hin verfolgte Goethe
| |
| jene Wissenszweige, auf welche seine Ideen Bezug hatten.
| |
| Im Jahre 1795 (siehe K. A. Böttiger, Literarische Zustände
| |
| und Zeitgenossen usw. I. Bd., Leipzig 1838, S. 49) hörte er
| |
| bei Loder Bänderlehre; er verlor überhaupt in dieser Zeit
| |
| die Anatomie und Physiologie nicht aus den Augen, was
| |
| um so wichtiger erscheint, als er gerade damals seine Vorträge
| |
| über Osteologie niederschrieb. 1796 wurden Versuche
| |
| gemacht, Pflanzen im Finstern und unter farbigen
| |
| Gläsern zu ziehen. Später wurde auch die Metamorphose
| |
| der Insekten verfolgt.
| |
| Eine weitere Anregung kam von dem Philologen [F. A.]
| |
| Wolf, der Goethe auf seinen Namensvetter Wolff aufmerksam
| |
| machte [WA 27, 209f.], welcher in seiner «Theoria
| |
| generationis» schon im Jahre 1759 Ideen ausgesprochen
| |
| hatte, die denen Goethes über die Metamorphose der Pflanzen
| |
| ähnlich waren. Goethe wurde dadurch veranlaßt, sich
| |
| mit Wolff eingehender zu beschäftigen, welches im Jahre
| |
| 1807 geschah (siehe Annalen zu 1807 und Natw. Schr., 1.
| |
| Bd., S. 5); er fand indes später, daß Wolff bei all seinem
| |
| Scharfsinn gerade die Hauptsachen noch nicht klar waren.
| |
| Den Typus als ein Unsinnliches, seinen Inhalt bloß aus innerer
| |
| Notwendigkeit Entwickelndes, kannte er noch nicht.
| |
| Er betrachtete die Pflanze noch als einen äußerlichen, mechanischen
| |
| Zusammenhang von Einzelheiten.
| |
| Der Verkehr mit zahlreichen befreundeten Naturforschern
| |
| sowie die Freude darüber, daß er bei vielen verwandten
| |
| Geistern Anerkennung und Nachahmung seines
| |
| Strebens gefunden hatte, brachten Goethe im Jahre 1807
| |
| auf den Gedanken, die bis dahin zurückgehaltenen Fragmente
| |
| seiner naturwissenschaftlichen Studien herauszugeben.
| |
| Von dem Vorhaben, ein größeres naturwissenschaftliches
| |
| Werk zu schreiben, kam er allmählich ab. Es kam
| |
| aber zur Herausgabe der einzelnen Aufsätze im Jahre 1807
| |
| noch nicht. Das Interesse an der Farbenlehre drängte die
| |
| Morphologie wieder für einige Zeit in den Hintergrund.
| |
| Das erste Heft derselben erschien erst im Jahre 1817. Bis
| |
| 1824 erschienen dann zwei Bände, der erste in vier, der
| |
| zweite in zwei Heften. Neben den Aufsätzen über Goethes
| |
| eigene Ansichten finden wir hier Besprechungen bedeutenderer
| |
| literarischer Erscheinungen aus dem Gebiete der Morphologie
| |
| und auch Abhandlungen anderer Gelehrter, deren
| |
| Ausführungen sich aber stets ergänzend zu Goethes
| |
| Naturerklärung verhalten.
| |
| Zu einer intensiveren Beschäftigung fand sich Goethe
| |
| in bezug auf die Naturwissenschaft noch zweimal aufgefordert.
| |
| In beiden Fällen waren es bedeutende literarische
| |
| Erscheinungen auf dem Gebiete dieser Wissenschaft, die
| |
| mit seinen eigenen Bestrebungen innigst zusammenhingen.
| |
| Das erste Mal ward durch die Arbeiten des Botanikers
| |
| Martius über die Spiraltendenz die Anregung gegeben, das
| |
| zweite Mal durch einen naturwissenschaftlichen Streit in
| |
| der französischen Akademie der Wissenschaften.
| |
| Martius setzte die Pflanzenform in ihrer Entwicklung
| |
| aus einer Spiral- und einer Vertikaltendenz zusammen. Die
| |
| Vertikaltendenz bewirkt das Wachsen in der Richtung der
| |
| Wurzel und des Stengels; die Spiraltendenz die Ausbreitung
| |
| in den Blättern, Blüten usw. Goethe sah in diesem
| |
| Gedanken nur eine mehr auf das Räumliche (vertikal, Spiral)
| |
| Rücksicht nehmende Ausbildung seiner bereits in der
| |
| Schrift über die Metamorphose 1790 niedergelegten Ideen.
| |
| Bezüglich des Beweises dieser Behauptung verweisen wir
| |
| auf die Anmerkungen zu Goethes Aufsatz «Über die Spiraltendenz
| |
| der Vegetation»85, aus denen hervorgeht, daß
| |
| Goethe in demselben nichts wesentlich Neues gegenüber
| |
| seinen früheren Ideen vorbringt. Wir möchten dieses besonders
| |
| an jene richten, welche behaupten, daß hier sogar
| |
| ein Rückschritt Goethes von früheren klaren Anschauungen
| |
| bis zu den «tiefsten Tiefen der Mystik» wahrzunehmen
| |
| sei.
| |
| Noch im höchsten Alter (1830-32) verfaßte Goethe
| |
| zwei Aufsätze über den Streit der beiden französischen Na-
| |
| 85 Natw. Schr., 1. Bd., S. 217 ff.
| |
| turforscher Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire. In diesen
| |
| Aufsätzen finden wir noch einmal in schlagender Kürze
| |
| die Prinzipien von Goethes Naturanschauung zusammengestellt.
| |
| Cuvier war ganz im Sinne der älteren Naturforscher
| |
| Empiriker. Für jede Tierart suchte er einen ihr entsprechenden,
| |
| besonderen Begriff. So viele einzelne Tierarten
| |
| die Natur darbietet, so viele einzelne Typen glaubte er in
| |
| den gedanklichen Aufbau seines Systems der organischen
| |
| Natur aufnehmen zu müssen. Die einzelnen Typen standen
| |
| bei ihm aber ganz unvermittelt nebeneinander. Was er nicht
| |
| berücksichtigte, ist folgendes. Mit dem Besonderen als solchem,
| |
| wie es uns unmittelbar in der Erscheinung gegenübertritt,
| |
| ist unser Erkenntnisbedürfnis nicht befriedigt. Da wir
| |
| aber einem Wesen der Sinnenwelt mit keiner anderen Absicht
| |
| gegenübertreten, als eben dieses Wesen zu erkennen,
| |
| so ist nicht anzunehmen, daß der Grund, warum wir uns
| |
| mit dem Besonderen als solchem nicht befriedigt erklären,
| |
| in unserem Erkenntnisvermögen liege. Er muß vielmehr
| |
| im Objekte selbst liegen. Das Wesen des Besonderen selbst
| |
| ist in dieser seiner Besonderheit eben durchaus noch nicht
| |
| erschöpft; es drängt, um verstanden zu werden, zu einem
| |
| solchen hin, welches kein Besonderes, sondern ein Allgemeines
| |
| ist. Dieses Ideell-Allgemeine ist das eigentliche Wesen
| |
| - die Essenz - eines jeden besonderen Daseins. Das letztere
| |
| hat in der Besonderheit nur eine Seite seines Daseins,
| |
| während die zweite das Allgemeine - der Typus - ist (siehe
| |
| Goethes «Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt.,
| |
| S. 374). So ist es zu verstehen, wenn von dem Besonderen
| |
| als einer Form des Allgemeinen gesprochen wird. Da das
| |
| eigentliche Wesen, die Inhaltlichkeit des Besonderen somit
| |
| das Ideell-Allgemeine ist, so ist es unmöglich, daß das letztere
| |
| aus dem Besonderen hergeleitet, von ihm abstrahiert
| |
| werde. Es muß, da es nirgends seinen Inhalt entlehnen
| |
| kann, sich diesen Inhalt selbst geben. Das Typisch-Allgemeine
| |
| ist mithin ein solches, bei dem Inhalt und Form identisch
| |
| sind. Deswegen kann es aber auch nur als ein Ganzes
| |
| erfaßt werden, unabhängig vom Einzelnen. Die Wissenschaft
| |
| hat die Aufgabe, an jedem Besonderen zu zeigen, wie
| |
| dasselbe, seinem Wesen nach, sich dem Ideell-Allgemeinen
| |
| unterordnet. Dadurch treten die besonderen Arten des Daseins
| |
| in das Stadium gegenseitiger Bestimmtheit und Abhängigkeit.
| |
| Was sonst nur als räumlich-zeitliches Nebenund
| |
| Nacheinander wahrgenommen werden kann, wird im
| |
| notwendigen Zusammenhange gesehen. Cuvier wollte aber
| |
| von letzterer Anschauung nichts wissen. Sie war hingegen
| |
| diejenige Geoffroy Saint-Hilaires. So stellt sich in Wirklichkeit
| |
| jene Seite dar, von welcher aus Goethe für jenen
| |
| Streit Interesse hatte. Die Sache wurde vielfach dadurch
| |
| entstellt, daß man durch die Brille modernster Anschauungen
| |
| die Tatsachen in einem ganz anderen Lichte erblickte,
| |
| als in dem sie erscheinen, wenn man ohne Voreingenommenheit
| |
| an sie herantritt. Geoffroy berief sich nicht nur auf
| |
| seine eigenen Forschungen, sondern auch auf mehrere deutsche
| |
| Gesinnungsgenossen und nennt unter diesen auch
| |
| Goethe.
| |
| Das Interesse, welches Goethe an dieser Sache hatte, war
| |
| ein außerordentliches. Er war hocherfreut, in Geoffroy
| |
| Saint-Hilaire einen Genossen zu finden: «Jetzt ist Geoffroy
| |
| Saint-Hilaire entschieden auf unserer Seite und mit ihm
| |
| alle bedeutenden Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses
| |
| Ereignis ist für mich von ganz unglaublichem Wert und
| |
| ich juble mit Recht über den endlichen Sieg einer Sache,
| |
| der ich mein Leben gewidmet habe und die vorzüglich auch
| |
| die meinige ist», sagt er am 2. August 1830 zu Eckermann.
| |
| Es ist überhaupt eine eigentümliche Erscheinung, daß
| |
| Goethes Forschungen in Deutschland nur bei den Philosophen,
| |
| weniger aber bei den Naturforschern, in Frankreich
| |
| hingegen bei letzteren bedeutenderen Anklang fanden.
| |
| De Candolle schenkte der Goetheschen Metamorphosenlehre
| |
| die größte Aufmerksamkeit, behandelte überhaupt
| |
| die Botanik in einer Weise, welche den Goetheschen Anschauungen
| |
| nicht ferne stand. Auch war Goethes «Metamorphose
| |
| » bereits durch [F. de] Gingins-Lassaraz ins Französische
| |
| übersetzt. Unter solchen Verhältnissen konnte
| |
| Goethe wohl hoffen, daß eine unter seiner Mitwirkung besorgte
| |
| Übersetzung seiner botanischen Schriften ins Französische
| |
| nicht auf unfruchtbaren Boden fallen werde. Eine
| |
| solche lieferte denn auch 1831 unter Goethes fortwährender
| |
| Beihilfe Friedrich Jakob Soret. Sie enthielt jenen ersten
| |
| «Versuch» von 1790 (vgl. Natw. Schr., 1. Bd., S. 17 ff.);
| |
| die Geschichte des botanischen Studiums Goethes (ebenda
| |
| S. 61 ff.) und die Wirkung seiner Lehre auf die Zeitgenossen
| |
| (ebenda S. 194 ff.), sowie einiges über de Candolle, französisch
| |
| mit gegenüberstehendem deutschen Text.
| |
| V
| |
| ABSCHLUSS ÜBER GOETHES
| |
| MORPHOLOGISCHE ANSCHAUUNGEN
| |
| Wenn ich am Schlusse der Betrachtung über Goethes Metamorphosen-
| |
| Gedanken auf die Anschauungen zurückblicke,
| |
| die ich mich auszusprechen gedrungen fühlte, so
| |
| kann ich mir nicht verhehlen, eine wie große Zahl hervorragender
| |
| Vertreter verschiedener Richtungen der Wissenschaft
| |
| anderer Ansicht sind. Ihre Stellung zu Goethe steht
| |
| mir deutlich vor Augen; und das Urteil, das sie über meinen
| |
| Versuch, den Standpunkt unseres großen Denkers und
| |
| Dichters zu vertreten, aussprechen werden, dürfte im voraus
| |
| zu ermessen sein.
| |
| In zwei Heerlager geteilt stehen sich die Ansichten über
| |
| Goethes Bestrebungen auf naturwissenschaftlichem Gebiete
| |
| gegenüber.
| |
| Die Vertreter des modernen Monismus mit dem Professor
| |
| Haeckel an der Spitze erkennen in Goethe den Propheten
| |
| des Darwinismus, der sich das Organische ganz in ihrem
| |
| Sinne von den Gesetzen beherrscht denkt, die auch in der
| |
| unorganischen Natur wirksam sind. Was Goethe fehlte,
| |
| sei nur die Selektionstheorie gewesen, durch welche erst
| |
| Darwin die monistische Weltanschauung begründet und die
| |
| Entwicklungstheorie zur wissenschaftlichen Überzeugung
| |
| erhoben habe.
| |
| Diesem Standpunkte steht ein anderer gegenüber, welcher
| |
| annimmt, die Typusidee bei Goethe sei weiter nichts
| |
| als ein allgemeiner Begriff, eine Idee im Sinne der platonischen
| |
| Philosophie. Goethe hätte zwar einzelne Behauptungen
| |
| getan, die an die Entwicklungstheorie erinnern, wozu
| |
| er durch den in seiner Natur gelegenen Pantheismus gekommen
| |
| sei; bis zum letzten mechanischen Grunde fortzuschreiten
| |
| hätte er aber kein Bedürfnis gefühlt. Von Entwicklungstheorie
| |
| im modernen Sinne des Wortes könne
| |
| daher bei ihm nicht die Rede sein.
| |
| Indem ich versuchte, Goethes Anschauungen ohne Voraussetzung
| |
| irgendeines positiven Standpunktes, rein aus
| |
| Goethes Wesen, aus dem Ganzen seines Geistes zu erklären,
| |
| wurde klar, daß weder die eine noch die andere der erwähnten
| |
| Richtungen — so außerordentlich bedeutend auch
| |
| dasjenige ist, was sie beide zu einer Beurteilung Goethes geliefert
| |
| haben - seine Naturanschauung vollkommen richtig
| |
| interpretiert hat.
| |
| Die erste der charakterisierten Ansichten hat ganz
| |
| recht, wenn sie behauptet, Goethe habe dadurch, daß er die
| |
| Erklärung der organischen Natur anstrebte, den Dualismus
| |
| bekämpft, der zwischen dieser und der unorganischen
| |
| Welt unübersteigliche Schranken annimmt. Aber Goethe
| |
| behauptete die Möglichkeit dieser Erklärung nicht deshalb,
| |
| weil er sich die Formen und Erscheinungen der organischen
| |
| Natur in einem mechanischen Zusammenhange
| |
| dachte, sondern weil er einsah, daß der höhere Zusammenhang,
| |
| in dem dieselben stehen, unserer Erkenntnis keineswegs
| |
| verschlossen ist. Er dachte sich das Universum zwar
| |
| in monistischer Weise als unentzweite Einheit - von der er
| |
| den Menschen durchaus nicht ausschloß [siehe den Brief
| |
| Goethes an F. H. Jacobi vom 23. Nov. 1801; WA 15,
| |
| 280 f.] -, aber deshalb erkannte er doch an, daß innerhalb
| |
| dieser Einheit Stufen zu unterscheiden sind, die ihre eigenen
| |
| Gesetze haben. Er verhielt sich schon seit seiner Jugend ablehnend
| |
| gegenüber Bestrebungen, welche sich die Einheit als
| |
| Einförmigkeit vorstellen und die organische Welt, wie überhaupt
| |
| das, was innerhalb der Natur als höhere Natur erscheint,
| |
| von den in der unorganischen Welt wirksamen
| |
| Gesetzen beherrscht denken (siehe «Geschichte meines botanischen
| |
| Studiums» in Natw. Schr., 1. Bd., S. 61 ff.). Diese
| |
| Ablehnung war es auch, welche ihn später zur Annahme
| |
| einer anschauenden Urteilskraft nötigte, durch welche wir
| |
| die organische Natur erfassen im Gegensatze zum diskursiven
| |
| Verstande, durch den wir die unorganische Natur erkennen.
| |
| Goethe denkt sich die Welt als einen Kreis von
| |
| Kreisen, von denen jeder einzelne sein eigenes Erklärungsprinzip
| |
| hat. Die modernen Monisten kennen nur einen
| |
| einzigen Kreis, den der unorganischen Naturgesetze.
| |
| Die zweite der angeführten Meinungen über Goethe
| |
| sieht ein, daß es sich bei ihm um etwas anderes handelt als
| |
| beim modernen Monismus. Da aber ihre Vertreter es als ein
| |
| Postulat der Wissenschaft ansehen, daß die organische Natur
| |
| gerade so wie die unorganische erklärt werde und eine
| |
| Anschauung wie die Goethes von vornherein perhorreszieren,
| |
| so sehen sie es überhaupt als nutzlos an, auf seine
| |
| Bestrebungen näher einzugehen.
| |
| So konnten Goethes hohe Prinzipien weder da noch dort
| |
| zur vollen Geltung kommen. Und gerade diese sind das
| |
| Hervorragende seiner Bestrebungen, sind das, was für denjenigen,
| |
| der sich ihre ganze Tiefe vergegenwärtigt hat, auch
| |
| dann an Bedeutung nicht verliert, wenn er einsieht, daß
| |
| manches von den Einzelheiten Goethescher Forschung der
| |
| Berichtigung bedarf.
| |
| Hieraus erwächst nun für denjenigen, der Goethes Anschauungen
| |
| darzulegen versucht, die Forderung, über die
| |
| kritische Beurteilung des einzelnen, was Goethe in diesem
| |
| oder jenem Kapitel der Naturwissenschaft gefunden, hinweg
| |
| den Blick auf das Zentrale Goethescher Naturanschauung
| |
| zu lenken.*
| |
| Indem ich dieser Forderung zu entsprechen suchte, liegt
| |
| die Möglichkeit nahe, gerade von denjenigen mißverstanden
| |
| zu werden, bei denen es mir am meisten leid tun würde,
| |
| von den reinen Empirikern. Ich meine jene, welche den als
| |
| tatsächlich nachzuweisenden Zusammenhängen der Organismen,
| |
| dem empirisch gebotenen Stoffe nach allen Seiten
| |
| nachgehen und die Frage nach den ursprünglichen Prinzipien
| |
| der Organik als eine heute noch offene betrachten.
| |
| Gegen sie können meine Ausführungen nicht gerichtet sein,
| |
| denn sie berühren sie nicht. Im Gegenteile: Ich baue gerade
| |
| auf sie einen Teil meiner Hoffnungen, weil sie die Hände
| |
| nach allen Seiten noch frei haben. Sie sind es auch, die manches
| |
| von Goethe Behauptete noch zu berichtigen haben werden,
| |
| denn im Tatsächlichen irrte er zuweilen; hier kann natürlich
| |
| auch das Genie die Schranken seiner Zeit nicht überwinden.
| |
| Im Prinzipiellen kam er aber zu Grundanschauungen,
| |
| die für die Wissenschaft vom Organischen dieselbe Bedeutung
| |
| haben wie Galileis Grundgesetze für die Mechanik.
| |
| Dies zu begründen, machte ich mir zur Aufgabe.
| |
| Mögen jene, die meine Worte nicht zu überzeugen vermögen,
| |
| mindestens den redlichen Willen sehen, mit dem
| |
| ich bemüht war, ohne Rücksicht auf Personen, nur der
| |
| Sache zugewandt, das angedeutete Problem, Goethes wissenschaftliche
| |
| Schriften aus dem Ganzen seiner Natur zu
| |
| erklären, zu lösen und eine für mich erhebende Überzeugung
| |
| auszusprechen.
| |
| Hat man in derselben Weise glücklich und erfolgreich
| |
| begonnen, Goethes Dichtungen zu erklären, so liegt hierin
| |
| schon die Forderung, alle Werke seines Geistes in diese Art
| |
| der Betrachtung hereinzuziehen. Dies kann nicht für immer
| |
| ausbleiben und ich werde nicht der letzte sein von denen,
| |
| die sich herzlich freuen werden, wenn es meinem Nachfolger
| |
| besser gelingt als mir. Möchten jugendlich strebende
| |
| Denker und Forscher, namentlich jene, die mit ihren Ansichten
| |
| nicht bloß in die Breite gehen, sondern direkt dem
| |
| Zentralen unseres Erkennens ins Auge schauen, meinen
| |
| Ausführungen einige Aufmerksamkeit schenken und in
| |
| Scharen nachfolgen, um vollkommener auszuführen, was
| |
| ich darzulegen bestrebt war.
| |
| VI
| |
| GOETHES ERKENNTNIS-ART
| |
| Johann Gottlieb Fichte sandte im Juni 1794 die ersten Bogen
| |
| seiner «Wissenschaftslehre» an Goethe. Dieser schrieb
| |
| hierauf am 24. Juni an den Philosophen: «Was mich betrifft,
| |
| werde ich Ihnen den größten Dank schuldig sein,
| |
| wenn Sie mich endlich mit den Philosophen versöhnen, die
| |
| ich nie entbehren und mit denen ich mich niemals vereinigen
| |
| konnte.» [WA 10,167] Was der Dichter hier bei Fichte,
| |
| das hatte er früher bei Spinoza gesucht; später suchte er es
| |
| bei Schelling und Hegel: eine philosophische Weltansicht,
| |
| die seiner Denkweise gemäß wäre. Völlige Befriedigung
| |
| aber brachte dem Dichter keine der philosophischen Richtungen,
| |
| die er kennen lernte.
| |
| Das erschwert wesentlich unsere Aufgabe. Wir wollen
| |
| Goethe von der philosophischen Seite näherkommen. Hätte
| |
| er selbst einen wissenschaftlichen Standpunkt als den seinigen
| |
| bezeichnet, so könnten wir uns auf diesen berufen. Das
| |
| ist aber nicht der Fall. Und so obliegt uns denn die Aufgabe,
| |
| aus alledem, was uns von dem Dichter vorliegt, den philosophischen
| |
| Kern zu erkennen, der in ihm lag, und davon ein
| |
| Bild zu entwerfen. Wir halten für den richtigen Weg, diese
| |
| Aufgabe zu lösen, eine auf Grundlage der deutschen idealistischen
| |
| Philosophie gewonnene Ideenrichtung. Diese Philosophie
| |
| suchte ja in ihrer Weise denselben höchsten menschlichen
| |
| Bedürfnissen zu genügen, denen Goethe und Schiller
| |
| ihr Leben widmeten. Sie ging aus derselben Zeitströmung
| |
| hervor. Sie steht daher auch Goethe viel näher als diejenigen
| |
| Anschauungen, die heute vielfach die Wissenschaf-
| |
| 2
| |
| ten beherrschen. Aus jener Philosophie wird sich eine
| |
| Ansicht bilden lassen, als deren Konsequenz sich das ergibt,
| |
| was Goethe dichterisch gestaltet, was er wissenschaftlich
| |
| dargelegt hat. Aus unseren heutigen wissenschaftlichen
| |
| Richtungen wohl nimmermehr. Wir sind heute sehr weit
| |
| von jener Denkweise entfernt, die in Goethes Natur lag.
| |
| Es ist ja richtig: Wir haben auf allen Gebieten der Kultur
| |
| Fortschritte zu verzeichnen. Daß das aber Fortschritte
| |
| in die Tiefe sind, kann kaum behauptet werden. Für den
| |
| Gehalt eines Zeitalters sind aber doch nur die Fortschritte
| |
| in die Tiefe maßgebend. Unsere Zeit möchte man aber am
| |
| besten damit bezeichnen, daß man sagt: Sie weist überhaupt
| |
| Fortschritte in die Tiefe als für den Menschen unerreichbar
| |
| zurück. Wir sind mutlos auf allen Gebieten geworden,
| |
| besonders aber auf jenem des Denkens und des
| |
| Wollens. Was das Denken betrifft: Man beobachtet endlos,
| |
| speichert die Beobachtungen auf und hat nicht den Mut, sie
| |
| zu einer wissenschaftlichen Gesamtauffassung der Wirklichkeit
| |
| zu gestalten. Die deutsche idealistische Philosophie aber
| |
| zeiht man der Unwissenschaftlichkeit, weil sie diesen Mut
| |
| hatte. Man will heute nur sinnlich schauen, nicht denken.
| |
| Man hat alles Vertrauen in das Denken verloren. Man hält
| |
| es nicht für ausreichend, in die Geheimnisse der Welt und
| |
| des Lebens einzudringen; man verzichtet überhaupt auf
| |
| jegliche Lösung der großen Rätselfragen des Daseins. Das
| |
| einzige, was man für möglich hält, ist: die Aussagen der
| |
| Erfahrung in ein System zu bringen. Dabei vergißt man
| |
| nur, daß man sich mit dieser Ansicht einem Standpunkt
| |
| nähert, den man längst für überwunden hält. Die Abweisung
| |
| alles Denkens und das Pochen auf die sinnliche Erfahrung
| |
| ist, tiefer erfaßt, doch nichts als der blinde Offenbarungsglaube
| |
| der Religionen. Der letztere beruht doch nur
| |
| darauf, daß die Kirche fertige Wahrheiten überliefert, an
| |
| die man zu glauben hat. Das Denken mag sich abmühen, in
| |
| ihren tieferen Sinn einzudringen; benommen aber ist es ihm,
| |
| die Wahrheit seihst zu prüfen, aus eigener Kraft in die Tiefen
| |
| der Welt zu dringen. Und die Erfahrungswissenschaft:
| |
| was fordert sie vom Denken? Daß es lausche, was die Tatsachen
| |
| sagen, und diese Aussagen auslege, ordne usw. Selbständig
| |
| in den Kern der Welt einzudringen, versagt auch
| |
| sie dem Denken. Dort fordert die Theologie blinde Unterwerfung
| |
| des Denkens unter die Aussprüche der Kirche, hier
| |
| die Wissenschaft blinde Unterwerfung unter die Aussprüche
| |
| der Sinnenbeobachtung. Da wie dort gilt das selbständige,
| |
| in die Tiefen dringende Denken nichts. Die Erfahrungswissenschaft
| |
| vergißt nur eins. Tausende und aber Tausende
| |
| schauten eine sinnenfällige Tatsache und gingen an
| |
| ihr vorüber, ohne etwas Auffälliges an ihr zu merken. Dann
| |
| kam einer, der sie anblickte und ein wichtiges Gesetz an ihr
| |
| gewahr wurde. Woher kommt das? Doch nur davon, weil
| |
| der Entdecker anders zu schauen verstand als seine Vorgänger.
| |
| Er sah die Tatsache mit andern Augen an als seine
| |
| Mitmenschen. Er hatte bei dem Schauen einen bestimmten
| |
| Gedanken, wie man die Tatsache mit andern in Zusammenhang
| |
| bringen müsse, was für sie bedeutsam sei, was nicht.
| |
| Und so legte er sich denkend die Sache zurecht und er sah
| |
| mehr als die andern. Er sah mit den Augen des Geistes. Alle
| |
| wissenschaftlichen Entdeckungen beruhen darauf, daß der
| |
| Beobachter in der durch den richtigen Gedanken geregelten
| |
| Weise zu beobachten versteht. Das Denken muß die Beobachtung
| |
| naturgemäß leiten. Das kann es nicht, wenn der
| |
| Forscher den Glauben an das Denken verloren hat, wenn
| |
| er nicht weiß, was er von dessen Tragweite zu halten hat.
| |
| Die Erfahrungswissenschaft irrt ratlos in der Welt der Erscheinungen
| |
| umher; die Sinnenwelt wird ihr eine verwirrende
| |
| Mannigfaltigkeit, weil sie nicht die Energie im Denken
| |
| hat, in das Zentrum zu dringen.
| |
| Man spricht heute von Erkenntnisgrenzen, weil man
| |
| nicht weiß, wo das Ziel des Denkens liegt. Man hat keine
| |
| klare Ansicht, was man erreichen will und zweifelt daran,
| |
| daß man es erreichen wird. Wenn heute irgend jemand
| |
| käme und uns mit Fingern auf die Lösung des Welträtsels
| |
| zeigte, wir hätten nichts davon, weil wir nicht wüßten,
| |
| was wir von der Lösung zu halten haben.
| |
| Und mit dem Wollen und Handeln ist es ja geradeso.
| |
| Man weiß sich keine bestimmten Lebensaufgaben zu stellen,
| |
| denen man gewachsen wäre. Man träumt sich in unbestimmte,
| |
| unklare Ideale hinein und klagt dann, wenn
| |
| man das nicht erreicht, wovon man kaum eine dunkle, viel
| |
| weniger eine klare Vorstellung hat. Man frage einen der
| |
| Pessimisten unserer Zeit, was er denn eigentlich will, und
| |
| was er zu erreichen verzweifelt? Er weiß es nicht. Problematische
| |
| Naturen sind sie alle, die keiner Lage gewachsen
| |
| sind, und denen doch keine genügt. Man mißverstehe mich
| |
| nicht. Ich will dem flachen Optimismus keine Lobrede halten,
| |
| der, mit den trivialen Genüssen des Lebens zufrieden,
| |
| nach nichts Höherem verlangt und deshalb nie etwas entbehrt.
| |
| Ich will nicht den Stab brechen über Individuen,
| |
| die die tiefe Tragik schmerzlich empfinden, die darinnen
| |
| liegt, daß wir von Verhältnissen abhängig sind, die lähmend
| |
| auf all unser Tun wirken, und die zu ändern, wir uns
| |
| vergebens bestreben. Vergessen wir aber nur nicht, daß der
| |
| Schmerz der Einschlag des Glückes ist. Man denke an die
| |
| Mutter: wie wird ihr die Freude an dem Gedeihen ihrer
| |
| Kinder versüßt, wenn sie es mit Sorgen, Leiden und Mühen
| |
| dereinst errungen hat. Jeder besser denkende Mensch müßte
| |
| ja ein Glück, das ihm irgendeine äußere Macht böte, zurückweisen,
| |
| weil er doch nicht als Glück empfinden kann,
| |
| was ihm als unverdientes Geschenk verabreicht wird. Wäre
| |
| irgendein Schöpfer mit dem Gedanken an die Erschaffung
| |
| des Menschen gegangen, daß er seinem Ebenbilde zugleich
| |
| das Glück mit als Erbstück gäbe, so hätte er besser getan,
| |
| ihn ungeschaffen zu lassen. Es erhöht die Würde des Menschen,
| |
| daß grausam immer zerstört wird, was er schafft;
| |
| denn er muß immer aufs neue bilden und schaffen; und im
| |
| Tun liegt unser Glück, in dem, was wir selbst vollbringen.
| |
| Mit dem geschenkten Glück ist es wie mit der geoffenbarten
| |
| Wahrheit. Es ist allein des Menschen würdig, daß er
| |
| selbst die Wahrheit suche, daß ihn weder Erfahrung noch
| |
| Offenbarung leite. Wenn das einmal durchgreifend erkannt
| |
| sein wird, dann haben die Offenbarungsreligionen abgewirtschaftet.
| |
| Der Mensch wird dann gar nicht mehr wollen,
| |
| daß sich Gott ihm offenbare oder Segen spende. Er wird
| |
| durch eigenes Denken erkennen, durch eigene Kraft sein
| |
| Glück begründen wollen. Ob irgendeine höhere Macht unsere
| |
| Geschicke zum Guten oder Bösen lenkt, das geht uns
| |
| nichts an; wir haben uns selbst die Bahn vorzuzeichnen, die
| |
| wir zu wandeln haben. Die erhabenste Gottesidee bleibt
| |
| doch immer die, welche annimmt, daß Gott sich nach
| |
| Schöpfung des Menschen ganz von der Welt zurückgezogen
| |
| und den letzteren ganz sich selbst überlassen habe.
| |
| Wer dem Denken seine über die Sinnesauffassung hinausgehende
| |
| Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennt, der muß
| |
| ihm notgedrungen auch Objekte zuerkennen, die über die
| |
| bloße sinnenfällige Wirklichkeit hinaus liegen. Die Objekte
| |
| des Denkens sind aber die Ideen. Indem sich das Denken
| |
| der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des
| |
| Weltendaseins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des
| |
| Menschen ein: er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf
| |
| ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in
| |
| der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.
| |
| Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung
| |
| wie das Auge dem Lichte, das Ohr dem Ton gegenüber.
| |
| Es ist Organ der Auffassung.
| |
| Diese Ansicht ist in der Lage, zwei Dinge zu vereinigen,
| |
| die man heute für völlig unvereinbar hält: empirische Methode
| |
| und Idealismus als wissenschaftliche Weltansicht.
| |
| Man glaubt, die Anerkennung der ersteren habe die Abweisung
| |
| des letzteren im Gefolge. Das ist durchaus nicht
| |
| richtig. Wenn man freilich die Sinne für die einzigen Auffassungsorgane
| |
| einer objektiven Wirklichkeit hält, so muß
| |
| man zu dieser Ansicht kommen. Denn die Sinne liefern
| |
| bloß solche Zusammenhänge der Dinge, die sich auf mechanische
| |
| Gesetze zurückführen lassen. Und damit wäre
| |
| die mechanische Weltansicht als die einzig wahre Gestalt
| |
| einer solchen gegeben. Dabei begeht man den Fehler, daß
| |
| man die andern ebenso objektiven Bestandteile der Wirklichkeit,
| |
| die sich auf mechanische Gesetze nicht zurückführen
| |
| lassen, einfach übersieht. Das objektiv Gegebene
| |
| deckt sich durchaus nicht mit dem sinnlich Gegebenen, wie
| |
| die mechanische Weltauffassung glaubt. Das letztere ist
| |
| nur die Hälfte des Gegebenen. Die andere Hälfte desselben
| |
| sind die Ideen, die ebenso Gegenstand der Erfahrung sind,
| |
| freilich einer höheren, deren Organ das Denken ist. Auch
| |
| die Ideen sind für eine induktive Methode erreichbar.
| |
| Die heutige Erfahrungswissenschaft befolgt die ganz
| |
| richtige Methode: am Gegebenen festzuhalten; aber sie
| |
| fügt die unstatthafte Behauptung hinzu, daß diese Methode
| |
| nur Sinnenfällig-Tatsächliches liefern kann. Statt bei dem,
| |
| wie wir zu unseren Ansichten kommen, stehenzubleiben,
| |
| bestimmt sie von vornherein das Was derselben. Die einzig
| |
| befriedigende Wirklichkeitsauffassung ist empirische Methode
| |
| mit idealistischem Forschungsresultate. Das ist Idealismus,
| |
| aber kein solcher, der einer nebelhaften, geträumten
| |
| Einheit der Dinge nachgeht, sondern ein solcher, der den
| |
| konkreten Ideengehalt der Wirklichkeit ebenso erfahrungsgemäß
| |
| sucht wie die heutige hyperexakte Forschung den
| |
| Tatsachengehalt.
| |
| Indem wir mit diesen Ansichten an Goethe herantreten,
| |
| glauben wir in sein Wesen einzudringen. Wir halten an dem
| |
| Idealismus fest, legen aber bei der Entwicklung desselben
| |
| nicht die dialektische Methode Hegels, sondern einen geläuterten,
| |
| höheren Empirismus zugrunde.
| |
| Ein solcher liegt auch der Philosophie Eduard v. Hartmanns
| |
| zugrunde. Eduard v. Hartmann sucht in der Natur
| |
| die ideengemäße Einheit, wie sie sich positiv für ein inhaltvolles
| |
| Denken ergibt. Er weist die bloß mechanische
| |
| Naturauffassung und den am Äußerlichen haftenden Hyper-
| |
| Darwinismus zurück. Er ist in der Wissenschaft Begründer
| |
| eines konkreten Monismus. In der Geschichte und
| |
| Ästhetik sucht er die konkrete Idee. Das alles nach empirisch-
| |
| induktiver Methode.
| |
| Hartmanns Philosophie ist von meiner nur durch die
| |
| Pessimismus-Frage und durch die metaphysische Zuspitzung
| |
| des Systems nach dem «Unbewußten» verschieden.
| |
| Was den letzteren Punkt betrifft, wolle man weiter unten
| |
| nachsehen. In bezug auf den Pessimismus aber sei folgendes
| |
| bemerkt: Was Hartmann als Gründe für den Pessimismus
| |
| anführt, d. h. für die Ansicht, daß uns nichts in der
| |
| Welt voll befriedigen kann, daß stets die Unlust die Lust
| |
| überwiegt, das möchte ich geradezu als das Glück der
| |
| Menschheit bezeichnen. Was er vorbringt, sind für mich
| |
| nur Beweise dafür, daß es vergebens ist, eine Glückseligkeit
| |
| zu erstreben. Wir müssen eben ein solches Bestreben ganz
| |
| aufgeben und unsere Bestimmung rein darinnen suchen,
| |
| selbstlos jene idealen Aufgaben zu erfüllen, die uns unsere
| |
| Vernunft vorzeichnet. Was heißt das anders, als daß wir
| |
| nur im Schaffen, in rastloser Tätigkeit unser Glück suchen
| |
| sollen?
| |
| Nur der Tätige und zwar der selbstlos Tätige, der mit
| |
| seiner Tätigkeit keinen Lohn anstrebt, erfüllt seine Bestimmung.
| |
| Es ist töricht, für seine Tätigkeit belohnt sein zu wollen;
| |
| es gibt keinen wahren Lohn. Hier sollte Hartmann
| |
| weiterbauen. Er sollte zeigen, was denn unter solchen Voraussetzungen
| |
| die einzige Triebfeder aller unserer Handlungen
| |
| sein kann. Es kann, wenn die Aussicht auf ein erstrebtes
| |
| Ziel wegfällt, nur die selbstlose Hingabe an das
| |
| Objekt sein, dem man seine Tätigkeit widmet, es kann nur
| |
| die Liebe sein. Nur eine Handlung aus Liebe kann eine sittliche
| |
| sein. Die Idee muß in der Wissenschaft, die Liebe im
| |
| Handeln unser Leitstern sein. Und damit sind wir wieder
| |
| bei Goethe angelangt. «Dem tätigen Menschen kommt es
| |
| darauf an, daß er das Rechte tue, ob das Rechte geschehe,
| |
| soll ihn nicht kümmern.» «Unser ganzes Kunststück besteht
| |
| darin, daß wir unsere Existenz aufgeben, um zu existieren.
| |
| » («Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt.,
| |
| S. 464 u. 441.)
| |
| Ich bin zu meiner Weltansicht nicht allein durch das
| |
| Studium Goethes oder etwa gar des Hegelianismus gekommen.
| |
| Ich ging von der mechanisch-naturalistischen Weltauffassung
| |
| aus, erkannte aber, daß bei intensivem Denken
| |
| dabei nicht stehengeblieben werden kann. Ich fand, streng
| |
| nach naturwissenschaftlicher Methode verfahrend, in dem
| |
| objektiven Idealismus die einzig befriedigende Weltansicht.
| |
| Die Art, wie ein sich selbst verstehendes, widerspruchsloses
| |
| Denken zu dieser Weltansicht gelangt, zeigt meine Erkenntnistheorie.
| |
| 86 Ich fand dann, daß dieser objektive Idealismus
| |
| seinem Grundzuge nach die Goethesche Weltansicht durchtränkt.
| |
| So geht denn dann freilich der Ausbau meiner Ansichten
| |
| seit Jahren parallel mit dem Studium Goethes; und
| |
| ich habe nie einen prinzipiellen Gegensatz zwischen meinen
| |
| Grundansichten und der Goetheschen wissenschaftlichen
| |
| Tätigkeit gefunden. Wenn es mir wenigstens teilweise gelungen
| |
| ist: erstens meinen Standpunkt so zu entwickeln,
| |
| daß er auch in andern lebendig wird, und zweitens die
| |
| Überzeugung herbeizuführen, daß dieser Standpunkt wirklich
| |
| der Goethesche ist, dann betrachte ich meine Aufgabe
| |
| als erfüllt.
| |
| 86 Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen
| |
| Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller. Berlin u.
| |
| Stuttgart 1886, 6. Aufl. Gesamtausgabe Dornach 1960.
| |
| VII
| |
| ÜBER DIE ANORDNUNG
| |
| DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN
| |
| SCHRIFTEN GOETHES
| |
| Bei der Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen
| |
| Schriften, die ich zu besorgen hatte, leitete mich der Gedanke:
| |
| das Studium der Einzelheiten derselben durch die
| |
| Darlegung der großartigen Ideenwelt zu beleben, die ihnen
| |
| zugrunde liegt. Es ist meine Überzeugung, daß jede einzelne
| |
| Behauptung Goethes einen völlig neuen und zwar den richtigen
| |
| Sinn erhält, wenn man an sie mit dem vollen Verständnis
| |
| für seine tiefe und umfassende Weltanschauung
| |
| herantritt. Es ist ja nicht zu leugnen: Manche der Aufstellungen
| |
| Goethes in naturwissenschaftlicher Beziehung erscheint
| |
| ganz bedeutungslos, wenn man sie vom Standpunkte
| |
| der mittlerweile so fortgeschrittenen Wissenschaft ansieht.
| |
| Das kommt aber gar nicht weiter in Betracht. Es handelt
| |
| sich darum: was sie innerhalb der Weltansicht Goethes zu
| |
| bedeuten hat. Auf der geistigen Höhe, auf der der Dichter
| |
| steht, ist auch das wissenschaftliche Bedürfnis ein gesteigertes.
| |
| Ohne wissenschaftliches Bedürfnis gibt es aber keine
| |
| Wissenschaft. Was für Fragen stellte Goethe an die Natur?
| |
| Das ist das Wichtige. Ob und wie er sie beantwortet hat, das
| |
| kommt erst in zweiter Linie in Betracht. Haben wir heute
| |
| zulänglichere Mittel, eine reichere Erfahrung: nun wohl,
| |
| dann wird es uns gelingen, ausreichendere Lösungen der
| |
| von ihm gestellten Probleme zu finden. Daß wir aber nicht
| |
| mehr vermögen als eben dies: die von ihm vorgezeichneten
| |
| Bahnen mit unseren größeren Mitteln zu wandeln, das sollen
| |
| meine Darstellungen zeigen. Was wir von ihm lernen
| |
| sollen, ist also vor allem das, wie man an die Natur Fragen
| |
| zu stellen hat*
| |
| Man übersieht die Hauptsache, wenn man Goethe nichts
| |
| anderes zugesteht, als daß er manche Beobachtung aufzuweisen
| |
| habe, die von der späteren Forschung wieder gefunden,
| |
| heute einen wichtigen Bestandteil unserer Weltanschauung
| |
| bildet. Bei ihm kommt es gar nicht auf das überlieferte
| |
| Ergebnis an, sondern auf die Art, wie er dazu gelangt.
| |
| Treffend sagt er selbst: «Es ist mit Meinungen, die
| |
| man wagt, wie mit Steinen, die man voran im Brette bewegt;
| |
| sie können geschlagen werden, aber sie haben ein
| |
| Spiel eingeleitet, das gewonnen wird.» [«Sprüche in Prosa»;
| |
| Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 362.] Er kam zu einer durchaus
| |
| naturgemäßen Methode. Er suchte diese Methode mit
| |
| jenen Hilfsmitteln, die ihm zu Gebote standen, in die Wissenschaft
| |
| einzuführen. Es mag nun sein, daß die hierdurch
| |
| gewonnenen Einzelergebnisse durch die fortschreitende
| |
| Wissenschaft umgewandelt worden sind; aber der wissenschaftliche
| |
| Prozeß, der damit eingeleitet wurde, ist ein
| |
| dauernder Gewinn der Wissenschaft.
| |
| Diese Gesichtspunkte konnten nicht ohne Einfluß auf
| |
| die Anordnung des herauszugebenden Stoffes bleiben. Man
| |
| kann mit einigem Schein von Recht fragen, warum ich,
| |
| da ich schon einmal von der bisher üblichen Einteilung
| |
| der Schriften abgegangen bin, nicht gleich jenen Weg betreten
| |
| habe, der sich vor allem zu empfehlen scheint: die
| |
| allgemein-naturwissenschaftlichen Schriften im 1. Bande,
| |
| die organischen, mineralogischen und meteorologischen im
| |
| 2. und die physikalischen Schriften im 3. Bande zu bringen.
| |
| Es enthielte dann der 1. Band die allgemeinen Gesichtspunkte,
| |
| die folgenden die besonderen Ausführungen der
| |
| Grundgedanken. So verlockend das nun auch ist: es hätte
| |
| mir nie einfallen können, diese Anordnung zu treffen. Ich
| |
| hätte damit - um auf das Gleichnis Goethes noch einmal
| |
| zurückzukommen - nicht erreichen können, was ich wollte:
| |
| an den Steinen, die voran im Brette gewagt, den Plan des
| |
| Spieles erkenntlich zu machen.
| |
| Nichts lag Goethe ferner, als in bewußter Weise von allgemeinen
| |
| Begriffen auszugehen. Er geht immer von konkreten
| |
| Tatsachen aus, vergleicht sie, ordnet sie. Darüber
| |
| geht ihm die Ideengrundlage derselben auf. Es ist ein großer
| |
| Irrtum, zu behaupten, nicht die Ideen seien das treibende
| |
| Prinzip in Goethes Schaffen, weil er über die Idee des Faust
| |
| jene sattsam bekannte Bemerkung gemacht. In der Betrachtung
| |
| der Dinge bleibt ihm nach Abstreifung alles Zufälligen,
| |
| Unwesentlichen etwas zurück, das Idee in seinem Sinne ist.
| |
| Die Methode, der sich Goethe bedient, bleibt selbst da noch
| |
| die auf reine Erfahrung gebaute, wo er sich zur Idee erhebt.
| |
| Denn nirgends läßt er eine subjektive Zutat in seine Forschung
| |
| einfließen. Er befreit nur die Erscheinungen von
| |
| dem Zufälligen, um zu ihrer tieferen Grundlage vorzudringen.
| |
| Sein Subjekt hat keine andere Aufgabe, als das Objekt
| |
| so zurechtzulegen, daß es sein Innerstes verrät. «Das Wahre
| |
| ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir müssen
| |
| es aus seinen Manifestationen erraten.» [«Sprüche in Prosa
| |
| »; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 378.] Es kommt darauf
| |
| an, diese Manifestationen in solchen Zusammenhang zu
| |
| bringen, daß das «Wahre» erscheint. In der Tatsache, der
| |
| wir beobachtend gegenübertreten, steckt schon das Wahre,
| |
| die Idee; wir müssen nur die Hülle entfernen, die es uns
| |
| verbirgt. In der Entfernung dieser Hülle besteht die wahre
| |
| wissenschaftliche Methode. Goethe schlug diesen Weg ein.
| |
| Und wir müssen ihm auf demselben folgen, wenn wir ganz
| |
| in ihn eindringen wollen. Mit anderen Worten: Wir müssen
| |
| mit Goethes Studien über die organische Natur beginnen,
| |
| weil er mit ihnen begann. Hier enthüllte sich ihm zuerst
| |
| ein reicher Gehalt von Ideen, die wir dann als Bestandteile
| |
| in seinen allgemeinen und methodischen Aufsätzen
| |
| wiederfinden. Wollen wir die letzteren verstehen, müssen
| |
| wir uns mit jenem Gehalte bereits erfüllt haben. Die Aufsätze
| |
| über Methode sind dem bloße Gedankengewebe, der
| |
| nicht den Weg nachzugehen bemüht ist, den Goethe gegangen.
| |
| Was dann die Studien über physikalische Erscheinungen
| |
| betrifft, so entstanden sie bei Goethe erst als die Konsequenz
| |
| seiner Naturanschauung.
| |
| VIII
| |
| VON DER KUNST
| |
| ZUR WISSENSCHAFT
| |
| Wer sich die Aufgabe stellt, die Geistesentwicklung eines
| |
| Denkers darzustellen, hat uns die besondere Richtung desselben
| |
| auf psychologischem Wege aus den in seiner Biographie
| |
| gegebenen Tatsachen zu erklären. Bei einer Darstellung
| |
| von Goethe, dem Denker, ist die Aufgabe damit noch nicht
| |
| erschöpft. Hier wird nicht nur nach einer Rechtfertigung
| |
| und Erklärung seiner speziellen wissenschaftlichen Richtung,
| |
| sondern und vorzüglich auch darnach gefragt, wie
| |
| dieser Genius überhaupt dazu kam, auf wissenschaftlichem
| |
| Gebiete tätig zu sein. Goethe hatte durch die falsche Ansicht
| |
| seiner Zeitgenossen viel zu leiden, die sich nicht denken
| |
| konnten, daß dichterisches Schaffen und wissenschaftliche
| |
| Forschung sich in einem Geiste vereinigen lasse. Es
| |
| handelt sich hier vor allem um Beantwortung der Frage:
| |
| Welches sind die Motive, die den großen Dichter zur Wissenschaft
| |
| getrieben? Liegt der Übergang von Kunst zur Wissenschaft
| |
| rein in seiner subjektiven Neigung, in persönlicher
| |
| Willkür? Oder war Goethes künstlerische Richtung eine
| |
| solche, daß sie ihn mit Notwendigkeit zur Wissenschaft
| |
| treiben mußte?
| |
| Wäre das erstere der Fall, dann hätte die gleichzeitige
| |
| Hingabe an Kunst und Wissenschaft bloß die Bedeutung
| |
| einer zufälligen persönlichen Begeisterung für beide Richtungen
| |
| des menschlichen Strebens; wir hätten es mit einem
| |
| Dichter zu tun, der zufällig auch ein Denker ist, und es
| |
| hätte wohl sein können, daß bei einem etwas andern Lebensgange
| |
| Goethe dieselben Wege in der Dichtung eingeschlagen,
| |
| ohne daß er sich um die Wissenschaft auch nur
| |
| bekümmert hätte. Beide Seiten dieses Mannes interessierten
| |
| uns dann abgesondert als solche, beide hätten vielleicht für
| |
| sich ein gut Teil den Fortschritt der Menschheit gefördert.
| |
| Alles das wäre aber auch der Fall, wenn die beiden Geistesrichtungen
| |
| auf zwei Persönlichkeiten verteilt gewesen wären.
| |
| Der Dichter Goethe hätte mit dem Denker Goethe
| |
| nichts zu tun.
| |
| Ist aber das zweite der Fall, dann war Goethes künstlerische
| |
| Richtung eine solche, daß sie von innen heraus notwendig
| |
| dazu drängte, durch wissenschaftliches Denken ergänzt
| |
| zu werden. Dann ist es schlechterdings undenkbar,
| |
| daß die beiden Richtungen auf zwei Persönlichkeiten verteilt
| |
| gewesen wären. Dann interessiert uns jede der beiden
| |
| Richtungen nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch
| |
| wegen ihrer Beziehung auf die andere. Dann gibt es einen
| |
| objektiven Übergang von Kunst zur Wissenschaft, einen
| |
| Punkt, wo sich die beiden so berühren, daß Vollendung in
| |
| dem einen Gebiete Vollendung in dem andern fordert.
| |
| Goethe folgte dann nicht einer persönlichen Neigung, sondern
| |
| die Kunstrichtung, der er sich ergab, weckte in ihm
| |
| Bedürfnisse, denen nur in wissenschaftlicher Betätigung
| |
| Befriedigung werden konnte.
| |
| Unsere Zeit glaubt das Richtige zu treffen, wenn sie
| |
| Kunst und Wissenschaft möglichst weit auseinanderhält.
| |
| Sie sollen zwei vollkommen entgegengesetzte Pole in der
| |
| Kulturentwicklung der Menschheit sein. Die Wissenschaft
| |
| soll uns - so denkt man - ein möglichst objektives Weltbild
| |
| entwerfen, sie soll uns die Wirklichkeit im Spiegel zeigen
| |
| oder mit andern Worten: sie soll mit Entäußerung aller subjektiven
| |
| Willkür sich rein an das Gegebene halten. Für ihre
| |
| Gesetze ist die objektive Welt maßgebend, ihr hat sie sich
| |
| zu unterwerfen. Sie soll den Maßstab des Wahren und Falschen
| |
| ganz und gar aus den Objekten der Erfahrung nehmen.
| |
| Ganz anders soll es bei den Schöpfungen der Kunst sein.
| |
| Ihnen wird von der selbstschöpferischen Kraft des menschlichen
| |
| Geistes das Gesetz gegeben. Für die Wissenschaft
| |
| wäre jedes Einmischen der menschlichen Subjektivität Verfälschung
| |
| der Wirklichkeit, Überschreitung der Erfahrung;
| |
| die Kunst dagegen wächst auf dem Felde genialischer Subjektivität.
| |
| Ihre Schöpfungen sind Gebilde menschlicher Einbildungskraft,
| |
| nicht Spiegelbilder der Außenwelt. Außer
| |
| uns, im objektiven Sein liegt der Ursprung wissenschaftlicher
| |
| Gesetze; in uns, in unserer Individualität der der
| |
| ästhetischen. Daher haben die letzteren nicht den geringsten
| |
| Erkenntniswert, sie erzeugen Illusionen ohne den geringsten
| |
| Wirklichkeitsfaktor.
| |
| Wer die Sache so faßt, wird nie Klarheit darüber gewinnen,
| |
| welches Verhältnis Goethesche Dichtung zu Goethescher
| |
| Wissenschaft hat. Dadurch wird aber beides mißverstanden.
| |
| Die welthistorische Bedeutung Goethes liegt
| |
| ja gerade darinnen, daß seine Kunst unmittelbar aus dem
| |
| Urquell des Seins fließt, daß sie nichts Illusorisches, nichts
| |
| Subjektives an sich trägt, sondern als die Künderin jener
| |
| Gesetzlichkeit erscheint, die der Dichter in den Tiefen des
| |
| Naturwirkens dem Weltgeiste abgelauscht hat. Auf dieser
| |
| Stufe wird die Kunst die Interpretin der Weltgeheimnisse,
| |
| wie es die Wissenschaft in anderem Sinne ist.
| |
| So hat Goethe auch stets die Kunst aufgefaßt. Sie war
| |
| ihm die eine Offenbarung des Urgesetzes der Welt, die Wissenschaft
| |
| war ihm die andere. Für ihn entsprangen Kunst
| |
| und Wissenschaft aus einer Quelle. Während der Forscher
| |
| untertaucht in die Tiefen der Wirklichkeit, um die treibenden
| |
| Kräfte derselben in Form von Gedanken auszusprechen,
| |
| sucht der Künstler dieselben treibenden Gewalten
| |
| seinem Stoffe einzubilden. «Ich denke, Wissenschaft könnte
| |
| man die Kenntnis des Allgemeinen nennen, das abgezogene
| |
| Wissen; Kunst dagegen wäre Wissenschaft zur Tat verwendet;
| |
| Wissenschaft wäre Vernunft, und Kunst ihr Mechanismus,
| |
| deshalb man sie auch praktische Wissenschaft nennen
| |
| könnte. Und so wäre denn endlich Wissenschaft das
| |
| Theorem, Kunst das Problem.»87 Was die Wissenschaft als
| |
| Idee (Theorem) ausspricht, das soll die Kunst dem Stoffe
| |
| einprägen, das soll ihr Problem werden. «In den Werken
| |
| des Menschen wie in denen der Natur sind die Absichten
| |
| vorzüglich der Aufmerksamkeit wert», sagt Goethe.88 Überall
| |
| sucht er nicht nur das, was den Sinnen in der Außenwelt
| |
| gegeben ist, sondern die Tendenz, durch die es geworden.
| |
| Diese wissenschaftlich aufzufassen, künstlerisch zu gestalten,
| |
| das ist seine Sendung. Bei ihren eigenen Bildungen gerät
| |
| die Natur «auf Spezifikationen wie in eine Sackgasse»;
| |
| man muß auf das zurückgehen, was hätte werden sollen,
| |
| wenn die Tendenz sich hätte ungehindert entfalten können,
| |
| so wie der Mathematiker nie dieses oder jenes Dreieck, sondern
| |
| immer jene Gesetzmäßigkeit im Auge hat, die jedem
| |
| möglichen Dreiecke zugrunde liegt. Nicht was die Natur
| |
| geschaffen, sondern nach welchem Prinzipe sie es geschaffen,
| |
| darauf kommt es an. Dann ist dieses Prinzip so auszugestalten,
| |
| wie es seiner eigenen Natur gemäß ist, nicht wie
| |
| 87 [«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 535.]
| |
| 88 [Ebenda S. 378.]
| |
| es in dem von tausend Zufälligkeiten abhängigen einzelnen
| |
| Gebilde der Natur geschehen ist. Der Künstler hat «aus
| |
| dem Gemeinen das Edle, aus der Unform das Schöne zu
| |
| entwickeln».
| |
| Goethe und Schiller nehmen die Kunst in ihrer vollen
| |
| Tiefe. Das Schöne ist «eine Manifestation geheimer Naturgesetze,
| |
| die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen
| |
| geblieben». Ein Blick in des Dichters «Italienische
| |
| Reise» genügt, um zu erkennen, daß das nicht etwa eine
| |
| Phrase, sondern tief-innerliche Überzeugung ist. Wenn er
| |
| sagt: «Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten
| |
| Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen
| |
| Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche,
| |
| Eingebildete fällt zusammen; da ist Notwendigkeit, da ist
| |
| Gott», so geht daraus hervor, daß ihm Natur und Kunst
| |
| gleichen Ursprunges sind. Bezüglich der Kunst der Griechen
| |
| sagt er in dieser Richtung folgendes: «Ich habe die
| |
| Vermutung, daß sie nach den Gesetzen verfuhren, nach
| |
| welchen die Natur selbst verfährt und denen ich auf der
| |
| Spur bin.» Und von Shakespeare: «Shakespeare gesellt sich
| |
| zum Weltgeist; er durchdringt die Welt wie jener, beiden ist
| |
| nichts verborgen; aber wenn des Weltgeistes Geschäft ist,
| |
| Geheimnisse vor, ja oft nach der Tat zu bewahren, so ist
| |
| der Sinn des Dichters, das Geheimnis zu verschwätzen.»
| |
| Hier ist auch an den Ausspruch von der «frohen Lebensepoche
| |
| » zu erinnern, die der Dichter Kants «Kritik
| |
| der Urteilskraft» schuldig geworden ist, und die er ja doch
| |
| eigentlich nur dem Umstande dankte, daß er hier «Kunstund
| |
| Naturerzeugnisse eins behandelt sah wie das andere,
| |
| daß sich ästhetische und teleologische Urteilskraft wechselweise
| |
| erleuchteten.» «Mich freute», sagt der Dichter, «daß
| |
| Dichtkunst und vergleichende Naturkunde so nah miteinander
| |
| verwandt seien, indem beide sich derselben Urteilskraft
| |
| unterwerfen.» In dem Aufsatz: «Bedeutende Fördernis
| |
| durch ein einziges geistreiches Wort» [Natw. Schr., 2.
| |
| Bd., S. 31 ff.] stellt Goethe ganz in derselben Absicht seinem
| |
| gegenständlichen Denken sein gegenständliches Dichten
| |
| gegenüber.
| |
| So erscheint Goethe die Kunst ebenso objektiv wie die
| |
| Wissenschaft. Nur die Form beider ist verschieden. Beide
| |
| erscheinen als der Ausfluß eines Wesens, als notwendige
| |
| Stufen einer Entwicklung. Jede Ansicht, die der Kunst oder
| |
| dem Schönen eine isolierte Stellung außerhalb des Gesamtbildes
| |
| menschlicher Entwicklung anweist, widerstrebt ihm.
| |
| So sagt er: «Im Ästhetischen tut man nicht wohl, zu sagen:
| |
| die Idee des Schönen; dadurch vereinzelt man das Schöne,
| |
| das doch einzeln nicht gedacht werden kann»89 oder: «Der
| |
| Stil ruht auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf
| |
| dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren
| |
| und greif liehen Gestalten zu erkennen.>>90 Die Kunst beruht
| |
| also auf dem Erkennen. Das letztere hat die Aufgabe,
| |
| die Ordnung, nach der die Welt gefügt ist, im Gedanken
| |
| nachzuschaffen; die Kunst die, im einzelnen die Idee dieser
| |
| Ordnung des Weltganzen auszubilden. Alles, was dem
| |
| Künstler an Weltgesetzlichkeit erreichbar ist, das legt er in
| |
| sein Werk. Dies erscheint somit als eine Welt im kleinen.
| |
| Hierin liegt der Grund dafür, warum sich die Goethesche
| |
| Kunstrichtung durch Wissenschaft ergänzen muß. Sie ist
| |
| schon als Kunst ein Erkennen. Goethe wollte eben weder
| |
| 89 [«Sprüche in Prosa», Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 379.]
| |
| 90 [Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil, in: Schriften zur
| |
| Kunst 1788-1800.]
| |
| Wissenschaft noch Kunst; er wollte die Idee, Und diese
| |
| spricht er aus oder stellt er dar, nach der Seite, nach der sie
| |
| sich ihm gerade darbietet. Goethe suchte sich mit dem Weltgeiste
| |
| zu verbünden und uns dessen Walten zu offenbaren;
| |
| er tat es durch das Medium der Kunst oder der Wissenschaft,
| |
| je nach Erfordernis. Nicht einseitiges Kunst- oder
| |
| wissenschaftliches Streben lag in Goethe, sondern der rastlose
| |
| Drang, «alle Wirkenskraft und Samen» [WA Abt. I,
| |
| 14, 28] zu schauen.
| |
| Dabei ist Goethe doch kein philosophischer Dichter,
| |
| denn seine Dichtungen nehmen nicht den Umweg durch den
| |
| Gedanken zur sinnenfälligen Gestaltung; sondern sie strömen
| |
| unmittelbar aus der Quelle alles Werdens, wie seine
| |
| Forschungen nicht mit dichterischer Phantasie durchtränkt
| |
| sind, sondern unmittelbar auf dem Gewahrwerden der Ideen
| |
| beruhen. Ohne daß Goethe ein philosophischer Dichter ist,
| |
| erscheint seine Grundrichtung für den philosophischen Betrachter
| |
| als eine philosophische.
| |
| Damit nimmt die Frage, ob Goethes wissenschaftliche
| |
| Arbeiten philosophischen Wert haben oder nicht, eine
| |
| durchaus neue Gestalt an. Es handelt sich darum, von dem,
| |
| was vorliegt, zurück auf die Prinzipien zu schließen. Was
| |
| müssen wir voraussetzen, daß uns Goethes wissenschaftliche
| |
| Aufstellungen als Folge dieser Voraussetzungen erscheinen?
| |
| Wir müssen aussprechen, was Goethe unausgesprochen gelassen
| |
| hat, was aber allein seine Anschauungen verständlich
| |
| macht.
| |
| IX
| |
| GOETHES ERKENNTNISTHEORIE
| |
| Wir haben schon im vorigen Kapitel angedeutet, daß Goethes
| |
| wissenschaftliche Weltanschauung als abgeschlossenes
| |
| Ganzes, aus einem Prinzipe entwickelt, nicht vorliegt. Wir
| |
| haben es nur mit einzelnen Manifestationen zu tun, aus
| |
| denen wir sehen, wie sich dieser oder jener Gedanke im
| |
| Lichte seiner Denkweise ausnimmt. Es ist dies der Fall in
| |
| seinen wissenschaftlichen Werken, in den kurzen Andeutungen
| |
| über diesen oder jenen Begriff, wie er sie in den
| |
| «Sprüchen in Prosa» gibt, und in den Briefen an seine
| |
| Freunde. Die künstlerische Ausgestaltung seiner Weltanschauung
| |
| endlich, die uns ja auch die mannigfaltigsten
| |
| Rückschlüsse auf seine Grundideen gestattet, liegt uns in
| |
| seinen Dichtungen vor. Damit aber, daß wir rückhaltlos
| |
| zugeben, daß Goethes Grundprinzipien von ihm nie als
| |
| zusammenhängendes Ganzes ausgesprochen worden sind,
| |
| wollen wir durchaus nicht zugleich die Behauptung gerechtfertigt
| |
| finden, daß Goethes Weltanschauung nicht aus
| |
| einem ideellen Zentrum entspringt, das sich in eine streng
| |
| wissenschaftliche Fassung bringen läßt.
| |
| Wir müssen uns vor allem klar darüber sein, um was es
| |
| sich hierbei handelt. Was in Goethes Geist als das innere,
| |
| treibende Prinzip in allen seinen Schöpfungen wirkte, sie
| |
| durchdrang und belebte, konnte sich als solches, in seiner
| |
| Besonderheit nicht in den Vordergrund drängen. Eben weil
| |
| es bei Goethe alles durchdringt, konnte es nicht als einzelnes
| |
| zu gleicher Zeit vor sein Bewußtsein treten. Wäre das
| |
| letztere der Fall gewesen, dann hätte es als Abgeschlossenes,
| |
| Ruhendes vor seinen Geist treten müssen, anstatt daß
| |
| es, wie es wirklich der Fall war, stets ein Tätiges, Wirkendes
| |
| war. Dem Ausleger Goethes obliegt es, den mannigfachen
| |
| Betätigungen und Offenbarungen dieses Prinzipes,
| |
| seinem stetigen Flusse, zu folgen, um es dann in ideellen
| |
| Umrissen auch als abgeschlossenes Ganzes zu zeichnen.
| |
| Wenn es uns gelingt, den wissenschaftlichen Inhalt dieses
| |
| Prinzipes klar und bestimmt auszusprechen und allseitig
| |
| in wissenschaftlicher Folgerichtigkeit zu entwickeln, dann
| |
| werden uns die exoterischen Ausführungen Goethes erst in
| |
| ihrer wahren Beleuchtung erscheinen, weil wir sie als in
| |
| ihrer Entwicklung, von einem gemeinsamen Zentrum aus,
| |
| erblicken werden.
| |
| In diesem Kapitel soll uns Goethes Erkenntnistheorie
| |
| beschäftigen. Was die Aufgabe dieser Wissenschaft anlangt,
| |
| so ist leider seit Kant eine Verwirrung eingetreten, die wir
| |
| hier kurz andeuten müssen, bevor wir zu dem Verhältnisse
| |
| Goethes zu derselben übergehen.
| |
| Kant glaubte, die Philosophie vor ihm habe sich deshalb
| |
| auf einem Irrwege befunden, weil sie die Erkenntnis
| |
| des Wesens der Dinge anstrebte, ohne sich zuerst zu fragen,
| |
| wie eine solche Erkenntnis möglich sei. Er sah das
| |
| Grundübel alles Philosophierens vor ihm darin, daß man
| |
| über die Natur des zu erkennenden Objektes nachdachte,
| |
| bevor man das Erkennen selbst in bezug auf seine Fähigkeit
| |
| geprüft hatte. Diese letztere Prüfung machte er daher
| |
| zum philosophischen Grundproblem und inaugurierte damit
| |
| eine neue Ideenrichtung. Die auf Kant fußende Philosophie
| |
| hat seitdem unsägliche wissenschaftliche Kraft auf
| |
| die Beantwortung dieser Frage verwendet; und heute mehr
| |
| als je sucht man in philosophischen Kreisen der Lösung
| |
| dieser Aufgabe näherzukommen. Die Erkenntnistheorie
| |
| aber, die in der Gegenwart geradezu zur wissenschaftlichen
| |
| Zeitfrage geworden ist, soll nichts weiter sein als die ausführliche
| |
| Antwort auf die Frage: Wie ist Erkenntnis möglich?
| |
| Auf Goethe angewendet, würde dann die Frage heißen:
| |
| Wie dachte sich Goethe die Möglichkeit einer Erkenntnis?
| |
| Bei genauerem Zusehen stellt sich aber heraus, daß die
| |
| Beantwortung der gestellten Frage durchaus nicht an die
| |
| Spitze der Erkenntnistheorie gestellt werden darf. Wenn
| |
| ich nach der Möglichkeit eines Dinges frage, dann muß ich
| |
| vorher dasselbe erst untersucht haben. Wie aber, wenn sich
| |
| der Begriff der Erkenntnis, den Kant und seine Anhänger
| |
| haben, und von dem sie fragen, ob er möglich ist oder
| |
| nicht, selbst als durchaus unhaltbar erwiese, wenn er vor
| |
| einer eindringenden Kritik nicht standhalten könnte? Wenn
| |
| unser Erkenntnisprozeß etwas ganz anderes wäre als das
| |
| von Kant Definierte? Dann wäre die ganze Arbeit nichtig.
| |
| Kant hat den landläufigen Begriff des Erkennens angenommen
| |
| und nach seiner Möglichkeit gefragt. Nach diesem
| |
| Begriffe soll das Erkennen in einem Abbilden von außer
| |
| dem Bewußtsein stehenden, an sich bestehenden Seinsverhältnissen
| |
| bestehen. Man wird aber so lange über die
| |
| Möglichkeit der Erkenntnis nichts ausmachen können, als
| |
| man nicht die Frage nach dem Was des Erkennens selbst
| |
| beantwortet hat. Damit wird die Frage: Was ist das Erkennen?
| |
| zur ersten der Erkenntnistheorie gemacht. In bezug
| |
| auf Goethe wird es also unsere Aufgabe sein, zu zeigen,
| |
| was sich Goethe unter Erkennen vorstellte.
| |
| Die Bildung eines Einzelurteiles, die Feststellung einer
| |
| Tatsache oder Tatsachenreihe, die man nach Kant schon
| |
| Erkenntnis nennen könnte, ist im Sinne Goethes noch
| |
| durchaus nicht Erkennen. Er hätte sonst vom Stil nicht
| |
| gesagt, daß er auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis
| |
| beruhe und dadurch im Gegensatze zur einfachen Naturnachahmung
| |
| steht, bei welcher der Künstler sich an die
| |
| Gegenstände der Natur wendet, mit Treue und Fleiß ihre
| |
| Gestalten, ihre Farben auf das genaueste nachahmt, sich
| |
| gewissenhaft niemals von ihr entfernt. Dieses Entfernen
| |
| von der Sinnenwelt in ihrer Unmittelbarkeit ist bezeichnend
| |
| für Goethes Ansicht vom wirklichen Erkennen. Das
| |
| unmittelbar Gegebene ist die Erfahrung. Im Erkennen
| |
| schaffen wir aber ein Bild von dem unmittelbar Gegebenen,
| |
| das wesentlich mehr enthält, als was die Sinne, die
| |
| doch die Vermittler aller Erfahrung sind, liefern können.
| |
| Wir müssen, um im Goetheschen Sinne die Natur zu erkennen,
| |
| sie nicht in ihrer Tatsächlichkeit festhalten, sondern
| |
| sie muß sich im Prozesse des Erkennens als ein wesentlich
| |
| Höheres entpuppen, als was sie im ersten Gegenübertreten
| |
| erscheint. Die Millsche Schule nimmt an, alles,
| |
| was wir mit der Erfahrung tun können, sei ein bloßes Zusammenfassen
| |
| einzelner Dinge in Gruppen, die wir dann
| |
| als abstrakte Begriffe festhielten. Das ist kein wahres Erkennen.
| |
| Denn jene abstrakten Begriffe Mills haben keine
| |
| andere Aufgabe, als das zusammenzufassen, was sich den
| |
| Sinnen darbietet mit allen Qualitäten der unmittelbaren
| |
| Erfahrung. Ein wahres Erkennen muß zugeben, daß die
| |
| unmittelbare Gestalt der sinnenfällig-gegebenen Welt noch
| |
| nicht ihre wesentliche ist, sondern daß sich uns diese erst
| |
| im Prozesse des Erkennens enthüllt. Das Erkennen muß
| |
| uns das liefern, was uns die Sinnenerfahrung vorenthält,
| |
| was aber doch wirklich ist. Das Millsche Erkennen ist deshalb
| |
| kein wahrhaftes Erkennen, weil es nur ein ausgebildetes
| |
| sinnliches Erfahren ist. Es läßt die Dinge so, wie sie
| |
| Augen und Ohren liefern. Nicht das Gebiet des Erfahrbaren
| |
| sollen wir überschreiten und uns in ein Phantasiegebilde
| |
| verlieren, wie es die Metaphysiker älterer und neuerer
| |
| Zeit liebten, sondern wir sollen von der Gestalt des
| |
| Erfahrbaren, wie sie sich uns in dem für die Sinne Gegebenen
| |
| darstellt, zu einer solchen fortschreiten, die unsere
| |
| Vernunft befriedigt.
| |
| Es tritt nun die Frage an uns heran: Wie verhält sich
| |
| das unmittelbar Erfahrene zu dem im Prozesse des Erkennens
| |
| entstandenen Bild der Erfahrung? Wir wollen
| |
| diese Frage zuerst ganz selbständig beantworten und dann
| |
| zeigen, daß die Antwort, die wir geben, eine Konsequenz
| |
| der Goetheschen Weltanschauung ist.
| |
| Zunächst stellt sich uns die Welt als eine Mannigfaltigkeit
| |
| im Raum und in der Zeit dar. Wir nehmen räumlich
| |
| und zeitlich gesonderte Einzelheiten wahr: da diese Farbe,
| |
| dort jene Gestalt; jetzt diesen Ton, dann jenes Geräusch
| |
| usw. Nehmen wir zuerst ein Beispiel aus der unorganischen
| |
| Welt und sondern wir ganz genau das, was wir mit den
| |
| Sinnen wahrnehmen, ab von dem, was der Erkenntnisprozeß
| |
| liefert. Wir sehen einen Stein, der gegen eine Glastafel
| |
| fliegt, dieselbe durchbohrt und dann nach einer gewissen
| |
| Zeit zur Erde fällt. Wir fragen, was ist hier in unmittelbarer
| |
| Erfahrung gegeben? Eine Reihe aufeinanderfolgender
| |
| Gesichtswahrnehmungen, ausgehend von den
| |
| Orten, die der Stein nacheinander eingenommen hat, eine
| |
| Reihe von Schallwahrnehmungen beim Zerbrechen der
| |
| Scheibe, das Hinwegfliegen der Glasscherben usw. Wenn
| |
| man sich nicht täuschen will, so muß man sagen: der unmittelbaren
| |
| Erfahrung ist nichts weiter gegeben als dieses zusammenhangslose
| |
| Aggregat von Wahrnehmungsakten.
| |
| Dieselbe strenge Abgrenzung des unmittelbar Wahrgenommenen
| |
| (der sinnlichen Erfahrung) findet man auch bei
| |
| Volkelt in seiner ausgezeichneten Schrift «Kants Erkenntnistheorie
| |
| nach ihren Grundprinzipien analysiert» [Hamburg
| |
| 1879], die zu dem Besten gehört, was die neuere Philosophie
| |
| hervorgebracht hat. Es ist aber durchaus nicht
| |
| einzusehen, warum Volkelt die zusammenhangslosen Wahrnehmungsbilder
| |
| als Vorstellungen auffaßt und sich damit
| |
| von vornherein den Weg zu einer möglichen objektiven
| |
| Erkenntnis abschneidet. Die unmittelbare Erfahrung von
| |
| vornherein als ein Ganzes von Vorstellungen auffassen, ist
| |
| doch entschieden ein Vorurteil. Wenn ich irgendeinen Gegenstand
| |
| vor mir habe, so sehe ich an ihm Gestalt, Farbe,
| |
| ich nehme eine gewisse Harte an ihm wahr usw. Ob dieses
| |
| Aggregat von meinen Sinnen gegebenen Bildern ein außer
| |
| mir Liegendes, ob es bloßes Vorstellungsgebilde ist: ich
| |
| weiß es von vornherein nicht. So wenig ich von vornherein
| |
| - ohne denkende Erwägung - die Erwärmung des Steines
| |
| als Folge der erwärmenden Sonnenstrahlen erkenne,
| |
| so wenig weiß ich, in welcher Beziehung die mir gegebene
| |
| Welt zu meinem Vorstellungsvermögen steht. Volkelt stellt
| |
| an die Spitze der Erkenntnistheorie den Satz: «daß wir
| |
| eine Mannigfaltigkeit so und so beschaffener Vorstellungen
| |
| haben». Daß wir eine Mannigfaltigkeit gegeben haben,
| |
| ist richtig; aber woher wissen wir, daß diese Mannigfaltigkeit
| |
| aus Vorstellungen besteht? Volkelt tut in der Tat etwas
| |
| sehr Unstatthaftes, wenn er erst behauptet: wir müssen
| |
| festhalten, was uns in unmittelbarer Erfahrung gegeben ist,
| |
| und dann die Voraussetzung, die nicht gegeben sein kann,
| |
| macht, daß die Erfahrungswelt Vorstellungswelt ist. Wenn
| |
| wir eine solche Voraussetzung machen wie es die Volkeltsche
| |
| ist, dann sind wir sofort zur oben gekennzeichneten
| |
| falschen Fragestellung in der Erkenntnistheorie gezwungen.
| |
| Sind unsere Wahrnehmungen Vorstellungen, dann ist unser
| |
| gesamtes Wissen Vorstellungswissen und es entsteht die
| |
| Frage: Wie ist eine Übereinstimmung der Vorstellung mit
| |
| dem Gegenstande möglich, den wir vorstellen?
| |
| Wo aber hat je eine wirkliche Wissenschaft mit dieser
| |
| Frage etwas zu tun? Man betrachte die Mathematik! Sie
| |
| hat ein Gebilde vor sich, das durch den Schnitt dreier Geraden
| |
| entstanden ist: ein Dreieck. Die drei Winkel α, β, γ
| |
| stehen in einer konstanten Beziehung; sie machen zusammen
| |
| einen gestreckten Winkel oder zwei Rechte aus ( =
| |
| 180°). Das ist ein mathematisches Urteil. Wahrgenommen
| |
| sind die Winkel ο, β, γ. Auf Grund denkender Erwägung
| |
| stellt sich das obige Erkenntnisurteil ein. Es stellt einen Zusammenhang
| |
| dreier Wahrnehmungsbilder her. Von einem
| |
| Reflektieren auf irgendeinen hinter der Vorstellung des
| |
| Dreieckes stehenden Gegenstand ist nicht die Rede. Und
| |
| so machen es alle Wissenschaften. Sie spinnen Fäden von
| |
| Vorstellungsbild zu Vorstellungsbild, schaffen Ordnung
| |
| in dem, was der unmittelbaren Wahrnehmung ein Chaos
| |
| ist; nirgends aber kommt etwas außer dem Gegebenen in
| |
| Betracht. Wahrheit ist nicht Übereinstimmung einer Vorstellung
| |
| mit ihrem Gegenstande, sondern der Ausdruck
| |
| eines Verhältnisses zweier wahrgenommener Fakta.
| |
| Wir kommen auf unser Beispiel von dem geworfenen
| |
| Stein zurück. Wir verbinden die Gesichtswahrnehmungen,
| |
| die von den einzelnen Orten, an denen sich der Stein befindet,
| |
| ausgehen. Diese Verbindung gibt eine krumme Linie
| |
| (Wurflinie); wir erhalten das Gesetz des schiefen Wurfes;
| |
| wenn wir ferner die materielle Beschaffenheit des Glases
| |
| in Betracht ziehen, dann den fliegenden Stein als Ursache,
| |
| das Zerbrechen der Scheibe als Wirkung auffassen usw., so
| |
| haben wir das Gegebene mit Begriffen so durchtränkt, daß
| |
| es uns verständlich wird. Diese ganze Arbeit, welche die
| |
| Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung in eine begriffliche
| |
| Einheit zusammenfaßt, vollzieht sich innerhalb unseres
| |
| Bewußtseins. Der ideelle Zusammenhang der Wahrnehmungsbilder
| |
| ist nicht durch die Sinne gegeben, sondern von
| |
| unserem Geiste schlechterdings selbständig erfaßt. Für ein
| |
| mit bloßem sinnlichen Wahrnehmungsvermögen begabtes
| |
| Wesen wäre diese ganze Arbeit einfach nicht da. Es würde
| |
| für dasselbe die Außenwelt einfach jenes zusammenhangslose
| |
| Wahrnehmungschaos bleiben, das wir als das uns
| |
| zunächst (unmittelbar) Gegenübertretende charakterisiert
| |
| haben.
| |
| So ist also der Ort, wo die Wahrnehmungsbilder in ihrem
| |
| ideellen Zusammenhange erscheinen, wo den ersteren
| |
| der letztere als deren begriffliches Gegenbild entgegengehalten
| |
| wird, das menschliche Bewußtsein. Wenn nun auch
| |
| dieser begriffliche (gesetzliche) Zusammenhang seiner substantiellen
| |
| Beschaffenheit nach im Bewußtsein produziert
| |
| ist, so folgt daraus noch durchaus nicht, daß er auch seiner
| |
| Bedeutung nach nur subjektiv ist. Er entspringt vielmehr
| |
| ebensosehr seinem Inhalte nach aus der Objektivität, wie
| |
| er seiner begrifflichen Form nach aus dem Bewußtsein entspringt.
| |
| Er ist die notwendige objektive Ergänzung des
| |
| Wahrnehmungsbildes. Gerade deswegen, weil das Wahrnehmungsbild
| |
| ein unvollständiges, in sich unvollendetes ist, sind
| |
| wir gezwungen, demselben als sinnlicher Erfahrung die notwendige
| |
| Ergänzung hinzuzufügen. Wäre das unmittelbar
| |
| Gegebene sich selbst so weit genug, daß uns nicht an jedem
| |
| Punkte desselben ein Problem erwüchse, wir brauchten nimmermehr
| |
| über dasselbe hinauszugehen. Aber die Wahrnehmungsbilder
| |
| folgen durchaus nicht so aufeinander und auseinander,
| |
| daß wir sie selbst als gegenseitige Folgen voneinander
| |
| ansehen können; sie folgen vielmehr aus etwas anderem,
| |
| was der sinnlichen Auffassung verschlossen ist. Es tritt
| |
| ihnen das begriffliche Auffassen gegenüber und erfaßt
| |
| auch jenen Teil der Wirklichkeit, der den Sinnen verschlossen
| |
| bleibt. Das Erkennen wäre schlechterdings ein nutzloser
| |
| Prozeß, wenn in der Sinnenerfahrung uns ein Vollendetes
| |
| überliefert würde. Jedes Zusammenfassen, Ordnen,
| |
| Gruppieren der sinnenfälligen Tatsachen hätte keinerlei
| |
| objektiven Wert. Das Erkennen hat nur einen Sinn,
| |
| wenn wir die den Sinnen gegebene Gestalt nicht als eine
| |
| vollendete gelten lassen, wenn sie uns eine Halbheit ist,
| |
| die noch Höheres in sich birgt, was aber nicht mehr sinnlich
| |
| wahrnehmbar ist. Da tritt der Geist ein. Er nimmt
| |
| jenes Höhere wahr. Deshalb darf das Denken auch nicht
| |
| so gefaßt werden, als wenn es zu dem Inhalte der Wirklichkeit
| |
| etwas hinzubrächte. Es ist nicht mehr und nicht
| |
| weniger Organ des Wahrnehmens wie Auge und Ohr. So
| |
| wie jenes Farben, dieses Töne, so nimmt das Denken Ideen
| |
| wahr. Der Idealismus ist deshalb mit dem Prinzipe des
| |
| empirischen Forschens ganz gut vereinbar. Die Idee ist
| |
| nicht Inhalt des subjektiven Denkens, sondern Forschungsresultat.
| |
| Die Wirklichkeit tritt uns, indem wir uns ihr mit
| |
| offenen Sinnen entgegenstellen, gegenüber. Sie tritt uns in
| |
| einer Gestalt gegenüber, die wir nicht als ihre wahre ansehen
| |
| können; die letztere erreichen wir erst, wenn wir unser
| |
| Denken in Fluß bringen. Erkennen heißt: zu der halben
| |
| Wirklichkeit der Sinnenerfahrung die Wahrnehmung
| |
| des Denkens hinzufügen, auf daß ihr Bild vollständig
| |
| werde.
| |
| Es kommt alles darauf an, wie man sich das Verhältnis
| |
| von Idee und sinnenfälliger Wirklichkeit denkt. Unter der
| |
| letzteren will ich hier die Gesamtheit der durch die Sinne
| |
| dem Menschen vermittelten Anschauungen verstehen. Da
| |
| ist die am weitesten verbreitete Ansicht die, daß der Begriff
| |
| bloß ein dem Bewußtsein angehöriges Mittel sei,
| |
| durch das es sich der Daten der Wirklichkeit bemächtigt.
| |
| Das Wesen der Wirklichkeit liegt im Ansich der Dinge
| |
| selbst, so daß, wenn wir wirklich imstande wären, auf
| |
| den Urgrund der Dinge zu kommen, wir uns doch nur des
| |
| begrifflichen Abbildes desselben und keineswegs seiner
| |
| selbst bemächtigen könnten. Da sind also zwei ganz getrennte
| |
| Welten vorausgesetzt. Die objektive Außenwelt,
| |
| die ihr Wesen, die Gründe ihres Daseins in sich trägt und
| |
| die subjektiv-ideale Innenwelt, die ein begriffliches Abbild
| |
| der Außenwelt sein soll. Die letztere ist für das Objektive
| |
| ganz gleichgültig, sie wird von ihm nicht gefordert,
| |
| sie ist nur für den erkennenden Menschen da. Die Kongruenz
| |
| dieser beiden Welten würde das erkenntnistheoretische
| |
| Ideal dieser Grundansicht sein. Ich rechne zur letzteren
| |
| nicht nur die naturwissenschaftliche Richtung unserer
| |
| Zeit, sondern auch die Philosophie Kants, Schopenhauers
| |
| und der Neukantianer und nicht weniger die letzte Phase
| |
| der Philosophie Schellings. Alle diese Richtungen stimmen
| |
| darin überein, daß sie die Essenz der Welt in einem Transsubjektiven
| |
| suchen und von ihrem Standpunkte aus zugeben
| |
| müssen, daß die subjektiv-ideale Welt, die ihnen deshalb
| |
| auch bloße Vorstellungswelt ist, nichts für die Wirklichkeit
| |
| selbst, sondern einzig und allein etwas für das
| |
| menschliche Bewußtsein bedeutet.
| |
| Ich habe bereits angedeutet, daß diese Ansicht zu der
| |
| Konsequenz einer vollkommenen Kongruenz von Begriff
| |
| (Idee) und Anschauung führt. Was sich in der letzteren
| |
| vorfindet, müßte in ihrem begrifflichen Gegenbilde wieder
| |
| enthalten sein, nur in ideeller Form. Hinsichtlich des Inhaltes
| |
| müßten sich die beiden Welten vollständig decken.
| |
| Die Verhältnisse der räumlich-zeitlichen Wirklichkeit müßten
| |
| sich genau in der Idee wiederholen; nur daß statt der
| |
| wahrgenommenen Ausdehnung, Gestalt, Farbe usw. die
| |
| entsprechende Vorstellung vorhanden sein müßte. Wenn
| |
| ich z. B. ein Dreieck sehe, so müßte ich seine Umrisse, die
| |
| Größe, Richtung seiner Seiten usw. im Gedanken verfolgen
| |
| und mir eine begriffliche Photographie verfertigen.
| |
| Bei einem zweiten Dreiecke müßte ich genau dasselbe machen
| |
| und so bei jedem Gegenstande der äußeren und inneren
| |
| Sinnenwelt. Es würde sich so jedes Ding seinem Orte,
| |
| seinen Eigenschaften nach genau in meinem idealen Weltbilde
| |
| wiederfinden.
| |
| Wir müssen uns nun fragen: Entspricht diese Konsequenz
| |
| den Tatsachen? Ganz und gar nicht. Mein Begriff
| |
| des Dreieckes ist ein einziger, der alle einzelnen, angeschauten
| |
| Dreiecke umfaßt; und ich mag ihn noch so oft vorstellen,
| |
| er bleibt immer derselbe. Meine verschiedenen Vorstellungen
| |
| des Dreieckes sind alle miteinander identisch.
| |
| Ich habe überhaupt nur einen Begriff des Dreieckes.
| |
| In der Wirklichkeit stellt sich jedes Ding dar als ein
| |
| besonderes, vollbestimmtes «Dieses», dem ebenso vollbestimmte,
| |
| mit realer Wirklichkeit gesättigte «Jene» gegenüberstehen.
| |
| Dieser Mannigfaltigkeit tritt der Begriff als
| |
| strenge Einheit gegenüber. In ihm gibt es keine Besonderung,
| |
| keine Teile, er vervielfältigt sich nicht, ist, unendlich
| |
| oft vorgestellt, immer derselbe.
| |
| Es fragt sich nun: Was ist denn eigentlich der Träger
| |
| dieser Identität des Begriffes? Seine Erscheinungsform als
| |
| Vorstellung kann es in der Tat nicht sein, denn darin hatte
| |
| Berkeley wohl vollkommen recht, daß er behauptet, die
| |
| eine Vorstellung des Baumes von jetzt habe mit der desselben
| |
| Baumes in einer Minute darauf, wenn ich zwischen
| |
| beiden die Augen geschlossen halte, absolut nichts zu tun;
| |
| ebensowenig die verschiedenen Vorstellungen eines Gegenstandes
| |
| bei mehreren Individuen miteinander. Es kann die
| |
| Identität also nur im Inhalte der Vorstellung, in deren
| |
| Was liegen. Das Bedeutungsvolle, der Gehalt muß mir die
| |
| Identität verbürgen.
| |
| Damit fällt aber auch jene Ansicht, die dem Begriffe
| |
| oder der Idee allen selbständigen Inhalt abspricht. Dieselbe
| |
| glaubt nämlich, die begriffliche Einheit sei als solche
| |
| überhaupt ohne allen Inhalt; sie entstehe lediglich dadurch,
| |
| daß gewisse Bestimmungen in den Erfahrungsobjekten
| |
| hinweggelassen werden, das Gemeinsame hingegen
| |
| herausgehoben und unserem Intellekte einverleibt werde
| |
| behufs einer bequemen Zusammenfassung der Mannigfaltigkeit
| |
| der objektiven Wirklichkeit nach dem Prinzipe,
| |
| durch möglichst wenige allgemeine Einheiten - also nach
| |
| dem Prinzipe des kleinsten Kraftmaßes — die gesamte Erfahrung
| |
| mit dem Geiste zu umfassen. Neben der modernen
| |
| Naturphilosophie steht Schopenhauer auf diesem Standpunkte.
| |
| In seiner schroffsten und deshalb einseitigsten
| |
| Konsequenz aber wird er vertreten in dem Schriftchen von
| |
| Richard Avenarius: «Die Philosophie als Denken der Welt
| |
| gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena
| |
| zu einer Kritik der reinen Erfahrung» [Leipzig 1876].
| |
| Diese Ansicht beruht aber lediglich auf einer vollständigen
| |
| Verkennung nicht nur des Gehaltes des Begriffes,
| |
| sondern auch der Anschauung.
| |
| Um hier Klarheit zu schaffen, ist es notwendig, auf
| |
| den Grund zurückzugehen, der die Anschauung als ein Besonderes
| |
| dem Begriffe als einem Allgemeinen gegenüberstellt.
| |
| Man wird sich fragen müssen: Worinnen liegt denn eigentlich
| |
| das Charakteristikon des Besonderen? Ist dasselbe
| |
| begrifflich zu bestimmen? Können wir sagen: Diese begriffliche
| |
| Einheit muß in diese oder jene anschaulichen, besonderen
| |
| Mannigfaltigkeiten zerfallen? Nein, ist die ganz
| |
| bestimmte Antwort. Der Begriff selbst kennt die Besonderheit
| |
| gar nicht. Sie muß also in Elementen liegen, die dem
| |
| Begriffe als solchem gar nicht zugänglich sind. Nachdem
| |
| wir aber ein Zwischenglied zwischen Anschauung und Begriff
| |
| nicht kennen - wollte man nicht etwa Kants phantastisch-
| |
| mystische Schemen anführen, die aber heute doch
| |
| nur für Tändelei gelten können -,so müssen diese Elemente
| |
| der Anschauung selbst angehören. Der Grund der Besonderung
| |
| kann nicht aus dem Begriffe abgeleitet, sondern muß
| |
| innerhalb der Anschauung selbst gesucht werden. Das, was
| |
| die Besonderheit eines Objektes ausmacht, läßt sich nicht
| |
| begreifen, sondern nur anschauen, Darin liegt der Grund,
| |
| warum jede Philosophie scheitern muß, die aus dem Begriffe
| |
| selbst die ganze anschauliche Wirklichkeit ihrer Besonderheit
| |
| nach ableiten (deduzieren) will. Da liegt auch
| |
| der klassische Irrtum Fichtes, der die ganze Welt aus dem
| |
| Bewußtsein ableiten wollte.
| |
| Wer diese Unmöglichkeit aber der Idealphilosophie als
| |
| einen Mangel vorwirft und sie damit abfertigen will, der
| |
| handelt in der Tat um nichts vernünftiger als der Philosoph
| |
| [W. T.] Krug, ein Nachfolger Kants, der von der
| |
| Identitätsphilosophie forderte, sie solle ihm seine Schreibfeder
| |
| deduzieren.
| |
| Was die Anschauung wirklich wesentlich von der Idee
| |
| unterscheidet, ist eben dieses Element, das nicht in Begriffe
| |
| gebracht werden kann und das eben erfahren werden muß.
| |
| Dadurch stehen sich Begriff und Anschauung zwar als
| |
| wesensgleiche, jedoch verschiedene Seiten der Welt gegenüber.
| |
| Und da die letztere den ersteren fordert, wie wir dargelegt
| |
| haben, beweist sie, daß sie ihre Essenz nicht in ihrer
| |
| Besonderheit, sondern in der begrifflichen Allgemeinheit
| |
| hat. Diese Allgemeinheit muß aber der Erscheinung nach
| |
| im Subjekte erst aufgefunden werden; denn sie kann zwar
| |
| vom Subjekte an dem Objekte, nicht aber aus dem letzteren
| |
| gewonnen werden.
| |
| Der Begriff kann seinen Inhalt nicht aus der Erfahrung
| |
| entlehnen, denn er nimmt gerade das Charakteristische der
| |
| Erfahrung, die Besonderheit, nicht in sich auf. Alles, was
| |
| die letztere konstruiert, ist ihm fremd. Er muß sich also
| |
| selbst seinen Inhalt geben.
| |
| Man sagt gewöhnlich, das Erfahrungsobjekt sei individuell,
| |
| sei lebendige Anschauung, der Begriff dagegen abstrakt,
| |
| gegen die inhaltsvolle Anschauung arm, dürftig,
| |
| leer. Aber worin wird hier der Reichtum der Bestimmungen
| |
| gesucht? In der Zahl derselben, die eben bei der Unendlichkeit
| |
| des Raumes unendlich groß sein kann. Darum
| |
| ist aber der Begriff nicht weniger vollbestimmt. Die Zahl
| |
| von dort ist bei ihm durch Qualitäten ersetzt. So wie aber
| |
| im Begriffe sich die Zahl nicht findet, so fehlt der Anschauung
| |
| das Dynamisch-Qualitative der Charaktere. Der
| |
| Begriff ist ebenso individuell, ebenso inhaltsvoll wie die
| |
| Anschauung. Der Unterschied ist nur der, daß bei Erfassung
| |
| des Inhalts der Anschauung nichts notwendig ist als
| |
| offene Sinne, rein passives Verhalten der Außenwelt gegenüber,
| |
| während der ideelle Kern der Welt im Geiste
| |
| durch dessen eigenes spontanes Verhalten entstehen muß,
| |
| wenn er überhaupt zum Vorschein kommen soll. Es ist
| |
| eine ganz belanglose und müßige Redensart zu sagen: der
| |
| Begriff sei der Feind der lebendigen Anschauung. Er ist
| |
| ihr Wesen, das eigentlich treibende und wirkende Prinzip
| |
| in ihr, fügt zu ihrem Inhalte den seinen hinzu, ohne den
| |
| ersteren aufzuheben - denn er geht ihn als solcher nichts
| |
| an - und er sollte der Feind der Anschauung sein! Feind ist
| |
| er ihr nur, wenn eine sich selbst mißverstehende Philosophie
| |
| den ganzen, reichen Inhalt der Sinnenwelt aus der
| |
| Idee herausspinnen will. Denn sie liefert dann, statt der
| |
| lebendigen Natur, ein leeres Phrasenschema.
| |
| Nur auf die von uns angedeutete Weise kommt man zu
| |
| einer befriedigenden Erklärung dessen, was eigentlich Erfahrungswissen
| |
| ist. Die Notwendigkeit, zur begrifflichen
| |
| Erkenntnis fortzuschreiten, wäre schlechterdings nicht einzusehen,
| |
| wenn der Begriff nichts Neues zur sinnenfälligen
| |
| Anschauung hinzubrächte. Das reine Erfahrungswissen
| |
| dürfte keinen Schritt über die Millionen Einzelheiten hinausmachen,
| |
| die uns in der Anschauung vorliegen. Das reine
| |
| Erfahrungswissen muß konsequenterweise seinen eigenen
| |
| Inhalt negieren. Denn wozu im Begriffe noch einmal schaffen,
| |
| was in der Anschauung ja ohnehin vorhanden ist?
| |
| Der konsequente Positivismus müßte nach diesen Erwägungen
| |
| einfach jede wissenschaftliche Arbeit einstellen und
| |
| sich auf die bloßen Zufälligkeiten verlassen. Indem er das
| |
| nicht tut, führt er tatsächlich aus, was er theoretisch verneint.
| |
| Überhaupt gibt sowohl der Materialismus wie der
| |
| Realismus implicite zu, was wir behaupten. Deren Vorgehen
| |
| hat nur eine Berechtigung von unserem Standpunkte
| |
| aus, während es mit ihren eigenen theoretischen Grundanschauungen
| |
| im schreiendsten Widerspruche steht.
| |
| Von unserem Standpunkte aus erklärt sich die Notwendigkeit
| |
| wissenschaftlicher Erkenntnis und die Überschreitung
| |
| der Erfahrung ganz widerspruchslos. Als das zuerst
| |
| und unmittelbar Gegebene tritt uns die Sinnenwelt gegenüber;
| |
| sie sieht uns wie ein ungeheures Rätsel an, weil wir
| |
| das Treibende, Wirkende derselben in ihr selbst nimmermehr
| |
| finden können. Da tritt die Vernunft hinzu und hält
| |
| mit der idealen Welt der Sinnenwelt die prinzipielle Wesenheit
| |
| gegenüber, die die Lösung des Rätsels bildet. So
| |
| objektiv die Sinnenwelt, so objektiv sind diese Prinzipien.
| |
| Daß sie für die Sinne nicht, sondern nur für die Vernunft
| |
| zur Erscheinung kommen, ist für ihren Inhalt gleichgültig.
| |
| Gäbe es keine denkenden Wesen, so kämen diese Prinzipien
| |
| zwar niemals zur Erscheinung; sie wären deshalb
| |
| aber nicht minder die Essenz der Erscheinungswelt.
| |
| Damit haben wir der transzendenten Weltansicht Lokkes,
| |
| Kants, des späteren Schelling, Schopenhauers, Volkelts,
| |
| der Neukantianer und der modernen Naturforscher
| |
| eine wahrhaft immanente gegenübergestellt.
| |
| Jene suchen den Weltgrund in einem dem Bewußtsein
| |
| Fremden, Jenseitigen, die immanente Philosophie in dem,
| |
| was für die Vernunft zur Erscheinung kommt. Die transzendente
| |
| Weltansicht betrachtet die begriffliche Erkenntnis
| |
| als Bild der Welt, die immanente als die höchste Erscheinungsform
| |
| derselben. Jene kann daher nur eine formale
| |
| Erkenntnistheorie liefern, die sich auf die Frage gründet:
| |
| Welches ist das Verhältnis von Denken und Sein?
| |
| Diese stellt an die Spitze ihrer Erkenntnistheorie die Frage:
| |
| Was ist Erkennen? Jene geht von dem Vorurteil einer essentiellen
| |
| Differenz von Denken und Sein aus, diese geht
| |
| vorurteilslos auf das allein Gewisse, das Denken, los und
| |
| weiß, daß sie außer dem Denken kein Sein finden kann.
| |
| Fassen wir die an der Hand erkenntnistheoretischer Erwägungen
| |
| gewonnenen Resultate zusammen, so ergibt sich
| |
| folgendes: Wir haben von der völlig bestimmungslosen,
| |
| unmittelbaren Form der Wirklichkeit auszugehen, von
| |
| dem, was den Sinnen gegeben ist, bevor wir unser Denken
| |
| in Fluß bringen, von dem nur Gesehenen, nur Gehörten
| |
| usw. Es kommt darauf an, daß wir uns bewußt sind,
| |
| was uns die Sinne liefern und was das Denken. Die Sinne
| |
| sagen uns nicht, daß die Dinge in irgendeinem Verhältnisse
| |
| zueinander stehen, wie etwa, daß dieses Ursache,
| |
| jenes Wirkung ist. Für die Sinne sind alle Dinge gleich wesentlich
| |
| für den Weltenbau. Das gedankenlose Betrachten
| |
| weiß nicht, daß das Samenkorn auf einer höheren Stufe der
| |
| Vollkommenheit steht als das Staubkorn auf der Straße.
| |
| Für die Sinne sind beide gleichbedeutende Wesen, wenn
| |
| sie äußerlich gleich aussehen. Napoleon ist auf dieser Stufe
| |
| der Betrachtung nicht welthistorisch wichtiger als Hinz
| |
| oder Kunz im abgelegenen Gebirgsdorfe. Bis hierher ist die
| |
| Erkenntnistheorie von heute vorgedrungen. Daß sie aber
| |
| diese Wahrheiten keineswegs erschöpfend durchdacht hat,
| |
| das zeigt der Umstand, daß fast alle Erkenntnistheoretiker
| |
| den Fehler machen, diesem vorläufig unbestimmten und
| |
| bestimmungslosen Gebilde, dem wir auf der ersten Stufe
| |
| unseres Wahrnehmens gegenübertreten, sogleich das Prädikat
| |
| beizulegen, daß es Vorstellung sei. Das heißt doch
| |
| gegen die eigene, eben gewonnene Einsicht in der gröbsten
| |
| Weise verstoßen. So wenig wir, wenn wir bei der unmittelbaren
| |
| Sinnesauffassung stehen bleiben, wissen, daß der
| |
| fallende Stein die Ursache der Vertiefung an dem Orte ist,
| |
| wo er aufgefallen, so wenig wissen wir, daß er Vorstellung
| |
| ist. So wie wir zu jenem erst durch mannigfache Erwägungen
| |
| gelangen können, so könnten wir auch zu der Erkenntnis,
| |
| daß die uns gegebene Welt bloße Vorstellung sei, auch
| |
| wenn sie richtig wäre, nur durch Nachdenken kommen.
| |
| Ob das, was sie mir vermitteln, ein reales Wesen, ob es
| |
| bloß Vorstellung ist, darüber geben mir die Sinne keinen
| |
| Aufschluß. Die Sinnenwelt stellt sich uns gegenüber wie
| |
| aus der Pistole geschossen. Wir müssen, wenn wir sie in
| |
| ihrer Reinheit haben wollen, uns enthalten, ihr irgendein
| |
| charakterisierendes Prädikat beizulegen. Wir können nur
| |
| das eine sagen: Sie tritt uns gegenüber, sie ist uns gegeben.
| |
| Damit ist über sie selbst eben noch gar nichts ausgemacht.
| |
| Nur wenn wir so verfahren, versperren wir uns nicht den
| |
| Weg zu einer unbefangenen Beurteilung dieses Gegebenen.
| |
| Wenn wir ihm von vornherein ein Charakteristiken beilegen,
| |
| so hört diese Unbefangenheit auf. Wenn wir z. B.
| |
| sagen: das Gegebene sei Vorstellung, so kann die ganze
| |
| folgende Untersuchung nur unter dieser Voraussetzung geführt
| |
| werden. Wir lieferten auf diese Weise keine voraussetzungslose
| |
| Erkenntnistheorie, sondern wir beantworteten
| |
| die Frage: was ist Erkennen? unter der Voraussetzung,
| |
| daß das den Sinnen Gegebene Vorstellung ist. Das ist der
| |
| Grundfehler der Erkenntnistheorie Volkelts. Er stellt am
| |
| Beginne derselben in aller Strenge die Forderung auf, daß
| |
| die Erkenntnistheorie voraussetzungslos sein müsse. Er
| |
| stellt aber an die Spitze den Satz: daß wir eine Mannigfaltigkeit
| |
| von Vorstellungen haben. So ist seine Erkenntnistheorie
| |
| nur die Beantwortung der Frage: wie ist Erkennen
| |
| möglich unter der Voraussetzung, daß das Gegebene
| |
| eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen ist? Für uns wird
| |
| sich die Sache ganz anders stellen. Wir nehmen das Gegebene,
| |
| wie es ist: als Mannigfaltigkeit von - irgend etwas,
| |
| das sich uns selbst enthüllen wird, wenn wir uns von ihm
| |
| fortdrängen lassen. So haben wir Aussicht, zu einer objektiven
| |
| Erkenntnis zu gelangen, weil wir das Objekt selbst
| |
| sprechen lassen. Wir können hoffen, daß uns dieses Gebilde,
| |
| dem wir gegenüberstehen, alles enthüllt, wessen wir
| |
| bedürfen, wenn wir den freien Zutritt seiner Kundgebungen
| |
| zu unserem Urteilsvermögen nicht durch ein hemmendes
| |
| Vorurteil unmöglich machen. Denn selbst dann, wenn
| |
| uns die Wirklichkeit ewig rätselhaft bleiben sollte, hätte
| |
| eine solche Wahrheit nur Wert, wenn sie an der Hand der
| |
| Dinge gewonnen wäre. Völlig bedeutungslos aber wäre die
| |
| Behauptung: unser Bewußtsein sei so und so beschaffen,
| |
| deshalb können wir über die Dinge der Welt nicht ins klare
| |
| kommen. Ob unsere geistigen Kräfte ausreichen, das Wesen
| |
| der Dinge zu erfassen, müssen wir an diesen selbst erproben.
| |
| Ich kann die vollkommensten Geisteskräfte haben;
| |
| wenn die Dinge keinen Aufschluß über sich geben, so helfen
| |
| mir meine Anlagen nichts. Und umgekehrt, ich mag
| |
| wissen, daß meine Kräfte gering sind; ob sie nicht dennoch
| |
| hinreichen die Dinge zu erkennen, weiß ich deshalb
| |
| noch nicht.
| |
| Was wir weiter eingesehen haben, ist dieses: Das unmittelbar
| |
| Gegebene läßt uns in der charakterisierten Form
| |
| unbefriedigt. Es tritt uns wie eine Forderung, wie ein zu
| |
| lösendes Rätsel gegenüber. Es sagt uns: Ich bin da; aber so
| |
| wie ich dir da entgegentrete, bin ich nicht in meiner wahren
| |
| Gestalt. Indem wir diese Stimme von außen vernehmen,
| |
| indem wir uns bewußt werden, daß wir einer Halbheit,
| |
| einem Wesen gegenüberstehen, das uns seine bessere
| |
| Seite verbirgt, kündigt sich in unserem Innern die Tätigkeit
| |
| jenes Organes an, durch das wir über die andere Seite
| |
| des Wirklichen Aufschluß erlangen, durch das wir die
| |
| Halbheit zu einer Ganzheit zu ergänzen imstande sind.
| |
| Wir werden uns bewußt, daß wir das, was wir nicht
| |
| sehen, hören usw., durch das Denken ergänzen müssen.
| |
| Das Denken ist berufen, das Rätsel zu lösen, das uns die
| |
| Anschauung aufgibt.
| |
| Klarheit über dieses Verhältnis wird uns erst, wenn wir
| |
| untersuchen, warum wir von der anschaulichen Wirklichkeit
| |
| unbefriedigt, von der gedachten dagegen befriedigt
| |
| sind. Die anschauliche Wirklichkeit tritt uns als Fertiges
| |
| gegenüber. Es ist eben da; wir haben nichts dazu beigetragen,
| |
| daß es so ist. Wir fühlen uns daher einem fremden
| |
| Wesen gegenüber, das wir nicht produziert haben, ja bei
| |
| dessen Produktion wir nicht einmal gegenwärtig waren.
| |
| Wir stehen vor einem Gewordenen. Erfassen aber können
| |
| wir nur das, von dem wir wissen, wie es so geworden, wie
| |
| es zustande gekommen ist; wenn wir wissen, wo die Fäden
| |
| sind, an denen das hängt, was vor uns erscheint. Bei unserem
| |
| Denken ist das anders. Ein Gedankengebilde tritt mir
| |
| nicht gegenüber, ohne daß ich selbst an seinem Zustandekommen
| |
| mitwirke; es kommt nur so in das Feld meines
| |
| Wahrnehmens, daß ich es selbst aus dem dunklen Abgrund
| |
| der Wahrnehmungslosigkeit heraufhebe. Der Gedanke tritt
| |
| in mir nicht als fertiges Gebilde auf, wie die Sinneswahrnehmung,
| |
| sondern ich bin mir bewußt, daß, wenn ich ihn in
| |
| einer abgeschlossenen Form festhalte, ich ihn selbst auf
| |
| diese Form gebracht habe. Was mir vorliegt erscheint mir
| |
| nicht als erstes, sondern als letztes, als der Abschluß eines
| |
| Prozesses, der mit mir so verwachsen ist, daß ich immer
| |
| innerhalb seiner gestanden habe. Das aber ist es, was ich
| |
| bei einem Dinge, das in den Horizont meines Wahrnehmens
| |
| tritt, verlangen muß, um es zu begreifen. Es darf mir
| |
| nichts dunkel bleiben; es darf nichts als Abgeschlossenes
| |
| erscheinen; ich muß es selbst verfolgen bis zu jener Stufe,
| |
| wo es ein Fertiges geworden ist. Deshalb drängt uns die
| |
| unmittelbare Form der Wirklichkeit, die wir gewöhnlich
| |
| Erfahrung nennen, zu einer wissenschaftlichen Bearbeitung.
| |
| Wenn wir unser Denken in Fluß bringen, dann gehen
| |
| wir auf die uns zuerst verborgen gebliebenen Bedingungen
| |
| des Gegebenen zurück; wir arbeiten uns vom Produkt zur
| |
| Produktion empor, wir gelangen dazu, daß uns die Sinneswahrnehmung
| |
| auf dieselbe Weise durchsichtig wird wie
| |
| der Gedanke. Unser Erkenntnisbedürfnis wird so befriedigt.
| |
| Wir können also erst dann mit einem Dinge wissenschaftlich
| |
| abschließen, wenn wir das unmittelbar Wahrgenommene
| |
| mit dem Denken ganz (restlos) durchdrungen
| |
| haben. Ein Prozeß der Welt erscheint nur dann als von uns
| |
| ganz durchdrungen, wenn er unsere eigene Tätigkeit ist.
| |
| Ein Gedanke erscheint als der Abschluß eines Prozesses,
| |
| innerhalb dessen wir stehen. Das Denken ist aber der einzige
| |
| Prozeß, bei dem wir uns ganz innerhalb stellen können,
| |
| in dem wir aufgehen können. Daher muß der wissenschaftlichen
| |
| Betrachtung die erfahrene Wirklichkeit auf
| |
| dieselbe Weise als aus der Gedankenentwicklung hervorgehend
| |
| erscheinen, wie ein reiner Gedanke selbst. Das Wesen
| |
| eines Dinges erforschen heißt, im Zentrum der Gedankenwelt
| |
| einsetzen und aus diesem heraus arbeiten, bis uns
| |
| ein solches Gedankengebilde vor die Seele tritt, das uns
| |
| mit dem erfahrenen Dinge identisch erscheint. Wenn wir
| |
| von dem Wesen eines Dinges oder der Welt überhaupt
| |
| sprechen, so können wir also gar nichts anderes meinen,
| |
| als das Begreifen der Wirklichkeit als Gedanke, als Idee.
| |
| In der Idee erkennen wir dasjenige, woraus wir alles andere
| |
| herleiten müssen: das Prinzip der Dinge. Was die Philosophen
| |
| das Absolute, das ewige Sein, den Weltengrund,
| |
| was die Religionen Gott nennen, das nennen wir, auf
| |
| Grund unserer erkenntnistheoretischen Erörterungen: die
| |
| Idee. Alles, was in der Welt nicht unmittelbar als Idee erscheint,
| |
| wird zuletzt doch als aus ihr hervorgehend erkannt.
| |
| Was oberflächliche Betrachtung bar alles Anteils
| |
| an der Idee glaubt, leitet tieferes Denken aus ihr ab. Keine
| |
| andere Form des Daseins kann uns befriedigen, als die aus
| |
| der Idee hergeleitete. Nichts darf abseits stehen bleiben,
| |
| alles muß ein Teil des großen Ganzen werden, das die Idee
| |
| umspannt. Sie aber fordert kein Hinausgehen über sich
| |
| selbst. Sie ist die auf sich gebaute, in sich selbst festbegründete
| |
| Wesenheit. Das liegt nicht etwa darinnen, daß wir sie
| |
| in unserem Bewußtsein unmittelbar gegenwärtig haben.
| |
| Das liegt an ihr selbst. Wenn sie ihr Wesen nicht selbst ausspräche,
| |
| dann würde sie uns eben auch so erscheinen wie
| |
| die übrige Wirklichkeit: aufklärungsbedürftig. Das scheint
| |
| denn doch dem zu widersprechen, was wir oben sagten:
| |
| die Idee erschiene deshalb in einer uns befriedigenden
| |
| Form, weil wir bei ihrem Zustandekommen tätig mitwirken.
| |
| Das rührt aber nicht von der Organisation unseres
| |
| Bewußtseins her. Wäre die Idee nicht eine auf sich selbst
| |
| gebaute Wesenheit, so könnten wir ein solches Bewußtsein
| |
| gar nicht haben. Wenn etwas das Zentrum, aus dem es
| |
| entspringt, nicht in sich, sondern außer sich hat, so kann ich,
| |
| wenn es mir gegenübertritt, mich mit ihm nicht befriedigt
| |
| erklären, ich muß über dasselbe hinausgehen, eben zu
| |
| jenem Zentrum. Nur wenn ich auf etwas stoße, das nicht
| |
| über sich hinausweist, dann erlange ich das Bewußtsein:
| |
| jetzt stehst du innerhalb des Zentrums; hier kannst du
| |
| stehen bleiben. Mein Bewußtsein, daß ich innerhalb eines
| |
| Dinges stehe, ist nur die Folge von der objektiven Beschaffenheit
| |
| dieses Dinges, daß es sein Prinzip mit sich bringe.
| |
| Wir gelangen, indem wir uns der Idee bemächtigen, in den
| |
| Kern der Welt. Was wir hier erfassen, ist dasjenige, aus
| |
| dem alles hervorgeht. Wir werden mit diesem Prinzipe
| |
| eine Einheit; deshalb erscheint uns die Idee, die das Objektivste
| |
| ist, zugleich als das Subjektivste.
| |
| Die sinnenfällige Wirklichkeit ist uns ja gerade deshalb
| |
| so rätselhaft, weil wir ihr Zentrum nicht in ihr selbst finden.
| |
| Sie hört es auf zu sein, wenn wir erkennen, daß sie
| |
| mit der Gedankenwelt, die in uns zur Erscheinung kommt,
| |
| dasselbe Zentrum hat.
| |
| Dieses Zentrum kann nur ein einheitliches sein. Es muß
| |
| ja so sein, daß alles übrige darauf hinweist, als auf seinen
| |
| Erklärungsgrund. Gäbe es mehrere centra der Welt - mehrere
| |
| principia, aus denen die Welt zu erkennen wäre - und
| |
| wiese ein Gebiet der Wirklichkeit auf dieses, ein anderes
| |
| auf jenes Weltprinzip hin, dann wären wir, sobald wir uns
| |
| in einem Wirklichkeitsgebiet befänden, nur auf das eine
| |
| Zentrum hingewiesen. Es fiele uns gar nicht ein, noch nach
| |
| einem andern zu fragen. Nichts wüßte das eine Gebiet von
| |
| dem andern. Sie wären füreinander einfach nicht da. Es
| |
| hat deshalb gar keinen Sinn, von mehr als einer Welt zu
| |
| sprechen. Die Idee ist daher an allen Orten der Welt, in
| |
| allen Bewußtseinen eine und dieselbe. Daß es verschiedene
| |
| Bewußtseine gibt und jedes die Idee vorstellt, ändert
| |
| nichts an der Sache. Der Ideengehalt der Welt ist auf sich
| |
| selbst gebaut, in sich vollkommen. Wir erzeugen ihn nicht,
| |
| wir suchen ihn nur zu erfassen. Das Denken erzeugt ihn
| |
| nicht, sondern nimmt ihn wahr. Es ist nicht Produzent,
| |
| sondern Organ der Auffassung. So wie verschiedene Augen
| |
| einen und denselben Gegenstand sehen, so denken verschiedene
| |
| Bewußtseine einen und denselben Gedankeninhalt.
| |
| Die mannigfaltigen Bewußtseine denken ein und dasselbe;
| |
| sie nähern sich dem Einen nur von verschiedenen
| |
| Seiten. Deshalb erscheint es ihnen mannigfaltig modifiziert.
| |
| Diese Modifikation ist aber keine Verschiedenheit
| |
| der Objekte, sondern nur ein Auffassen unter andern Gesichtswinkeln.
| |
| Die Verschiedenheit der menschlichen Ansichten
| |
| ist ebenso erklärlich wie die Verschiedenheit, die
| |
| eine Landschaft für zwei an verschiedenen Orten befindliche
| |
| Beobachter aufweist. Wenn man nur überhaupt imstande
| |
| ist, bis zur Ideenwelt vorzudringen, so kann man
| |
| sicher sein, daß man zuletzt eine mit allen Menschen gemeinsame
| |
| Ideenwelt hat. Es kann sich dann höchstens noch
| |
| darum handeln, daß wir diese Welt auf recht einseitige
| |
| Weise erfassen, daß wir auf einem Standpunkte stehen,
| |
| wo sie uns gerade im ungünstigsten Lichte erscheint usw.
| |
| Der vollständig von allem Gedankeninhalt entblößten
| |
| Sinnenwelt stehen wir wohl niemals gegenüber. Höchstens
| |
| im ersten Kindesalter, wo vom Denken noch keine
| |
| Spur da ist, kommen wir der reinen Sinnesauffassung nahe.
| |
| Im gewöhnlichen Leben haben wir es mit einer Erfahrung
| |
| zu tun, die halb und halb von dem Denken durchtränkt
| |
| ist, die schon mehr oder weniger aus dem Dunkel des Anschauens
| |
| zur lichten Klarheit des geistigen Erfassens gehoben
| |
| erscheint. Die Wissenschaften arbeiten darauf hinaus,
| |
| diese Dunkelheit völlig zu überwinden und nichts in
| |
| der Erfahrung zu lassen, was nicht von dem Gedanken
| |
| durchsetzt würde. Was hat nun gegenüber den übrigen
| |
| Wissenschaften die Erkenntnistheorie für eine Aufgabe
| |
| erfüllt? Sie hat uns aufgeklärt über Zweck und Aufgabe
| |
| aller Wissenschaft. Sie hat uns gezeigt, welche Bedeutung
| |
| der Inhalt der einzelnen Wissenschaften hat. Unsere Erkenntnistheorie
| |
| ist die Wissenschaft von der Bestimmung
| |
| aller andern Wissenschaften. Sie hat uns aufgeklärt darüber,
| |
| daß das in den einzelnen Wissenschaften Gewonnene
| |
| der objektive Grund des Weltendaseins ist. Die Wissenschaften
| |
| gelangen zu einer Reihe von Begriffen; über die
| |
| eigentliche Aufgabe dieser Begriffe belehrt uns die Erkenntnistheorie.
| |
| Mit diesem charakteristischen Ergebnis
| |
| weicht unsere im Sinne der Goetheschen Denkweise gehaltene
| |
| Erkenntnistheorie von allen andern Erkenntnistheorien
| |
| der Gegenwart ab. Sie will nicht bloß einen formalen
| |
| Zusammenhang zwischen Denken und Sein feststellen;
| |
| sie will das erkenntnistheoretische Problem nicht bloß
| |
| logisch lösen, sie will zu einem positiven Resultat kommen.
| |
| Sie zeigt, was der Inhalt unseres Denkens ist; und sie findet,
| |
| daß dieses Was zugleich der objektive Weltinhalt ist.
| |
| So wird uns die Erkenntnistheorie zur bedeutungsvollsten
| |
| Wissenschaft für den Menschen. Sie klärt den Menschen
| |
| über sich selbst auf, sie zeigt ihm seine Stellung in der Welt;
| |
| sie ist damit ein Quell der Befriedigung für ihn. Sie sagt
| |
| ihm erst, wozu er berufen ist. Im Besitze ihrer Wahrheiten
| |
| fühlt sich der Mensch gehoben; sein wissenschaftliches Forschen
| |
| gewinnt eine neue Beleuchtung. Nun erst weiß er, daß
| |
| er mit dem Kern des Weltendaseins unmittelbarst verknüpft
| |
| ist, daß er diesen Kern, der allen übrigen Wesen verborgen
| |
| bleibt, enthüllt, daß in ihm der Weltgeist zur Erscheinung
| |
| kommt, daß dieser ihm innewohnt. Er sieht in sich selbst
| |
| den Vollender des Weltprozesses, er sieht, daß er berufen
| |
| ist, das zu vollenden, was die andern Kräfte der Welt nicht
| |
| vermögen, daß er der Schöpfung die Krone aufzusetzen
| |
| hat. Lehrt die Religion, daß Gott den Menschen nach seinem
| |
| Ebenbilde geschaffen hat, so lehrt uns unsere Erkenntnistheorie,
| |
| daß Gott die Schöpfung überhaupt nur bis zu
| |
| einem gewissen Punkte geführt hat. Da hat er den Menschen
| |
| entstehen lassen und dieser stellt sich, indem er sich selbst
| |
| erkennt und um sich blickt, die Aufgabe, fortzuwirken, zu
| |
| vollenden, was die Urkraft begonnen hat. Der Mensch vertieft
| |
| sich in die Welt und erkennt, was sich auf dem Boden,
| |
| der gelegt ist, weiter bauen läßt, er ersieht die Andeutung,
| |
| die der Urgeist gemacht hat und führt das Angedeutete aus.
| |
| So ist die Erkenntnistheorie zugleich die Lehre von der Bedeutung
| |
| und Bestimmung des Menschen; und sie löst diese
| |
| Aufgabe (von der «Bestimmung des Menschen») in viel
| |
| bestimmterer Weise als dies Fichte am Wendepunkte des
| |
| 18. und 19. Jahrhunderts getan hat. Man gelangt durch die
| |
| Gedankengestaltung dieses starken Geistes durchaus nicht
| |
| zu jener vollen Befriedigung, die uns durch eine echte Erkenntnistheorie
| |
| werden muß.
| |
| Wir haben allem einzelnen Dasein gegenüber die Aufgabe,
| |
| es zu bearbeiten, so daß es als von der Idee ausfließend
| |
| erscheint, daß es als einzelnes ganz verflüchtigt und
| |
| aufgeht in der Idee, in deren Element wir uns versetzt fühlen.
| |
| Unser Geist hat die Aufgabe, sich so auszubilden, daß
| |
| er imstande ist, alle ihm gegebene Wirklichkeit in der Art
| |
| zu durchschauen, wie sie von der Idee ausgehend erscheint.
| |
| Wir müssen uns als fortwährende Arbeiter erweisen in dem
| |
| Sinne, daß wir jedes Erfahrungsobjekt umgestalten, so daß
| |
| es als Teil unseres ideellen Weltbildes auftritt. Damit sind
| |
| wir da angekommen, wo die Goethesche Weltbetrachtungsweise
| |
| einsetzt. Wir müssen das Gesagte so anwenden, daß
| |
| wir uns vorstellen, das von uns dargestellte Verhältnis von
| |
| Idee und Wirklichkeit sei im Goetheschen Forschen Tat;
| |
| Goethe geht den Dingen so zu Leibe, wie wir es gerechtfertigt
| |
| haben. Er sieht ja selbst sein inneres Wirken als eine
| |
| lebendige Heuristik an, die, eine unbekannte geahnete Regel
| |
| (die Idee) anerkennend, solche in der Außenwelt zu
| |
| finden und in der Außenwelt einzuführen trachtet («Sprüche
| |
| in Prosa», Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 374). Wenn
| |
| Goethe fordert, daß der Mensch seine Organe belehren soll
| |
| («Sprüche in Prosa», ebenda S. 350), so hat das auch nur den
| |
| Sinn, daß der Mensch sich nicht einfach dem hingibt, was
| |
| ihm seine Sinne überliefern, sondern er gibt seinen Sinnen
| |
| die Richtung, daß sie ihm die Dinge im rechten Lichte zeigen.
| |
| X
| |
| WISSEN UND HANDELN IM LICHTE
| |
| DER GOETHESCHEN DENKWEISE
| |
| 1. Methodologie
| |
| Wir haben das Verhältnis von der durch das wissenschaftliche
| |
| Denken gewonnenen Ideenwelt und der unmittelbar
| |
| gegebenen Erfahrung festgestellt- Wir haben Anfang und
| |
| Ende eines Prozesses kennen gelernt: Ideenentblößte Erfahrung
| |
| und ideenerfüllte Wirklichkeitsauffassung. Zwischen
| |
| beiden liegt aber menschliche Tätigkeit. Der Mensch
| |
| hat tätig das Ende aus dem Anfang hervorgehen zu lassen.
| |
| Die Art, wie er das tut, ist die Methode. Es ist nun selbstverständlich,
| |
| daß unsere Auffassung jenes Verhältnisses
| |
| von Anfang und Ende der Wissenschaft auch eine eigentümliche
| |
| Methode bedingen wird. Wovon werden wir bei
| |
| Entwicklung derselben auszugehen haben? Das wissenschaftliche
| |
| Denken muß sich Schritt für Schritt als ein
| |
| Überwinden jener dunklen Wirklichkeitsform ergeben, die
| |
| wir als unmittelbar Gegebenes bezeichnet haben, und ein
| |
| Heraufheben desselben in die lichte Klarheit der Idee. Die
| |
| Methode wird also darinnen bestehen müssen, daß wir bei
| |
| jeglichem Dinge die Frage beantworten: Welchen Anteil
| |
| hat es für die einheitliche Ideenwelt; welche Stelle nimmt
| |
| es in dem ideellen Bilde ein, das ich mir von der Welt
| |
| mache? Wenn ich das eingesehen habe, wenn ich erkannt
| |
| habe, wie ein Ding sich an meine Ideen anschließt, dann ist
| |
| mein Erkenntnisbedürfnis befriedigt. Für das letztere gibt
| |
| es nur ein Nichtbefriedigendes: wenn mir ein Ding gegenübertritt,
| |
| das sich nirgends an die von mir vertretene Anschauung
| |
| anschließen will. Das ideelle Unbehagen muß
| |
| überwunden werden, das daraus fließt, daß es irgend etwas
| |
| gibt, von dem ich mir sagen müßte: ich sehe, es ist da; wenn
| |
| ich ihm gegenübertrete, sieht es mich wie ein Fragezeichen
| |
| an; aber ich finde nirgends in der Harmonie meiner Gedanken
| |
| den Punkt, wo ich es einreihen könnte; die Fragen,
| |
| die ich in Ansehung seiner stellen muß, bleiben unbeantwortet;
| |
| ich mag mein Gedankensystem drehen und wenden,
| |
| wie ich will. Daraus ersehen wir, wessen wir in Ansehung
| |
| eines jeden Dinges bedürfen. Wenn ich ihm gegenübertrete,
| |
| starrt es mich als einzelnes an. In mir drängt die
| |
| Gedankenwelt jenem Punkte zu, wo der Begriff des Dinges
| |
| liegt. Ich ruhe nicht eher, bis das, was mir zuerst als
| |
| einzelnes gegenübergetreten ist, als Glied innerhalb der Gedankenwelt
| |
| erscheint. So löst sich das einzelne als solches
| |
| auf und erscheint in einem großen Zusammenhange. Jetzt
| |
| ist es von der andern Gedankenmasse beleuchtet, jetzt ist
| |
| es dienendes Glied; und es ist mir völlig klar, was es innerhalb
| |
| der großen Harmonie zu bedeuten hat. Das geht in
| |
| uns vor, wenn wir einem Gegenstande der Erfahrung betrachtend
| |
| gegenübertreten. Aller Fortschritt der Wissenschaft
| |
| beruht auf dem Gewahrwerden des Punktes, wo sich
| |
| irgend eine Erscheinung in die Harmonie der Gedankenwelt
| |
| eingliedern läßt. Man darf das nicht mißverstehen. Es
| |
| kann nicht so gemeint sein, als wenn jede Erscheinung durch
| |
| die hergebrachten Begriffe erklärbar sein müsse; als ob
| |
| unsere Ideenwelt abgeschlossen wäre und alles neu zu erfahrende
| |
| sich mit irgendeinem Begriffe, den wir schon
| |
| besitzen, decken müsse. Jenes Drängen der Gedankenwelt
| |
| kann auch zu einem Punkte hingehen, der bisher überhaupt
| |
| noch von keinem Menschen gedacht worden ist. Und das
| |
| ideelle Fortschreiten der Geschichte der Wissenschaft beruht
| |
| gerade darauf, daß das Denken neue Ideengebilde an
| |
| die Oberfläche wirft. Jedes solche Gedankengebilde hängt
| |
| mit tausend Fäden mit allen andern möglichen Gedanken
| |
| zusammen. Mit diesem Begriffe in dieser, mit einem andern
| |
| in einer andern Weise. Und darinnen besteht die wissenschaftliche
| |
| Methode, daß wir den Begriff einer einzelnen
| |
| Erscheinung in seinem Zusammenhange mit der übrigen
| |
| Ideenwelt aufzeigen. Wir nennen diesen Vorgang: Ableiten
| |
| (Beweisen) des Begriffes. Alles wissenschaftliche Denken
| |
| besteht aber nur darinnen, daß wir die bestehenden Übergänge
| |
| von Begriff zu Begriff finden, besteht in dem Hervorgehenlassen
| |
| eines Begriffes aus dem andern. Hin- und
| |
| Herbewegung unseres Denkens von Begriff zu Begriff, das
| |
| ist wissenschaftliche Methode. Man wird sagen, das sei ja
| |
| die alte Geschichte von der Korrespondenz von Begriffswelt
| |
| und Erfahrungswelt. Wir müßten voraussetzen, daß
| |
| die Welt außer uns (das Transsubjektive) unserer Begriffswelt
| |
| korrespondiere, wenn wir glauben sollen, daß das Hinund
| |
| Hergehen von Begriff zu Begriff zu einem Bilde der
| |
| Wirklichkeit führe. Das ist aber nur eine verfehlte Auffassung
| |
| des Verhältnisses von Einzelgebilde und Begriff. Wenn
| |
| ich einem Gebilde der Erfahrungswelt gegenübertrete, so
| |
| weiß ich überhaupt gar nicht, was es ist. Erst, wenn ich es
| |
| überwunden, wenn mir sein Begriff aufgeleuchtet hat, dann
| |
| weiß ich, was ich vor mir habe. Das will doch aber nicht
| |
| sagen, daß jenes Einzelgebilde und der Begriff zwei verschiedene
| |
| Dinge sind. Nein, sie sind dasselbe; und was mir
| |
| im besonderen gegenübertritt, ist nichts als der Begriff.
| |
| Der Grund, warum ich jenes Gebilde als abgesondertes,
| |
| von der andern Wirklichkeit getrenntes Stück sehe, ist eben
| |
| der, daß ich es seiner Wesenheit nach noch nicht erkenne,
| |
| daß es mir noch nicht als das entgegentritt, was es ist. Daraus
| |
| ergibt sich das Mittel, unsere wissenschaftliche Methode
| |
| weiter zu charakterisieren. Jedes einzelne Wirklichkeitsgebilde
| |
| repräsentiert innerhalb des Gedankensystems
| |
| einen bestimmten Inhalt. Es ist in der Allheit der Ideenwelt
| |
| begründet und kann nur im Zusammenhange mit ihr begriffen
| |
| werden. So muß notwendig jedes Ding zu einer doppelten
| |
| Denkarbeit auffordern. Zuerst ist der Gedanke in scharfen
| |
| Konturen festzustellen, der ihm entspricht, und hernach
| |
| sind alle Fäden festzustellen, die von diesem Gedanken zur
| |
| Gesamt-Gedankenwelt führen. Klarheit im einzelnen und
| |
| Tiefe im ganzen sind die zwei bedeutendsten Erfordernisse
| |
| der Wirklichkeit. Jene ist Sache des Verstandes, diese Sache
| |
| der Vernunft. Der Verstand schafft Gedankengebilde für
| |
| die einzelnen Dinge der Wirklichkeit. Er entspricht seiner
| |
| Aufgabe um so mehr, je genauer er dieselben umgrenzt, je
| |
| schärfere Konturen er zieht. Die Vernunft hat dann diese
| |
| Gebilde in die Harmonie der gesamten Ideenwelt einzureihen.
| |
| Das setzt natürlich folgendes voraus: In dem Inhalte
| |
| der Gedankengebilde, die der Verstand schafft, ist jene
| |
| Einheit schon, lebt schon ein und dasselbe Leben; nur hält
| |
| der Verstand alles künstlich auseinander. Die Vernunft
| |
| hebt, ohne die Klarheit zu verwischen, nur die Trennung
| |
| wieder auf. Der Verstand entfernt uns von der Wirklichkeit,
| |
| die Vernunft führt uns auf sie wieder zurück. Graphisch
| |
| wird sich das so darstellen:
| |
| In dem umstehenden Gebilde hängt alles zusammen;
| |
| es lebt in allen Teilen dasselbe Prinzip. Der Verstand
| |
| schafft die Trennung der einzelnen Gebilde, weil sie uns
| |
| ja in dem Gegebenen als einzelne gegenübertreten91, und die
| |
| Vernunft erkennt die Einheitlichkeit.92 Wenn wir folgende
| |
| zwei Wahrnehmungen haben: 1. die einfallenden Sonnenstrahlen
| |
| und 2. einen erwärmten Stein, so hält der Verstand
| |
| die beiden Dinge auseinander, weil sie uns als zwei gegenübertreten;
| |
| er hält das eine als Ursache, das andere als Wirkung
| |
| fest; dann tritt die Vernunft hinzu, reißt die Scheidewand
| |
| nieder und erkennt die Einheit in der Zweiheit. Alle
| |
| Begriffe, die der Verstand schafft: Ursache und Wirkung,
| |
| Substanz und Eigenschaft, Leib und Seele, Idee und Wirklichkeit,
| |
| Gott und Welt usw. sind nur da, um die einheitliche
| |
| Wirklichkeit künstlich auseinanderzuhalten; und die
| |
| Vernunft hat, ohne den damit geschaffenen Inhalt zu verwischen,
| |
| ohne die Klarheit des Verstandes mystisch zu verdunkeln,
| |
| in der Vielheit die innere Einheit aufzusuchen.
| |
| Sie kommt damit auf das zurück, wovon sich der Verstand
| |
| entfernt hat, auf die einheitliche Wirklichkeit. Will man
| |
| eine genaue Nomenklatur haben, so nenne man die Verstandsgebilde
| |
| Begriffe, die Vernunftschöpfungen Ideen.
| |
| Und man sieht, daß der Weg der Wissenschaft ist: sich
| |
| durch den Begriff zur Idee zu erheben. Und hier ist der
| |
| 91 Diese Trennung ist durch die absondernden ganz ausgezogenen Linien
| |
| charakterisiert.
| |
| 92 Dieselbe ist durch die punktierten Linien versinnlicht.
| |
| Ort, wo sich uns in der klarsten Weise das subjektive und
| |
| das objektive Element unseres Erkennens auseinanderlegen.
| |
| Es ist ersichtlich, daß die Trennung nur subjektiven Bestand
| |
| hat, nur durch unsern Verstand geschaffen ist. Es
| |
| kann mich nicht hindern, daß ich ein und dieselbe objektive
| |
| Einheit in Gedankengebilde zerlege, die von denen meines
| |
| Mitmenschen verschieden sind; das hindert nicht, daß
| |
| meine Vernunft in der Verbindung wieder zu derselben
| |
| objektiven Einheit gelangt, von der wir ja beide ausgegangen
| |
| sind. Das einheitliche Wirklichkeitsgebilde sei sinnbildlich
| |
| dargestellt [Figur 1]. Ich trenne es verstandesgemäß
| |
| so, wie Fig. 2; ein anderer anders, wie Fig. 3. Wir fassen
| |
| Fig. 1 Fig. 2 Fig. 3
| |
| es vernunftgemäß zusammen und erhalten dasselbe Gebilde.
| |
| Damit wird es uns erklärlich, wie die Menschen so
| |
| verschiedene Begriffe, so verschiedene Anschauungen von
| |
| der Wirklichkeit haben können, trotzdem diese doch nur
| |
| eine sein kann. Die Verschiedenheit liegt in der Verschiedenheit
| |
| unserer Verstandeswelten. Damit verbreitet sich für uns
| |
| ein Licht über die Entwicklung verschiedener wissenschaftlicher
| |
| Standpunkte. Wir begreifen, woher die vielfachen
| |
| philosophischen Standpunkte kommen, und haben nicht nötig,
| |
| ausschließlich einer die Palme der Wahrheit zuzuerkennen.
| |
| Wir wissen auch, welchen Standpunkt wir selbst gegenüber
| |
| der Vielheit menschlicher Anschauungen einzunehmen
| |
| haben. Wir werden nicht ausschließlich fragen: Was ist
| |
| wahr, was ist falsch? Wir werden immer untersuchen, in
| |
| welcher Art die Verstandeswelt eines Denkers aus der Weltharmonie
| |
| hervorgeht; wir werden zu begreifen suchen und
| |
| nicht aburteilen und sogleich als Irrtum ansehen, was mit
| |
| der eigenen Auffassung nicht übereinstimmt. Zu diesem
| |
| Quell der Verschiedenheit unserer wissenschaftlichen Standpunkte
| |
| tritt dadurch ein neuer, daß jeder einzelne Mensch
| |
| ein anderes Erfahrungsfeld hat. Es tritt ja jedem aus der gesamten
| |
| Wirklichkeit gleichsam ein Ausschnitt gegenüber.
| |
| Diesen bearbeitet sein Verstand, und der ist ihm der Vermittler
| |
| auf dem Wege zur Idee. Wenn wir also auch alle dieselbe
| |
| Idee wahrnehmen, so ist das doch immer auf andern
| |
| Gebieten der Fall. Es kann also nur das Endresultat, zu dem
| |
| wir kommen, dasselbe sein; die Wege hingegen können verschieden
| |
| sein. Es kommt überhaupt gar nicht darauf an, daß
| |
| die einzelnen Urteile und Begriffe, aus denen sich unser
| |
| Wissen zusammensetzt, übereinstimmen, sondern nur darauf,
| |
| daß sie uns zuletzt dahin führen, daß wir in dem Fahrwasser
| |
| der Idee schwimmen. Und in diesem Fahrwasser
| |
| müssen sich zuletzt alle Menschen treffen, wenn sie energisches
| |
| Denken über ihren Sonderstandpunkt hinausführt.
| |
| Es kann ja möglich sein, daß uns eine beschränkte Erfahrung
| |
| oder ein unproduktiver Geist zu einer einseitigen, unvollständigen
| |
| Ansicht führt; aber selbst die geringste Summe
| |
| dessen, was wir erfahren, muß uns zuletzt zur Idee führen;
| |
| denn zur letzteren erheben wir uns nicht durch eine
| |
| mehr oder weniger große Erfahrung, sondern allein durch
| |
| unsere Fähigkeiten als menschliche Persönlichkeit. Eine beschränkte
| |
| Erfahrung kann nur zur Folge haben, daß wir
| |
| die Idee in einseitiger Weise aussprechen, daß wir über geringe
| |
| Mittel verfügen, das Licht, das in uns leuchtet, zum
| |
| Ausdruck zu bringen; sie kann uns aber nicht überhaupt
| |
| hindern, jenes Licht in uns aufgehen zu lassen. Ob unsere
| |
| wissenschaftliche oder überhaupt Weltansicht auch vollständig
| |
| sei, das ist neben der nach ihrer geistigen Tiefe
| |
| eine ganz andere Frage. Wenn man nun an Goethe wieder
| |
| herantritt, so wird man viele seiner Darlegungen, mit unseren
| |
| Ausführungen in diesem Kapitel zusammengehalten,
| |
| als einfache Konsequenzen der letzteren erkennen. Dieses
| |
| Verhältnis halten wir für das einzig richtige zwischen Autor
| |
| und Ausleger. Wenn Goethe sagt: «Kenne ich mein Verhältnis
| |
| zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's
| |
| Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben
| |
| und es ist doch immer dieselbige» («Sprüche in Prosa»;
| |
| Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 349), so ist das nur mit Voraussetzung
| |
| dessen, was wir hier entwickelt haben, zu verstehen.
| |
| 2. Dogmatische und immanente Methode
| |
| Ein wissenschaftliches Urteil kommt dadurch zustande, daß
| |
| wir entweder zwei Begriffe oder eine Wahrnehmung und
| |
| einen Begriff verbinden. Von der ersteren Art ist das Urteil:
| |
| Keine Wirkung ohne Ursache; von der letzteren: Die
| |
| Tulpe ist eine Pflanze. Das tägliche Leben erkennt dann
| |
| auch noch Urteile, wo Wahrnehmung mit Wahrnehmung
| |
| verbunden wird, z. B.: Die Rose ist rot. Wenn wir ein Urteil
| |
| vollziehen, so geschieht dies aus diesem oder jenem
| |
| Grunde. Nun kann es über diesen Grund zwei verschiedene
| |
| Ansichten geben. Die eine nimmt an, daß die sachlichen
| |
| (objektiven) Gründe, warum das Urteil, das wir
| |
| vollziehen, wahr ist, jenseits dessen liegen, was uns in den
| |
| in das Urteil eingehenden Begriffen oder Wahrnehmungen
| |
| gegeben ist. Der Grund, warum ein Urteil wahr ist, fällt
| |
| nach dieser Ansicht nicht zusammen mit den subjektiven
| |
| Gründen, aus denen wir dieses Urteil fällen. Unsere logischen
| |
| Gründe haben nach dieser Ansicht mit den objektiven
| |
| nichts zu tun. Es kann sein, daß diese Ansicht irgendeinen
| |
| Weg vorschlägt, um zu den objektiven Gründen unserer
| |
| Einsicht zu kommen; die Mittel, die unser erkennendes
| |
| Denken hat, reichen dazu nicht aus. Für das Erkennen
| |
| liegt die meine Behauptungen bedingende objektive Wesenheit
| |
| in einer mir unbekannten Welt; die Behauptung mit
| |
| ihren formellen Gründen (Widerspruchslosigkeit, Stützung
| |
| durch verschiedene Axiome usw.) allein in der meinigen.
| |
| Eine Wissenschaft, die auf dieser Anschauung beruht, ist
| |
| eine dogmatische. Eine solche dogmatische Wissenschaft ist
| |
| sowohl die theologisierende Philosophie, die sich auf den
| |
| Offenbarungsglauben stützt, als auch die moderne Erfahrungswissenschaft;
| |
| denn es gibt nicht nur ein Dogma der
| |
| Offenbarung, es gibt auch ein Dogma der Erfahrung. Das
| |
| Dogma der Offenbarung überliefert dem Menschen Wahrheiten
| |
| über Dinge, die seinem Gesichtskreise völlig entzogen
| |
| sind. Er kennt die Welt nicht, über die ihm die fertigen Behauptungen
| |
| zu glauben vorgeschrieben wird. Er kann an
| |
| die Gründe der letzteren nicht herankommen. Er kann daher
| |
| nie eine Einsicht gewinnen, warum sie wahr sind. Er
| |
| kann kein Wissen, nur einen Glauben gewinnen. Dagegen
| |
| sind aber auch die Behauptungen jener Erfahrungswissenschaft
| |
| bloße Dogmen, die da glaubt, daß man bei der bloßen,
| |
| reinen Erfahrung stehen bleiben soll und nur deren
| |
| Veränderungen beobachten, beschreiben und systematisch
| |
| zusammenstellen soll, ohne sich zu den in der bloßen unmittelbaren
| |
| Erfahrung noch nicht gegebenen Bedingungen
| |
| zu erheben. Wir gewinnen ja die Wahrheit auch in diesem
| |
| Falle nicht durch die Einsicht in die Sache, sondern sie
| |
| wird uns von außen aufgedrängt. Ich sehe, was vorgeht
| |
| und da ist, und registriere es; warum das so ist, das liegt im
| |
| Objekte. Ich sehe nur die Folge, nicht den Grund. Das
| |
| Dogma der Offenbarung beherrschte ehedem die Wissenschaft,
| |
| heute tut es das Dogma der Erfahrung. Ehedem galt
| |
| es als Vermessenheit, über die Gründe der geoffenbarten
| |
| Wahrheiten nachzudenken; heute gilt es als Unmöglichkeit,
| |
| anderes zu wissen, als was die Tatsachen aussprechen. Das
| |
| «Warum sie so und nicht anders sprechen» gilt als unerfahrbar
| |
| und deshalb unerreichbar.
| |
| Unsere Ausführungen haben gezeigt, daß die Annahme
| |
| eines Grundes, warum ein Urteil wahr ist, neben dem, warum
| |
| wir es als wahr anerkennen, ein Unding ist. Wenn wir
| |
| bis zu dem Punkte vordringen, wo uns die Wesenheit einer
| |
| Sache als Idee aufgeht, so erblicken wir in der letzteren
| |
| etwas völlig in sich Abgeschlossenes, etwas sich selbst Stützendes
| |
| und Tragendes, das gar keine Erklärung von außen
| |
| mehr fordert, so daß wir dabei stehenbleiben können. Wir
| |
| sehen an der Idee - wenn wir nur die Fähigkeit dazu haben-,
| |
| daß sie alles, was sie konstituiert, in sich selber hat, daß
| |
| wir mit ihr alles haben, wonach gefragt werden kann. Der
| |
| gesamte Seinsgrund ist in der Idee aufgegangen, hat sich in
| |
| sie ergossen, rückhaltlos, so daß wir ihn nirgends als in ihr
| |
| zu suchen haben. In der Idee haben wir nicht ein Bild von
| |
| dem, was wir zu den Dingen suchen; wir haben dieses Gesuchte
| |
| selbst. Indem die Teile unserer Ideenwelt in den Urteilen
| |
| zusammenfließen, ist es der eigene Inhalt derselben,
| |
| der das bewirkt, nicht Gründe, die außerhalb liegen. In
| |
| unserem Denken sind die sachlichen und nicht bloß die
| |
| formellen Gründe für unsere Behauptungen unmittelbar
| |
| gegenwärtig.
| |
| Damit ist die Ansicht abgewiesen, welche eine außerideelle
| |
| absolute Realität annimmt, von denen alle Dinge
| |
| einschließlich des Denkens selbst, getragen werden. Für
| |
| diese Weltansicht kann der Grund zu dem Bestehenden
| |
| überhaupt nicht in dem uns Erreichbaren gefunden werden.
| |
| Er ist der uns vorliegenden Welt nicht eingeboren, er ist
| |
| außerhalb ihrer vorhanden; ein Wesen für sich, das neben
| |
| ihr besteht. Diese Ansicht kann man Realismus nennen. Sie
| |
| tritt in zwei Formen auf. Sie nimmt entweder eine Vielzahl
| |
| von realen Wesen an, die der Welt zum Grunde liegen (Leibniz,
| |
| Herbart), oder ein einheitliches Reales (Schopenhauer).
| |
| Ein solches Seiendes kann nie als mit der Idee identisch erkannt
| |
| werden; es ist schon als wesens verschieden von ihr
| |
| vorausgesetzt. Wer sich des klaren Sinnes der Frage nach
| |
| dem Wesen der Erscheinungen bewußt wird, kann ein Anhänger
| |
| dieses Realismus nicht sein. Was hat es denn für
| |
| einen Sinn, nach dem Wesen der Welt zu fragen? Es hat
| |
| gar keinen andern Sinn, als daß, wenn ich einem Dinge
| |
| gegenübertrete, sich in mir eine Stimme geltend macht, die
| |
| mir sagt, daß das Ding letzten Endes noch etwas ganz anderes
| |
| ist, als was ich sinnfällig wahrnehme. Das, was es
| |
| noch ist, arbeitet schon in mir, drängt in mir zur Erscheinung,
| |
| während ich das Ding außer mir erblicke. Nur weil
| |
| die in mir arbeitende Ideenwelt mich drängt, die mich umgebende
| |
| Welt aus ihr zu erklären, fordere ich eine solche
| |
| Erklärung. Für ein Wesen, in dem sich keine Ideen emporarbeiten,
| |
| ist der Drang, die Dinge noch weiter zu erklären.
| |
| nicht da; sie sind an der sinnfälligen Erscheinung vollbefriedigt.
| |
| Die Forderung nach Erklärung der Welt geht hervor
| |
| aus dem Bedürfnisse des Denkens, den für letzteres erreichbaren
| |
| Inhalt mit der erscheinenden Wirklichkeit in
| |
| eins zu verschmelzen, alles begrifflich zu durchdringen; das
| |
| was wir sehen, hören usw., zu einem solchen zu machen, das
| |
| wir verstehen. Wer diese Sätze ihrer vollen Tragweite nach
| |
| in Erwägung zieht, kann unmöglich ein Anhänger des oben
| |
| charakterisierten Realismus sein. Die Welt durch ein Reales,
| |
| das nicht Idee ist, erklären zu wollen, ist ein solcher
| |
| Widerspruch, daß man gar nicht begreift, wie es überhaupt
| |
| möglich ist, daß er Anhänger gewinnen konnte. Das uns
| |
| wahrnehmbare Wirkliche durch irgend etwas zu erklären,
| |
| was sich innerhalb des Denkens gar nicht geltend macht, ja
| |
| was grundsätzlich verschieden von dem Gedanklichen sein
| |
| soll, können wir weder das Bedürfnis haben, noch ist ein
| |
| solches Beginnen möglich. Erstens: Woher sollen wir das
| |
| Bedürfnis haben, die Welt durch etwas zu erklären, das
| |
| sich uns nirgends aufdrängt, das sich uns verbirgt? Und
| |
| nehmen wir an, es trete uns entgegen, dann entsteht wieder
| |
| die Frage: in welcher Form und wo? Im Denken kann es
| |
| doch nicht sein. Und selbst wieder in der äußeren oder inneren
| |
| Wahrnehmung? Was soll es denn dann für einen Sinn
| |
| haben, die Sinneswelt durch qualitativ Gleichstehendes zu
| |
| erklären. Bliebe nur noch ein Drittes: die Annahme, wir
| |
| hätten ein Vermögen, das außergedankliche und realste
| |
| Wesen auf anderem Wege als durch Denken und Wahrnehmung
| |
| zu erreichen. Wer diese Annahme macht, ist in
| |
| den Mystizismus verfallen. Wir haben uns mit ihm nicht zu
| |
| befassen; denn uns geht nur das Verhältnis von Denken und
| |
| Sein, von Idee und Wirklichkeit an. Für den Mystizismus
| |
| muß ein Mystiker eine Erkenntnistheorie schreiben. Der
| |
| Standpunkt des späteren Schelling, wonach wir mit Hilfe
| |
| unserer Vernunft nur das Was des Weltinhaltes entwickeln,
| |
| nicht aber das Daß erreichen können, erscheint uns als das
| |
| größte Unding. Denn für uns ist das Daß die Voraussetzung
| |
| des Was, und wir wüßten nicht, wie wir zu dem Was
| |
| eines Dinges kommen sollten, dessen Daß nicht vorher
| |
| schon sichergestellt wäre. Das Daß wohnt doch dem Inhalt
| |
| meiner Vernunft schon inne, indem ich sein Was ergreife.
| |
| Diese Annahme Schellings, daß wir einen positiven Weltinhalt
| |
| haben können, ohne die Überzeugung, daß er existiere,
| |
| und daß wir dieses Daß erst durch höhere Erfahrung
| |
| gewinnen müssen, erscheint uns vor einem sich selbst verstehenden
| |
| Denken so unbegreiflich, daß wir annehmen
| |
| müssen, Schelling habe in seiner späteren Zeit den Standpunkt
| |
| seiner Jugend, der auf Goethe einen so mächtigen
| |
| Eindruck machte, selbst nicht mehr verstanden.*
| |
| Es geht nicht an, höhere Daseinsformen anzunehmen als
| |
| die, welche der Ideenwelt zukommen. Nur weil der Mensch
| |
| oft nicht imstande ist, zu begreifen, daß das Sein der Idee
| |
| ein weit höheres, volleres ist als das der wahrgenommenen
| |
| Wirklichkeit, sucht er noch eine weitere Realität. Er hält
| |
| das Ideen-Sein für ein Chimärenhaftes, der Durchtränkung
| |
| mit dem Realen Entbehrendes und ist damit nicht zufrieden.
| |
| Er kann eben die Idee in ihrer Positivität nicht erfassen,
| |
| er hat sie nur als Abstraktes; er ahnt ihre Fülle, ihre
| |
| innere Vollendetheit und Gediegenheit nicht. Wir müssen
| |
| aber an die Bildung die Anforderung stellen, daß sie sich
| |
| hinaufarbeite bis zu jenem höheren Standpunkt, wo auch
| |
| ein Sein, das nicht mit Augen gesehen, nicht mit Händen
| |
| gegriffen, sondern mit der Vernunft erfaßt werden muß,
| |
| als Reales angesehen wird. Wir haben also eigentlich einen
| |
| Idealismus begründet, der Realismus zugleich ist. Unser
| |
| Gedankengang ist: das Denken drängt nach Erklärung der
| |
| Wirklichkeit aus der Idee. Es verbirgt dieses Drängen in
| |
| die Frage: Was ist das Wesen der Wirklichkeit? Nach dem
| |
| Inhalt dieses Wesens selbst fragen wir erst am Ende der
| |
| Wissenschaft, wir machen es nicht wie der Realismus, der
| |
| ein Reales voraussetzt, um daraus dann die Wirklichkeit
| |
| abzuleiten. Wir unterscheiden uns von dem Realismus
| |
| durch das volle Bewußtsein davon, daß wir ein Mittel, die
| |
| Welt zu erklären, nur in der Idee haben. Auch der Realismus
| |
| hat nur dieses Mittel, aber er weiß es nicht. Er leitet
| |
| die Welt aus Ideen ab, aber er glaubt, er leite sie aus einer
| |
| anderen Realität her. Leibnizens Monadenwelt ist nichts
| |
| als eine Ideenwelt; aber Leibniz glaubt in ihr eine höhere
| |
| Realität als eine ideelle zu besitzen. Alle Realisten machen
| |
| den gleichen Fehler: sie sinnen Wesen aus und werden nicht
| |
| gewahr, daß sie aus der Idee nicht herauskommen. Wir haben
| |
| diesen Realismus abgewiesen, weil er sich über die
| |
| Ideenwesenheit seines Weltgrundes täuscht; wir haben aber
| |
| auch jenen falschen Idealismus abzuweisen, der da glaubt,
| |
| weil wir über die Idee nicht hinauskommen, kommen wir
| |
| über unser Bewußtsein nicht hinaus, und es seien alle uns
| |
| gegebenen Vorstellungen und alle Welt nur subjektiver
| |
| Schein, nur ein Traum, den unser Bewußtsein träumt
| |
| (Fichte). Diese Idealisten begreifen wieder nicht, daß, obzwar
| |
| wir über die Idee nicht hinauskommen, wir doch in
| |
| der Idee das Objektive haben, das in sich selbst und nicht
| |
| im Subjekt Gegründete. Sie bedenken nicht, daß, wenn wir
| |
| auch nicht aus der Einheitlichkeit des Denkens hinauskommen,
| |
| wir mit dem vernünftigen Denken mitten in die volle
| |
| Objektivität hineinkommen. Die Realisten hegreifen nicht,
| |
| daß das Objektive Idee ist, die Idealisten nicht, daß die
| |
| Idee ohjektiv ist.
| |
| Wir haben uns noch mit den Empiristen des Sinnenfälligen
| |
| zu beschäftigen, die jedes Erklären des Wirklichen
| |
| durch die Idee als eine unstatthafte philosophische Deduktion
| |
| ansehen und das Stehenbleiben beim Sinnlich-Faßbaren
| |
| fordern. Gegen diesen Standpunkt können wir einfach
| |
| das sagen, daß seine Forderung doch nur eine methodische,
| |
| nur eine formelle sein kann. Wir sollen beim Gegebenen
| |
| stehen bleiben, heißt doch nur: wir sollen uns das aneignen,
| |
| was uns gegenübertritt. Über das Was desselben kann dieser
| |
| Standpunkt am allerwenigsten etwas ausmachen; denn dieses
| |
| Was muß ihm eben von dem Gegebenen selbst kommen.
| |
| Wie man mit der Forderung der reinen Erfahrung zugleich
| |
| fordern kann, nicht über die Sinnenwelt hinauszugehen,
| |
| da doch die Idee ebenso die Forderung des Gegebenseins erfüllen
| |
| kann, ist uns völlig unbegreiflich. Das positivistische
| |
| Erfahrungsprinzip muß die Frage ganz offen lassen, was
| |
| gegeben ist, und vereinigt sich somit ganz gut mit einem
| |
| idealistischen Forschungsresultat. Dann aber ist diese Forderung
| |
| ebenfalls mit der unseren zusammenfallend. Und
| |
| wir vereinigen in unserer Ansicht alle Standpunkte, insofern
| |
| sie Berechtigung haben. Unser Standpunkt ist Idealismus,
| |
| weil er in der Idee den Weltgrund sieht; er ist Realismus,
| |
| weil er die Idee als das Reale anspricht; und er ist Positivismus
| |
| oder Empirismus, weil er zu dem Inhalt der Idee
| |
| nicht durch apriorische Konstruktion, sondern zu ihm als
| |
| einem Gegebenen kommen will. Wir haben eine empirische
| |
| Methode, die in das Reale dringt und sich im idealistischen
| |
| Forschungsresultat zuletzt befriedigt. Ein Schließen von
| |
| einem Gegebenen als einem Bekannten auf ein zugrunde
| |
| liegendes Nicht-Gegebenes, Bedingendes kennen wir nicht.
| |
| Einen Schluß, wo irgendein Glied des Schlusses nicht gegeben
| |
| ist, weisen wir ab. Das Schließen ist nur ein Übergehen
| |
| von gegebenen Elementen zu anderen ebenso gegebenen.
| |
| Wir verbinden im Schlusse a mit b durch c; aber
| |
| alles das muß gegeben sein. Wenn Volkelt sagt, unser Denken
| |
| drängt uns dazu, zu dem Gegebenen eine Voraussetzung
| |
| zu machen und es zu überschreiten, so sagen wir: in
| |
| unserem Denken drängt uns schon das, was wir zu dem
| |
| unmittelbar Gegebenen hinzufügen wollen. Wir müssen
| |
| daher jede Metaphysik abweisen. Die Metaphysik will ja
| |
| das Gegebene durch ein Nicht-Gegebenes, Erschlossenes erklären
| |
| (Wolff, Herbart). Wir sehen in dem Schließen nur
| |
| eine formelle Tätigkeit, die zu nichts Neuem führt, die nur
| |
| Übergänge zwischen Positiv-Vorliegendem herbeiführt.*
| |
| 3. System der Wissenschaft
| |
| Welche Gestalt hat die fertige Wissenschaft im Lichte der
| |
| Goetheschen Denkweise? Vor allem müssen wir festhalten,
| |
| daß der gesamte Inhalt der Wissenschaft ein Gegebenes ist;
| |
| teils gegeben als Sinnenwelt von außen, teils als Ideenwelt
| |
| von innen. Alle unsere wissenschaftliche Tätigkeit wird
| |
| also darinnen bestehen, die Form, in der uns dieser Gesamtinhalt
| |
| des Gegebenen gegenübertritt, zu überwinden
| |
| und zu einer uns befriedigenden zu machen. Dies ist notwendig,
| |
| weil die innerliche Einheitlichkeit des Gegebenen
| |
| in der ersten Form des Auftretens, wo uns nur die äußere
| |
| Oberfläche erscheint, verborgen bleibt. Nun stellt sich diese
| |
| methodische Tätigkeit, die einen solchen Zusammenhang
| |
| herstellt, verschieden heraus, je nach den Erscheinungsgebieten,
| |
| die wir bearbeiten. Der erste Fall ist folgender:
| |
| Wir haben eine Mannigfaltigkeit von sinnenfällig gegebenen
| |
| Elementen. Diese stehen miteinander in Wechselbeziehung.
| |
| Diese Wechselbeziehung wird uns klar, wenn
| |
| wir uns ideell in die Sache vertiefen. Dann erscheint uns
| |
| irgendeines der Elemente durch die andern mehr oder weniger
| |
| und in dieser oder jener Weise bestimmt. Die Daseinsverhältnisse
| |
| des einen werden uns durch die des andern
| |
| begreiflich. Wir leiten die eine Erscheinung aus der andern
| |
| ab. Die Erscheinung des erwärmten Steines leiten wir als
| |
| Wirkung von den erwärmenden Sonnenstrahlen, als der
| |
| Ursache, ab. Was wir an dem einen Dinge wahrnehmen,
| |
| haben wir da erklärt, wenn wir es aus einem andern wahrnehmbaren
| |
| ableiten. Wir sehen, in welcher Weise auf diesem
| |
| Gebiete das ideelle Gesetz auftritt. Es umspannt die
| |
| Dinge der Sinnen weit, steht über ihnen. Es bestimmt die
| |
| gesetzmäßige Wirkungsweise des einen Dinges, indem sie
| |
| sie durch ein anderes bedingt sein läßt. Wir haben hier die
| |
| Aufgabe, die Reihe der Erscheinungen so zusammenzustellen,
| |
| daß eine aus der andern mit Notwendigkeit hervorgeht,
| |
| daß sie alle ein Ganzes, durch und durch Gesetzmäßiges
| |
| ausmachen. Das Gebiet, das in dieser Weise zu erklären
| |
| ist, ist die unorganische Natur. Nun treten uns in
| |
| der Erfahrung die einzelnen Erscheinungen keineswegs so
| |
| gegenüber, daß das Nächste im Raum und in der Zeit auch
| |
| das Nächste dem innern Wesen nach ist. Wir müssen erst
| |
| von dem räumlich und zeitlich Nächsten zu dem begrifflich
| |
| Nächsten übergehen. Wir müssen zu einer Erscheinung
| |
| die dem Wesen nach sich unmittelbar an sie anschließenden
| |
| suchen. Wir müssen trachten, eine sich selbst ergänzende,
| |
| sich tragende, sich gegenseitig stützende Reihe von Tatsachen
| |
| zusammenzustellen. Daraus gewinnen wir eine
| |
| Gruppe von aufeinander wirkenden sinnenfälligen Elementen
| |
| der Wirklichkeit; und das Phänomen, das sich vor uns
| |
| abwickelt, folgt unmittelbar aus den in Betracht kommenden
| |
| Faktoren in durchsichtiger, klarer Weise. Ein solches
| |
| Phänomen nennen wir mit Goethe Urphänomen oder
| |
| Grundtatsache. Dieses Urphänomen ist identisch mit dem
| |
| objektiven Naturgesetz. Die hier besprochene Zusammenstellung
| |
| kann entweder bloß in Gedanken geschehen, wie
| |
| wenn ich die drei bei einem waagrecht geworfenen Stein in
| |
| Betracht kommenden bedingenden Faktoren denke: 1. die
| |
| Stoßkraft, 2. die Anziehungskraft der Erde und 3. den
| |
| Luftwiderstand, und dann die Bahn des fliegenden Steines
| |
| aus diesen Faktoren ableite, oder aber: ich kann die einzelnen
| |
| Faktoren wirklich zusammenbringen und dann das
| |
| aus ihrer Wechselwirkung folgende Phänomen abwarten.
| |
| Das ist beim Versuche der Fall. Während uns ein Phänomen
| |
| der Außenwelt unklar ist, weil wir nur das Bedingte (die
| |
| Erscheinung), nicht die Bedingung kennen, ist uns das Phänomen,
| |
| das der Versuch liefert, klar, denn wir haben die
| |
| bedingenden Faktoren selbst zusammengestellt. Das ist der
| |
| Weg der Naturforschung, daß sie von der Erfahrung ausgehe,
| |
| um zu sehen, was wirklich ist; zu der Beobachtung
| |
| fortschreite, um zu sehen, warum dieses wirklich ist, und
| |
| sich dann zum Versuche steigere, um zu sehen, was wirklieh
| |
| sein kann. -
| |
| Leider scheint gerade jener Aufsatz Goethes verloren
| |
| gegangen zu sein, der diesen Ansichten am besten zur Stütze
| |
| dienen könnte. Er ist eine Fortsetzung des Aufsatzes: «Der
| |
| Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt» gewesen.
| |
| Wir wollen, von dem letzteren ausgehend, den möglichen
| |
| Inhalt des ersteren nach der einzigen uns zugänglichen
| |
| Quelle, dem Briefwechsel Goethes und Schillers, zu rekonstruieren
| |
| suchen. Der Aufsatz: «Der Versuch usw....» ist
| |
| hervorgegangen aus jenen Studien Goethes, die er anstellte,
| |
| um seine optischen Arbeiten zu rechtfertigen. Er ist dann
| |
| liegen geblieben, bis der Dichter im Jahre 1798 diese Studien
| |
| mit frischer Kraft aufnahm und in Gemeinschaft mit
| |
| Schiller die Grundprinzipien der naturwissenschaftlichen
| |
| Methode einer gründlichen und von allem wissenschaftlichen
| |
| Ernst getragenen Untersuchung unterzog. Am 10.
| |
| Januar 1798 (siehe Goethes Briefwechsel mit Schiller)
| |
| schickte er nun den oben erwähnten Aufsatz an Schiller zur
| |
| Erwägung und am 13. Januar kündigt er dem Freunde an,
| |
| daß er willens sei, die dort ausgesprochenen Ansichten in
| |
| einem neuen Aufsatze weiter auszuarbeiten. Dieser Arbeit
| |
| unterzog er sich auch und schon am 17. Januar ging ein
| |
| kleiner Aufsatz an Schiller ab, der eine Charakteristik der
| |
| Methoden der Naturwissenschaft enthalten hat. Dieser
| |
| Aufsatz findet sich nun in den Werken nicht. Er wäre unstreitig
| |
| derjenige, der für die Würdigung von Goethes
| |
| Grundanschauungen über die naturwissenschaftliche Methode
| |
| die besten Anhaltspunkte gewährte. Wir können aber
| |
| die Gedanken, die in demselben niedergelegt sind, aus dem
| |
| ausführlichen Briefe Schillers vom 19. Januar 1798 (Briefwechsel
| |
| Goethes mit Schiller) erkennen, wobei in Betracht
| |
| kommt, daß wir zu dem daselbst Angedeuteten vielfache
| |
| Belege und Ergänzungen in Goethes «Sprüchen in Prosa»
| |
| finden.*93
| |
| 93 Vgl. Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 593, Anm.: «In meiner EinGoethe
| |
| unterscheidet drei Methoden der naturwissenschaftlichen
| |
| Forschung. Dieselben beruhen auf drei verschiedenen
| |
| Auffassungen der Phänomene. Die erste Methode
| |
| ist der gemeine Empirismus, der nicht über das empirische
| |
| Phänomen, über den unmittelbaren Tatbestand
| |
| hinausgeht. Er bleibt bei einzelnen Erscheinungen stehen.
| |
| Will der gemeine Empirismus konsequent sein, so muß er
| |
| seine ganze Tätigkeit darauf beschränken, jedes ihm aufstoßende
| |
| Phänomen genau nach allen Einzelheiten zu beschreiben,
| |
| d. i. den empirischen Tatbestand aufzunehmen.
| |
| Wissenschaft wäre ihm nur die Summe aller dieser Einzelbeschreibungen
| |
| aufgenommener Tatbestände. Gegenüber
| |
| dem gemeinen Empirismus bildet nun der Rationalismus
| |
| die nächst höhere Stufe. Dieser geht auf das wissenschaftliche
| |
| Phänomen. Diese Anschauung beschränkt sich nicht
| |
| mehr auf die bloße Beschreibung der Phänomene, sondern
| |
| sie sucht dieselben durch Aufdeckung der Ursachen, durch
| |
| Aufstellung von Hypothesen usw. zu erklären. Es ist die
| |
| Stufe, wo der Verstand aus den Erscheinungen auf deren
| |
| leitung S. XXXVIII zum 34. Bande dieser Goethe-Ausgabe sagte
| |
| ich: Leider scheint der Aufsatz verlorengegangen zu sein, der den
| |
| Ansichten Goethes über Erfahrung, Versuch und wissenschaftliches
| |
| Erkennen zur besten Stütze dienen könnte. Er ist aber nicht verlorengegangen,
| |
| sondern hat sich in der obigen Form im Goethe-Archiv
| |
| gefunden. (Vgl. Weim. Goethe-Ausgabe II. Abt. Band 11, S. 38 ff.)
| |
| Er trägt das Datum 15. Januar 1798 und ist am 17. an Schiller gesandt
| |
| worden. Er stellt sich als Fortsetzung des Aufsatzes: <Der
| |
| Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt> dar. Ich habe den
| |
| Gedankengang des Aufsatzes aus dem Goethe-Schillerschen Briefwechsel
| |
| entnommen und in genannter Einleitung S. XXXIX f. genau
| |
| in der Weise angegeben, die sich jetzt vorgefunden hat. Inhaltlich
| |
| wird durch den Aufsatz zu meinen Ausführungen nichts hinzugefügt;
| |
| wohl aber wird meine aus Goethes übrigen Arbeiten gewonnene
| |
| Ansicht über seine Methode und Erkenntnisweise in allen Punkten
| |
| bestätigt.»
| |
| Ursachen und Zusammenhänge schließt. Sowohl die erstere
| |
| wie die letzte Methode erklärt Goethe für Einseitigkeiten.
| |
| Der gemeine Empirismus ist die rohe Unwissenschaft,
| |
| weil er nie aus der bloßen Auffassung der Zufälligkeiten
| |
| herauskommt; der Rationalismus dagegen interpretiert in
| |
| die Erscheinungswelt Ursachen und Zusammenhänge hinein,
| |
| die nicht in derselben sind. Jener kann sich aus der
| |
| Fülle der Erscheinungen nicht zum freien Denken erheben,
| |
| dieser verliert dieselbe als den sicheren Boden unter seinen
| |
| Füßen und verfällt der Willkür der Einbildungskraft und
| |
| des subjektiven Einfalles. Goethe rügt die Sucht, mit Erscheinungen
| |
| sogleich durch subjektive Wirkungen Folgerungen
| |
| zu verbinden, mit den schärfsten Worten, so «Sprüche
| |
| in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 375: «Es ist
| |
| eine schlimme Sache, die doch manchem Beobachter begegnet,
| |
| mit einer Anschauung sogleich eine Folgerung zu
| |
| verknüpfen und beide für gleichgeltend zu achten», und:
| |
| «Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen
| |
| Verstandes, der die Phänomene gern los sein möchte
| |
| und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur
| |
| Worte einschiebt. Man ahnet, man sieht wohl auch, daß es
| |
| nur ein Behelf ist; liebt nicht aber Leidenschaft und Parteigeist
| |
| jederzeit Behelfe? Und mit Recht, da sie ihrer so sehr
| |
| bedürfen.» (Ebenda S. 376) Besonders tadelt Goethe den
| |
| Mißbrauch, den die Kausalbestimmung veranlaßt. Der Rationalismus
| |
| in seiner ungezügelten Phantastik sucht dort
| |
| Kausalität, wo sie, durch die Fakten zu suchen, nicht geboten
| |
| ist. In «Sprüche in Prosa» (ebenda S. 371) heißt es:
| |
| «Der eingeborenste Begriff, der notwendigste, von Ursache
| |
| und Wirkung, wird in der Anwendung die Veranlassung zu
| |
| unzähligen sich immer wiederholenden Irrtümern.» Namentlich
| |
| führt ihn seine Sucht nach einfachen Verbindungen
| |
| dahin, die Phänomene wie die Glieder einer Kette
| |
| nach Ursache und Wirkung rein der Länge nach aneinandergereiht
| |
| zu denken; während die Wahrheit doch ist, daß
| |
| irgendeine Erscheinung, die durch eine der Zeit nach frühere
| |
| kausal bedingt ist, zugleich auch noch von vielen
| |
| andern Einwirkungen abhängt. Es wird in diesem Falle
| |
| bloß die Länge und nicht die Breite der Natur in Anschlag
| |
| gebracht. Beide Wege, der gemeine Empirismus und der
| |
| Rationalismus, sind nun für Goethe wohl Durchgangspunkte
| |
| für die höchste wissenschaftliche Methode, aber
| |
| eben nur Durchgangspunkte, die überwunden werden müssen.
| |
| Und dies geschieht mit dem rationellen Empirismus,
| |
| der sich mit dem reinen Phänomen, das identisch mit dem
| |
| objektiven Naturgesetz ist, beschäftigt. Die gemeine Empirie,
| |
| die unmittelbare Erfahrung bietet uns nur Einzelnes,
| |
| Unzusammenhängendes, ein Aggregat von Erscheinungen.
| |
| Das heißt, sie bietet uns das nicht als letzten Abschluß der
| |
| wissenschaftlichen Betrachtung, wohl aber als erste Erfahrung.
| |
| Unser wissenschaftliches Bedürfnis sucht aber nur
| |
| Zusammenhängendes, begreift das Einzelne nur als Glied
| |
| einer Verbindung. So gehen das Bedürfnis des Begreifens
| |
| und die Tatsachen der Natur scheinbar auseinander. Im
| |
| Geiste ist nur Zusammenhang, in der Natur nur Sonderung,
| |
| der Geist erstrebt die Gattung, die Natur schafft nur Individuen.
| |
| Die Lösung dieses Widerspruchs ergibt sich aus der
| |
| Erwägung, daß einerseits die verbindende Kraft des Geistes
| |
| inhaltslos ist, somit allein, durch sich selbst, nichts Positives
| |
| erkennen kann, daß andererseits die Sonderung der
| |
| Naturobjekte nicht in deren Wesen selbst begründet ist,
| |
| sondern in deren räumlicher Erscheinung, daß vielmehr
| |
| bei Durchdringung des Wesens des Individuellen, des Besonderen,
| |
| dieses selbst uns auf die Gattung hinweist. Weil
| |
| die Objekte der Natur in der Erscheinung gesondert sind,
| |
| bedarf es der zusammenfassenden Kraft des Geistes, ihre
| |
| innere Einheit zu zeigen. Weil die Einheit des Verstandes
| |
| für sich leer ist, muß er sie mit den Objekten der Natur
| |
| erfüllen. So kommen auf dieser dritten Stufe Phänomen
| |
| und Geistesvermögen einander entgegen und gehen in eins
| |
| auf und der Geist kann jetzt erst vollbefriedigt sein. -
| |
| Ein weiteres Gebiet der Forschung ist jenes, wo uns das
| |
| Einzelne in seiner Daseinsweise nicht als die Folge eines
| |
| andern, neben ihm Bestehenden erscheint, wo wir es daher
| |
| auch nicht dadurch begreifen, daß wir ein anderes, Gleichartiges
| |
| zu Hilfe rufen. Hier erscheint uns eine Reihe von
| |
| sinnenfälligen Erscheinungselementen als unmittelbare
| |
| Ausgestaltung eines einheitlichen Prinzipes, und wir müssen
| |
| zu diesem Prinzipe vordringen, wenn wir die Einzelerscheinung
| |
| begreifen wollen. Wir können auf diesem Gebiete
| |
| das Phänomen nicht aus äußerer Einwirkung erklären,
| |
| wir müssen es von innen heraus ableiten. Was früher
| |
| bestimmend war, ist jetzt bloß veranlassend. Während ich
| |
| beim früheren Gebiet alles begriffen habe, wenn es mir gelungen
| |
| ist, es als Folge eines andern anzusehen, es von
| |
| einer äußeren Bedingung abzuleiten, werde ich hier zu einer
| |
| andern Fragestellung gezwungen. Wenn ich den äußeren
| |
| Einfluß kenne, so habe ich noch keinen Aufschluß darüber
| |
| erlangt, daß das Phänomen gerade in dieser und keiner anderen
| |
| Weise abläuft. Ich muß es von dem zentralen Prinzip
| |
| jenes Dinges ableiten, auf das der äußere Einfluß stattgefunden
| |
| hat. Ich kann nicht sagen: dieser äußere Einfluß
| |
| hat diese Wirkung; sondern nur: auf diesen bestimmten
| |
| äußeren Einfluß antwortet das innere Wirkungsprinzip in
| |
| dieser bestimmten Weise. Was geschieht, ist Folge einer inneren
| |
| Gesetzlichkeit. Ich muß also diese innere Gesetzlichkeit
| |
| kennen. Ich muß erforschen, was sich von innen heraus
| |
| gestaltet. Dieses sich gestaltende Prinzip, das auf diesem
| |
| Gebiete jedem Phänomen zugrunde liegt, das ich in
| |
| allem zu suchen habe, ist der Typus. Wir sind im Gebiete der
| |
| organischen Natur. Was in der unorganischen Natur Urphänomen,
| |
| das ist in der Organik Typus. Der Typus ist ein
| |
| allgemeines Bild des Organismus: die Idee desselben; die
| |
| Tierheit im Tiere. Wir mußten hier die Hauptpunkte des
| |
| schon in einem früheren Abschnitte über den «Typus» Ausgeführten
| |
| wegen des Zusammenhangs noch einmal anführen.
| |
| In den ethischen und historischen Wissenschaften haben
| |
| wir es dann mit der Idee im engeren Sinne zu tun. Die
| |
| Ethik und die Geschichte sind Idealwissenschaften. Ihre
| |
| Wirklichkeit sind Ideen. - Der Einzelwissenschaft obliegt
| |
| es, das Gegebene so weit zu bearbeiten, daß sie es bis zu
| |
| Urphänomen, Typus und den leitenden Ideen in der Geschichte
| |
| bringt. «Kann . . . der Physiker zur Erkenntnis
| |
| desjenigen gelangen, was wir ein Urphänomen genannt
| |
| haben, so ist er geborgen und der Philosoph mit ihm; er,
| |
| denn er überzeugt sich, daß er an die Grenze seiner Wissenschaft
| |
| gelangt sei, daß er sich auf der empirischen Höhe befinde,
| |
| wo er rückwärts die Erfahrung in allen ihren Stufen
| |
| überschauen und vorwärts in das Reich der Theorie, wo
| |
| nicht eintreten, doch einblicken könne. Der Philosoph ist
| |
| geborgen, denn er nimmt aus des Physikers Hand ein Letztes,
| |
| das bei ihm nun ein Erstes wird» («Entwurf einer Farbenlehre
| |
| » 720 [Natw. Schr., 3. Bd., S. 275f.]) - Hier tritt
| |
| nämlich der Philosoph mit seiner Arbeit auf. Er ergreift die
| |
| Urphänomene und bringt sie in den befriedigenden ideellen
| |
| Zusammenhang. Wir sehen, durch was im Sinne der Goetheschen
| |
| Weltanschauung die Metaphysik zu ersetzen ist:
| |
| durch eine ideengemäße Betrachtung, Zusammenstellung
| |
| und Ableitung der Urphänomene. In diesem Sinne spricht
| |
| sich Goethe wiederholt über das Verhältnis von empirischer
| |
| Wissenschaft und Philosophie aus; besonders deutlich in
| |
| seinen Briefen an Hegel. Goethe spricht in den Annalen
| |
| wiederholt von einem Schema der Naturwissenschaft.
| |
| Wenn sich dasselbe vorfände, würden wir daraus ersehen,
| |
| wie er sich selbst das Verhältnis der einzelnen Urphänomene
| |
| untereinander dachte; wie er sie in eine notwendige
| |
| Kette zusammenstellte. Eine Vorstellung davon gewinnen
| |
| wir auch, wenn wir die Tabelle berücksichtigen, die er im
| |
| 1. Bd. 4. H. «Zur Naturwissenschaft» von allen möglichen
| |
| Wirkungsarten gibt:
| |
| Zufällig
| |
| Mechanisch
| |
| Physisch
| |
| Chemisch
| |
| Organisch
| |
| Psychisch
| |
| Ethisch
| |
| Religiös
| |
| Genial.
| |
| Nach dieser aufsteigenden Reihe hätte man sich bei Anordnung
| |
| der Urphänomene zu richten.* [Natw. Schr.,
| |
| 4. Bd., 2. Abt., S. 294]
| |
| 4. Über Erkenntnisgrenzen und Hypothesenbildung
| |
| Man spricht heute viel von Grenzen unseres Erkennens.
| |
| Unsere Fähigkeit, das Bestehende zu erklären, soll nur bis
| |
| zu einem gewissen Punkte reichen, bei dem sollen wir haltmachen.
| |
| Wir glauben in bezug auf diese Frage das Richtige
| |
| zu treffen, wenn wir sie richtig stellen. Denn es kommt ja
| |
| so vielfach nur auf eine richtige Fragestellung an. Durch
| |
| eine solche wird ein ganzes Heer von Irrtümern zerstreut.
| |
| Wenn wir bedenken, daß der Gegenstand, in bezug auf
| |
| welchen sich in uns ein Erklärungsbedürfnis geltend macht,
| |
| gegeben sein muß, so ist es klar, daß das Gegebene selbst
| |
| uns eine Grenze nicht setzen kann. Denn um überhaupt
| |
| den Anspruch zu erheben, erklärt, begriffen zu werden,
| |
| muß es uns innerhalb der gegebenen Wirklichkeit gegenübertreten.
| |
| Was nicht in den Horizont des Gegebenen eintritt,
| |
| braucht nicht erklärt zu werden. Die Grenze könnte
| |
| also nur darinnen liegen, daß uns einem gegebenen Wirklichen
| |
| gegenüber die Mittel fehlen, es zu erklären. Nun
| |
| kommt unser Erklärungsbedürfnis aber gerade daher, daß
| |
| das, als was wir ein Gegebenes ansehen wollen, durch was
| |
| wir es erklären wollen, sich in den Horizont des uns gedanklich
| |
| Gegebenen eindrängt. Weit entfernt, daß das erklärende
| |
| Wesen eines Dinges uns unbekannt wäre, ist es
| |
| vielmehr selbst das, was durch sein Auftreten im Geiste die
| |
| Erklärung notwendig macht. Was erklärt werden soll und
| |
| durch was dieses erklärt werden soll, liegen vor. Es handelt
| |
| sich nur um die Verbindung beider. Das Erklären ist
| |
| kein Suchen eines Unbekannten, nur eine Auseinandersetzung
| |
| über den gegenseitigen Bezug zweier Bekannter.
| |
| Durch irgend etwas ein Gegebenes zu erklären, von dem
| |
| wir kein Wissen haben, sollte uns nie der Einfall kommen.
| |
| Es kann also von prinzipiellen Grenzen des Erklärens gar
| |
| nicht die Rede sein. Nun kommt da freilich etwas in Betracht,
| |
| was der Theorie einer Erkenntnisgrenze einen
| |
| Schein von Recht gibt. Es kann sein, daß wir von einem
| |
| Wirklichen zwar ahnen, daß es da ist, daß es aber doch
| |
| unserer Wahrnehmung entrückt ist. Wir können irgendwelche
| |
| Spuren, Wirkungen eines Dinges wahrnehmen und
| |
| dann die Annahme machen, daß dies Ding vorhanden ist.
| |
| Und hier kann etwa von einer Grenze des Wissens gesprochen
| |
| werden. Das, was wir als nicht erreichbar voraussetzen,
| |
| ist hier aber kein solches, aus dem irgend etwas prinzipiell
| |
| zu erklären wäre; es ist ein Wahrzunehmendes, wenn
| |
| auch kein Wahrgenommenes. Die Hindernisse, warum ich
| |
| es nicht wahrnehme, sind keine prinzipiellen Erkenntnisgrenzen,
| |
| sondern rein zufällige, äußere. Ja sie können wohl
| |
| gar überwunden werden. Was ich heute bloß ahne, kann
| |
| ich morgen erfahren. Das ist aber mit einem Prinzip nicht
| |
| so; da gibt es keine äußeren Hindernisse, die ja zumeist nur
| |
| in Ort und Zeit liegen; das Prinzip ist mir innerlich gegeben.
| |
| Ich ahne es nicht aus einem andern, wenn ich es nicht
| |
| selbst erschaue.
| |
| Damit hängt nun die Theorie der Hypothese zusammen.
| |
| Eine Hypothese ist eine Annahme, die wir machen und von
| |
| deren Wahrheit wir uns nicht direkt, sondern nur durch
| |
| ihre Wirkungen überzeugen können. Wir sehen eine Erscheinungsreihe.
| |
| Sie ist uns nur erklärlich, wenn wir etwas zugrunde
| |
| legen, das wir nicht unmittelbar wahrnehmen. Darf
| |
| eine solche Annahme sich auf ein Prinzip erstrecken? Offenbar
| |
| nicht. Denn ein Inneres, das ich voraussetze, ohne es
| |
| gewahr zu werden, ist ein vollkommener Widerspruch.
| |
| Die Hypothese kann nur solches annehmen, das ich zwar
| |
| nicht wahrnehme, aber sofort wahrnehmen würde, wenn
| |
| ich die äußeren Hindernisse wegräumte. Die Hypothese
| |
| kann zwar nicht Wahrgenommenes, sie muß aber Wahrnehmbares
| |
| voraussetzen. So ist jede Hypothese in dem Fall,
| |
| daß ihr Inhalt durch eine künftige Erfahrung direkt bestätigt
| |
| werden kann. Nur Hypothesen, die aufhören können
| |
| es zu sein, haben eine Berechtigung. Hypothesen über zentrale
| |
| Wissenschaftsprinzipien haben keinen Wert. Was
| |
| nicht durch ein positiv gegebenes Prinzip, das uns bekannt
| |
| ist, erklärt wird, das ist überhaupt einer Erklärung nicht
| |
| fähig und auch nicht bedürftig.
| |
| 5. Ethische und historische Wissenschaften
| |
| Die Beantwortung der Frage: «Was ist Erkennen?» hat uns
| |
| über die Stellung des Menschen im Weltall aufgeklärt. Es
| |
| kann nun nicht fehlen, daß die Ansicht, die wir für diese
| |
| Frage entwickelt haben, auch über Wert und Bedeutung des
| |
| menschlichen Handelns Licht verbreitet. Was wir in der
| |
| Welt vollbringen, dem müssen wir ja eine größere oder geringere
| |
| Bedeutung beilegen, je nachdem wir unsere Bestimmung
| |
| höher oder minder bedeutend auffassen.
| |
| Die erste Aufgabe, der wir uns nun zu unterziehen haben,
| |
| wird die Untersuchung des Charakters der menschlichen
| |
| Tätigkeit sein. Wie stellt sich das, was wir als Wirkung
| |
| menschlichen Tuns auffassen müssen, zu anderen
| |
| Wirksamkeiten innerhalb des Weltprozesses? Betrachten
| |
| wir zwei Dinge: ein Naturprodukt und ein Geschöpf
| |
| menschlicher Tätigkeit, die Kristallgestalt und etwa ein
| |
| Wagenrad. In beiden Fällen erscheint uns das vorliegende
| |
| Objekt als Ergebnis von in Begriffen ausdrückbaren Gesetzen.
| |
| Der Unterschied liegt nur darinnen, daß wir den
| |
| Kristall als das unmittelbare Produkt der ihn bestimmenden
| |
| Naturgesetzlichkeiten ansehen müssen, während beim
| |
| Wagenrad der Mensch in die Mitte zwischen Begriff und
| |
| Gegenstand tritt. Was wir im Naturprodukt als dem Wirklichen
| |
| zugrunde liegend denken, das führen wir in unserem
| |
| Handeln in die Wirklichkeit ein. Im Erkennen erfahren
| |
| wir, welches die ideellen Bedingungen der Sinneserfahrung
| |
| sind; wir bringen die Ideenwelt, die in der Wirklichkeit
| |
| schon liegt, zum Vorschein; wir schließen also den Weltprozeß
| |
| in der Hinsicht ab, daß wir den Produzenten, der
| |
| ewig die Produkte hervorgehen läßt, aber ohne unser Denken
| |
| ewig in ihnen verborgen bliebe, zur Erscheinung rufen.
| |
| Im Handeln aber ergänzen wir diesen Prozeß dadurch, daß
| |
| wir die Ideenwelt, insofern sie noch nicht Wirklichkeit ist,
| |
| in solche umsetzen. Nun haben wir die Idee als das erkannt,
| |
| was allem Wirklichen zugrunde liegt, als das Bedingende,
| |
| die Intention der Natur. Unser Erkennen führt uns
| |
| dahin, die Tendenz des Weltprozesses, die Intention der
| |
| Schöpfung aus den in der uns umgebenden Natur enthaltenen
| |
| Andeutungen zu finden. Haben wir das erreicht,
| |
| dann ist unserem Handeln die Aufgabe zuerteilt, selbständig
| |
| an der Verwirklichung jener Intention mitzuarbeiten.
| |
| Und so erscheint uns unser Handeln direkt als eine Fortsetzung
| |
| jener Art von Wirksamkeit, die auch die Natur
| |
| erfüllt. Es erscheint uns als unmittelbarer Ausfluß des
| |
| Weltgrundes. Aber doch welch ein Unterschied ist da gegenüber
| |
| der anderen (Natur-)Tätigkeit! Das Naturprodukt
| |
| hat keineswegs in sich selbst die ideelle Gesetzmäßigkeit,
| |
| von der es beherrscht erscheint. Es bedarf bei ihm des Gegenübertretens
| |
| eines höheren, des menschlichen Denkens;
| |
| dann erscheint diesem das, wovon jenes beherrscht wird.
| |
| Beim menschlichen Tun ist das anders. Da wohnt dem tätigen
| |
| Objekte unmittelbar die Idee inne; und träte ihm
| |
| ein höheres Wesen gegenüber, so könnte es in seiner Tätigkeit
| |
| nichts anderes finden, als was dieses selbst in sein Tun
| |
| gelegt hat. Denn ein vollkommenes menschliches Handeln
| |
| ist das Ergebnis unserer Absichten und nur dieses. Blicken
| |
| wir ein Naturprodukt an, das auf ein anderes wirkt, so
| |
| stellt sich die Sache so: Wir sehen eine Wirkung; diese Wirkung
| |
| ist bedingt durch in Begriffe zu fassende Gesetze.
| |
| Wollen wir aber die Wirkung begreifen, da genügt es nicht,
| |
| daß wir sie mit irgendwelchen Gesetzen zusammenhalten,
| |
| wir müssen ein zweites wahrzunehmendes - allerdings wieder
| |
| ganz in Begriffe aufzulösendes - Ding haben. Wenn
| |
| wir einen Eindruck in dem Boden sehen, so suchen wir
| |
| nach dem Gegenstande, der ihn gemacht hat. Das führt zu
| |
| dem Begriffe einer solchen Wirkung, wo die Ursache einer
| |
| Erscheinung wieder in Form einer äußeren Wahrnehmung
| |
| erscheint, d. i. aber zum Begriffe der Kraft. Die Kraft kann
| |
| uns nur da entgegentreten, wo die Idee zuerst an einem
| |
| Wahrnehmungsobjekte erscheint und erst unter dieser
| |
| Form auf ein anderes Objekt wirkt. Der Gegensatz hierzu
| |
| ist, wenn diese Vermittlung wegfällt, wenn die Idee unmittelbar
| |
| an die Sinnenwelt herantritt. Da erscheint die
| |
| Idee selbst verursachend. Und hier ist es, wo wir vom Willen
| |
| sprechen. Wille ist also die Idee selbst als Kraft aufgefaßt.
| |
| Von einem selbständigen Willen zu sprechen ist völlig
| |
| unstatthaft. Wenn der Mensch irgend etwas vollbringt, so
| |
| kann man nicht sagen, es komme zu der Vorstellung noch
| |
| der Wille hinzu. Spricht man so, so hat man die Begriffe
| |
| nicht klar erfaßt, denn, was ist die menschliche Persönlichkeit,
| |
| wenn man von der sie erfüllenden Ideenwelt absieht?
| |
| Doch ein tätiges Dasein. Wer sie anders faßte: als totes,
| |
| untätiges Naturprodukt, setzte sie ja dem Steine auf der
| |
| Straße gleich. Dieses tätige Dasein ist aber ein Abstraktum,
| |
| es ist nichts Wirkliches. Man kann es nicht fassen, es ist
| |
| ohne Inhalt. Will man es fassen, will man einen Inhalt,
| |
| dann erhält man eben die im Tun begriffene Ideenwelt. E.
| |
| v. Hartmann macht dieses Abstraktum zu einem zweiten
| |
| weit-konstituierenden Prinzip neben der Idee. Es ist aber
| |
| nichts anderes als die Idee selbst, nur in einer Form des
| |
| Auftretens. Wille ohne Idee wäre nichts. Das gleiche kann
| |
| man nicht von der Idee sagen, denn die Tätigkeit ist ein
| |
| Element von ihr, während sie die sich selbst tragende Wesenheit
| |
| ist.*
| |
| Dies zur Charakteristik des menschlichen Tuns. Wir
| |
| schreiten zu einem weiteren wesentlichen Kennzeichen desselben,
| |
| das aus dem bisher Gesagten sich mit Notwendigkeit
| |
| ergibt. Das Erklären eines Vorganges in der Natur ist
| |
| ein Zurückgehen auf die Bedingungen desselben: ein Aufsuchen
| |
| des Produzenten zu dem gegebenen Produkte. Wenn
| |
| ich eine Wirkung wahrnehme und dazu die Ursache suche,
| |
| so genügen diese zwei Wahrnehmungen keineswegs meinem
| |
| Erklärungsbedürfnisse. Ich muß zu den Gesetzen zurückgehen,
| |
| nach denen diese Ursache diese Wirkung hervorbringt.
| |
| Beim menschlichen Handeln ist das anders. Da
| |
| tritt die eine Erscheinung bedingende Gesetzlichkeit selbst
| |
| in Aktion; was ein Produkt konstituiert, tritt selbst auf den
| |
| Schauplatz des Wirkens. Wir haben es mit einem erscheinenden
| |
| Dasein zu tun, bei dem wir stehenbleiben können,
| |
| bei dem wir nicht nach den tiefer liegenden Bedingungen
| |
| zu fragen brauchen. Ein Kunstwerk haben wir begriffen,
| |
| wenn wir die Idee kennen, die in demselben verkörpert ist;
| |
| wir brauchen nach keinem weiteren gesetzmäßigen Zusammenhang
| |
| zwischen Idee (Ursache) und Werk (Wirkung)
| |
| zu fragen. Das Handeln eines Staatsmannes begreifen wir,
| |
| wenn wir seine Intentionen (Ideen) kennen; wir brauchen
| |
| nicht weiter über das, was in die Erscheinung tritt, hinauszugehen.
| |
| Dadurch also unterscheiden sich Prozesse der
| |
| Natur von Handlungen des Menschen, daß hei jenen das
| |
| Gesetz als der bedingende Hintergrund des erscheinenden
| |
| Daseins zu betrachten ist, während bei diesen das Dasein
| |
| selbst Gesetz ist und von nichts als von sich selbst bedingt
| |
| erscheint. Dadurch legt sich jeder Naturprozeß in ein Bedingendes
| |
| und ein Bedingtes auseinander, und das letztere
| |
| folgt mit Notwendigkeit aus dem ersten, während das
| |
| menschliche Handeln nur sich selbst bedingt Das aber ist
| |
| das Wirken mit Freiheit. Indem die Intentionen der Natur,
| |
| die hinter den Erscheinungen stehen und sie bedingen, in
| |
| den Menschen einziehen, werden sie selbst zur Erscheinung;
| |
| aber sie sind jetzt gleichsam rückenfrei. Wenn alle Naturprozesse
| |
| nur Manifestationen der Idee sind, so ist das
| |
| menschliche Tun die agierende Idee selbst.
| |
| Indem unsere Erkenntnistheorie zu dem Schlusse gekommen
| |
| ist, daß der Inhalt unseres Bewußtseins nicht bloß
| |
| ein Mittel sei, sich von dem Weltengrunde ein Abbild zu
| |
| machen, sondern daß dieser Weltengrund selbst in seiner
| |
| ureigensten Gestalt in unserem Denken zutage tritt, so können
| |
| wir nicht anders, als im menschlichen Handeln auch
| |
| unmittelbar das unbedingte Handeln jenes Urgrundes selbst
| |
| erkennen. Einen Weltlenker, der außerhalb unserer selbst
| |
| unseren Handlungen Ziel und Richtung setzte, kennen wir
| |
| nicht. Der Weltlenker hat sich seiner Macht begeben, hat
| |
| alles an den Menschen abgegeben, mit Vernichtung seines
| |
| Sonderdaseins, und dem Menschen die Aufgabe zuerteilt:
| |
| wirke weiter. Der Mensch findet sich in der Welt, erblickt
| |
| die Natur, in derselben die Andeutung eines Tieferen, Bedingenden,
| |
| einer Intention. Sein Denken befähigt ihn, diese
| |
| Intention zu erkennen. Sie wird sein geistiger Besitz. Er
| |
| hat die Welt durchdrungen; er tritt handelnd auf, jene Intentionen
| |
| fortzusetzen. Damit ist die hier vorgetragene
| |
| Philosophie die wahre Freiheitsphilosophie. Sie läßt für die
| |
| menschlichen Handlungen weder die Naturnotwendigkeit
| |
| gelten, noch den Einfluß eines außerweltlichen Schöpfers
| |
| oder Weltlenkers. Der Mensch wäre in dem einen wie in
| |
| dem andern Fall unfrei. Wirkte in ihm die Naturnotwendigkeit
| |
| wie in den anderen Wesen, dann vollführte er seine
| |
| Taten aus Zwang, dann wäre auch bei ihm ein Zurückgehen
| |
| auf Bedingungen notwendig, die dem erscheinenden
| |
| Dasein zugrunde liegen und von Freiheit keine Rede. Es ist
| |
| natürlich nicht ausgeschlossen, daß es unzählige menschliche
| |
| Verrichtungen gibt, die nur unter diesen Gesichtspunkt
| |
| fallen; allein diese kommen hier nicht in Betracht.
| |
| Der Mensch, insofern er ein Naturwesen ist, ist auch nach
| |
| den für das Naturwirken geltenden Gesetzen zu begreifen.
| |
| Allein weder als erkennendes noch als wahrhaft ethisches
| |
| Wesen ist sein Auftreten aus bloßen Naturgesetzen einzusehen.
| |
| Da tritt er eben aus der Sphäre der Naturwirklichkeiten
| |
| heraus. Und für diese höchste Potenz seines Daseins,
| |
| die mehr Ideal als Wirklichkeit ist, gilt das hier Festgestellte.
| |
| Des Menschen Lebensweg besteht darinnen, daß er
| |
| sich vom Naturwesen zu einem solchen entwickelt, wie wir
| |
| es hier kennengelernt haben; er soll sich frei machen von
| |
| allen Naturgesetzen und sein eigener Gesetzgeber werden.*
| |
| Aber auch den Einfluß eines außerweltlichen Lenkers
| |
| der Menschengeschicke müssen wir ablehnen. Auch da, wo
| |
| ein solcher angenommen wird, kann von wahrer Freiheit
| |
| nicht die Rede sein. Da bestimmt er die Richtung des
| |
| menschlichen Handelns und der Mensch hat auszuführen,
| |
| was ihm jener zu tun vorgesetzt. Er empfindet den Antrieb
| |
| zu seinen Handlungen nicht als Ideal, das er sich selbst vorsetzt,
| |
| sondern als Gebot jenes Lenkers; wieder ist sein Handeln
| |
| nicht unbedingt, sondern bedingt. Der Mensch fühlte
| |
| sich dann eben nicht rückenfrei, sondern abhängig, nur
| |
| Mittel für die Intentionen einer höheren Macht.
| |
| Wir haben gesehen, daß der Dogmatismus darinnen besteht,
| |
| daß der Grund, warum irgend etwas wahr ist, in einem
| |
| unserem Bewußtsein Jenseitigen, Unzugänglichen
| |
| (Transsubjektiven) gesucht wird, im Gegensatz zu unserer
| |
| Ansicht, die ein Urteil nur deshalb wahr sein läßt, weil der
| |
| Grund dazu in den im Bewußtsein liegenden, in das Urteil
| |
| einfließenden Begriffen liegt. Wer sich einen Weltengrund
| |
| außer unserer Ideenwelt denkt, der denkt sich, daß der
| |
| ideale Grund, warum von uns etwas als wahr erkannt wird,
| |
| ein anderer ist, als warum es objektiv wahr ist. So ist die
| |
| Wahrheit als Dogma aufgefaßt. Und auf dem Gebiete der
| |
| Ethik ist das Gebot das, was in der Wissenschaft das Dogma
| |
| ist. Der Mensch handelt, wenn er die Antriebe zu seinem
| |
| Handeln in Geboten sucht, nach Gesetzen, deren Begründung
| |
| nicht von ihm abhängt; er denkt sich eine Norm,
| |
| die von außen seinem Handeln vorgeschrieben ist. Er handelt
| |
| aus Pflicht. Von Pflicht zu reden, hat nur bei dieser
| |
| Auffassung Sinn. Wir müssen den Antrieb von außen empfinden
| |
| und die Notwendigkeit anerkennen, ihm zu folgen,
| |
| dann handeln wir aus Pflicht. Unsere Erkenntnistheorie
| |
| kann ein solches Handeln, da wo der Mensch in seiner sittlichen
| |
| Vollendung auftritt, nicht gelten lassen. Wir wissen
| |
| daß die Ideenwelt die unendliche Vollkommenheit selbst
| |
| ist; wir wissen, daß mit ihr die Antriebe unseres Handelns
| |
| in uns liegen; und wir müssen demzufolge nur ein solches
| |
| Handeln als ethisch gelten lassen, bei dem die Tat nur aus
| |
| der in uns liegenden Idee derselben fließt. Der Mensch vollbringt
| |
| von diesem Gesichtspunkte aus nur deshalb eine
| |
| Handlung, weil deren Wirklichkeit für ihn Bedürfnis ist.
| |
| Er handelt, weil ein innerer (eigener) Drang, nicht eine
| |
| äußere Macht, ihn treibt. Das Objekt seines Handelns, sobald
| |
| er sich einen Begriff davon macht, erfüllt ihn so, daß
| |
| er es zu verwirklichen strebt. In dem Bedürfnis nach Verwirklichung
| |
| einer Idee, in dem Drange nach der Ausgestaltung
| |
| einer Absicht soll auch der einzige Antrieb unseres
| |
| Handelns sein. In der Idee soll sich alles ausleben, was uns
| |
| zum Tun drängt. Wir handeln dann nicht aus Pflicht, wir
| |
| handeln nicht einem Triebe folgend, wir handeln aus Liebe
| |
| zu dem Objekt, auf das unsere Handlung sich erstrecken
| |
| soll. Das Objekt, indem wir es vorstellen, ruft in uns den
| |
| Drang nach einer ihm angemessenen Handlung hervor. Ein
| |
| solches Handeln ist allein ein freies. Denn müßte zu dem
| |
| Interesse, das wir an dem Objekt nehmen, noch ein zweiter
| |
| anderweitiger Anlaß kommen, dann wollten wir nicht dieses
| |
| Objekt um seiner selbst willen, wir wollten ein anderes
| |
| und vollbrächten dieses, was wir nicht wollen; wir vollführten
| |
| eine Handlung gegen unseren Willen. Das wäre
| |
| etwa beim Handeln aus Egoismus der Fall. Da nehmen wir
| |
| an der Handlung selbst kein Interesse; sie ist uns nicht Bedürfnis,
| |
| wohl aber der Nutzen, den sie uns bringt. Dann
| |
| aber empfinden wir es auch zugleich als Zwang, daß wir
| |
| jene Handlung, nur dieses Zweckes willen, vollbringen
| |
| müssen. Sie selbst ist uns nicht Bedürfnis; denn wir unterließen
| |
| sie, wenn sie den Nutzen nicht im Gefolge hätte.
| |
| Eine Handlung aber, die wir nicht um ihrer selbst willen
| |
| vollbringen, ist eine unfreie. Der Egoismus handelt unfrei.
| |
| Unfrei handelt überhaupt jeder Mensch, der eine Handlung
| |
| aus einem Anlaß vollbringt, der nicht aus dem objektiven
| |
| Inhalt der Handlung selbst folgt. Eine Handlung um ihrer
| |
| selbst willen ausführen, heißt aus Liebe handeln. Nur derjenige,
| |
| den die Liebe zum Tun, die Hingabe an die Objektivität
| |
| leitet, handelt wahrhaft frei. Wer dieser selbstlosen
| |
| Hingabe nicht fähig ist, wird seine Tätigkeit nie als eine
| |
| freie ansehen können.
| |
| Soll das Handeln des Menschen nichts anderes sein als
| |
| die Verwirklichung seines eigenen Ideengehaltes, dann ist
| |
| es natürlich, daß solcher Gehalt in ihm liegen muß. Sein
| |
| Geist muß produktiv wirken. Denn was sollte ihn mit dem
| |
| Drange erfüllen, etwas zu vollbringen, wenn nicht eine
| |
| sich in seinem Geiste heraufarbeitende Idee? Diese Idee
| |
| wird sich um so fruchtbarer erweisen, in je bestimmteren
| |
| Umrissen, mit je deutlicherem Inhalte sie im Geiste auftritt.
| |
| Denn nur das kann uns ja mit aller Gewalt zur Verwirklichung
| |
| drängen, das seinem ganzen «Was» nach vollbestimmt
| |
| ist. Das nur dunkel vorgestellte, das unbestimmt
| |
| gelassene Ideal ist als Antrieb des Handelns ungeeignet.
| |
| Was soll uns an ihm eineifern, da sein Inhalt nicht offen
| |
| und klar am Tage liegt. Die Antriebe für unser Handeln
| |
| müssen daher immer in Form individueller Intentionen
| |
| auftreten. Alles, was der Mensch Fruchtbringendes vollführt,
| |
| verdankt solchen individuellen Impulsen seine Entstehung.
| |
| Völlig wertlos erweisen sich allgemeine Sittengesetze,
| |
| ethische Normen usw., die für alle Menschen Gültigkeit
| |
| haben sollen. Wenn Kant nur dasjenige als sittlich
| |
| gelten läßt, was sich für alle Menschen als Gesetz eignet,
| |
| so ist demgegenüber zu sagen, daß alles positive Handeln
| |
| aufhören müßte, alles Große aus der Welt verschwinden
| |
| müßte, wenn jeder nur das tun sollte, was sich für alle
| |
| eignet. Nein, nicht solche vage, allgemeine ethische Normen,
| |
| sondern die individuellsten Ideale sollen unser Handeln
| |
| leiten. Nicht alles ist für alle gleich würdig zu vollbringen,
| |
| sondern dies für den, für jenen das, je nachdem
| |
| einer den Beruf zu einer Sache fühlt. J. Kreyenbühl hat
| |
| hierüber treffliche Worte in seinem Aufsatze «Die ethische
| |
| Freiheit bei Kant» (Philosophische Monatshefte, Bd.
| |
| XVIII, 3. H. [Berlin etc. 1882, S. 129 ff.]) gesagt: «Soll
| |
| ja die Freiheit meine Freiheit, die sittliche Tat meine Tat,
| |
| soll das Gute und Rechte durch mich, durch die Handlung
| |
| dieser besonderen individuellen Persönlichkeit verwirklicht
| |
| werden, so kann mir unmöglich ein allgemeines Gesetz
| |
| genügen, das von aller Individualität und Besonderheit der
| |
| beim Handeln konkurrierenden Umstände absieht und mir
| |
| befiehlt vor jeder Handlung zu prüfen, ob das ihr zugrunde
| |
| liegende Motiv der abstrakten Norm der allgemeinen Menschennatur
| |
| entspreche, ob es so, wie es in mir lebt und
| |
| wirkt, allgemein gültige Maxime werden könne.» . . . «Eine
| |
| derartige Anpassung an das allgemein Übliche und Gebräuchliche
| |
| würde jede individuelle Freiheit, jeden Fortschritt
| |
| über das Ordinäre und Hausbackene, jede bedeutende,
| |
| hervorragende und bahnbrechende ethische Leistung
| |
| unmöglich machen.»
| |
| Diese Ausführungen verbreiten Licht über jene Fragen,
| |
| die eine allgemeine Ethik zu beantworten hat. Man behandelt
| |
| die letztere ja vielfach so, als ob sie eine Summe von
| |
| Normen sei, nach denen das menschliche Handeln sich zu
| |
| richten habe. Man stellt von diesem Gesichtspunkte aus die
| |
| Ethik der Naturwissenschaft und überhaupt der Wissenschaft
| |
| vom Seienden gegenüber. Während nämlich die letztere
| |
| uns die Gesetze von dem, was besteht, was ist, vermitteln
| |
| soll, hätte uns die Ethik jene vom Seinsollenden zu lehren.
| |
| Die Ethik soll ein Kodex von allen Idealen des Menschen
| |
| sein, eine ausführliche Antwort auf die Frage: Was
| |
| ist gut? Eine solche Wissenschaft ist aber unmöglich. Es
| |
| kann keine allgemeine Antwort auf diese Frage geben. Das
| |
| ethische Handeln ist ja ein Produkt dessen, was sich im Individuum
| |
| geltend macht; es ist immer im einzelnen Fall
| |
| gegeben, nie im allgemeinen. Es gibt keine allgemeinen Gesetze
| |
| darüber, was man tun soll und was nicht. Man sehe
| |
| nur ja nicht die einzelnen Rechtssatzungen verschiedener
| |
| Völker als solche an. Sie sind auch nichts weiter als der
| |
| Ausfluß individueller Intentionen. Was diese oder jene Persönlichkeit
| |
| als sittliches Motiv empfunden hat, hat sich
| |
| einem ganzen Volke mitgeteilt, ist zum «Recht dieses Volkes
| |
| » geworden. Ein allgemeines Naturrecht, das für alle
| |
| Menschen und alle Zeiten gelte, ist ein Unding. Rechtsanschauungen
| |
| und Sittlichkeitsbegriffe kommen und gehen
| |
| mit den Völkern, ja sogar mit den Individuen. Immer ist
| |
| die Individualität maßgebend. Im obigen Sinne von einer
| |
| Ethik zu sprechen, ist also unstatthaft. Aber es gibt andere
| |
| Fragen, die in dieser Wissenschaft zu beantworten sind,
| |
| Fragen, die z. T. in diesen Erörterungen kurz beleuchtet
| |
| worden sind. Ich erwähne nur: die Feststellung des Unterschiedes
| |
| von menschlichem Handeln und Naturwirken, die
| |
| Frage nach dem Wesen des Willens und der Freiheit usw.
| |
| Alle diese Einzelaufgaben lassen sich unter die eine subsumieren:
| |
| Inwiefern ist der Mensch ein ethisches Wesen?
| |
| Das bezweckt aber nichts anderes als die Erkenntnis der
| |
| sittlichen Natur des Menschen. Es wird nicht gefragt: Was
| |
| soll der Mensch tun? sondern: Was ist das, was er tut, seinem
| |
| inneren Wesen nach? Und damit fällt jene Scheidewand,
| |
| welche alle Wissenschaft in zwei Sphären trennt: in
| |
| eine Lehre vom Seienden und eine vom Seinsollenden. Die
| |
| Ethik ist ebenso wie alle anderen Wissenschaften eine Lehre
| |
| vom Seienden. In dieser Hinsicht geht der einheitliche Zug
| |
| durch alle Wissenschaften, daß sie von einem Gegebenen
| |
| ausgehen und zu dessen Bedingungen fortschreiten. Vom
| |
| menschlichen Handeln selbst aber kann es keine Wissenschaft
| |
| geben; denn das ist unbedingt, produktiv, schöpferisch.
| |
| Die Jurisprudenz ist keine Wissenschaft, sondern
| |
| nur eine Notizensammlung jener Rechtsgewohnheiten, die
| |
| einer Volksindividualität eigen sind.*
| |
| Der Mensch gehört nun nicht allein sich selbst; er gehört
| |
| als Glied zwei höheren Totalitäten an. Erstens ist er
| |
| ein Glied seines Volkes, mit dem ihn gemeinschaftliche Sitten,
| |
| ein gemeinschaftliches Kulturleben, eine Sprache und
| |
| gemeinsame Anschauung vereinigen. Dann aber ist er auch
| |
| ein Bürger der Geschichte, das einzelne Glied in dem großen
| |
| historischen Prozesse der Menschheitsentwicklung.
| |
| Durch diese doppelte Zugehörigkeit zu einem Ganzen
| |
| scheint sein freies Handeln beeinträchtigt. Was er tut,
| |
| scheint nicht allein ein Ausfluß seines eigenen individuellen
| |
| Ichs zu sein; er erscheint bedingt durch die Gemeinsamkeiten,
| |
| die er mit seinem Volke hat, seine Individualität scheint
| |
| durch den Volkscharakter vernichtet. Bin ich denn dann
| |
| noch frei, wenn man meine Handlungen nicht allein aus
| |
| meiner, sondern wesentlich auch aus der Natur meines Volkes
| |
| erklärlich findet? Handle ich da nicht deshalb so, weil
| |
| mich die Natur gerade zum Gliede dieser Volksgenossenschaft
| |
| gemacht hat? Und mit der zweiten Zugehörigkeit ist
| |
| es nicht anders. Die Geschichte weist mir den Platz meines
| |
| Wirkens an. Ich bin von der Kulturepoche abhängig, in
| |
| der ich geboren bin; ich bin ein Kind meiner Zeit. Wenn
| |
| man aber den Menschen zugleich als erkennendes und handelndes
| |
| Wesen auffaßt, dann löst sich dieser Widerspruch.
| |
| Durch sein Erkenntnisvermögen dringt der Mensch in den
| |
| Charakter seiner Volksindividualität ein; es wird ihm klar,
| |
| wohin seine Mitbürger steuern. Wovon er so bedingt erscheint,
| |
| das überwindet er und nimmt es als vollerkannte
| |
| Vorstellung in sich auf; es wird in ihm individuell und erhält
| |
| ganz den persönlichen Charakter, den das Wirken aus
| |
| Freiheit hat. Ebenso stellt sich die Sache mit der historischen
| |
| Entwicklung, innerhalb welcher der Mensch auftritt.
| |
| Er erhebt sich zur Erkenntnis der leitenden Ideen, der
| |
| sittlichen Kräfte, die da walten; und dann wirken sie nicht
| |
| mehr als ihn bedingende, sondern sie werden in ihm zu individuellen
| |
| Triebkräften. Der Mensch muß sich eben hinaufarbeiten,
| |
| damit er nicht geleitet werde, sondern sich
| |
| selbst leite. Er muß sich nicht blindlings von seinem Volkscharakter
| |
| führen lassen, sondern sich zur Erkenntnis desselben
| |
| erheben, damit er bewußt im Sinne seines Volkes
| |
| handle. Er darf sich nicht von dem Kulturfortschritte tragen
| |
| lassen, sondern er muß die Ideen seiner Zeit zu seinen
| |
| eigenen machen. Dazu ist vor allem notwendig, daß der
| |
| Mensch seine Zeit verstehe. Dann wird er mit Freiheit ihre
| |
| Aufgabe erfüllen, dann wird er mit seiner eigenen Arbeit
| |
| an der rechten Stelle ansetzen. Hier haben die Geisteswissenschaften
| |
| (Geschichte, Kultur- und Literaturgeschichte
| |
| usw.) vermittelnd einzutreten. In den Geisteswissenschaften
| |
| hat es der Mensch mit seinen eigenen Leistungen zu tun,
| |
| mit den Schöpfungen der Kultur, der Literatur, mit der
| |
| Kunst usw. Geistiges wird durch den Geist erfaßt. Und der
| |
| Zweck der Geisteswissenschaften soll kein anderer sein, als
| |
| daß der Mensch erkenne, wohin er von dem Zufalle gestellt
| |
| ist; er soll erkennen, was schon geleistet ist, was ihm zu tun
| |
| obliegt. Er muß durch die Geisteswissenschaften den rechten
| |
| Punkt finden, um mit seiner Persönlichkeit an dem
| |
| Getriebe der Welt teilzunehmen. Der Mensch muß die Geisteswelt
| |
| kennen und nach dieser Erkenntnis seinen Anteil
| |
| an ihr bestimmen.*
| |
| Gustav Freytag sagt in der Vorrede zum ersten Bande
| |
| seiner «Bilder aus der deutschen Vergangenheit» [Leipzig
| |
| 1859]: «Alle großen Schöpfungen der Volkskraft, angestammte
| |
| Religion, Sitte, Recht, Staatsbildung sind für uns
| |
| nicht mehr die Resultate einzelner Männer, sie sind organische
| |
| Schöpfungen eines hohen Lebens, welches zu jeder
| |
| Zeit nur durch das Individuum zur Erscheinung kommt,
| |
| und zu jeder Zeit den geistigen Gehalt der Individuen in sich
| |
| zu einem mächtigen Ganzen zusammenfaßt... So darf
| |
| man wohl, ohne etwas Mystisches zu sagen, von einer
| |
| Volksseele sprechen. ...Aber nicht mehr bewußt, wie die
| |
| Willenskraft eines Mannes, arbeitet das Leben eines Volkes.
| |
| Das Freie, Verständige in der Geschichte vertritt der
| |
| Mann, die Volkskraft wirkt unablässig mit dem dunklen
| |
| Zwang einer Urgewalt.» Hätte Freytag dieses Leben des
| |
| Volkes untersucht, so hätte er wohl gefunden, daß es sich
| |
| in das Wirken einer Summe von Einzelindividuen auflöst,
| |
| die jenen dunklen Zwang überwinden, das Unbewußte in
| |
| ihr Bewußtsein heraufheben, und er hätte gesehen, wie das
| |
| aus den individuellen Willensimpulsen, aus dem freien
| |
| Handeln des Menschen hervorgeht, was er als Volksseele,
| |
| als dunklen Zwang anspricht.
| |
| Aber noch etwas kommt in bezug auf das Wirken des
| |
| Menschen innerhalb seines Volkes in Betracht. Jede Persönlichkeit
| |
| repräsentiert eine geistige Potenz, eine Summe
| |
| von Kräften, die nach der Möglichkeit zu wirken suchen.
| |
| Jedermann muß deshalb den Platz finden, wo sich sein
| |
| Wirken in der zweckmäßigsten Weise in seinen Volksorganismus
| |
| eingliedern kann. Es darf nicht dem Zufalle überlassen
| |
| bleiben, ob er diesen Platz findet. Die Staatsverfassung
| |
| hat keinen anderen Zweck, als dafür zu sorgen, daß
| |
| jeder einen angemessenen Wirkungskreis finde. Der Staat
| |
| ist die Form, in der sich der Organismus eines Volkes darlebt.
| |
| Die Volkskunde und Staatswissenschaft hat die Weise
| |
| zu erforschen, inwiefern die einzelne Persönlichkeit innerhalb
| |
| des Staates zu einer ihr entsprechenden Geltung kommen
| |
| kann. Die Verfassung muß aus dem innersten Wesen
| |
| eines Volkes hervorgehen. Der Volkscharakter in einzelnen
| |
| Sätzen ausgedrückt, das ist die beste Staatsverfassung. Der
| |
| Staatsmann kann dem Volke keine Verfassung aufdrängen.
| |
| Der Staatslenker hat die tiefen Eigentümlichkeiten seines
| |
| Volkes zu erforschen und den Tendenzen, die in diesem
| |
| schlummern, durch die Verfassung die ihnen entsprechende
| |
| Richtung zu geben. Es kann vorkommen, daß die Mehrheit
| |
| des Volkes in Bahnen einlenken will, die gegen seine eigene
| |
| Natur gehen, Goethe meint, in diesem Falle habe sich der
| |
| Staatsmann von der letzteren und nicht von den zufälligen
| |
| Forderungen der Mehrheit leiten zu lassen; er habe die
| |
| Volkheit gegen das Volk in diesem Falle zu vertreten
| |
| («Sprüche in Prosa», Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 480f.).
| |
| Hieran müssen wir noch ein Wort über die Methode der
| |
| Geschichte anschließen. Die Geschichte muß stets im Auge
| |
| haben, daß die Ursachen zu den historischen Ereignissen
| |
| in den individuellen Absichten, Plänen usw. der Menschen
| |
| zu suchen sind. Alles Ableiten der historischen Tatsachen
| |
| aus Plänen, die der Geschichte zugrunde liegen, ist ein Irrtum.
| |
| Es handelt sich immer nur darum, welche Ziele sich
| |
| diese oder jene Persönlichkeit vorgesetzt, welche Wege sie
| |
| eingeschlagen usf. Die Geschichte ist durchaus auf die Menschennatur
| |
| zu gründen. Ihr Wollen, ihre Tendenzen sind zu
| |
| ergründen.
| |
| Wir können nun wieder das hier über die ethische Wissenschaft
| |
| Gesagte durch Aussprüche Goethes belegen.
| |
| Wenn er sagt: «Die vernünftige Welt ist als ein großes unsterbliches
| |
| Individuum zu betrachten, das unaufhaltsam
| |
| das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das
| |
| Zufällige zum Herrn macht», [«Sprüche in Prosa», ebenda
| |
| S. 482], so ist das nur aus dem Verhältnisse, in dem wir
| |
| den Menschen mit der Geschichtsentwicklung erblicken, zu
| |
| erklären. - Der Hinweis auf ein positives individuelles Substrat
| |
| des Wirkens liegt in den Worten: «Unbedingte Tätigkeit,
| |
| von welcher Art sie sei, macht zuletzt bankerott»
| |
| (Ebenda S. 463). Dasselbe in: «Der geringste Mensch kann
| |
| komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner
| |
| Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt.» (Ebenda S. 443) -
| |
| Die Notwendigkeit, daß der Mensch sich zu den leitenden
| |
| Ideen seines Volkes und seiner Zeit erhebe, ist ausgesprochen
| |
| in (ebenda S. 487): «Frage sich doch jeder, mit welchem
| |
| Organ er allenfalls in seine Zeit einwirken kann und
| |
| wird», und (ebenda S. 455): «Man muß wissen, wo man
| |
| steht und wohin die andern wollen.» Unsere Ansicht von
| |
| der Pflicht ist wiederzuerkennen in (ebenda S. 460):
| |
| «Pflicht, wo man liebt, was man sich selbst befiehlt.»
| |
| Wir haben den Menschen als erkennendes und handelndes
| |
| Wesen durchaus auf sich selbst gestellt. Wir haben seine
| |
| Ideenwelt als mit dem Weltengrunde zusammenfallend bezeichnet
| |
| und haben erkannt, daß alles, was er tut, nur als
| |
| der Ausfluß seiner eigenen Individualität anzusehen ist.
| |
| Wir suchen den Kern des Daseins in dem Menschen selbst.
| |
| Ihm offenbart niemand eine dogmatische Wahrheit, ihn
| |
| treibt niemand beim Handeln. Er ist sich selbst genug. Er
| |
| muß alles durch sich selbst, nichts durch ein anderes Wesen
| |
| sein. Er muß alles aus sich selbst schöpfen. Also auch den
| |
| Quell für seine Glückseligkeit. Wir haben ja erkannt, daß
| |
| von einer Macht, die den Menschen lenkte, die sein Dasein
| |
| nach Richtung und Inhalt bestimmte, ihn zur Unfreiheit
| |
| verdammte, nicht die Rede sein kann. Soll dem Menschen
| |
| daher Glückseligkeit werden, so kann das nur durch ihn
| |
| selbst geschehen. So wenig eine äußere Macht uns die Normen
| |
| unseres Handelns vorschreibt, so wenig wird eine
| |
| solche den Dingen die Fähigkeit erteilen, daß sie in uns das
| |
| Gefühl der Befriedigung erwecken, wenn wir es nicht selbst
| |
| tun. Lust und Unlust sind für den Menschen nur da, wenn
| |
| er selbst zuerst den Gegenständen das Vermögen beilegt,
| |
| diese Gefühle in ihm wachzurufen. Ein Schöpfer, der von
| |
| außen bestimmte, was uns Lust, was Unlust machen soll,
| |
| führte uns am Gängelbande.*
| |
| Damit ist jeder Optimismus und Pessimismus widerlegt.
| |
| Der Optimismus nimmt an, daß die Welt vollkommen sei,
| |
| daß sie für den Menschen der Quell höchster Zufriedenheit
| |
| sein müsse. Sollte das aber der Fall sein, so müßte der
| |
| Mensch erst in sich jene Bedürfnisse entwickeln, wodurch
| |
| ihm diese Zufriedenheit wird. Er müßte den Gegenständen
| |
| das abgewinnen, wonach er verlangt. Der Pessimismus
| |
| glaubt, die Einrichtung der Welt sei eine solche, daß sie den
| |
| Menschen ewig unbefriedigt lasse, daß er nie glücklich sein
| |
| könne. Welch ein erbarmungswürdiges Geschöpf wäre der
| |
| Mensch, wenn ihm die Natur von außen Befriedigung böte!
| |
| Alles Wehklagen über ein Dasein, das uns nicht befriedigt,
| |
| über diese harte Welt muß schwinden gegenüber dem Gedanken,
| |
| daß uns keine Macht der Welt befriedigen knnte,
| |
| wenn wir ihr nicht zuerst selbst jene Zauberkraft verliehen,
| |
| durch die sie uns erhebt, erfreut. Befriedigung muß uns
| |
| aus dem werden, wozu wir die Dinge machen, aus unseren
| |
| eigenen Schöpfungen. Nur das ist freier Wesen würdig.
| |
| XI
| |
| VERHÄLTNIS DER GOETHESCHEN DENKWEISE
| |
| ZU ANDEREN ANSICHTEN
| |
| Wenn von dem Einflüsse älterer oder gleichzeitiger Denker
| |
| auf die Entwicklung des Goetheschen Geistes gesprochen
| |
| wird, so kann das nicht in dem Sinne geschehen, als ob er
| |
| seine Ansichten auf Grund von deren Lehren gebildet hätte.
| |
| Die Art und Weise, wie er denken mußte, wie er die Welt
| |
| ansah, lag in der ganzen Anlage seiner Natur vorgebildet.
| |
| Und zwar lag sie von frühester Jugend an in seinem Wesen.
| |
| In bezug darauf blieb er sich dann auch sein ganzes Leben
| |
| lang gleich. Es sind vornehmlich zwei bedeutsame Charakterzüge,
| |
| die hier in Betracht kommen. Der erste ist der
| |
| Drang nach den Quellen, nach der Tiefe alles Seins. Es ist
| |
| im letzten Grunde der Glaube an die Idee. Die Ahnung
| |
| eines Höheren, Besseren erfüllt Goethe stets. Man möchte
| |
| das einen tief religiösen Zug seines Geistes nennen. Was so
| |
| vielen ein Bedürfnis ist: die Dinge unter Abstreifung eines
| |
| jeglichen Heiligen zu sich herabzuziehen, das kennt er
| |
| nicht. Er hat aber das andere Bedürfnis, ein Höheres zu
| |
| ahnen und sich zu ihm emporzuarbeiten. Jedem Dinge sucht
| |
| er eine Seite abzugewinnen, wodurch es uns heilig wird.
| |
| K. J. Schröer hat das in geistvollster Weise in bezug auf
| |
| Goethes Verhalten in der Liebe gezeigt. Alles Frivole,
| |
| Leichtfertige wird abgestreift und die Liebe wird für
| |
| Goethe ein Frommsein. Dieser Grundzug seines Wesens ist
| |
| am schönsten in seinen Worten ausgesprochen:
| |
| «In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
| |
| Sich einem Höhern, Reinem, Unbekannten
| |
| Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben.
| |
| Wir heißen's: fromm sein!»
| |
| Diese Seite seines Wesens ist nun [Trilogie der Leidenschaft
| |
| / Elegie] unzertrennlich mit einer andern in Verbindung.
| |
| Er sucht an dieses Höhere nie unmittelbar heranzutreten;
| |
| er sucht sich ihm immer durch die Natur zu
| |
| nähern. «Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht
| |
| unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen
| |
| erraten» («Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt.,
| |
| S. 378). Neben dem Glauben an die Idee hat Goethe auch
| |
| den andern, daß wir die Idee durch Betrachtung der Wirklichkeit
| |
| gewinnen; es fällt ihm nicht ein, die Gottheit
| |
| anderswo zu suchen als in den Werken der Natur, aber
| |
| diesen sucht er überall ihre göttliche Seite abzugewinnen.
| |
| Wenn er in seiner Knabenzeit dem großen Gotte, der
| |
| «mit der Natur in unmittelbarer Verbindung steht» («Dichtung
| |
| und Wahrheit», I. Teil, 1. Buch), einen Altar errichtet,
| |
| so entspringt dieser Kultus schon entschieden aus dem
| |
| Glauben, daß wir das Höchste, zu dem wir gelangen können,
| |
| durch treues Pflegen des Verkehres mit der Natur gewinnen.
| |
| So ist denn Goethe jene Betrachtungsweise angeboren,
| |
| die wir erkenntnistheoretisch gerechtfertigt haben.
| |
| Er tritt an die Wirklichkeit heran in der Überzeugung,
| |
| daß alles nur eine Manifestation der Idee ist, die wir erst
| |
| gewinnen, wenn wir die Sinneserfahrung in geistiges Anschauen
| |
| hinaufheben. Diese Überzeugung lag in ihm, und
| |
| er betrachtete von Jugend auf die Welt auf Grund dieser
| |
| Voraussetzung. Kein Philosoph konnte ihm diese Überzeugung
| |
| geben. Nicht das ist es also, was Goethe bei den
| |
| Philosophen suchte. Es war etwas anderes. Wenn seine
| |
| Weise die Dinge zu betrachten auch tief in seinem Wesen
| |
| lag, so brauchte er doch eine Sprache sie auszudrücken.
| |
| Sein Wesen wirkte philosophisch, d. h. so, daß es sich nur
| |
| in philosophischen Formeln aussprechen, nur von philosophischen
| |
| Voraussetzungen aus rechtfertigen läßt. Und um
| |
| das, was er war, auch sich deutlich zum Bewußtsein zu
| |
| bringen, um das, was bei ihm lebendiges Tun war, auch zu
| |
| wissen, sah er sich bei den Philosophen um. Er suchte bei
| |
| ihnen eine Erklärung und Rechtfertigung seines Wesens.
| |
| Das ist sein Verhältnis zu den Philosophen. Zu diesem
| |
| Zwecke studierte er in der Jugend Spinoza und ließ sich
| |
| später mit den philosophischen Zeitgenossen in wissenschaftliche
| |
| Verhandlungen ein. In seinen Jünglingsjahren
| |
| schienen dem Dichter am meisten Spinoza und Giordano
| |
| Bruno sein eigenes Wesen auszusprechen. Es ist merkwürdig,
| |
| daß er beide Denker zuerst aus gegnerischen Schriften
| |
| kennen lernte und trotz dieses Umstandes erkannte,
| |
| wie ihre Lehren zu seiner Natur stehen. Besonders an seinem
| |
| Verhältnis zu Giordano Brunos Lehren sehen wir das
| |
| Gesagte erhärtet. Er lernt ihn aus Bayles Wörterbuch, wo
| |
| er heftig angegriffen wird, kennen. Und er erhält von ihm
| |
| einen so tiefen Eindruck, daß wir in jenen Teilen des
| |
| «Faust», die, der Konzeption nach, aus der Zeit um 1770
| |
| stammen, wo er Bayle las, sprachliche Anklänge an Sätze
| |
| von Bruno finden (s. Goethe-Jahrbuch Bd.VII, Frankfurt/
| |
| M. 1886). In den Tag- und Jahres-Heften erzählt der
| |
| Dichter, daß er sich wieder 1812 mit Giordano Bruno beschäftigt
| |
| habe. Auch diesmal ist der Eindruck ein gewaltiger,
| |
| und in vielen der nach diesem Jahre entstandenen
| |
| Gedichte erkennen wir Anklänge an den Philosophen von
| |
| Nola. Das alles ist aber nicht so zu nehmen, als ob Goethe
| |
| von Bruno irgend etwas entlehnt oder gelernt hätte; er
| |
| fand bei ihm nur die Formel, das, was längst in seiner Natur
| |
| lag, auszusprechen. Er fand, daß er sein eigenes Innere
| |
| am klarsten darlege, wenn er es mit den Worten jenes Denkers
| |
| tat. Bruno betrachtet die universelle Vernunft als die
| |
| Erzeugerin und Lenkerin des Weltalls. Er nennt sie den
| |
| inneren Künstler, der die Materie formt und von innen
| |
| heraus gestaltet. Sie ist die Ursache von allem Bestehenden,
| |
| und es gibt kein Wesen, an dessen Sein sie nicht liebevoll
| |
| Anteil nähme. «Das Ding sei noch so klein und winzig,
| |
| es hat in sich einen Teil von geistiger Substanz» (Giordano
| |
| Bruno, Von der Ursache usw., hg. v. A. Lasson, Heidelberg
| |
| 1882). Das war ja auch Goethes Ansicht, daß wir ein Ding
| |
| erst zu beurteilen wissen, wenn wir sehen, wie es von der
| |
| allgemeinen Vernunft an seinen Ort gestellt worden ist,
| |
| wie es gerade zu dem geworden ist, als was es uns gegenübertritt.
| |
| Wenn wir mit den Sinnen wahrnehmen, so genügt
| |
| das nicht, denn die Sinne sagen uns nicht, wie ein Ding mit
| |
| der allgemeinen Weltidee zusammenhängt, was es für das
| |
| große Ganze zu bedeuten hat. Da müssen wir so schauen,
| |
| daß uns unsere Vernunft einen ideellen Untergrund schafft,
| |
| auf dem uns dann das erscheint, was uns die Sinne überliefern;
| |
| wir müssen, wie es Goethe ausdrückt, mit den
| |
| Augen des Geistes schauen. Auch um diese Überzeugung
| |
| auszusprechen, fand er bei Bruno eine Formel: «Denn wie
| |
| wir nicht mit einem und demselben Sinn Farben und Töne
| |
| erkennen, so sehen wir auch nicht mit einem und demselben
| |
| Auge das Substrat der Künste und das Substrat der Natur»,
| |
| weil wir «mit den sinnlichen Augen jenes und mit dem
| |
| Auge der Vernunft dieses sehen» (s. Lasson S. 77). Und mit
| |
| Spinoza ist es nicht anders. Spinozas Lehre beruht ja darauf,
| |
| daß die Gottheit in der Welt aufgegangen ist. Das
| |
| menschliche Wissen kann also nur bezwecken, sich in die
| |
| Welt zu vertiefen, um Gott zu erkennen. Jeder andere Weg,
| |
| zu Gott zu gelangen, muß für einen konsequent im Sinne
| |
| des Spinozismus denkenden Menschen unmöglich erscheinen.
| |
| Denn Gott hat jede eigene Existenz aufgegeben; außer
| |
| der Welt ist er nirgends. Wir müssen ihn aber da aufsuchen,
| |
| wo er ist. Jedes eigentliche Wissen muß also so beschaffen
| |
| sein, daß es uns in jedem Stücke Welterkenntnis ein Stück
| |
| Gotteserkenntnis überliefert. Das Erkennen auf seiner
| |
| höchsten Stufe ist also ein Zusammengehen mit der Gottheit.
| |
| Wir nennen es da anschauliches Wissen. Wir erkennen
| |
| die Dinge «sub specie aeternitatis», d. h. als Ausflüsse der
| |
| Gottheit. Die Gesetze, die unser Geist in der Natur erkennt,
| |
| sind also Gott in seiner Wesenheit, nicht nur von
| |
| ihm gemacht. Was wir als logische Notwendigkeit erkennen,
| |
| ist so, weil ihm das Wesen der Gottheit, d. i. die ewige
| |
| Gesetzlichkeit innewohnt. Das war eine dem Goetheschen
| |
| Geist gemäße Anschauung. Sein fester Glaube, daß uns die
| |
| Natur in all ihrem Treiben ein Göttliches offenbare, lag
| |
| ihm hier in klarsten Sätzen vor. «Ich halte mich fest und
| |
| fester an die Gottes Verehrung des Atheisten (Spinoza)»,
| |
| schreibt er an Jacobi, als dieser die Lehre Spinozas in
| |
| einem anderen Lichte erscheinen lassen wollte. [WA 7,214]
| |
| Darinnen liegt das Verwandtschaftliche mit Spinoza bei
| |
| Goethe. Und wenn man gegenüber dieser tiefen, inneren
| |
| Harmonie zwischen Goethes Wesen und Spinozas Lehre immer
| |
| und immer das rein Äußerliche hervorhebt: Goethe
| |
| wurde von Spinoza angezogen, weil er wie dieser die Endursachen
| |
| in der Welterklärung nicht dulden wollte, so zeugt
| |
| das von einer oberflächlichen Beurteilung der Sachlage. Daß
| |
| Goethe wie Spinoza die Endursachen verwarfen, war nur
| |
| eine Folge ihrer Ansichten. Man lege sich doch nur die Theorie
| |
| von den Endursachen klar vor. Es wird ein Ding nach
| |
| Dasein und Beschaffenheit dadurch erklärt, daß man seine
| |
| Notwendigkeit für ein anderes dartut. Man zeigt, dieses
| |
| Ding ist so und so beschaffen, weil jenes andere so und so
| |
| ist. Das setzt voraus, daß ein Weltengrund existiere, der
| |
| über den beiden Wesen stehe und sie so einrichte, daß sie
| |
| füreinander passen. Wenn aber der Weltengrund einem
| |
| jeden Dinge innewohnt, dann hat diese Erklärungsweise
| |
| keinen Sinn. Denn dann muß uns die Beschaffenheit eines
| |
| Dinges als Folge des in ihm wirksamen Prinzipes erscheinen.
| |
| Wir werden in der Natur eines Dinges den Grund
| |
| suchen, warum es so und nicht anders ist. Wenn wir den
| |
| Glauben haben, daß Göttliches einem jeden Dinge innewohnt,
| |
| dann wird es uns doch nicht einfallen, zur Erklärung
| |
| seiner Gesetzlichkeit nach einem äußerlichen Prinzip
| |
| zu suchen. Auch das Verhältnis Goethes zu Spinoza ist
| |
| nicht anders zu fassen, denn so, daß er bei ihm die Formeln,
| |
| die wissenschaftliche Sprache fand, um die in ihm liegende
| |
| Welt auszusprechen.
| |
| Wenn wir nun auf Goethes Beziehung zu den gleichzeitigen
| |
| Philosophen übergehen, so haben wir vor allem von
| |
| Kant zu sprechen. Kant wird allgemein als der Begründer
| |
| der heutigen Philosophie angesehen. Zu seiner Zeit rief er
| |
| eine so mächtige Bewegung hervor, daß es für jeden Gebildeten
| |
| Bedürfnis war, sich mit ihm auseinanderzusetzen.
| |
| Auch für Goethe wurde diese Auseinandersetzung eine
| |
| Notwendigkeit. Sie konnte aber für ihn nicht fruchtbar
| |
| sein. Denn es besteht ein tiefer Gegensatz zwischen dem,
| |
| was die Kantsche Philosophie lehrt, und dem, was wir als
| |
| Goethesche Denkweise erkennen. Ja, man kann geradezu
| |
| sagen, daß das gesamte deutsche Denken in zwei parallelen
| |
| Richtungen abläuft, einer von der Kantschen Denkweise
| |
| durchtränkten und einer andern, die dem Goetheschen
| |
| Denken nahesteht. Indem sich aber heute die Philosophie
| |
| immer mehr Kant nähert, entfernt sie sich von Goethe und
| |
| damit geht für unsere Zeit immer mehr die Möglichkeit
| |
| verloren, die Goethesche Weltanschauung zu begreifen und
| |
| zu würdigen. Wir wollen die Hauptsätze der Kantschen
| |
| Lehre insoweit hierhersetzen, als sie Interesse für die Ansichten
| |
| Goethes haben. Der Ausgangspunkt für das menschliche
| |
| Denken ist für Kant die Erfahrung, d. h. die den
| |
| Sinnen (worinnen der innere Sinn, der uns die psychischen,
| |
| historischen usw. Tatsachen übermittelt, inbegriffen ist)
| |
| gegebene Welt. Diese ist eine Mannigfaltigkeit von Dingen
| |
| im Raume und von Prozessen in der Zeit. Daß mir gerade
| |
| dieses Ding gegenübertritt, daß ich gerade jenen Prozeß erlebe,
| |
| ist gleichgültig; es könnte auch anders sein. Ich kann
| |
| mir überhaupt die ganze Mannigfaltigkeit von Dingen und
| |
| Prozessen wegdenken. Was ich mir aber nicht wegdenken
| |
| kann, das ist Raum und Zeit. Es kann für mich nichts geben,
| |
| was nicht räumlich oder zeitlich wäre. Selbst, wenn
| |
| es ein raumloses oder zeitloses Ding gibt, kann ich nichts
| |
| davon wissen, denn ich kann mir ohne Raum und Zeit
| |
| nichts vorstellen. Ob den Dingen selbst Raum und Zeit zukomme,
| |
| weiß ich nicht; ich weiß nur, daß die Dinge für
| |
| mich in diesen Formen auftreten müssen. Raum und Zeit
| |
| sind somit die Vorbedingungen meiner sinnlichen Wahrnehmung.
| |
| Ich weiß von dem Ding an sich nichts; ich weiß
| |
| nur, wie es mir erscheinen muß, wenn es für mich da sein
| |
| soll. Kant leitet mit diesen Sätzen ein neues Problem ein.
| |
| Er tritt mit einer neuen Fragestellung in der Wissenschaft
| |
| auf. Statt wie die früheren Philosophen zu fragen: Wie
| |
| sind die Dinge beschaffen, fragt er: wie müssen uns die
| |
| Dinge erscheinen, damit sie Gegenstand unseres Wissens
| |
| werden können? Die Philosophie ist für Kant die Wissenschaft
| |
| von den Bedingungen der Möglichkeit der Welt als
| |
| einer menschlichen Erscheinung. Von dem Ding an sich
| |
| wissen wir nichts. Wir haben unsere Aufgabe noch nicht
| |
| erfüllt, wenn wir bis zur sinnlichen Anschauung einer Mannigfaltigkeit
| |
| in Zeit und Raum kommen. Wir streben darnach,
| |
| diese Mannigfaltigkeit in eine Einheit zusammenzufassen.
| |
| Und das ist Sache des Verstandes. Der Verstand ist
| |
| als eine Summe von Tätigkeiten aufzufassen, die den Zweck
| |
| haben, die Sinnenwelt nach gewissen in ihm vorgezeichneten
| |
| Formen zusammenzufassen. Er faßt zwei sinnenfällige
| |
| Wahrnehmungen zusammen, indem er z. B. die eine als
| |
| Ursache, die andere als Wirkung bezeichnet oder die eine
| |
| als Substanz, die andere als Eigenschaft usw. Auch hier ist
| |
| es die Aufgabe der philosophischen Wissenschaft, zu zeigen,
| |
| unter welchen Bedingungen es dem Verstande gelingt,
| |
| sich ein System der Welt zu bilden. So ist die Welt eigentlich
| |
| im Sinne Kants eine in den Formen der Sinnenwelt
| |
| und des Verstandes auftretende subjektive Erscheinung. Es
| |
| ist nur das Eine gewiß, daß es ein Ding an sich gibt; wie es
| |
| uns erscheint, das hängt von unserer Organisation ab. Es
| |
| ist nun auch natürlich, daß es keinen Sinn hat, jener Welt,
| |
| die der Verstand im Verein mit den Sinnen geformt hat,
| |
| eine andere als eine Bedeutung für unser Erkenntnisvermögen
| |
| zuzuschreiben. Am klarsten wird das da, wo Kant
| |
| von der Bedeutung der Ideenwelt spricht. Die Ideen sind
| |
| für ihn nichts als höhere Gesichtspunkte der Vernunft, unter
| |
| denen die niederen Einheiten, die der Verstand geschaffen,
| |
| begriffen werden. Der Verstand bringt z. B. die Seelenerscheinungen
| |
| in einen Zusammenhang; die Vernunft, als
| |
| das Ideenvermögen, faßt dann diesen Zusammenhang so,
| |
| als wenn alles von einer Seele ausginge. Das hat aber für die
| |
| Sache selbst keine Bedeutung, ist nur Orientierungsmittel
| |
| für unser Erkenntnisvermögen. Dies der Inhalt von Kants
| |
| theoretischer Philosophie, soweit er uns hier interessieren
| |
| kann. Man sieht in ihr sofort den entgegengesetzten Pol der
| |
| Goetheschen. Die gegebene Wirklichkeit wird von Kant
| |
| nach uns selbst bestimmt; sie ist so, weil wir sie so vorstellen.
| |
| Kant überspringt die eigentliche erkenntnistheoretische
| |
| Frage. Er macht am Eingange seiner Vernunftkritik zwei
| |
| Schritte, die er nicht rechtfertigt, und an diesem Fehler
| |
| krankt sein ganzes philosophisches Lehrgebäude. Er stellt
| |
| sogleich die Unterscheidung von Objekt und Subjekt auf,
| |
| ohne zu fragen, was für eine Bedeutung es denn überhaupt
| |
| hat, wenn der Verstand die Trennung zweier Wirklichkeitsgebiete
| |
| (hier erkennendes Subjekt und zu erkennendes
| |
| Objekt) vornimmt. Dann sucht er das gegenseitige Verhältnis
| |
| dieser beiden Gebiete begrifflich herzustellen, wieder
| |
| ohne zu fragen, welchen Sinn eine solche Feststellung
| |
| hat. Hätte er die erkenntnistheoretische Hauptfrage nicht
| |
| schief gesehen, so hätte er bemerkt, daß die Auseinanderhaltung
| |
| von Subjekt und Objekt nur ein Durchgangspunkt
| |
| unseres Erkennens ist, daß beiden eine tiefere, der Vernunft
| |
| erfaßbare Einheit zugrunde liegt und daß dasjenige, was
| |
| einem Dinge als Eigenschaft zuerkannt wird, insofern es
| |
| in bezug auf ein erkennendes Subjekt gedacht wird, keineswegs
| |
| nur subjektive Gültigkeit hat. Das Ding ist eine Vernunfteinheit
| |
| und die Trennung in ein «Ding an sich» und
| |
| «Ding für uns» ist Verstandesprodukt. Es geht also nicht
| |
| an, zu sagen, was dem Dinge in einer Beziehung zuerkannt
| |
| wird, kann ihm in anderer abgesprochen werden. Denn ob
| |
| ich dasselbe Ding einmal unter diesem, ein andermal unter
| |
| jenem Gesichtspunkte betrachte: es ist ja doch ein einheitliches
| |
| Ganzes.
| |
| Es ist ein Fehler, der sich durch Kants ganzes Lehrgebäude
| |
| durchzieht, daß er die sinnenfällige Mannigfaltigkeit
| |
| als etwas Festes ansieht, und daß er glaubt, Wissenschaft
| |
| bestehe darinnen, diese Mannigfaltigkeit in ein System zu
| |
| bringen. Er vermutet gar nicht, daß das Mannigfaltige kein
| |
| Letztes ist, das man überwinden muß, wenn man es begreifen
| |
| will; und deshalb wird ihm alle Theorie bloß eine Zutat,
| |
| die Verstand und Vernunft zur Erfahrung hinzubringen.
| |
| Die Idee ist ihm nicht das, was der Vernunft als der
| |
| tiefere Grund der gegebenen Welt erscheint, wenn sie die
| |
| an der Oberfläche gelegene Mannigfaltigkeit überwunden
| |
| hat, sondern nur ein methodisches Prinzip, nach dem dieselbe
| |
| die Erscheinungen behufs ihrer leichteren Übersicht
| |
| anordnet. Wir gingen nach Kantscher Anschauung ganz
| |
| fehl, wenn wir die Dinge als aus der Idee ableitbar betrachteten;
| |
| wir können nach seiner Meinung unsere Erfahrungen
| |
| nur so anordnen, als ob sie aus einer Einheit stammten. Von
| |
| dem Grund der Dinge, von dem «An sich» haben wir nach
| |
| Kant keine Ahnung. Unser Wissen von den Dingen ist nur
| |
| in bezug auf uns da, ist nur für unsere Individualität gültig.
| |
| Aus dieser Ansicht über die Welt konnte Goethe nicht
| |
| viel gewinnen. Ihm blieb die Betrachtung der Dinge in bezug
| |
| auf uns immer die ganz untergeordnete, welche die
| |
| Wirkung der Gegenstände auf unser Gefühl der Lust und
| |
| Unlust betrifft; von der Wissenschaft fordert er mehr als
| |
| bloß die Angabe, wie die Dinge in bezug auf uns sind. In
| |
| dem Aufsatz: «Der Versuch als Vermittler von Objekt und
| |
| Subjekt» (Natw. Schr., 2. Bd., S. 10 ff.) wird die Aufgabe
| |
| des Forschers bestimmt: Er soll den Maßstab zur Erkenntnis,
| |
| die Data zur Beurteilung nicht aus sich, sondern aus
| |
| dem Kreise der Dinge nehmen, die er beobachtet. Mit diesem
| |
| einzigen Satz ist der tiefe Gegensatz Kantischer und
| |
| Goethescher Denkweise gekennzeichnet. Während bei Kant
| |
| alles Urteilen über die Dinge nur ein Produkt aus Subjekt
| |
| und Objekt ist und nur ein Wissen darüber liefert, wie das
| |
| Subjekt das Objekt anschaut, geht das Subjekt bei Goethe
| |
| selbstlos in dem Objekte auf und entnimmt die Data zur
| |
| Beurteilung aus dem Kreise der Dinge. Goethe sagt daher
| |
| von Kants Schülern selbst: «Sie hörten mich wohl, konnten
| |
| mir aber nichts erwidern, noch irgend förderlich sein.»
| |
| [Natw. Schr., 2. Bd., S. 29] Mehr glaubte der Dichter aus
| |
| Kants Kritik der Urteilskraft gewonnen zu haben.
| |
| Ungleich mehr als durch Kant wurde Goethe in philosophischer
| |
| Beziehung durch Schiller gefördert. Durch ihn
| |
| wurde er nämlich wirklich um eine Stufe weiter in der Erkenntnis
| |
| seiner eigenen Anschauungsweise gebracht. Bis zu
| |
| jenem berühmten ersten Gespräch mit Schiller hatte
| |
| Goethe* eine gewisse Weise, die Welt anzuschauen, geübt.
| |
| Er hatte Pflanzen betrachtet, ihnen eine Urpflanze zugrunde
| |
| gelegt und die einzelnen Formen daraus abgeleitet.
| |
| Diese Urpflanze (und auch ein entsprechendes Urtier) hatte
| |
| sich in seinem Geiste gestaltet, war ihm bei der Erklärung
| |
| der einschlägigen Erscheinungen dienlich. Er hatte aber nie
| |
| darüber nachgedacht, was denn diese Urpflanze ihrem Wesen
| |
| nach sei. Schiller öffnete ihm die Augen, indem er ihm
| |
| sagte: sie ist eine Idee. Von jetzt ab ist sich Goethe seines
| |
| Idealismus erst bewußt. Er nennt die Urpflanze daher bis
| |
| zu jenem Gespräch eine Erfahrung, denn er glaubte sie mit
| |
| Augen zu sehen. In der später zu dem Aufsatz über die Metamorphose
| |
| der Pflanze hinzugekommenen Einleitung aber
| |
| sagt er: «So trachtete ich nunmehr das Urtier zu finden, das
| |
| heißt denn doch zuletzt, den Begriff, die Idee des Tieres.»
| |
| [Natw. Schr., 1. Bd., S. 15] Dabei ist aber festzuhalten, daß
| |
| Schiller Goethen nichts diesem Fremdes überlieferte, sondern
| |
| vielmehr sich selbst erst durch die Betrachtung des
| |
| Goetheschen Geistes zur Erkenntnis des objektiven Idealismus
| |
| durchrang. Er fand nur den Terminus für die Anschauungsweise,
| |
| die er an Goethe erkannte und bewunderte.
| |
| Wenig Förderung hat Goethe von Fichte erfahren.
| |
| Fichte bewegte sich in einer dem Goetheschen Denken viel
| |
| zu fremden Sphäre, als daß eine solche möglich gewesen
| |
| wäre. Fichte hat die Wissenschaft des Bewußtseins in der
| |
| scharfsinnigsten Weise begründet. Er hat die Tätigkeit,
| |
| durch welche das «Ich» die gegebene Welt in eine gedachte
| |
| verwandelt, in einzig musterhafter Weise abgeleitet. Dabei
| |
| hat er aber den Fehler gemacht, daß er diese Tätigkeit des
| |
| Ich nicht bloß als eine solche auffaßte, die den gegebenen
| |
| Inhalt in eine befriedigende Form bringt, die zusammenhanglos
| |
| Gegebenes in die entsprechenden Zusammenhänge
| |
| bringt; er hat sie als ein Erschaffen alles dessen angesehen,
| |
| was innerhalb des «Ich» sich abspielt. Dadurch erscheint
| |
| seine Lehre als ein einseitiger Idealismus, der seinen ganzen
| |
| Inhalt aus dem Bewußtsein nimmt. Goethe, der stets auf
| |
| das Objektive ging, konnte wohl wenig Anziehendes in
| |
| Fichtes Bewußtseinsphilosophie finden. Für das Gebiet, wo
| |
| sie gilt, fehlte Goethe das Verständnis; die Ausdehnung
| |
| aber, die ihr Fichte gab - er sah sie als Universalwissenschaft
| |
| an -, konnte dem Dichter nur als ein Irrtum erscheinen.*
| |
| Viel mehr Berührungspunkte hatte Goethe mit dem jungen
| |
| Schelling. Dieser war ein Schüler Fichtes. Er führte
| |
| aber nicht nur die Analyse der Tätigkeit des «Ich» weiter,
| |
| sondern er verfolgte auch jene Tätigkeit innerhalb des Bewußtseins,
| |
| durch welches das letztere die Natur erfaßt.
| |
| Das, was sich im Ich beim Erkennen der Natur abspielt,
| |
| schien Schelling zugleich das Objektive der Natur, das
| |
| eigentliche Prinzip in ihr zu sein. Die Natur draußen war
| |
| ihm nur eine festgewordene Form unserer Naturbegriffe.
| |
| Was in uns als Naturanschauung lebt, das erscheint uns
| |
| außen wieder, nur auseinandergezogen, räumlich-zeitlich.
| |
| Was uns von außen her als Natur entgegentritt, ist fertiges
| |
| Produkt, ist nur das Bedingte, die starr gewordene Form
| |
| eines lebendigen Prinzips. Dieses Prinzip können wir nicht
| |
| durch Erfahrung von außen her gewinnen. Wir müssen es
| |
| in unserem Innern erst schaffen. «Über die Natur philosophieren
| |
| heißt die Natur schaffen,» sagt deshalb unser Philosoph.
| |
| 94 «Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata)
| |
| nennen wir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle
| |
| Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans)
| |
| nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle
| |
| Theorie).» (Einleitung zu seinem Entwurf..., Jena u. Leipzig
| |
| 1799, S. 22.) «Der Gegensatz zwischen Empirie und
| |
| Wissenschaft beruht nun eben darauf, daß jene ihr Objekt
| |
| im Sein als etwas Fertiges und zustande Gebrachtes; die
| |
| Wissenschaft dagegen das Objekt im Werden und als ein
| |
| erst zustande zu Bringendes betrachtet.» (Ebenda S. 20)
| |
| 94 [Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie; Jena
| |
| u. Leipzig 1799, S. 6.]
| |
| Durch diese Lehre, die Goethe teils aus Schellings Schriften,
| |
| teils aus persönlichem Umgange mit dem Philosophen
| |
| kennen lernte, wurde der Dichter wieder um eine Stufe
| |
| höher gebracht. Jetzt entwickelte sich bei ihm die Ansicht,
| |
| daß seine Tendenz darauf gehe, von dem Fertigen, dem
| |
| Produkte zu dem Werdenden, Produzierenden fortzuschreiten.
| |
| Und mit entschiedenem Anklang an Schelling
| |
| schreibt er im Aufsatz «Anschauende Urteilskraft», daß
| |
| sein Streben war, sich «durch das Anschauen einer immer
| |
| schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen
| |
| würdig zu machen» (Natw. Schr., 1. Bd., S. 116).
| |
| Durch Hegel endlich erhielt Goethe die letzte Förderung
| |
| von sehen der Philosophie. Durch ihn erlangte er nämlich
| |
| Klarheit darüber, wie sich das, was er Urphädnomen
| |
| nannte, in die Philosophie einreiht. Hegel hat die Bedeutung
| |
| des Urphänomens am tiefsten begriffen und in seinem
| |
| Briefe an Goethe vom 20. Februar 1821 trefflich charakterisiert
| |
| mit den Worten: «Das Einfache und Abstrakte, das
| |
| Sie sehr treffend das Urphänomen nennen, stellen Sie an
| |
| die Spitze, zeigen dann die konkreteren Erscheinungen auf,
| |
| als entstehend durch das Hinzukommen weiterer Einwirkungsweisen
| |
| und Umstände und regieren den ganzen Verlauf
| |
| so, daß die Reihenfolge von den einfachen Bedingungen
| |
| zu den zusammengesetzteren fortschreitet, und so rangiert,
| |
| das Verwickelte nun, durch diese Dekomposition, in
| |
| seiner Klarheit erscheint. Das Urphänomen auszuspüren,
| |
| es von den andern ihm selbst zufälligen Umgebungen zu befreien,
| |
| — es abstrakt, wie wir dies heißen, aufzufassen, dies
| |
| halte ich für eine Sache des großen geistigen Natursinns,
| |
| sowie jenen Gang überhaupt für das wahrhaft Wissenschaftliche
| |
| der Erkenntnis in diesem Felde.» . . . «Darf ich
| |
| Ew. etc. aber nun auch noch von dem besonderen Interesse
| |
| sprechen, welches ein so herausgehobenes Urphänomen für
| |
| uns Philosophen hat, daß wir nämlich ein solches Präparat
| |
| geradezu in den philosophischen Nutzen verwenden können!
| |
| Haben wir nämlich unser zunächst austernhaftes,
| |
| graues, oder ganz schwarzes Absolutes, doch gegen Luft
| |
| und Licht hingearbeitet, daß es derselben begehrlich geworden,
| |
| so brauchen wir Fensterstellen, um es vollends an
| |
| das Licht des Tages herauszuführen; unsere Schemen würden
| |
| zu Dunst verschweben, wenn wir sie so geradezu in die
| |
| bunte, verworrene Gesellschaft der widerwärtigen Welt
| |
| versetzen wollten. Hier kommen uns nun Ew. Wohlgeboren
| |
| Urphänomene vortrefflich zustatten; in diesem Zwielichte,
| |
| geistig und begreiflich durch seine Einfachheit, sichtlich
| |
| und greiflich durch seine Sinnlichkeit - begrüßen sich
| |
| die beiden Welten, unser Abstruses, und das erscheinende
| |
| Dasein, einander.» So wird durch Hegel für Goethe der
| |
| Gedanke klar, daß der empirische Forscher bis zu den Urphänomenen
| |
| zu gehen hat, und daß von da aus die Wege
| |
| des Philosophen weiterführen. Daraus geht aber auch hervor,
| |
| daß der Grundgedanke der Hegeischen Philosophie
| |
| eine Konsequenz der Goetheschen Denkweise ist. Die
| |
| Überwindung der Wirklichkeit, die Vertiefung in dieselbe,
| |
| um vom Geschaffenen zum Schaffen, vom Bedingten zur
| |
| Bedingung aufzusteigen, liegt bei Goethe, aber auch bei
| |
| Hegel zugrunde. Hegel will ja in der Philosophie nichts anderes
| |
| bieten als den ewigen Prozeß, aus dem alles, was endlich
| |
| ist, hervorgeht. Er will das Gegebene als eine Folge
| |
| dessen erkennen, was er als Unbedingtes gelten lassen kann.
| |
| So bedeutet für Goethe das Bekanntwerden mit Philosophen
| |
| und philosophischen Richtungen eine fortschreitende
| |
| Aufklärung darüber, was schon in ihm lag. Er hat für
| |
| seine Anschauung nichts gewonnen; ihm wurden nur die
| |
| Mittel an die Hand gegeben, darüber zu reden, was er tat,
| |
| was in seiner Seele vorging.
| |
| So bietet denn die Goethesche Weltansicht genugsam
| |
| Anhaltspunkte zur philosophischen Ausgestaltung. Diese
| |
| sind aber zunächst nur von den Schülern Hegels aufgegriffen
| |
| worden. Die übrige Philosophie steht der Goetheschen
| |
| Anschauung vornehm ablehnend gegenüber. Nur Schopenhauer
| |
| stützt sich in manchen Punkten auf den von ihm
| |
| hochgeschätzten Dichter. Von seiner Apologetik der Farbenlehre
| |
| werden wir in einem späteren Kapitel sprechen.
| |
| Hier kommt es auf das allgemeine Verhältnis von Schopenhauers
| |
| Lehre zu Goethe an.95 In einem Punkte kommt
| |
| der Frankfurter Philosoph an Goethe heran. Schopenhauer
| |
| weist nämlich alles Herleiten der uns gegebenen Phänomene
| |
| aus äußeren Ursachen ab und läßt nur eine innere
| |
| Gesetzmäßigkeit gelten, nur ein Herleiten einer Erscheinung
| |
| aus der andern. Das kommt scheinbar dem Goetheschen
| |
| Prinzip gleich, die Data der Erklärung aus den Dingen
| |
| selbst zu nehmen; aber eben nur scheinbar. Denn während
| |
| Schopenhauer innerhalb des Phänomenalen bleiben
| |
| will, weil wir das außer demselben liegende «An sich» im
| |
| Erkennen nicht erreichen können, da alle uns gegebenen
| |
| 95 Sehr lesenswert ist Dr. Adolf Harpfs Aufsatz «Schopenhauer und
| |
| Goethe» (Philos. Monatshefte 1885). Harpf, der auch schon eine
| |
| treffliche Abhandlung über «Goethes Erkenntnisprinzip» (Philos.
| |
| Monatshefte 1884) geschrieben hat, zeigt die Übereinstimmung des
| |
| «immanenten Dogmatismus» Schopenhauers mit dem gegenständlichen
| |
| Wissen Goethes. Den prinzipiellen Unterschied zwischen
| |
| Goethe und Schopenhauer, wie wir ihn oben charakterisierten, findet
| |
| Harpf, der selbst Schopenhauerianer ist, nicht heraus. Dennoch verdienen
| |
| die Ausführungen Harpfs alle Aufmerksamkeit.
| |
| Erscheinungen nur Vorstellungen sind und unser Vorstellungsvermögen
| |
| uns nie über unser Bewußtsein hinausführt,
| |
| will Goethe innerhalb der Phänomene bleiben, weil er eben
| |
| in ihnen selbst die Data zu ihrer Erklärung sucht.
| |
| Zum Schlusse wollen wir noch die Goethesche Weltansicht
| |
| mit der bedeutsamsten wissenschaftlichen Erscheinung
| |
| unserer Zeit, mit den Anschauungen Eduard v. Hartmanns
| |
| zusammenhalten. Die «Philosophie des Unbewußten» dieses
| |
| Denkers ist ein Werk von größter geschichtlicher Bedeutung.
| |
| Mit den übrigen Schriften Hartmanns, die das
| |
| dort Skizzierte nach allen Seiten ausbauen, ja wohl in vieler
| |
| Hinsicht neue Gesichtspunkte zu jenem Hauptwerke
| |
| hinzubringen, zusammen, spiegelt sich in ihr der gesamte
| |
| geistige Inhalt unserer Zeit. Hartmann zeichnet ein bewunderungswerter
| |
| Tiefsinn und eine erstaunliche Beherrschung
| |
| des Materiales der einzelnen Wissenschaften aus. Er
| |
| steht heute auf der Hochwacht der Bildung. Man braucht
| |
| nicht sein Anhänger zu sein, und man wird ihm das rückhaltlos
| |
| zuerkennen müssen.
| |
| Seine Anschauung steht der Goetheschen nicht so ferne,
| |
| als man auf den ersten Blick glauben möchte. Wem nichts
| |
| anderes vorliegt als die «Philosophie des Unbewußten», der
| |
| wird das freilich nicht einsehen können. Denn die entschiedenen
| |
| Berührungspunkte beider Denker sieht man erst,
| |
| wenn man auf die Konsequenzen geht, die Hartmann aus
| |
| seinen Prinzipien gezogen und die er in seinen späteren
| |
| Schriften niedergelegt hat.
| |
| Hartmanns Philosophie ist Idealismus. Er will zwar
| |
| kein bloßer Idealist sein. Allein, wo er behufs der Welterklärung
| |
| etwas Positives braucht, ruft er doch die Idee zu
| |
| Hilfe. Und das Wichtigste ist, daß er die Idee überall zugründe
| |
| liegend denkt. Denn seine Annahme eines Unbewußten
| |
| hat ja keinen andern Sinn, als daß jenes, das in unserem
| |
| Bewußtsein als Idee vorhanden ist, nicht notwendig
| |
| an diese Erscheinungsform - innerhalb des Bewußtseins -
| |
| gebunden ist. Die Idee ist nicht nur vorhanden (wirksam),
| |
| wo sie bewußt wird, sondern auch in anderer Form. Sie ist
| |
| mehr denn bloßes subjektives Phänomen; sie hat eine in sich
| |
| selbst gegründete Bedeutung. Sie ist nicht bloß im Subjekte
| |
| gegenwärtig, sie ist objektives Weltprinzip. Wenn auch
| |
| Hartmann neben der Idee noch den Willen unter die die
| |
| Welt konstituierenden Prinzipien aufnimmt, so ist es doch
| |
| unbegreiflich, wie es noch immer Philosophen gibt, die ihn
| |
| für einen Schopenhauerianer ansehen. Schopenhauer hat
| |
| die Ansicht, daß aller Begriffsinhalt nur subjektiv, nur Bewußtseinsphänomen
| |
| sei, auf die Spitze getrieben. Bei ihm
| |
| kann davon gar nicht die Rede sein, daß die Idee an der
| |
| Konstitution der Welt als reales Prinzip teilgenommen hat.
| |
| Bei ihm ist der Wille ausschließlicher Weltgrund. Deswegen
| |
| konnte es Schopenhauer nie zu einer inhaltsvollen Behandlung
| |
| der philosophischen Spezialwissenschaften bringen,
| |
| während Hartmann seine Prinzipien schon in alle besonderen
| |
| Wissenschaften hinein verfolgt hat. Während
| |
| Schopenhauer über den ganzen reichen Inhalt der Geschichte
| |
| nichts zu sagen weiß, als daß er eine Manifestation
| |
| des Willens ist, weiß Ed. v. Hartmann von jeder einzelnen
| |
| historischen Erscheinung den ideellen Kern zu finden und
| |
| sie der gesamten geschichtlichen Entwicklung der Menschheit
| |
| einzugliedern. Schopenhauer kann das Einzelwesen,
| |
| die Einzelerscheinung nicht interessieren, denn er weiß von
| |
| ihr nur das eine Wesentliche zu sagen, daß sie eine Ausgestaltung
| |
| des Willens ist. Hartmann greift jedes Sonderdasein
| |
| auf und zeigt, wie überall die Idee wahrzunehmen ist.
| |
| Der Grundcharakter von Schopenhauers Weltanschauung
| |
| ist Einförmigkeit, der v. Hartmanns Einheitlichkeit. Schopenhauer
| |
| legt einen inhaltsleeren, einförmigen Drang der
| |
| Welt zugrunde, Hartmann den reichen Inhalt der Idee.
| |
| Schopenhauer legt die abstrakte Einheit zugrunde, bei Hartmann
| |
| finden wir die konkrete Idee als Prinzip, bei der die
| |
| Einheit - besser Einheitlichkeit - nur eine Eigenschaft ist.
| |
| Schopenhauer hätte nie wie Hartmann eine Geschichtsphilosophie,
| |
| nie eine Religionswissenschaft schaffen können.
| |
| Wenn Hartmann sagt: «Die Vernunft ist das logische
| |
| Formalprinzip der mit dem Willen untrennbar geeinten
| |
| Idee und regelt und bestimmt als solches den Inhalt des
| |
| Weltprozesses ohne Rest» (Philosophische Fragen der Gegenwart
| |
| »; Leipzig 1885, S. 27), so macht ihm diese Voraussetzung
| |
| möglich, in jeder Erscheinung, die uns in Natur
| |
| und Geschichte gegenübertritt, den logischen Kern, der
| |
| zwar für die Sinne nicht, wohl aber für das Denken erfaßbar
| |
| ist, aufzusuchen und sie so zu erklären. Wer diese Voraussetzung
| |
| nicht macht, wird nie rechtfertigen können,
| |
| warum er überhaupt über die Welt durch Nachdenken vermittelst
| |
| Ideen etwas ausmachen will.
| |
| Mit seinem objektiven Idealismus steht Ed. v. Hartmann
| |
| ganz auf dem Boden Goethescher Weltanschauung.
| |
| Wenn Goethe sagt: «Alles, was wir gewahr werden und
| |
| wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der
| |
| Idee» («Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt.,
| |
| S. 379), und wenn er fordert, der Mensch müsse in sich ein
| |
| solches Erkenntnisvermögen ausbilden, daß ihm die Idee
| |
| so anschaulich wird, wie den Sinnen die äußere Wahrnehmung,
| |
| so steht er auf jenem Boden, wo die Idee nicht bloß
| |
| Bewußtseinsphänomen, sondern objektives Weltprinzip ist;
| |
| das Denken ist das Aufblitzen dessen im Bewußtsein, was
| |
| objektiv die Welt konstituiert. Das Wesentliche an der
| |
| Idee ist also nicht das, was sie für uns, für unser Bewußtsein,
| |
| ist, sondern was sie an sich selbst ist. Denn durch die ihr
| |
| eigene Wesenheit liegt sie der Welt als Prinzip zugrunde.
| |
| Deshalb ist das Denken ein Gewahrwerden dessen, was an
| |
| und für sich ist. Obwohl also die Idee gar nicht zur Erscheinung
| |
| kommen würde, wenn es kein Bewußtsein gäbe,
| |
| so muß sie doch so erfaßt werden, daß nicht die Bewußtheit
| |
| ihr Charakteristikon ausmacht, sondern das, was sie
| |
| an sich ist, was in ihr selbst liegt, wozu das Bewußtwerden
| |
| nichts tut. Deshalb müssen wir nach Ed. v. Hartmann die
| |
| Idee, abgesehen von dem Bewußtwerden, als wirkendes
| |
| Unbewußtes der Welt zugrunde legen. Das ist das Wesentliche
| |
| bei Hartmann, daß wir die Idee in allem Bewußtlosen
| |
| zu suchen haben.
| |
| Mit der Unterscheidung von Bewußtem und Unbewußtem
| |
| ist aber nicht viel getan. Denn das ist ja doch nur ein
| |
| Unterschied für mein Bewußtsein. Man muß aber der Idee
| |
| in ihrer Objektivität, in ihrer vollen Inhaltlichkeit zu Leibe
| |
| gehen, man muß nicht nur darauf sehen, daß die Idee unbewußt
| |
| wirksam ist, sondern was dieses Wirksame ist.
| |
| Wäre Hartmann dabei stehen geblieben, daß die Idee unbewußt
| |
| ist, und hätte er aus diesem Unbewußten - also aus
| |
| einem einseitigen Merkmal der Idee - die Welt erklärt, er
| |
| hätte zu den vielen Systemen, die die Welt aus irgendeinem
| |
| abstrakten Formelprinzip ableiten, ein neues einförmiges
| |
| System geschaffen. Und man kann sein erstes
| |
| Hauptwerk nicht ganz von dieser Einförmigkeit freisprechen.
| |
| Aber Ed. v. Hartmanns Geist wirkt zu intensiv, zu
| |
| umfassend und tief dringend, als daß er nicht erkannt
| |
| hätte: die Idee darf nicht bloß als Unbewußtes gefaßt werden;
| |
| man muß sich vielmehr eben in das vertiefen, was man
| |
| als unbewußt anzusprechen hat, muß über diese Eigenschaft
| |
| hinaus auf dessen konkreten Inhalt gehen und daraus
| |
| die Welt der Einzelerscheinungen ableiten. So hat sich
| |
| Hartmann vom abstrakten Monisten, der er in seiner «Philosophie
| |
| des Unbewußten» noch ist, zum konkreten Monisten
| |
| herausgebildet. Und die konkrete Idee ist es, was
| |
| Goethe unter den drei Formen: Urphänomen, Typus und
| |
| «Idee im engeren Sinne» anspricht.
| |
| Das Gewahrwerden eines Objektiven in unserer Ideenwelt
| |
| und die aus diesem Gewahrwerden folgende Hingabe
| |
| an dasselbe ist es, was wir von Goethes Weltanschauung in
| |
| Ed.v. Hartmanns Philosophie wiederfinden. Hartmann ist
| |
| durch seine Philosophie des Unbewußten zu diesem Aufgehen
| |
| in der objektiven Idee geführt worden. Da er erkannte,
| |
| daß in der Bewußtheit nicht das Wesen der Idee
| |
| liegt, hatte er die letztere auch als an und für sich Bestehendes,
| |
| als Objektives anerkennen müssen. Daß er daneben
| |
| noch den Willen in die konstitutiven Weltprinzipien aufnimmt,
| |
| unterscheidet ihn freilich wieder von Goethe. Jedoch
| |
| wo Hartmann wirklich fruchtbringend ist, da kommt
| |
| das Willensmotiv gar nicht in Betracht. Daß er es überhaupt
| |
| annimmt, kommt daher, weil er die Idee als Ruhendes
| |
| ansieht, das, um zur Wirkung zu kommen, vom Willen
| |
| den Anstoß braucht. Nach Hartmann kann der Wille allein
| |
| nie zur Schöpfung der Welt kommen, denn er ist der leere
| |
| blinde Drang zum Dasein. Soll er etwas hervorbringen, so
| |
| muß die Idee hinzutreten, denn nur diese gibt ihm den Inhalt
| |
| seines Wirkens. Allein was sollen wir mit jenem Willen
| |
| anfangen? Er entschlüpft uns, indem wir ihn erfassen wollen;
| |
| denn wir können ja doch das inhaltslose, leere Drängen
| |
| nicht erfassen. Und so kommt es, daß doch alles das,
| |
| was wir wirklich von dem Weltprinzip erfassen, Idee ist,
| |
| denn das Erfaßbare muß eben Inhalt haben. Wir können
| |
| nur das Inhaltsvolle begreifen, nicht das Inhaltsleere. Sollen
| |
| wir also den Begriff Willen erfassen, so muß er ja doch
| |
| am Inhalt der Idee auftreten; er kann nur an und mit der
| |
| Idee, als die Form ihres Auftretens, erscheinen, niemals
| |
| selbständig. Was existiert, muß Inhalt haben, es kann nur
| |
| ein erfülltes, kein leeres Sein geben. Deshalb stellt Goethe
| |
| die Idee als tätig vor, als Wirksames, das keines Anstoßes
| |
| mehr bedarf. Denn das Inhaltsvolle darf und kann nicht
| |
| von einem Inhaltsleeren erst den Anstoß bekommen, ins
| |
| Dasein zu treten. Die Idee ist deshalb im Sinne Goethes als
| |
| Entelechie, d. i. schon als tätiges Dasein zu fassen; und man
| |
| muß von seiner Form als einem Tätigen zuerst abstrahieren,
| |
| wenn man es dann wieder unter dem Namen Wille hinzubringen
| |
| will. Das Willensmotiv ist auch für die positive
| |
| Wissenschaft ganz wertlos. Auch Hartmann braucht es
| |
| nicht, wo er an die konkrete Erscheinung herantritt.
| |
| Haben wir in der Naturansicht Hartmanns ein Anklingen
| |
| an Goethes Weltansicht erkannt, so finden wir es in der
| |
| Ethik jenes Philosophen noch bedeutsamer. Eduard v.
| |
| Hartmann findet, daß alles Streben nach Glück, alles Jagen
| |
| des Egoismus ethisch wertlos ist, weil wir ja doch auf
| |
| diesem Wege nie zur Befriedigung kommen können. Das
| |
| Handeln aus Egoismus und zur Befriedigung desselben
| |
| hält Hartmann für ein illusorisches. Wir sollen unsere Aufgabe,
| |
| die uns in der Welt gestellt ist, erfassen und rein um
| |
| dieser selbst willen, mit Entäußerung unseres Selbst, wirken.
| |
| Wir sollen in der Hingabe an das Objekt, ohne Anspruch,
| |
| für unser Subjekt etwas herauszuschlagen, unser
| |
| Ziel finden. Dieses letztere macht aber den Grundzug der
| |
| Ethik Goethes aus. Hartmann hätte das Wort nicht unterdrücken
| |
| sollen, das den Charakter seiner Sittenlehre ausdrückt:
| |
| die Liebe96 Wo wir keinen persönlichen Anspruch
| |
| machen, wo wir nur handeln, weil uns das Objektive treibt,
| |
| wo wir in der Tat selbst die Motive der Tätigkeit finden,
| |
| da handeln wir sittlich. Da aber handeln wir aus Liebe.
| |
| Aller Eigenwille, alles Persönliche muß da schwinden. Es
| |
| ist für Hartmanns mächtig und gesund wirkenden Geist
| |
| charakteristisch, daß er in der Theorie, trotzdem er die
| |
| Idee zuerst in der einseitigen Weise des Unbewußten gefaßt
| |
| hat, doch zum konkreten Idealismus vorgedrungen ist
| |
| und daß, trotzdem er in der Ethik vom Pessimismus ausgegangen,
| |
| ihn dieser verfehlte Standpunkt zur Sittenlehre der
| |
| Liebe geführt hat. Der Pessimismus Hartmanns hat ja nicht
| |
| den Sinn, den jene Menschen in ihn legen, die gerne über die
| |
| Fruchtlosigkeit unseres Wirkens klagen, weil sie darin eine
| |
| Berechtigung abzuleiten hoffen dafür, daß sie die Hände
| |
| in den Schoß legen und nichts vollbringen. Hartmann bleibt
| |
| nicht bei der Klage stehen; er erhebt sich über jede solche
| |
| Anwandlung zu einer reinen Ethik. Er zeigt die Wertlosigkeit
| |
| des Jagens nach dem Glück, indem er dessen Frucht-
| |
| 96 Damit soll nicht behauptet werden, daß in Hartmanns Ethik der
| |
| Begriff der Liebe nicht seine Berücksichtigung finde. H. hat denselben
| |
| in phänomenaler und metaphysischer Beziehung behandelt
| |
| (siehe «Das sittliche Bewußtsein» 2. Aufl., S. 223-247, 629-631, 641,
| |
| 638-641). Nur läßt er die Liebe nicht als das letzte Wort der Ethik
| |
| gelten. Die opferwillige, liebevolle Hingabe an den Weltprozeß
| |
| scheint ihm kein Letztes zu sein, sondern nur das Mittel zur Erlösung
| |
| von der Unruhe des Daseins und zur Wiedergewinnung der
| |
| verlorenen seligen Ruhe.
| |
| losigkeit enthüllt. Er weist uns damit auf unsere Tätigkeit.
| |
| Daß er überhaupt Pessimist ist, das ist sein Irrtum. Das ist
| |
| vielleich noch ein Anhängsel aus früheren Stadien seines
| |
| Denkens. Da, wo er jetzt steht, müßte er einsehen, daß der
| |
| empirische Nachweis, daß in der Welt des Wirklichen das
| |
| Nicht-Befriedigende überwiegt, den Pessimismus nicht begründen
| |
| kann. Denn der höhere Mensch kann gar nichts
| |
| anderes wünschen, als daß er sich sein Glück selbst erringen
| |
| muß. Er will es nicht als Geschenk von außen. Er will
| |
| das Glück bloß in seiner Tat haben. Hartmanns Pessimismus
| |
| löst sich vor (Hartmanns eigenem) höherem Denken
| |
| auf. Weil uns die Welt unbefriedigt läßt, schaffen wir uns
| |
| selbst das schönste Glück in unserem Wirken.
| |
| So ist uns Hartmanns Philosophie wieder ein Beweis
| |
| dafür, wie man, von verschiedenen Ausgangspunkten ausgehend,
| |
| zu dem gleichen Ziele kommt. Hartmann geht von
| |
| anderen Voraussetzungen aus als Goethe; aber in der Ausführung
| |
| tritt uns auf Schritt und Tritt Goethescher Ideengang
| |
| gegenüber. Wir haben das hier ausgeführt, weil uns
| |
| darum zu tun war, die tiefe, innere Gediegenheit der Goetheschen
| |
| Weltansicht zu zeigen. Sie liegt so tief im Weltwesen
| |
| begründet, daß wir ihren Grundzügen überall da begegnen
| |
| müssen, wo energisches Denken zu den Quellen des
| |
| Wissens vordringt. In diesem Goethe war so sehr alles ursprünglich,
| |
| so gar nichts nebensächliche Modeansicht der
| |
| Zeit, daß auch der Widerstrebende in seinem Sinne denken
| |
| muß. In einzelnen Individuen spricht sich eben das ewige
| |
| Welträtsel aus; in der Neuzeit in Goethe am bedeutungsvollsten,
| |
| deshalb kann man geradezu sagen, die Höhe der
| |
| Anschauung eines Menschen kann heute an dem Verhältnisse
| |
| gemessen werden, in welchem sie zur Goetheschen steht*
| |
| XII
| |
| GOETHE UND DIE MATHEMATIK
| |
| Zu den Haupthindernissen, die einer gerechten Würdigung
| |
| von Goethes Bedeutung für die Wissenschaft entgegenstehen,
| |
| gehört das Vorurteil, das über sein Verhältnis zur
| |
| Mathematik besteht. Dieses Vorurteil ist ein doppeltes. Einmal
| |
| glaubt man, Goethe sei ein Feind dieser Wissenschaft
| |
| gewesen und habe ihre hohe Bedeutung für das menschliche
| |
| Erkennen in arger Weise verkannt; und zweitens behauptet
| |
| man, der Dichter habe jede mathematische Behandlungsweise
| |
| aus den physikalischen Teilen der Naturlehre, die er
| |
| gepflegt, nur deshalb ausgeschieden, weil sie ihm, der sich
| |
| keiner Kultur in der Mathematik erfreute, unbequem war.
| |
| Was den ersten Punkt betrifft, so ist dagegen zu sagen,
| |
| daß Goethe wiederholt in so entschiedener Weise seiner
| |
| Bewunderung der mathematischen Wissenschaft Ausdruck
| |
| gegeben hat, daß von einer Geringschätzung derselben
| |
| durchaus nicht die Rede sein kann. Ja, er will die gesamte
| |
| Naturwissenschaft von jener Strenge durchdrungen wissen,
| |
| die der Mathematik eigen ist. «Die Bedächtlichkeit, nur
| |
| das Nächste ans Nächste zu reihen, oder vielmehr das
| |
| Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den
| |
| Mathematikern zu lernen, und selbst da, wo wir uns keiner
| |
| Rechnung bedienen, müssen wir immer so zu Werke
| |
| gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft
| |
| zu geben schuldig wären.» (Natw. Schr., 2. Bd., S. 19) «Ich
| |
| hörte mich anklagen, als sei ich ein Widersacher, ein Feind
| |
| der Mathematik überhaupt, die doch niemand höher schätzen
| |
| kann als ich .. .» [Ebenda S. 45]
| |
| Was den zweiten Vorwurf betrifft, so ist er ein solcher,
| |
| daß ihn kaum jemand im Ernste erheben kann, der einen
| |
| Einblick in Goethes Wesen getan hat. Wie oft hat sich
| |
| denn nicht Goethe gegen das Beginnen problematischer
| |
| Naturen ausgesprochen, die Zielen zustreben, unbekümmert
| |
| darum, ob sie sich damit innerhalb der Grenzen ihrer
| |
| Fähigkeiten bewegen! Und er selbst sollte dieses Gebot
| |
| überschritten, er sollte naturwissenschaftliche Ansichten
| |
| aufgestellt haben, mit Hinwegsetzung über seine Unzulänglichkeit
| |
| in mathematischen Dingen? Goethe wußte, daß der
| |
| Wege zum Wahren unendlich viele sind, und daß ein jeder
| |
| jenen wandeln kann, der seinen Fähigkeiten gemäß ist, und
| |
| er kommt ans Ziel. «Jeder Mensch muß nach seiner Weise
| |
| denken: denn er findet auf seinem Wege immer ein Wahres,
| |
| oder eine Art von Wahrem, die ihm durchs Leben hilft;
| |
| nur er darf sich nicht gehen lassen; er muß sich kontrollieren
| |
| . . . » («Sprüche in Prosa» [Natw., Schr., 4. Bd., 2. Abt.,
| |
| S. 460]). «Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn
| |
| er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten
| |
| bewegt; aber selbst schöne Vorzüge werden verdunkelt,
| |
| aufgehoben und vernichtet, wenn jenes unerläßlich
| |
| geforderte Ebenmaß abgeht.» [Ebenda S. 443]
| |
| Es wäre lächerlich, wenn man behaupten wollte, Goethe
| |
| habe, um überhaupt etwas zu leisten, sich auf ein Feld begeben,
| |
| das außerhalb seines Gesichtskreises lag. Es kommt
| |
| alles darauf an, festzustellen, was Mathematik zu leisten
| |
| hat, und wo ihre Anwendung auf Naturwissenschaft beginnt.
| |
| Darüber hat Goethe nun wirklich die gewissenhaftesten
| |
| Betrachtungen angestellt. Der Dichter entwickelt da,
| |
| wo es sich darum handelt, die Grenzen seiner produktiven
| |
| Kraft zu bestimmen, einen Scharfsinn, der nur noch von
| |
| seinem genialischen Tiefsinn übertroffen wird. Darauf
| |
| möchten wir vor allem jene aufmerksam machen, die über
| |
| Goethes wissenschaftliches Denken nichts anderes zu sagen
| |
| wissen, als daß ihm die logisch-reflektierende Denkweise
| |
| abging. Die Art, wie Goethe die Grenze zwischen
| |
| der naturwissenschaftlichen Methode, die er anwendete,
| |
| und jener der Mathematiker bestimmte, verrät eine tiefe
| |
| Einsicht in die Natur der mathematischen Wissenschaft.
| |
| Er wußte genau, welches der Grund der Gewißheit mathematischer
| |
| Lehrsätze ist; er hatte sich eine klare Vorstellung
| |
| darüber gebildet, in welchem Verhältnisse die mathematische
| |
| zu der übrigen Naturgesetzlichkeit steht.
| |
| Soll eine Wissenschaft überhaupt einen Erkenntniswert
| |
| haben, so muß sie uns ein bestimmtes Wirklichkeitsgebiet
| |
| erschließen. Es muß sich in ihr irgendeine Seite des Weltinhalts
| |
| ausprägen. Die Art, wie sie das tut, bildet den Geist
| |
| der betreffenden Wissenschaft. Diesen Geist der Mathematik
| |
| mußte Goethe kennen, um zu wissen, was in der
| |
| Naturwissenschaft ohne Hilfe des Kalküls zu erreichen
| |
| ist, und was nicht. Hier liegt der Punkt, auf den es ankommt.
| |
| Goethe selbst hat mit aller Bestimmtheit darauf
| |
| hingewiesen. Die Art, wie er es tut, verrät eine tiefe Einsicht
| |
| in die Natur des Mathematischen.
| |
| Wir wollen auf diese Natur näher eingehen. Gegenstand
| |
| der Mathematik ist die Größe, das, was ein Mehr
| |
| oder Weniger zuläßt. Die Größe ist aber nichts an sich
| |
| selbst Bestehendes. Es gibt im weiten Umkreise menschlicher
| |
| Erfahrung kein Ding, das nur Größe ist. Neben anderen
| |
| Merkmalen hat jedes Ding auch solche, die durch
| |
| Zahlen zu bestimmen sind. Da die Mathematik sich mit
| |
| Größen beschäftigt, hat sie zu ihrem Gegenstande keine in
| |
| sich vollendeten Erfahrungsobjekte, sondern nur alles das
| |
| von ihnen, was sich messen oder zählen läßt. Sie sondert
| |
| alles, was sich der letzten Operation unterwerfen läßt, von
| |
| den Dingen ab. So erhält sie eine ganze Welt von Abstraktionen,
| |
| innerhalb welcher sie dann arbeitet. Sie hat es nicht
| |
| mit Dingen zu tun, sondern nur mit Dingen, insofern sie
| |
| Größen sind. Sie muß zugeben, daß sie da nur eine Seite des
| |
| Wirklichen behandelt, und daß die letztere noch viele andere
| |
| Seiten hat, über die sie keine Macht hat. Die mathematischen
| |
| Urteile sind keine Urteile, die wirkliche Objekte
| |
| voll umfassen, sondern sie haben nur innerhalb der ideellen
| |
| Welt von Abstraktionen Gültigkeit, die wir selbst als eine
| |
| Seite der Wirklichkeit von der letzteren begrifflich abgesondert
| |
| haben. Die Mathematik abstrahiert die Größe und
| |
| die Zahl von den Dingen, stellt die ganz ideellen Bezüge
| |
| zwischen Größen und Zahlen her und schwebt so in einer
| |
| reinen Gedankenwelt. Die Dinge der Wirklichkeit, insofern
| |
| sie Größe und Zahl sind, erlauben dann die Anwendung
| |
| der mathematischen Wahrheiten. Es ist also ein entschiedener
| |
| Irrtum, zu glauben, daß man mit mathematischen
| |
| Urteilen die Gesamtnatur erfassen könne. Die Natur
| |
| ist eben nicht bloß Quantum; sie ist auch Quale, und die
| |
| Mathematik hat es nur mit dem ersteren zu tun. Es müssen
| |
| sich die mathematische Behandlung und die rein auf das
| |
| Qualitative ausgehende in die Hände arbeiten; sie werden
| |
| sich am Dinge, von dem sie jede eine Seite erfassen, begegnen.
| |
| Goethe bezeichnet dieses Verhältnis mit den Worten:
| |
| «Die Mathematik ist wie die Dialektik ein Organ des inneren
| |
| höheren Sinnes; in der Ausübung ist sie eine Kunst
| |
| wie die Beredsamkeit. Für beide hat nichts Wert als die
| |
| Form; der Gehalt ist ihnen gleichgültig. Ob die Mathematik
| |
| Pfennige oder Guineen berechne, die Rhetorik Wahres
| |
| oder Falsches verteidige, ist beiden vollkommen gleich.»
| |
| («Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 405).
| |
| Und «Entwurf einer Farbenlehre» 724 [ebenda 3. Bd.,
| |
| S. 277]: «Wer bekennt nicht, daß die Mathematik, als eines
| |
| der herrlichsten menschlichen Organe, der Physik von einer
| |
| Seite sehr vieles genutzt?» In dieser Erkenntnis sah Goethe
| |
| die Möglichkeit, daß ein Geist, der sich in Mathematik
| |
| keiner Kultur erfreut, sich mit physikalischen Problemen
| |
| befassen kann. Er muß sich auf das Qualitative beschränken.
| |
| XIII
| |
| DAS GEOLOGISCHE GRUNDPRINZIP GOETHES
| |
| Goethe wird sehr oft dort gesucht, wo er durchaus nicht
| |
| zu finden ist. Unter vielen anderen Dingen ist das bei der
| |
| Beurteilung der geologischen Forschungen des Dichters geschehen.
| |
| Viel mehr aber als irgendwo wäre es hier notwendig,
| |
| daß alles, was Goethe über Einzelheiten geschrieben,
| |
| zurückträte hinter den großartigen Intentionen, von
| |
| denen er ausging. Er muß hier vor allem nach seiner eigenen
| |
| Maxime: «In den Werken des Menschen, wie in denen
| |
| der Natur, sind eigentlich die Absichten vorzüglich der
| |
| Aufmerksamkeit wert» [«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr.,
| |
| 4. Bd., 2. Abt., S. 378] und «Der Geist, aus dem wir handeln,
| |
| ist das Höchste» [Lehrjahre VII, 9] beurteilt werden.
| |
| Nicht was er erreichte, sondern wie er es anstrebte, ist für
| |
| uns das Vorbildliche. Es handelt sich nicht um eine Lehrmeinung,
| |
| sondern um eine mitzuteilende Methode. Die erste
| |
| hängt von den wissenschaftlichen Mitteln der Zeit ab und
| |
| kann überholt werden; die letzte ist hervorgegangen aus der
| |
| großen Geistesanlage Goethes und hält stand, auch wenn
| |
| die wissenschaftlichen Werkzeuge sich vervollkommnen
| |
| und die Erfahrung sich erweitert.
| |
| In die Geologie wurde Goethe durch die Beschäftigung
| |
| mit den Ilmenauer Bergwerken geführt, zu der er amtlich
| |
| verpflichtet war. Als Karl August zur Regierung kam,
| |
| widmete er sich mit großem Ernste diesem Bergwerke, das
| |
| lange vernachlässigt worden war. Es sollten zunächst die
| |
| Gründe des Verfalls desselben durch Sachverständige genau
| |
| untersucht und dann alles mögliche zur Wiederbelebung
| |
| des Betriebes getan werden. Goethe stand dabei dem
| |
| Herzog Karl August zur Seite. Er betrieb die Angelegenheit
| |
| auf das energischste. Das führte ihn denn oft in die
| |
| Bergwerke von Ilmenau. Er wollte sich mit dem Stand der
| |
| Sache selbst genau bekannt machen. Im Mai 1776 zum
| |
| erstenmal und dann noch oft war er in Ilmenau.
| |
| Mitten in dieser praktischen Sorge ging ihm nun das wissenschaftliche
| |
| Bedürfnis auf, den Gesetzen jener Erscheinungen
| |
| näher zukommen, die er da zu beobachten in der
| |
| Lage war. Die umfassende Naturanschauung, die sich in
| |
| seinem Geiste zu immer größerer Klarheit heraufarbeitete
| |
| (siehe den Aufsatz «Die Natur»; Natw. Schr., 2. Bd., S.
| |
| 5 ff.), zwang ihn, das, was sich da vor seinen Augen ausbreitete,
| |
| in seinem Sinne zu erklären.
| |
| Es macht sich hier gleich eine tief in Goethes Natur liegende
| |
| Eigentümlichkeit geltend. Er hat ein wesentlich anderes
| |
| Bedürfnis als viele Forscher. Während bei letzteren
| |
| das Hauptsächliche in der Erkenntnis des Einzelnen liegt,
| |
| während sie gewöhnlich an einem ideellen Bau, einem System
| |
| nur insoweit Interesse nehmen, als es ihnen beim Beobachten
| |
| des Einzelnen behilflich ist, ist für Goethe die
| |
| Einzelheit nur Durchgangspunkt zu einer umfassenden Gesamtauffassung
| |
| des Seienden. Wir lesen in dem Aufsatz
| |
| «Die Natur»: «Sie lebt in lauter Kindern und die Mutter,
| |
| wo ist sie?»* Dasselbe Streben, nicht nur das unmittelbar
| |
| Existierende, sondern dessen tiefere Grundlage zu erkennen,
| |
| finden wir ja auch in Faust («Schau' alle Wirkungskraft
| |
| und Samen»). So wird ihm denn auch das was er auf
| |
| und unter der Erdoberfläche beobachtet, ein Mittel, in das
| |
| Rätsel der Weltbildung einzudringen. Was er am 23. Dezember
| |
| 1786 an die Herzogin Luise schreibt: «Die Naturwerke
| |
| sind immer wie ein erstausgesprochenes Wort Gottes
| |
| » [WA 8, 98], beseelt all sein Forschen; und das sinnlich
| |
| Erfahrbare wird ihm zur Schrift, aus der er jenes Wort der
| |
| Schöpfung zu lesen hat. In diesem Sinne schreibt er am
| |
| 22. August 1784 an Frau v. Stein: «Die große und schöne
| |
| Schrift sei immer lesbar und nur dann nicht zu entziffern,
| |
| wenn die Menschen ihre kleinlichen Vorstellungen und ihre
| |
| Beschränktheit auf unendliche Wesen übertragen wollen.»
| |
| [WA 6, 343] Dieselbe Tendenz finden wir im «Wilhelm
| |
| Meister»: «Wenn ich nun aber eben diese Spalten und Risse
| |
| als Buchstaben behandelte, sie zu entziffern hätte, sie zu
| |
| Worten bildete und sie fertig zu lesen lernte, hättest du
| |
| etwas dagegen?» [WA Abt. I, 24, 46]
| |
| So sehen wir denn den Dichter vom Ende der siebziger
| |
| Jahre an unablässig bemüht, diese Schrift zu entziffern.
| |
| Sein Streben ging dahin, sich zu einer solchen Anschauung
| |
| emporzuarbeiten, daß ihm das, was er getrennt sah, im inneren,
| |
| notwendigen Zusammenhang erscheine. Seine Methode
| |
| war «die entwickelnde, entfaltende, keineswegs die
| |
| zusammenstellende, ordnende». Ihm genügte es nicht, da
| |
| den Granit, dort den Porphyr usw. zu sehen, und sie einfach
| |
| nach äußerlichen Merkmalen aneinanderzureihen, er
| |
| strebte nach einem Gesetze, das aller Gesteinsbildung zugrunde
| |
| lag und das er sich nur im Geiste vorzuhalten
| |
| brauchte, um zu verstehen, wie da Granit, dort Porphyr
| |
| entstehen mußte. Er ging von dem Unterscheidenden auf
| |
| das Gemeinsame zurück. Am 12. Juni 1784 schrieb er an
| |
| Frau v. Stein: «Der einfache Faden, den ich mir gesponnen
| |
| habe, führt mich durch alle diese unterirdischen Labyrinthe
| |
| gar schön durch und gibt mir Übersicht selbst in der Verwirrung.
| |
| » [WA 6, 297 u. 298] Er sucht das gemeinsame
| |
| Prinzip, das je nach den verschiedenen Umständen, unter
| |
| denen es zur Geltung kommt, einmal diese, das andere Mal
| |
| jene Gesteinsart hervorbringt. Nichts in der Erfahrung ist
| |
| ihm ein Festes, bei dem man stehenbleiben könne; nur das
| |
| Prinzip, das allem zugrunde liegt, ist ein solches. Er ist daher
| |
| auch immer bestrebt, die Übergänge von Gestein zu
| |
| Gestein zu finden. Aus ihnen ist ja die Absicht, die Entstehungstendenz
| |
| viel besser zu erkennen, als aus dem in bestimmter
| |
| Weise ausgebildeten Produkt, wo ja die Natur nur
| |
| in einseitiger Weise ihr Wesen offenbart, ja gar oft bei
| |
| «ihren Spezifikationen sich in eine Sackgasse verirrt».
| |
| Es ist ein Irrtum, wenn man diese Methode Goethes damit
| |
| widerlegt zu haben glaubt, daß man darauf hinweist,
| |
| die heutige Geologie kenne ein solches Übergehen eines
| |
| Gesteines in ein anderes nicht. Goethe hat ja nie behauptet,
| |
| daß Granit tatsächlich in etwas anderes übergehe. Was einmal
| |
| Granit ist, ist fertiges, abgeschlossenes Produkt und
| |
| hat nicht mehr die innere Triebkraft, aus sich selbst heraus
| |
| ein anderes zu werden. Was aber Goethe suchte, das fehlt
| |
| der heutigen Geologie eben, das ist die Idee, das Prinzip,
| |
| das den Granit konstituiert, bevor er Granit geworden ist,
| |
| und diese Idee ist dieselbe, die auch allen anderen Bildungen
| |
| zugrunde liegt. Wenn also Goethe von einem Übergehen
| |
| eines Gesteins in ein anderes spricht, so meint er damit
| |
| nicht ein tatsächliches Umwandeln, sondern eine Entwicklung
| |
| der objektiven Idee, die sich zu den einzelnen
| |
| Gebilden ausgestaltet, jetzt diese Form festhält und Granit
| |
| wird, dann wieder eine andere Möglichkeit aus sich herausbildet
| |
| und Schiefer wird usw. Nicht eine wüste Metamorphosenlehre,
| |
| sondern konkreter Idealismus ist Goethes
| |
| Ansicht auch auf diesem Gebiete. Zur vollen Geltung mit
| |
| allem, was in ihr liegt, kann aber jenes gesteinsbildende
| |
| Prinzip nur im ganzen Erdkörper kommen. Daher wird
| |
| die Bildungsgeschichte des Erdkörpers für Goethe die
| |
| Hauptsache, und jedes Einzelne hat sich derselben einzureihen.
| |
| Es kommt ihm darauf an, welche Stelle ein Gestein
| |
| im Erdganzen einnimmt; das Einzelne interessiert ihn nur
| |
| mehr als Teil des Ganzen. Es erscheint ihm schließlich dasjenige
| |
| mineralogisch-geologische System als das richtige,
| |
| das die Vorgänge in der Erde nachschafft, das zeigt, warum
| |
| an dieser Stelle gerade das, an jener das andere entstehen
| |
| mußte. Das Vorkommen wird ihm ausschlaggebend. Er tadelt
| |
| es daher an Werners Lehre, die er sonst so hoch verehrt,
| |
| daß sie die Mineralien nicht nach dem Vorkommen, das
| |
| uns über ihr Entstehen Aufschluß gibt, als vielmehr nach
| |
| zufälligen äußeren Kennzeichen anordnet. Das vollkommene
| |
| System macht nicht der Forscher, sondern das hat
| |
| die Natur selbst gemacht.
| |
| Es ist festzuhalten, daß Goethe in der ganzen Natur
| |
| ein großes Reich, eine Harmonie sah. Er behauptet, daß
| |
| alle natürlichen Dinge von einer Tendenz beseelt sind. Was
| |
| daher gleicher Art ist, mußte für ihn von der gleichen Gesetzmäßigkeit
| |
| bedingt erscheinen. Er konnte nicht zugeben,
| |
| daß in den geologischen Erscheinungen, die ja nichts weiter
| |
| sind als anorganische Wesenheiten, andere Triebfedern
| |
| geltend sind, als in der übrigen anorganischen Natur. Die
| |
| Ausdehnung der anorganischen Wirkensgesetze auf die Geologie
| |
| ist Goethes erste geologische Tat. Dieses Prinzip war
| |
| es, das ihn bei Erklärung der böhmischen Gebirge, das ihn
| |
| bei Erklärung der am Serapis-Tempel zu Pozzuoli beobachteten
| |
| Erscheinungen leitete. Er suchte dadurch Prinzip
| |
| in die tote Erdkruste zu bringen, daß er sie als durch jene
| |
| Gesetze entstanden dachte, die wir immer vor unseren
| |
| Augen bei physikalischen Erscheinungen wirken sehen. Die
| |
| geologischen Theorien eines f James] Hutton, Elie de Beaumont
| |
| waren ihm innerlichst zuwider. Was sollte er mit Erklärungen
| |
| anfangen, die alle Naturordnung durchbrechen?
| |
| Es ist banal, wenn man so oft die Phrase hört, Goethes
| |
| ruhiger Natur habe die Theorie des Hebens und Senkens
| |
| usw. widersprochen. Nein, sie widersprach seinem Sinne
| |
| für eine einheitliche Naturanschauung. Er konnte sie dem
| |
| Naturgemäßen nicht einfügen. Und diesem Sinne verdankt
| |
| er es, daß er frühzeitig (schon 1782) zu einer Ansicht gelangte,
| |
| zu der sich die Fachgeologie erst nach Jahrzehnten
| |
| aufschwang: zur Ansicht, daß die versteinerten Tier- und
| |
| Pflanzenreste in einem notwendigen Zusammenhange mit
| |
| dem Gestein stehen, in dem sie gefunden werden. Voltaire
| |
| hatte von ihnen noch als von Naturspielen gesprochen,
| |
| weil er keine Ahnung von der Konsequenz in der Naturgesetzlichkeit
| |
| hatte. Goethe konnte ein Ding an irgendeinem
| |
| Orte begreiflich nur finden, wenn sich ein einfacher natürlicher
| |
| Zusammenhang mit der Umgebung des Dinges fand.
| |
| Es ist auch dasselbe Prinzip, das Goethe auf die fruchtbare
| |
| Idee von der Eiszeit führte (s. «Geologische Probleme und
| |
| Versuch ihrer Auflösung», Natw. Schr., 2. Bd., S. 308). Er
| |
| suchte nach einer einfachen, naturgemäßen Erklärung des
| |
| Vorkommens der auf großen Flächen weit entfernten Granitmassen.
| |
| Die Erklärung, daß sie bei dem tumultuarischen
| |
| Aufstand der weit rückwärts im Lande gelegenen Gebirge
| |
| seien dahin geschleudert worden, mußte er ja abweisen,
| |
| weil sie eine Naturtatsache nicht aus den bestehenden, wirkenden
| |
| Naturgesetzen, sondern durch eine Ausnahme von
| |
| denselben, ja ein Verlassen derselben, herleitete. Er nahm
| |
| an, daß das nördliche Deutschland einst bei großer Kälte
| |
| einen tausend Fuß hohen allgemeinen Wasserstand hatte,
| |
| daß ein großer Teil von einer Eisfläche bedeckt war, und
| |
| daß jene Granitblöcke liegengeblieben sind, nachdem das
| |
| Eis abgeschmolzen. Damit war eine auf bekannte, für uns
| |
| erfahrbare Gesetze sich stützende, Ansicht gegeben. In dieser
| |
| Geltendmachung einer allgemeinen Naturgesetzlichkeit
| |
| ist Goethes Bedeutung für die Geologie zu suchen. Wie er
| |
| den Kammerberg erklärt, ob er mit seiner Meinung über den
| |
| Karlsbader Sprudel das Richtige getroffen, ist belanglos.
| |
| «Es ist hier die Rede nicht von einer durchzusetzenden Meinung,
| |
| sondern von einer mitzuteilenden Methode, deren
| |
| sich jeder, als eines Werkzeugs, nach seiner Art, bedienen
| |
| möge.» (Goethe an Hegel 7. Okt. 1820 [WA 33, 294].)*
| |
| XIV
| |
| DIE METEOROLOGISCHEN
| |
| VORSTELLUNGEN GOETHES
| |
| Gerade so wie in der Geologie irrt man in der Meteorologie,
| |
| wenn man auf das tatsächlich von Goethe Errungene
| |
| eingeht und darinnen die Hauptsache sucht (siehe [«Versuch
| |
| einer Witterungslehre», Abschnitt «Selbstprüfung»]
| |
| Natw. Schr., 2. Bd., S. 397 f.). Seine meteorologischen Versuche
| |
| sind ja nirgends vollendet. Oberall ist nur auf die
| |
| Absicht zu sehen. Sein Denken war immer darauf gerichtet,
| |
| den prägnanten97 Punkt zu finden, von dem aus sich
| |
| eine Reihe von Erscheinungen von innen heraus regelt.
| |
| Alle Erklärung, die von da und dort Äußerungen, Zufälliges
| |
| herbeizieht, um eine regelmäßige Reihe von Phänomenen
| |
| zu verbinden, war seinem Sinne nicht gemäß. Er
| |
| suchte, wenn ihm ein Phänomen aufstieß, alles mit ihm
| |
| Verwandte, alle Tatsachen, die in denselben Kreis gehörten;
| |
| so daß ihm ein Ganzes, eine Totalität vorlag. Innerhalb
| |
| dieses Kreises mußte sich dann ein Prinzip finden,
| |
| das alle Regelmäßigkeit, ja den ganzen Kreis der verwandten
| |
| Erscheinungen als eine Notwendigkeit erscheinen
| |
| ließ. Nicht naturgemäß erschien es ihm, die Erscheinungen
| |
| dieses Kreises durch Herbeiziehung von außerhalb
| |
| desselben liegenden Verhältnissen zu erklären. Hierinnen
| |
| haben wir den Schlussel zu dem Prinzipe, das er in der Meteorologie
| |
| aufstellte, zu suchen. «Die völlige Unzulänglichkeit,
| |
| so konstante Phänomene den Planeten, dem
| |
| 07 Siehe den Aufsatz: «Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches
| |
| Wort», Natw. Schr., 2. Bd., S. 31 ff.
| |
| Monde, einer unbekannten Ebbe und Flut des Luftkreises
| |
| zuzuschreiben, ließ sich Tag für Tag mehr empfinden.. .»98
| |
| «Alle dergleichen Einwirkungen aber lehnen wir ab; die
| |
| Witterungserscheinungen auf der Erde halten wir weder
| |
| für kosmisch noch planetarisch, sondern wir müssen sie
| |
| nach unseren Prämissen für rein tellurisch erklären.»*99 Er
| |
| wollte die Erscheinungen der Atmosphäre auf ihre in dem
| |
| Wesen der Erde selbst liegenden Ursachen zurückführen.
| |
| Es handelte sich zunächst darum, den Punkt zu finden, wo
| |
| sich die alles übrige bedingende Grundgesetzlichkeit unmittelbar
| |
| ausspricht. Ein solches Phänomen lieferte der
| |
| Barometerstand. Den sah denn auch Goethe als das Urphänomen
| |
| an und suchte alles übrige an ihn anzuschließen.
| |
| Das Steigen und Sinken des Barometers suchte er zu verfolgen
| |
| und darinnen glaubte er auch eine Regelmäßigkeit
| |
| wahrzunehmen. Er studierte die Schrönsche Tabelle und
| |
| fand, «daß gedachtes Steigen und Fallen an verschiedenen,
| |
| näher und ferner, nicht weniger in unterschiedenen Längen,
| |
| Breiten und Hohen gelegenen Beobachtungsorten einen
| |
| fast parallelen Gang habe».100 Da ihm dieses Steigen
| |
| und Fallen unmittelbar als Schwereerscheinung erschien, so
| |
| glaubte er in den Veränderungen des Barometers einen unmittelbaren
| |
| Ausdruck für die Qualität der Schwerkraft
| |
| selbst zu erkennen. Man muß in diese Goethesche Erklärung
| |
| nur nichts weiter hineinlegen. Goethe lehnte ja alles
| |
| Aufstellen von Hypothesen ab. Er wollte nicht mehr als
| |
| einen Ausdruck für eine zu beobachtende Erscheinung liefern,
| |
| nicht eine eigentliche, faktische Ursache, im Sinne
| |
| 98 [Ebenda S. 398]
| |
| 99 [Ebenda S. 378]
| |
| 100 [Ebenda S. 379]
| |
| der heutigen Naturwissenschaft. An diese Erscheinung sollten
| |
| die übrigen atmosphärischen Erscheinungen naturgemäß
| |
| sich anreihen. Am meisten interessierte den Dichter
| |
| die Wolkenbildung. Für diese hatte er in der Lehre Howards
| |
| ein Mittel gefunden, die fortwährend schwankenden
| |
| Gebilde in gewissen Grundzuständen festzuhalten und
| |
| so, «was in schwankender Erscheinung lebt», mit «dauernden
| |
| Gedanken zu befestigen». Er suchte nur noch ein Mittel,
| |
| das der Umbildung der Wolkenformen zu Hilfe kam,
| |
| sowie er in jener «geistigen Leiter» ein Mittel fand, die Umbildung
| |
| der typischen Blattgestalt an der Pflanze zu erklären.
| |
| Sowie ihm dort jene geistige Leiter, so ist ihm in der
| |
| Meteorologie ein verschiedenes «Geeigenschaftetsein» der
| |
| Atmosphäre in verschiedenen Höhen der Faden, an dem
| |
| er die einzelnen Gebilde befestigt. Da wie dort muß man
| |
| festhalten, daß es Goethe nie einfallen konnte, einen solchen
| |
| Faden für ein wirkliches Gebilde anzusehen. Er war
| |
| sich genau bewußt, daß nur das einzelne Gebilde als für
| |
| die Sinne im Raume wirklich anzusehen ist, und daß alle
| |
| höheren Erklärungsprinzipien nur für die Augen des Geistes
| |
| da sind. Heutige Widerlegungen Goethes sind deshalb
| |
| vielfach ein Kampf mit Windmühlen. Man legt seinen Prinzipien
| |
| eine Wirklichkeitsform bei, die er ihnen selbst absprach,
| |
| und glaubt ihn damit überwunden zu haben. Jene
| |
| Form der Realität aber, die er zugrunde legte, die objektive,
| |
| konkrete Idee, kennt die heutige Naturlehre nicht. Goethe
| |
| muß ihr daher von dieser Seite aus fremd bleiben.*
| |
| XV
| |
| GOETHE UND DER
| |
| NATURWISSENSCHAFTLICHE ILLUSIONISMUS
| |
| Diese Darstellung ist nicht aus dem Grunde geschrieben
| |
| worden, weil in eine Goethe-Ausgabe (in Kürschners Deutscher
| |
| National-Literatur) eben auch die Farbenlehre, mit
| |
| einer begleitenden Einleitung versehen, aufgenommen werden
| |
| muß. Sie entstammt einem tiefen Geistesbedürfnisse des
| |
| Herausgebers dieser Ausgabe. Derselbe ist von dem Studium
| |
| der Mathematik und Physik ausgegangen und wurde
| |
| durch die vielen Widersprüche, die das System unserer modernen
| |
| Naturanschauung durchsetzen, mit innerer Notwendigkeit
| |
| zur kritischen Untersuchung über die methodologische
| |
| Grundlage derselben geführt. Auf das Prinzip
| |
| des strengen Erfahrungswissens wiesen ihn seine anfänglichen
| |
| Studien, auf eine streng wissenschaftliche Erkenntnistheorie
| |
| die Einsicht in jene Widersprüche. Gegen ein
| |
| Umschlagen in rein Hegeische Begriffskonstruktionen war
| |
| er durch seinen positiven Ausgangspunkt geschützt. Er
| |
| fand endlich mit Hilfe seiner erkenntnistheoretischen Studien
| |
| den Grund vieler Irrtümer der modernen Naturwissenschaft
| |
| in der ganz falschen Stellung, welche die letztere
| |
| der einfachen Sinnesempfindung angewiesen hat. Unsere
| |
| Wissenschaft verlegt alle sinnlichen Qualitäten (Ton, Farbe,
| |
| Wärme usw.) in das Subjekt und ist der Meinung, daß
| |
| «außerhalb» des Subjektes diesen Qualitäten nichts entspreche
| |
| als Bewegungsvorgänge der Materie. Diese Bewegungsvorgänge,
| |
| die das einzige im «Reiche der Natur»
| |
| Existierende sein sollen, können natürlich nicht mehr wahrgenommen
| |
| werden. Sie sind auf Grund der subjektiven
| |
| Qualitäten erschlossen.
| |
| Nun kann aber diese Erschließung konsequentem Denken
| |
| gegenüber nicht anders denn als eine Halbheit erscheinen.
| |
| Bewegung ist zunächst nur ein Begriff, den wir aus der
| |
| Sinnenwelt entlehnt haben, d. h. der uns nur an Dingen
| |
| mit jenen sinnlichen Qualitäten entgegentritt. "Wir kennen
| |
| keine Bewegung außer einer solchen an Sinnesobjekten.
| |
| Überträgt man nun dieses Prädikat auf nichtsinnliche Wesen,
| |
| wie es die Elemente der diskontinuierlichen Materie
| |
| (Atome) sein sollen, so muß man sich doch dessen klar bewußt
| |
| sein, daß durch diese Übertragung einem sinnlich
| |
| wahrgenommenen Attribut eine wesentlich anders als sinnlich
| |
| gedachte Daseinsform beigelegt wird. Demselben Widerspruch
| |
| verfällt man, wenn man zu einem wirklichen
| |
| Inhalte für den zunächst ganz leeren Atombegriff kommen
| |
| will. Es müssen ihm eben sinnliche Qualitäten, wenn
| |
| auch noch so sublimiert, beigelegt werden. Der eine legt
| |
| dem Atome Undurchdringlichkeit, Kraftwirkung, der andere
| |
| Ausdehnung u. dgl. bei, kurz ein jeder irgendwelche
| |
| aus der Sinnenwelt entlehnte Eigenschaften. Wenn man
| |
| das nicht tut, bleibt man vollständig im Leeren.
| |
| Darin liegt die Halbheit. Man macht mitten durch das
| |
| Sinnlich-Wahrnehmbare einen Strich und erklärt den einen
| |
| Teil für objektiv, den anderen für subjektiv. Nur das
| |
| eine ist konsequent: Wenn es Atome gibt, so sind diese einfach
| |
| Teile der Materie mit den Eigenschaften der Materie
| |
| und nur wegen ihrer für unsere Sinne unzugänglichen
| |
| Kleinheit nicht wahrnehmbar.
| |
| Damit aber verschwindet die Möglichkeit, in der Bewegung
| |
| der Atome etwas zu suchen, was als ein Objektives
| |
| den subjektiven Qualitäten des Tones, der Farbe usw. gegenübergestellt
| |
| werden dürfte. Und es hört auch die Möglichkeit
| |
| auf, in dem Zusammenhang zwischen der Bewegung
| |
| und der Empfindung des «Rot» z. B. mehr zu suchen
| |
| als zwischen zwei Vorgängen, die ganz der Sinnenwelt angehören.
| |
| Für den Herausgeber war es also klar: Ätherbewegung,
| |
| Atomlagerung usw. gehören auf dasselbe Blatt wie die Sinnesempfindungen
| |
| selbst. Die letzteren für subjektiv zu erklären,
| |
| ist nur das Ergebnis einer unklaren Reflexion. Erklärt
| |
| man die sinnliche Qualität für subjektiv, so muß man
| |
| es mit der Ätherbewegung geradeso tun. Wir nehmen die
| |
| letztere nicht aus einem prinzipiellen Grunde nicht wahr,
| |
| sondern nur deswegen, weil unsere Sinnesorgane nicht fein
| |
| genug organisiert sind. Das ist aber ein rein zufälliger Umstand.
| |
| Es könnte sein, daß dann die Menschheit bei zunehmender
| |
| Verfeinerung der Sinnesorgane dereinst dazu käme,
| |
| auch Ätherbewegungen unmittelbar wahrzunehmen. Wenn
| |
| dann ein Mensch jener fernen Zukunft unsere subjektivische
| |
| Theorie der Sinnesempfindungen akzeptierte, so
| |
| müßte er diese Ätherbewegungen ebenso für subjektiv erklären,
| |
| wie wir heute Farbe, Ton usw.
| |
| Man sieht, diese physikalische Theorie führt auf einen
| |
| Widerspruch, der nicht zu beheben ist.
| |
| Eine zweite Stütze hat nun diese subjektivische Ansicht
| |
| an physiologischen Erwägungen.
| |
| Die Physiologie weist nach, daß die Empfindung erst
| |
| als das letzte Resultat eines mechanischen Vorgangs auftritt,
| |
| der sich zuerst von dem außerhalb unserer Leibessubstanz
| |
| liegenden Teil der Körperwelt den Endorganen
| |
| unseres Nervensystems in den Sinnesorganen mitteilt, von
| |
| hier aus bis zum obersten Zentrum vermittelt wird, um
| |
| dann erst als Empfindung ausgelöst zu werden. Die Widersprüche
| |
| dieser physiologischen Theorie findet man in dem
| |
| Kapitel «Das <Urphänomen>» [s. S. 266 ff. dieser Schrift]
| |
| dargelegt. Als subjektiv kann man doch hier nur die Bewegungsform
| |
| der Hirnsubstanz bezeichnen. Wie weit man
| |
| auch in der Untersuchung der Vorgänge am Subjekte gehen
| |
| mag, stets muß man auf diesem Wege im Mechanischen
| |
| bleiben. Und die Empfindung wird man irgends im Zentrum
| |
| entdecken.
| |
| Es bleibt also nur die philosophische Erwägung übrig,
| |
| um über die Subjektivität und Objektivität der Empfindung
| |
| Aufschluß zu bekommen. Und diese liefert folgendes:
| |
| Was kann als «subjektiv» an der Wahrnehmung bezeichnet
| |
| werden? Ohne eine genaue Analyse des Begriffes «subjektiv
| |
| » zu haben, kann man überhaupt gar nicht vorwärtsschreiten.
| |
| Die Subjektivität kann natürlich durch nichts
| |
| anderes als durch sich selbst bestimmt werden. Alles, was
| |
| nicht durch das Subjekt bedingt nachgewiesen werden
| |
| kann, darf nicht als «subjektiv» bezeichnet werden. Nun
| |
| müssen wir uns fragen: Was können wir als dem menschlichen
| |
| Subjekte eigen bezeichnen? Das, was es an sich selbst
| |
| durch äußere oder innere Wahrnehmung erfahren kann.
| |
| Durch äußere Wahrnehmung erfassen wir die körperliche
| |
| Konstitution, durch innere Erfahrung unser eigenes Denken,
| |
| Fühlen und Wollen. Was ist nun in ersterer Hinsicht
| |
| als subjektiv zu bezeichnen? Die Konstitution des ganzen
| |
| Organismus, also auch der Sinnesorgane und des Gehirnes,
| |
| die wahrscheinlich bei jedem Menschen in etwas anderer
| |
| Modifikation erscheinen werden. Alles aber, was hier auf
| |
| diesem Wege nachgewiesen werden kann, ist nur eine bestimmte
| |
| Gestaltung in der Anordnung und Funktion der
| |
| Substanzen, wodurch die Empfindung vermittelt wird.
| |
| Subjektiv ist also eigentlich nur der Weg, den die Empfindung
| |
| durchzumachen hat, bevor sie meine Empfindung
| |
| genannt werden kann. Unsere Organisation vermittelt die
| |
| Empfindung und diese Vermittlungswege sind subjektiv;
| |
| die Empfindung selbst aber ist es nicht.
| |
| Nun bliebe also der Weg der inneren Erfahrung. Was
| |
| erfahre ich in meinem Innern, wenn ich eine Empfindung
| |
| als die meinige bezeichne? Ich erfahre, daß ich die Beziehung
| |
| auf meine Individualität in meinem Denken vollziehe,
| |
| daß ich mein Wissensgebiet auf diese Empfindung erstrecke;
| |
| aber ich bin mir dessen nicht bewußt, daß ich den
| |
| Inhalt der Empfindung erzeuge. Nur den Bezug zu mir
| |
| stelle ich fest, die Qualität der Empfindung ist eine in sich
| |
| begründete Tatsache.
| |
| Wo wir auch anfangen, innen oder außen, wir kommen
| |
| nicht bis zur Stelle, wo wir sagen könnten: Hier ist der subjektive
| |
| Charakter der Empfindung gegeben. Auf den Inhalt
| |
| der Empfindung ist der Begriff «subjektiv» nicht anwendbar.
| |
| Diese Erwägungen sind es, die mich dazu zwangen, jede
| |
| Theorie der Natur, die prinzipiell über das Gebiet der
| |
| wahrgenommenen Welt hinausgeht, als unmöglich abzulehnen
| |
| und lediglich in der Sinnenwelt das einzige Objekt
| |
| der Naturwissenschaft zu suchen. Dann aber mußte ich in
| |
| der gegenseitigen Abhängigkeit der Tatsachen eben dieser
| |
| Sinnenwelt das suchen, was wir mit Naturgesetzen aussprechen.
| |
| Und damit war ich zu jener Ansicht von der naturwissenschaftlichen
| |
| Methode gedrängt, die der Goetheschen
| |
| Farbenlehre zugrunde liegt. Wer diese Erwägungen für
| |
| richtig findet, der wird diese Farbenlehre mit ganz anderen
| |
| Augen lesen, als die modernen Naturforscher dies tun
| |
| können. Er wird sehen, daß hier nicht Goethes Hypothese
| |
| der Newtons gegenübersteht, sondern daß es sich hier um
| |
| die Frage handelt: Ist die heutige theoretische Physik zu
| |
| akzeptieren oder nicht? Wenn nicht, dann aber muß sich
| |
| auch das Licht verlieren, das diese Physik über die Farbenlehre
| |
| verbreitet. Welches unsere theoretische Grundlage
| |
| der Physik ist, mag der Leser aus den folgenden Kapiteln
| |
| erfahren, um dann von dieser Grundlage aus Goethes
| |
| Auseinandersetzungen im rechten Lichte zu sehen.*
| |
| XVI
| |
| GOETHE ALS DENKER UND FORSCHER
| |
| 1. Goethe und die moderne Naturwissenschaft
| |
| Gäbe es nicht eine Pflicht, die Wahrheit rückhaltlos zu sagen,
| |
| wenn man sie erkannt zu haben glaubt, dann wären
| |
| die folgenden Ausführungen wohl ungeschrieben geblieben.
| |
| Das Urteil, das sie bei der heute herrschenden Richtung
| |
| in den Naturwissenschaften von Seiten der Fachgelehrten
| |
| erfahren werden, kann für mich nicht zweifelhaft sein.
| |
| Man wird in ihnen den dilettantenhaften Versuch eines
| |
| Menschen sehen, einer Sache das Wort zu reden, die bei
| |
| allen «Einsichtigen» längst gerichtet ist. Wenn ich mir die
| |
| Geringschätzung all derer vorhalte, die sich heute allein
| |
| berufen glauben, über naturwissenschaftliche Fragen zu
| |
| sprechen, dann muß ich mir gestehen, daß Verlockendes
| |
| im landläufigen Sinne in diesem Versuche allerdings nicht
| |
| gelegen ist. Allein ich konnte mich durch diese voraussichtlichen
| |
| Einwände doch nicht abschrecken lassen. Denn ich
| |
| kann mir alle diese Einwände ja selbst machen und weiß
| |
| daher, wie wenig stichhaltig sie sind. «Wissenschaftlich» im
| |
| Sinne der modernen Naturlehre zu denken, ist nicht eben
| |
| schwer. Wir haben ja vor nicht zu langer Zeit einen merkwürdigen
| |
| Fall erlebt. Eduard von Hartmann trat mit seiner
| |
| «Philosophie des Unbewußten» auf. Es wird heute am wenigsten
| |
| dem geistvollen Verfasser dieses Buches selbst beifallen,
| |
| dessen Unvollkommenheiten zu leugnen. Aber die
| |
| Denkrichtung, der wir da gegenüberstehen, ist eine eindringende,
| |
| den Sachen auf den Grund gehende. Sie ergriff daher
| |
| mächtig alle Geister, die nach tieferer Erkenntnis Bedürfnis
| |
| hatten. Sie durchkreuzte aber die Bahnen der an der Oberfläche
| |
| der Dinge tastenden Naturgelehrten. Diese lehnten
| |
| sich allgemein dagegen auf. Nachdem verschiedene Angriffe
| |
| von ihrer Seite ziemlich wirkungslos blieben, erschien eine
| |
| Schrift von einem anonymen Verfasser: «Das Unbewußte
| |
| vom Standpunkte des Darwinismus und der Deszendenztheorie
| |
| » [1872], die mit aller nur denkbaren kritischen
| |
| Schärfe alles gegen die neubegründete Philosophie vorbrachte,
| |
| was sich vom Standpunkte moderner Naturwissenschaft
| |
| gegen dieselbe sagen läßt. Diese Schrift machte
| |
| Aufsehen. Die Anhänger der gegenwärtigen Richtung waren
| |
| von ihr im höchsten Maße befriedigt. Sie erkannten es
| |
| öffentlich an, daß der Verfasser einer der ihrigen sei und
| |
| proklamierten seine Ausführungen als die ihrigen. Welche
| |
| Enttäuschung mußten sie erfahren! Als sich der Verfasser
| |
| wirklich nannte, war es ~ Ed. v. Hartmann. Damit ist aber
| |
| eines mit überzeugender Kraft dargetan: es ist nicht Unbekanntschaft
| |
| mit den Ergebnissen der Naturforschung,
| |
| nicht Dilettantismus der Grund, der es gewissen, nach tieferer
| |
| Einsicht strebenden Geistern unmöglich macht, sich
| |
| der Richtung anzuschließen, welche heute sich zur herrschenden
| |
| aufwerfen will. Es ist aber die Erkenntnis, daß
| |
| die Wege dieser Richtung nicht die rechten sind. Der Philosophie
| |
| wird es nicht schwer, sich auf den Standpunkt der
| |
| gegenwärtigen Naturanschauung probeweise zu stellen.
| |
| Das hat Ed. v. Hartmann durch sein Verhalten für jeden,
| |
| der sehen will, unwiderleglich gezeigt. Dies zur Bekräftigung
| |
| meiner oben gemachten Behauptung, daß es auch mir
| |
| nicht schwer wird, die Einwände, die man wider meine
| |
| Ausführungen erheben kann, mir selbst zu machen.
| |
| Man sieht wohl gegenwärtig jeden für einen Dilettanten
| |
| an, der überhaupt philosophisches Nachdenken über das
| |
| Wesen der Dinge ernst nimmt. Eine Weltanschauung haben
| |
| gilt bei unseren Zeitgenossen von der «mechanischen» oder
| |
| gar bei jenen von der «positivistischen» Denkart für eine
| |
| idealistische Schrulle. Begreiflich wird diese Ansicht freilich,
| |
| wenn man sieht, in welcher hilflosen Unkenntnis sich
| |
| diese positivistischen Denker befinden, wenn sie sich über
| |
| das «Wesen der Materie», über «die Grenzen des Erkennens
| |
| », über «die Natur der Atome» oder dergleichen Dinge
| |
| vernehmen lassen. An diesen Beispielen kann man wahre
| |
| Studien über dilettantisches Behandeln von einschneidenden
| |
| Fragen der Wissenschaft machen.*
| |
| Man muß den Mut haben, sich alles das gegenüber der
| |
| Naturwissenschaft der Gegenwart zu gestehen, trotz der
| |
| gewaltigen, bewunderungswürdigen Errungenschaften, die
| |
| dieselbe Naturwissenschaft auf technischem Gebiete zu
| |
| verzeichnen hat. Denn diese Errungenschaften haben mit
| |
| dem wahrhaften Bedürfnis nach Naturerkenntnis nichts
| |
| zu tun. Wir haben es ja gerade an Zeitgenossen erlebt, denen
| |
| wir Erfindungen verdanken, deren Bedeutung für die Zukunft
| |
| sich noch lange gar nicht einmal ahnen läßt, daß
| |
| ihnen ein tieferes wissenschaftliches Bedürfnis abgeht. Es
| |
| ist etwas ganz anderes, die Vorgänge der Natur zu beobachten,
| |
| um ihre Kräfte in den Dienst der Technik zu stellen,
| |
| als mit Hilfe dieser Vorgänge tiefer in das Wesen der
| |
| Naturwissenschaft hineinzublicken suchen. Wahre Wissenschaft
| |
| ist nur da vorhanden, wo der Geist Befriedigung
| |
| seiner Bedürfnisse sucht, ohne äußeren Zweck.
| |
| Wahre Wissenschaft im höheren Sinne des Wortes hat es
| |
| nur mit ideellen Objekten zu tun; sie kann nur Idealismus
| |
| sein. Denn sie hat ihren letzten Grund in Bedürfnissen, die
| |
| aus dem Geiste stammen. Die Natur erweckt in uns Fragen,
| |
| Probleme, die der Lösung zustreben. Aber sie kann diese
| |
| Lösung nicht selbst liefern. Nur der Umstand, daß mit unserem
| |
| Erkenntnisvermögen eine höhere Welt der Natur gegenübertritt,
| |
| das schafft auch höhere Forderungen. Einem
| |
| Wesen, dem diese höhere Natur nicht eigen wäre, gingen
| |
| diese Probleme einfach nicht auf. Sie können daher ihre
| |
| Antwort auch von keiner anderen Instanz als nur wieder
| |
| von dieser höheren Natur erhalten. Wissenschaftliche Fragen
| |
| sind daher wesentlich eine Angelegenheit, die der Geist
| |
| mit sich selbst auszumachen hat. Sie führen ihn nicht aus
| |
| seinem Elemente heraus. Das Gebiet aber, in welchem, als
| |
| in seinem ureigenen, der Geist lebt und webt, ist die Idee,
| |
| ist die Gedankenwelt. Gedankliche Fragen durch gedankliche
| |
| Antworten erledigen, das ist wissenschaftliche Tätigkeit
| |
| im höchsten Sinne des Wortes. Und alle übrigen wissenschaftlichen
| |
| Verrichtungen sind zuletzt nur dazu da,
| |
| diesem höchsten Zwecke zu dienen. Man nehme die wissenschaftliche
| |
| Beobachtung. Sie soll uns zur Erkenntnis eines
| |
| Naturgesetzes führen. Das Gesetz selbst ist rein ideell.
| |
| Schon das Bedürfnis nach einer hinter den Erscheinungen
| |
| waltenden Gesetzlichkeit entstammt dem Geiste. Ein ungeistiges
| |
| Wesen hätte dieses Bedürfnis nicht. Nun treten
| |
| wir an die Beobachtung heran! Was wollen wir durch sie
| |
| denn eigentlich erreichen? Soll uns auf die in unserem
| |
| Geiste erzeugte Frage von außen, durch die Sinnenbeobachtung,
| |
| etwas geliefert werden, das Antwort auf dieselbe
| |
| sein könnte? Nimmermehr. Denn warum sollten wir bei
| |
| einer zweiten Beobachtung uns befriedigter fühlen als bei
| |
| der ersten? Wäre der Geist überhaupt mit dem beobachteten
| |
| Objekte zufrieden, so müßte er es gleich mit dem ersten
| |
| sein. Aber die eigentliche Frage ist gar nicht die nach einer
| |
| zweiten Beobachtung, sondern nach der ideellen Grundlage
| |
| der Beobachtungen. Was läßt diese Beobachtung für
| |
| eine ideelle Erklärung zu, wie muß ich sie denken, damit
| |
| sie mir möglich erscheint? Das sind die Fragen, die uns der
| |
| Sinnenwelt gegenüber kommen. Ich muß aus den Tiefen
| |
| meines Geistes selbst das heraussuchen, was mir der Sinnenwelt
| |
| gegenüber fehlt. Wenn ich mir die höhere Natur, nach
| |
| der mein Geist der sinnlichen gegenüber strebt, nicht schaffen
| |
| kann, dann schafft sie mir keine Macht der äußeren
| |
| Welt. Die Resultate der Wissenschaft können also nur aus
| |
| dem Geiste kommen; sie können somit nur Ideen sein. Gegen
| |
| diese notwendige Überlegung kann man nichts einwenden.
| |
| Mit ihr ist aber der idealistische Charakter aller
| |
| Wissenschaft gesichert.
| |
| Die moderne Naturwissenschaft kann ihrem ganzen
| |
| Wesen nach nicht an die Idealität der Erkenntnis glauben.
| |
| Denn ihr gilt die Idee nicht als das Erste, Ursprünglichste,
| |
| Schöpferische, sondern als das letzte Produkt der materiellen
| |
| Prozesse. Sie ist sich dabei aber des Umstandes gar nicht
| |
| bewußt, daß diese ihre materiellen Prozesse nur der sinnenfällig
| |
| beobachtbaren Welt angehören, die sich aber,
| |
| tiefer erfaßt, ganz in Idee auflöst. Der in Betracht kommende
| |
| Prozeß stellt sich nämlich der Beobachtung folgendermaßen
| |
| dar: Wir nehmen mit unseren Sinnen Tatsachen
| |
| wahr, Tatsachen, die ganz nach den Gesetzen der Mechanik
| |
| verlaufen, dann Erscheinungen der Wärme, des Lichtes,
| |
| des Magnetismus, der Elektrizität, endlich des Lebensprozesses
| |
| usw. Auf der höchsten Stufe des Lebens finden
| |
| wir, daß sich dasselbe bis zur Bildung von Begriffen, Ideen
| |
| erhebt, deren Träger eben das menschliche Gehirn ist. Aus
| |
| einer solchen Gedankensphäre erwachsend finden wir unser
| |
| eigenes «Ich». Dasselbe scheint das oberste Produkt eines
| |
| durch eine lange Reihe physikalischer, chemischer und
| |
| organischer Vorgänge vermittelten komplizierten Prozesses
| |
| zu sein. Untersuchen wir aber die ideelle Welt, die den
| |
| Inhalt jenes «Ich» ausmacht, so finden wir in ihr wesentlich
| |
| mehr als bloß das Endprodukt jenes Prozesses. Wir
| |
| finden, daß die einzelnen Teile derselben in einer ganz anderen
| |
| Weise miteinander verknüpft sind, als die Teile jenes
| |
| bloß beobachteten Prozesses. Indem der eine Gedanke
| |
| in uns auftaucht, der dann einen zweiten erfordert, finden
| |
| wir, daß da ein ideeller Zusammenhang zwischen diesen
| |
| zwei Objekten ist in ganz anderer Art, als wenn ich die
| |
| Färbung eines Stoffes z. B. als Folge eines chemischen Agens
| |
| beobachte. Es ist ja ganz selbstverständlich, daß die aufeinanderfolgenden
| |
| Stadien des Gehirnprozesses im organischen
| |
| Stoffwechsel ihre Quelle haben, wenngleich der
| |
| Gehirnprozeß selbst der Träger jener Gedankengebilde ist.
| |
| Aber warum der zweite Gedanke aus dem ersten folgt, dazu
| |
| finde ich in diesem Stoffwechsel nicht, wohl aber in dem
| |
| logischen Gedankenzusammenhang den Grund. In der
| |
| Welt der Gedanken herrscht somit außer der organischen
| |
| Notwendigkeit eine höhere ideelle. Diese Notwendigkeit
| |
| nun aber, die der Geist innerhalb seiner Ideenwelt findet,
| |
| diese sucht er auch in dem übrigen Universum. Denn diese
| |
| Notwendigkeit ersteht uns ja nur dadurch, daß wir nicht
| |
| nur beobachten, sondern auch denken. Oder, mit anderen
| |
| Worten: Die Dinge erscheinen nicht mehr in einem bloß
| |
| tatsächlichen Zusammenhange, sondern durch eine innere,
| |
| ideelle Notwendigkeit verknüpft, wenn wir sie nicht bloß
| |
| durch die Beobachtung, sondern durch den Gedanken erfassen.
| |
| Man kann demgegenüber nicht sagen: Was soll alles
| |
| Erfassen der Erscheinungswelt in Gedanken, wenn die
| |
| Dinge dieser Welt vielleicht ein solches Erfassen ihrer Natur
| |
| nach gar nicht zulassen? Diese Frage kann nur der stellen,
| |
| der die ganze Sache nicht in ihrem Kerne erfaßt hat.
| |
| Die Welt der Gedanken lebt in unserem Inneren auf, sie
| |
| tritt den sinnlich beobachtbaren Objekten gegenüber und
| |
| fragt nun, welchen Bezug hat diese mir da gegenübertretende
| |
| Welt zu mir selbst? Was ist sie mir gegenüber? Ich
| |
| bin da mit meiner über aller Vergänglichkeit schwebenden
| |
| ideellen Notwendigkeit; ich habe die Kraft in mir, mich
| |
| selbst zu erklären. Wie aber erkläre ich das, was mir gegenüber
| |
| auftritt?
| |
| Hier ist es, wo sich uns eine bedeutungsvolle Frage beantwortet,
| |
| die z. B. Friedrich Theodor Vischer wiederholt
| |
| aufgeworfen und für den Angelpunkt alles philosophischen
| |
| Nachdenkens erklärt hat: jene nach dem Zusammenhange
| |
| von Geist und Natur. Was besteht für ein Verhältnis zwischen
| |
| diesen beiden, uns stets voneinander geschieden erscheinenden
| |
| Wesenheiten? Wenn man diese Frage recht
| |
| aufwirft, dann ist ihre Beantwortung nicht so schwierig,
| |
| wie es scheint. Was kann die Frage denn nur für einen
| |
| Sinn haben? Dieselbe wird ja nicht von einem Wesen gestellt,
| |
| das über Natur und Geist als dritter stünde und von diesem
| |
| seinem Standpunkte aus jenen Zusammenhang untersuchte,
| |
| sondern von der einen der beiden Wesenheiten, von dem
| |
| Geiste, selbst. Der letztere fragt: Welcher Zusammenhang
| |
| besteht zwischen mir und der Natur? Das heißt aber wieder
| |
| nichts anderes als: Wie kann ich mich selbst in eine Beziehung
| |
| zu der mir gegenüberstehenden Natur bringen? Wie
| |
| kann ich nach den in mir lebenden Bedürfnissen diese Beziehung
| |
| ausdrücken? Ich lebe in Ideen; was für eine Idee
| |
| entspricht der Natur, wie kann ich das, was ich als Natur
| |
| anschaue, als Idee ausdrücken? Es ist, als ob wir uns oftmals
| |
| durch eine verfehlte Fragestellung selbst den Weg zu
| |
| einer befriedigenden Antwort verlegten. Eine richtige
| |
| Frage ist aber schon eine halbe Antwort *
| |
| Der Geist sucht überall über die Folge der Tatsachen,
| |
| wie sie ihm die bloße Beobachtung liefert, hinauszukommen
| |
| und bis zu den Ideen der Dinge zu dringen. Die Wissenschaft
| |
| fängt eben da an, wo das Denken anfängt. In
| |
| ihren Ergebnissen liegt das in ideeller Notwendigkeit, was
| |
| den Sinnen nur als Tatsachenfolge erscheint. Diese Ergebnisse
| |
| sind nur scheinbar das letzte Produkt des oben geschilderten
| |
| Prozesses; in Wahrheit sind sie dasjenige, was
| |
| wir im ganzen Universum als die Grundlage von allem
| |
| ansehen müssen. Wo sie dann für die Beobachtung erscheinen,
| |
| das ist gleichgültig; denn davon hängt ja, wie wir
| |
| gesehen haben, ihre Bedeutung nicht ab. Sie breiten das
| |
| Netz ihrer ideellen Notwendigkeit über das ganze Universum
| |
| aus.
| |
| Wir mögen von wo immer ausgehen; wenn wir geistige
| |
| Kraft genug haben, treffen wir zuletzt auf die Idee.
| |
| Indem die moderne Physik dies vollständig verkennt,
| |
| wird sie zu einer ganzen Reihe von Irrtümern geführt.
| |
| Ich will hier nur auf einen solchen als Beispiel hinweisen.
| |
| Nehmen wir die Definition des in der Physik gewöhnlich
| |
| unter den «allgemeinen Eigenschaften der Körper» angeführten
| |
| Beharrungsvermögens. Dies wird gewöhnlich
| |
| folgendermaßen definiert: Kein Körper kann ohne äußere
| |
| Ursache den Zustand der Bewegung, in dem er sich befindet,
| |
| verändern. Diese Definition erweckt die Vorstellung,
| |
| als wenn der Begriff des an sich trägen Körpers aus der Erscheinungswelt
| |
| abstrahiert wäre. Und Mill, der nirgends
| |
| auf die Sache selbst eingeht, sondern zum Behufe einer erzwungenen
| |
| Theorie alles auf den Kopf stellt, würde keinen
| |
| Augenblick anstehen, die Sache auch so zu erklären.
| |
| Dies ist aber doch ganz unrichtig. Der Begriff des trägen
| |
| Körpers entsteht rein durch eine begriffliche Konstruktion.
| |
| Indem ich das im Raume Ausgedehnte «Körper»
| |
| nenne, kann ich mir solche Körper vorstellen, deren Veränderungen
| |
| von äußeren Einflüssen herrühren und solche,
| |
| bei denen sie aus eigenem Antrieb geschehen. Finde ich nun
| |
| in der Außenwelt etwas, was meinem gebildeten Begriffe:
| |
| «Körper, der sich nicht ohne äußeren Antrieb verändern
| |
| kann» entspricht, so nenne ich diesen träge oder dem
| |
| Gesetz des Beharrungsvermögens unterworfen. Meine Begriffe
| |
| sind nicht aus der Sinnenwelt abstrahiert, sondern
| |
| frei aus der Idee konstruiert, und mit ihrer Hilfe finde ich
| |
| mich erst in der Sinnenwelt zurecht. Die obige Definition
| |
| könnte nur lauten: Ein Körper, der nicht aus sich selbst
| |
| heraus seinen Bewegungszustand ändern kann, heißt ein
| |
| träger. Und wenn ich ihn als solchen erkannt habe, dann
| |
| kann ich alles, was mit einem trägen Körper zusammenhängt,
| |
| auch auf den in Rede stehenden anwenden.
| |
| 2. Das «Urphänomen»
| |
| Könnten wir die ganze Reihe von Vorgängen verfolgen,
| |
| welche sich bei irgendeiner Sinneswahrnehmung vollziehen,
| |
| von der peripherischen Endung des Nerven im Sinnesorgane
| |
| bis in das Gehirn, so würden wir doch nirgends bis zu
| |
| jenem Punkte gelangen, an dem die mechanischen, chemischen
| |
| und organischen, kurz die raumzeitlichen Prozesse
| |
| aufhören, und das auftritt, was wir eigentlich Sinneswahrnehmung
| |
| nennen, z. B. die Empfindung der Wärme, des
| |
| Lichtes, des Tones usw. Es ist die Stelle nicht zu finden,
| |
| wo die verursachende Bewegung in ihre Wirkung, die
| |
| Wahrnehmung, überginge. Können wir dann aber überhaupt
| |
| davon sprechen, daß die beiden Dinge in dem Verhältnisse
| |
| von Ursache und Wirkung stehen?
| |
| Wir wollen einmal die Tatsachen ganz objektiv untersuchen.
| |
| Nehmen wir an, es trete eine bestimmte Empfindung
| |
| in unserem Bewußtsein auf. Sie tritt dann zugleich so
| |
| auf, daß sie uns auf irgendeinen Gegenstand verweist, von
| |
| dem sie herstammt. Wenn ich die Empfindung des Rot
| |
| habe, so verbinde ich, kraft des Inhaltes dieser Vorstellung,
| |
| in der Regel damit zugleich ein bestimmtes Ortsdatum, d. i.
| |
| eine Stelle im Raume, oder die Oberfläche eines Dinges, der
| |
| ich das, was diese Empfindung ausdrückt, zuschreibe. Nur
| |
| dann ist das nicht der Fall, wenn durch einen äußeren Einfluß
| |
| das Sinnesorgan selbst in der ihm eigentümlichen
| |
| Weise antwortet, wie wenn ich bei einem Schlag aufs Auge
| |
| eine Lichtempfindung habe. Von diesen Fällen, in denen
| |
| die Empfindungen übrigens niemals mit ihrer sonstigen
| |
| Bestimmtheit auftreten, wollen wir absehen. Sie können
| |
| uns ja, als Ausnahmefälle, über die Natur der Dinge nicht
| |
| belehren. Habe ich die Empfindung des Rot mit einem bestimmten
| |
| Ortsdatum, so werde ich zunächst an irgendein
| |
| Ding in der Außenwelt als den Träger dieser Empfindung
| |
| verwiesen. Ich kann mich nun ja wohl fragen: Welche
| |
| räumlich-zeitlichen Vorgänge spielen sich in diesem
| |
| Dinge ab, während es mir als mit der roten Farbe behaftet
| |
| erscheint? Es wird sich mir dann zeigen, daß mechanische,
| |
| chemische oder andere Vorgänge als Antwort auf meine
| |
| Frage sich darbieten. Nun kann ich weitergehen und die
| |
| Vorgänge untersuchen, die sich auf dem Wege von jenem
| |
| Dinge bis zu meinem Sinnesorgane vollzogen haben, um
| |
| die Empfindung der roten Farbe für mich zu vermitteln.
| |
| Da können sich mir nun doch auch wieder nichts anderes
| |
| als Bewegungsvorgänge oder elektrische Ströme oder chemische
| |
| Veränderungen als solche Vermittler darstellen.
| |
| Das gleiche Resultat müßte sich mir ergeben, wenn ich die
| |
| weitere Vermittlung vom Sinnesorgane bis zur Zentralstelle
| |
| im Gehirne untersuchen könnte. Was auf diesem ganzen
| |
| Wege vermittelt wird, das ist die in Rede stehende
| |
| Wahrnehmung des Rot. Wie sich diese Wahrnehmung in
| |
| einem bestimmten Dinge, das auf dem Wege von der Erregung
| |
| bis zur Wahrnehmung liegt, darstellt, das hängt
| |
| lediglich von der Natur dieses Dinges ab. Die Empfindung
| |
| ist an jedem Orte vorhanden, vom Erreger bis zum
| |
| Gehirne, aber nicht als solche, nicht expliziert, sondern so,
| |
| wie es der Natur des Gegenstandes entspricht, der an jenem
| |
| Orte sich befindet.
| |
| Daraus ergibt sich aber eine Wahrheit, die geeignet ist,
| |
| Licht zu verbreiten über die gesamte theoretische Grundlage
| |
| der Physik und Physiologie. Was erfahre ich aus der
| |
| Untersuchung eines Dinges, das von einem Prozesse, der
| |
| in meinem Bewußtsein als Empfindung auftritt, ergriffen
| |
| wird? Ich erfahre nicht mehr als die Art und Weise, wie
| |
| jenes Ding auf die Aktion, die von der Empfindung ausgeht,
| |
| antwortet, oder mit anderen Worten: wie sich eine
| |
| Empfindung in irgendeinem Gegenstande der räumlichzeitlichen
| |
| Welt auslebt. Weit entfernt, daß ein solcher
| |
| räumlich-zeitlicher Vorgang die Ursache ist, der in mir die
| |
| Empfindung auslöst, ist vielmehr das ganz andere richtig:
| |
| der räumlich-zeitliche Vorgang ist die Wirkung der Empfindung
| |
| in einem räumlich-zeitlich ausgedehnten Dinge.
| |
| Ich könnte noch beliebig viele Dinge einschalten auf dem
| |
| Wege von dem Erreger bis zu dem Wahrnehmungsorgane:
| |
| in jedem wird hierbei nur dasjenige vorgehen, was in ihm
| |
| vermöge seiner Natur vorgehen kann. Deshalb bleibt aber
| |
| doch die Empfindung dasjenige, was sich in allen diesen
| |
| Vorgängen auslebt.
| |
| Man hat also in den longitudinalen Schwingungen der
| |
| Luft bei der Schallvermittlung oder in den hypothetischen
| |
| Oszillationen des Äthers bei der Vermittlung des Lichtes
| |
| nichts anderes zu sehen als die Art und Weise, wie die betreffenden
| |
| Empfindungen in einem Medium auftreten können,
| |
| das seiner Natur nach nur der Verdünnung und Verdichtung
| |
| beziehungsweise der schwingenden Bewegung
| |
| fähig ist. Die Empfindung als solche kann ich in dieser
| |
| Welt nicht finden, weil sie einfach nicht da sein kann. In
| |
| jenen Vorgängen habe ich aber durchaus nicht das Objektive
| |
| der Empfindungsvorgänge gegeben, sondern eine Form
| |
| ihres Auftretens.
| |
| Und fragen wir uns nun: Welcher Art sind denn jene
| |
| vermittelnden Vorgänge selbst? Untersuchen wir sie denn
| |
| mit anderen Mitteln als mit Hilfe unserer Sinne? Ja, kann
| |
| ich denn meine Sinne selbst mit anderen Mitteln als nur
| |
| wieder mit eben diesen Sinnen untersuchen? Ist die peripherische
| |
| Nervenendung, sind die Windungen des Gehirnes
| |
| durch etwas anderes gegeben denn durch Sinneswahrnehmung?
| |
| All das ist gleich subjektiv und gleich objektiv,
| |
| wenn diese Unterscheidung überhaupt als berechtigt angenommen
| |
| werden könnte. Jetzt können wir die Sache
| |
| noch genauer fassen. Indem wir die Wahrnehmung von
| |
| ihrer Erregung bis zu dem Wahrnehmungsorgane verfolgen,
| |
| untersuchen wir nichts anderes als den fortwährenden
| |
| Übergang von einer Wahrnehmung zur andern. Das
| |
| «Rot» liegt uns vor als dasjenige, um dessen willen wir
| |
| überhaupt die ganze Untersuchung anstellen. Es weist uns
| |
| auf seinen Erreger. In diesem beobachten wir andere Empfindungen
| |
| als mit jenem Rot zusammenhängend. Es sind
| |
| Bewegungsvorgänge. Dieselben treten dann als weitere Bewegungsvorgänge
| |
| zwischen dem Erreger und dem Sinnesorgane
| |
| auf usw. Alles dieses aber sind gleichfalls wahrgenommene
| |
| Empfindungen. Und sie stellen nichts weiter
| |
| dar als eine Metamorphose von Vorgängen, die, soweit sie
| |
| überhaupt für die sinnliche Beobachtung in Betracht kommen,
| |
| sich ganz restlos in Wahrnehmungen auflösen.
| |
| Die wahrgenommene Welt ist also nichts anderes als
| |
| eine Summe von metamorphosierten Wahrnehmungen.
| |
| Wir mußten der Bequemlichkeit halber uns einer Ausdrucksweise
| |
| bedienen, die mit dem gegenwärtigen Resultate
| |
| nicht vollständig in Einklang zu bringen ist. Wir sagten,
| |
| jedes in den Zwischenraum zwischen Erreger und Wahrnehmungsorgan
| |
| eingeschaltete Ding bringe eine Empfindung
| |
| in der Weise zum Ausdrucke, wie es seiner Natur gemäß
| |
| ist. Streng genommen ist ja das Ding nichts weiter als
| |
| die Summe jener Vorgänge, als welche es auftritt.
| |
| Man wird uns nun entgegnen: mit dieser unserer Schlußweise
| |
| schaffen wir alles Dauernde im fortlaufenden Weltprozesse
| |
| hinweg, wir machen wie Heraklit den Fluß der
| |
| Dinge, in dem nichts bestehen bleibt, zum alleinigen Weltprinzipe.
| |
| Es müsse hinter den Erscheinungen ein «Ding an
| |
| sich», hinter der Welt der Veränderungen eine «dauernde
| |
| Materie» geben. Wir wollen denn doch einmal genauer untersuchen,
| |
| was es denn eigentlich mit dieser «dauernden
| |
| Materie», mit dieser «Dauer im Wechsel» überhaupt für
| |
| eine Bewandtnis habe.
| |
| Wenn ich mein Auge einer roten Fläche gegenüberstelle,
| |
| so tritt die Empfindung des Rot in meinem Bewußtsein
| |
| auf. Wir haben nun an dieser Empfindung Anfang,
| |
| Dauer und Ende zu unterscheiden. Der vorübergehenden
| |
| Empfindung soll nun ein dauernder objektiver Vorgang
| |
| gegenüberstehen, der als solcher wieder objektiv in der
| |
| Zeit begrenzt ist, d. h. Anfang, Dauer und Ende hat. Dieser
| |
| Vorgang aber soll an einer Materie vor sich gehen, die anfang-
| |
| und endlos, d. i. unzerstörbar, ewig ist. Diese soll
| |
| das eigentlich Dauernde im Wechsel der Prozesse sein. Die
| |
| Schlußfolgerung hätte vielleicht einige Berechtigung, wenn
| |
| der Zeitbegriff in der obigen Weise richtig auf die Empfindung
| |
| angewendet wäre. Aber müssen wir denn nicht
| |
| streng unterscheiden zwischen dem Inhalte der Empfindung
| |
| und dem Auftreten derselben? In meiner Wahrnehmung
| |
| sind freilich beide ein und dasselbe; denn es muß
| |
| doch der Inhalt der Empfindung in derselben anwesend
| |
| sein, sonst käme sie für mich ja gar nicht in Betracht. Aber
| |
| ist es für diesen Inhalt, rein als solchen genommen, nicht
| |
| ganz gleichgültig, daß er jetzt in diesem Zeitmomente gerade
| |
| in mein Bewußtsein ein- und nach so und so viel Sekunden
| |
| aus demselben wieder austritt? Das, was den Inhalt
| |
| der Empfindung, d. i. dasjenige, was allein objektiv
| |
| in Betracht kommt, ausmacht, ist davon ganz unabhängig.
| |
| Nun kann aber das doch nicht für eine wesentliche Bedingung
| |
| des Bestandes einer Sache angesehen werden, was
| |
| für deren Inhalt ganz gleichgültig ist.
| |
| Aber auch für einen objektiven Prozeß, der Anfang und
| |
| Ende hat, ist unsere Anwendung des Zeitbegriffes nicht
| |
| richtig. Wenn an einem bestimmten Dinge eine neue Eigenschaft
| |
| auftaucht, sich während einiger Zeit in verschiedenen
| |
| Entwicklungszuständen erhält und dann wieder
| |
| verschwindet, so müssen wir auch hier den Inhalt dieser
| |
| Eigenschaft als das Wesentliche ansehen. Und dieses hat als
| |
| solches absolut nichts zu tun mit den Begriffen Anfang,
| |
| Dauer und Ende. Unter dem Wesentlichen verstehen wir
| |
| hier das, wodurch ein Ding eigentlich gerade das ist, als
| |
| was es sich darstellt. Nicht daß etwas in einem bestimmten
| |
| Zeitmomente auftaucht, sondern was auftaucht, darauf
| |
| kommt es an. Die Summe aller dieser mit dem «Was» ausgedrückten
| |
| Bestimmungen macht den Inhalt der Welt aus.
| |
| Nun lebt sich dieses «Was» aber in den mannigfaltigsten
| |
| Bestimmungen, in den verschiedenartigsten Gestalten aus.
| |
| Alle diese Gestalten sind in Beziehung zueinander, sie bedingen
| |
| sich gegenseitig. Dadurch treten sie in das Verhältnis
| |
| des Auseinander nach Raum und Zeit. Aber nur einer
| |
| ganz verfehlten Auffassung des Zeitbegriffes verdankt der
| |
| Begriff der Materie seine Entstehung. Man glaubt die Welt
| |
| zum wesenlosen Schein zu verflüchtigen, wenn man der
| |
| veränderlichen Summe der Geschehnisse nicht ein in der Zeit
| |
| Beharrendes, ein Unveränderliches untergelegt dächte, das
| |
| bleibt, während seine Bestimmungen wechseln. Aber die
| |
| Zeit ist ja nicht ein Gefäß, in dem die Veränderungen sich
| |
| abspielen; sie ist nicht vor den Dingen und außerhalb derselben
| |
| da. Die Zeit ist der sinnenfällige Ausdruck für den
| |
| Umstand, daß die Tatsachen ihrem Inhalte nach voneinander
| |
| in einer Folge abhängig sind. Nehmen wir an, wir
| |
| hätten es mit dem wahrzunehmenden Tatsachenkomplex a1
| |
| b1 c1 d1 e1 zu tun. Von diesem hängt mit innerer Notwendigkeit
| |
| der andere Komplex a2 b2 c2 d2 e2 ab; ich sehe den
| |
| Inhalt dieses letzteren ein, wenn ich ihn ideell aus dem
| |
| ersteren hervorgehen lasse. Nun nehmen wir an, beide
| |
| Komplexe treten in die Erscheinung. Denn was wir früher
| |
| besprochen haben, ist das ganz unzeitliche und unräumliche
| |
| Wesen dieser Komplexe. Wenn a2 b2 c2 d2 e2 in der
| |
| Erscheinung auftreten soll, dann muß a1 b1 c1 d1 e1 ebenfalls
| |
| Erscheinung sein, und zwar so, daß nun a2 b2 c2 d2 e2
| |
| auch in seiner Abhängigkeit davon erscheint. D. h. die Erscheinung
| |
| aX b1 c1 d1 e1 muß da sein, der Erscheinung a2 b2
| |
| c2 d2 e2 Platz machen, worauf diese letztere auftritt. Hier
| |
| sehen wir, daß die Zeit erst da auftritt, wo das Wesen einer
| |
| Sache in die Erscheinung tritt. Die Zeit gehört der Erscheinungswelt
| |
| an. Sie hat mit dem Wesen selbst noch nichts zu
| |
| tun. Dieses Wesen ist nur ideell zu erfassen. Nur wer diesen
| |
| Rückgang von der Erscheinung zum Wesen in seinen Gedankengängen
| |
| nicht vollziehen kann, der hypostasiert die
| |
| Zeit als ein den Tatsachen Vorhergehendes. Dann braucht
| |
| er aber ein Dasein, welches die Veränderungen überdauert.
| |
| Als solches faßt er die unzerstörbare Materie auf. Damit
| |
| hat er sich ein Ding geschaffen, dem die Zeit nichts anhaben
| |
| soll, ein in allem Wechsel Beharrendes. Eigentlich aber
| |
| hat er nur sein Unvermögen gezeigt, von der zeitlichen Erscheinung
| |
| der Tatsachen zu ihrem Wesen vorzudringen, das
| |
| mit der Zeit nichts zu tun hat. Kann ich denn von dem
| |
| Wesen einer Tatsache sagen: es entsteht oder vergeht? Ich
| |
| kann nur sagen, daß ihr Inhalt einen andern bedingt, und
| |
| daß dann diese Bedingung als Zeitenfolge erscheint. Das
| |
| Wesen einer Sache kann nicht zerstört werden; denn es ist
| |
| außer aller Zeit und bedingt selbst die letztere. Damit haben
| |
| wir zugleich eine Beleuchtung auf zwei Begriffe geworfen,
| |
| für die noch wenig Verständnis zu finden ist, auf
| |
| Wesen und Erscheinung. Wer die Sache in unserer Weise
| |
| richtig auffaßt, der kann nach einem Beweis von der Unzerstörbarkeit
| |
| des Wesens einer Sache nicht suchen, weil
| |
| die Zerstörung den Zeitbegriff in sich schließt, der mit dem
| |
| Wesen nichts zu tun hat.
| |
| Nach diesen Ausführungen können wir sagen: Das sinnenfällige
| |
| Weltbild ist die Summe sich metamorphosier ender
| |
| Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugrunde liegende
| |
| Materie.
| |
| Unsere Bemerkungen haben uns aber noch etwas anderes
| |
| gezeigt. Wir haben gesehen, daß wir nicht von einem
| |
| subjektiven Charakter der Wahrnehmungen sprechen können.
| |
| Wir können, wenn wir eine Wahrnehmung haben, die
| |
| Vorgänge von dem Erreger an bis zu unserem Zentralorgan
| |
| verfolgen: nirgends wird hier ein Punkt zu finden sein,
| |
| wo der Sprung von der Objektivität des Nicht-Wahrgenommenen
| |
| zur Subjektivität der Wahrnehmung nachzuweisen
| |
| wäre. Damit ist der subjektive Charakter der Wahrnehmungswelt
| |
| widerlegt. Die Welt der Wahrnehmung
| |
| steht als auf sich begründeter Inhalt da, der mit Subjekt
| |
| und Objekt vorläufig noch gar nichts zu tun hat.
| |
| Mit der obigen Ausführung ist natürlich nur jener Begriff
| |
| der Materie getroffen, den die Physik ihren Betrachtungen
| |
| zugrunde legt und den sie mit dem alten, ebenfalls
| |
| unrichtigen Substanzbegriff der Metaphysik identifiziert.
| |
| Etwas anderes ist die Materie als das den Erscheinungen
| |
| zugrunde liegende eigentlich Reale, etwas anderes die Materie
| |
| als Phänomen, als Erscheinung. Auf den ersteren Begriff
| |
| allein geht unsere Betrachtung. Der letztere wird
| |
| durch sie nicht berührt. Denn wenn ich das den Raum Erfüllende
| |
| «Materie» nenne, so ist das bloß ein Wort für ein
| |
| Phänomen, dem keine höhere Realität als anderen Phänomenen
| |
| zugeschrieben wird. Ich muß mir dabei nur diesen
| |
| Charakter der Materie stets gegenwärtig halten.
| |
| Die Welt dessen, was sich uns als Wahrnehmungen darstellt,
| |
| d. h. Ausgedehntes, Bewegung, Ruhe, Kraft, Licht,
| |
| Wärme, Farbe, Ton, Elektrizität usw., das ist das Objekt
| |
| aller Wissenschaft.
| |
| Wäre nun das wahrgenommene Weltbild ein solches, daß
| |
| es so, wie es für unsere Sinne vor uns auftritt, sich ungetrübt
| |
| seiner Wesenheit nach auslebte, mit anderen Worten, wäre
| |
| alles, was in der Erscheinung auftritt, ein vollkommener,
| |
| durch nichts gestörter Abdruck der inneren Wesenheit der
| |
| Dinge, dann wäre Wissenschaft die unnötigste Sache von
| |
| der Welt. Denn die Aufgabe der Erkenntnis wäre schon
| |
| in der Wahrnehmung voll und restlos erfüllt. Ja, wir könnten
| |
| dann überhaupt gar nicht zwischen Wesen und Erscheinung
| |
| unterscheiden. Beides fiele als identisch völlig zusammen.
| |
| Das ist aber nicht der Fall. Nehmen wir an, das in der
| |
| Tatsachenwelt enthaltene Element A stehe in einem gewissen
| |
| Zusammenhang mit dem Element B. Beide Elemente
| |
| sind natürlich nach unseren Ausführungen nichts weiter
| |
| als Phänomene. Der Zusammenhang kommt wieder als
| |
| Phänomen zur Erscheinung. Dieses Phänomen wollen wir
| |
| C nennen. Was wir nun innerhalb der Tatsachenwelt feststellen
| |
| können, ist das Verhältnis von A, B und C. Nun
| |
| aber bestehen neben A, B und C in der wahrnehmbaren
| |
| Welt noch unendlich viele solcher Elemente. Nehmen wir
| |
| ein beliebiges viertes, D; es trete hinzu, und es wird sogleich
| |
| alles sich als modifiziert darstellen. Statt daß A, im
| |
| Verein mit B, C im Gefolge hat, wird durch das Hinzutreten
| |
| von D ein wesentlich anderes Phänomen E auftreten.
| |
| Hierauf kommt es an. Wenn wir einem Phänomen gegenübertreten,
| |
| so sehen wir es mannigfach bedingt. Wir
| |
| müssen alle Beziehungen suchen, wenn wir das Phänomen
| |
| verstehen sollen. Nun sind diese Beziehungen aber verschiedene,
| |
| nähere und fernere. Daß mir ein Phänomen E
| |
| gegenübertrete, daran sind andere Phänomene in näherer
| |
| oder fernerer Beziehung die Veranlassung. Einige sind unbedingt
| |
| notwendig, um überhaupt ein derartiges Phänomen
| |
| entstehen zu lassen, andere hinderten wohl nicht,
| |
| wenn sie abwesend wären, daß ein so geartetes Phänomen
| |
| entstehe; aber sie bedingen, daß es gerade so entstehe. Daraus
| |
| ersehen wir, daß wir zwischen notwendigen und zufälligen
| |
| Bedingungen einer Erscheinung unterscheiden müssen.
| |
| Phänomene nun, die so entstehen, daß dabei nur die
| |
| notwendigen Bedingungen mitwirken, können wir ursprüngliche,
| |
| die anderen abgeleitete nennen. Wenn wir die
| |
| ursprünglichen Phänomene aus ihren Bedingungen verstehen,
| |
| dann können wir durch Hinzusetzung von neuen Bedingungen
| |
| die abgeleiteten ebenfalls verstehen.
| |
| Hier wird uns die Aufgabe der Wissenschaft klar. Sie
| |
| hat durch die phänomenale Welt so weit durchzudringen,
| |
| daß sie Erscheinungen aufsucht, die nur von notwendigen
| |
| Bedingungen abhängig sind. Und der sprachlich-begriffliche
| |
| Ausdruck für solche notwendige Zusammenhänge sind
| |
| die Naturgesetze.
| |
| Wenn man einer Sphäre von Erscheinungen gegenübertritt,
| |
| dann hat man also, sobald man über die bloße Beschreibung
| |
| und Registrierung hinaus ist, zunächst diejenigen
| |
| Elemente festzustellen, die einander notwendig bedingen
| |
| und sie als Urphänomene hinzustellen. Dazu hat
| |
| man dann jene Bedingungen zu setzen, welche schon in
| |
| einem entfernteren Bezug zu jenen Elementen stehen, um
| |
| zu sehen, wie sie jene ursprünglichen Phänomene modifizieren.
| |
| Dies ist das Verhältnis der Wissenschaft zur Erscheinungswelt:
| |
| in letzterer treten die Phänomene durchaus als
| |
| abgeleitete auf, sie sind deshalb von vornherein unverständlich;
| |
| in jener treten die Urphänomene an die Spitze und die
| |
| abgeleiteten als Folge auf, wodurch der ganze Zusammenhang
| |
| verständlich wird. Das System der Wissenschaft unterscheidet
| |
| sich von dem System der Natur dadurch, daß
| |
| in jenem der Zusammenhang der Erscheinungen vom Verstande
| |
| hergestellt und dadurch verständlich gemacht wird.
| |
| Die Wissenschaft hat nie und nimmer etwas zur Erscheinungswelt
| |
| hinzuzubringen, sondern nur die verhüllten Bezüge
| |
| derselben bloßzulegen. Aller Verstandesgebrauch darf
| |
| sich nur auf die letztere Arbeit beschränken. Durch Zurückgehen
| |
| auf ein Nicht-Erscheinendes, um die Erscheinungen
| |
| zu erklären, überschreitet der Verstand und alles
| |
| wissenschaftliche Treiben ihre Befugnis.
| |
| Nur wer die unbedingte Richtigkeit dieser unserer Ableitungen
| |
| einsieht, kann Goethes Farbenlehre verstehen.
| |
| Nachzudenken darüber, was eine Wahrnehmung wie z. B.
| |
| das Licht, die Farbe sonst noch sei, außer der Wesenheit,
| |
| als welche sie auftreten, das lag Goethe ganz fern. Denn
| |
| er kannte jene Befugnis des verständigen Denkens. Ihm
| |
| war das Licht als Empfindung gegeben. Wenn er nun den
| |
| Zusammenhang zwischen Licht und Farbe erklären wollte,
| |
| so konnte das nicht durch eine Spekulation geschehen, sondern
| |
| nur durch ein Urphänomen, indem er die notwendige
| |
| Bedingung aufsuchte, die zum Lichte hinzutreten muß, um
| |
| die Farbe entstehen zu lassen. Newton sah auch die Farbe
| |
| in Verbindung mit dem Lichte auftreten, aber er dachte
| |
| nun spekulativ nach: Wie entsteht die Farbe aus dem Lichte.
| |
| Das lag in seiner spekulativen Denkweise; in Goethes gegenständlicher
| |
| und richtig sich selbst verstehender Denkweise
| |
| lag das nicht. Deshalb mußte ihm Newtons Annahme:
| |
| «Das Licht ist aus farbigen Lichtern zusammengesetzt
| |
| » als Ergebnis unrichtiger Spekulation erscheinen. Er
| |
| hielt sich nur berechtigt, über den Zusammenhang von
| |
| Licht und Farbe unter Hinzutritt einer Bedingung etwas
| |
| auszusagen, nicht aber über das Licht selbst durch Hinzuziehung
| |
| eines spekulativen Begriffes. Daher sein Satz: «Das
| |
| Licht ist das einfachste, unzerlegteste, homogenste Wesen,
| |
| das wir kennen. Es ist nicht zusammengesetzt.» Alle Aussagen
| |
| über Zusammensetzung des Lichtes sind ja nur Aussagen
| |
| des Verstandes über ein Phänomen. Die Befugnis des
| |
| Verstandes erstreckt sich aber nur auf Aussagen über den
| |
| Zusammenhang von Phänomenen.
| |
| Hiermit ist der tiefere Grund bloßgelegt, warum Goethe,
| |
| als er durchs Prisma sah, nicht zu der Theorie Newtons
| |
| sich bekennen konnte. Das Prisma hätte die erste Bedingung
| |
| sein müssen für das Zustandekommen der Farbe. Es
| |
| erwies sich aber eine andere Bedingung, die Anwesenheit
| |
| eines Dunkeln, als ursprünglicher zur Entstehung derselben;
| |
| das Prisma erst als zweite Bedingung.
| |
| Mit diesen Auseinandersetzungen glaube ich für den
| |
| Leser der Goetheschen Farbenlehre alle Hindernisse beseitigt
| |
| zu haben, die den Weg zu diesem Werke verlegen.
| |
| Hätte man nicht immerfort diese Differenz der beiden
| |
| Farbentheorien in zwei einander widersprechenden Auslegungsarten
| |
| gesucht, die man einfach nach ihrer Berechtigung
| |
| dann untersuchen wollte, so wäre die Goethesche
| |
| Farbenlehre längst in ihrer hohen wissenschaftlichen Bedeutung
| |
| gewürdigt. Nur wer ganz erfüllt ist von so grundfalschen
| |
| Vorstellungen, wie diese ist, daß man von den
| |
| Wahrnehmungen durch verständiges Nachdenken zurückgehen
| |
| müsse auf die Ursache der Wahrnehmungen, der
| |
| kann die Frage noch in der Weise aufwerfen, wie es die heutige
| |
| Physik tut. Wer sich aber wirklich klar darüber geworden
| |
| ist, daß Erklären der Erscheinungen nichts anderes
| |
| heißt, als dieselben in einem von dem Verstande hergestellten
| |
| Zusammenhange beobachten, der muß die Goethesche
| |
| Farbenlehre im Prinzipe akzeptieren. Denn sie ist
| |
| die Folge einer richtigen Anschauungsweise über das Verhältnis
| |
| unseres Denkens zur Natur. Newton hatte diese
| |
| Anschauungsweise nicht. Es fällt mir natürlich nicht ein,
| |
| alle Einzelheiten der Goetheschen Farbenlehre verteidigen
| |
| zu wollen. Was ich aufrecht erhalten wissen will, ist nur das
| |
| Prinzip. Aber es kann auch hier nicht meine Aufgabe sein,
| |
| die zu Goethes Zeit noch unbekannten Erscheinungen der
| |
| Farbenlehre aus seinem Prinzipe abzuleiten. Sollte ich dereinst
| |
| das Glück haben, Muße und Mittel zu besitzen, um
| |
| eine Farbenlehre im Goetheschen Sinne ganz auf der Höhe
| |
| der modernen Errungenschaften der Naturwissenschaft zu
| |
| schreiben, so wäre in einer solchen allein die angedeutete
| |
| Aufgabe zu lösen. Ich würde das als zu meinen schönsten
| |
| Lebensaufgaben gehörig betrachten. Diese Einleitung
| |
| konnte sich allein auf die wissenschaftlich strenge Rechtfertigung
| |
| von Goethes Denkweise in der Farbenlehre erstrecken.
| |
| In dem Folgenden soll nun auch noch ein Licht
| |
| auf den inneren Bau derselben geworfen werden.
| |
| 3. Das System der Naturwissenschaft
| |
| Es könnte leicht erscheinen, als ob wir mit unseren Untersuchungen,
| |
| die dem Denken nur eine auf die Zusammenfassung
| |
| der Wahrnehmungen abzielende Befugnis zugestehen,
| |
| die selbständige Bedeutung der Begriffe und Ideen, für die
| |
| wir uns erst so energisch eingesetzt haben, nun selbst in
| |
| Frage stellen.
| |
| Nur eine ungenügende Auslegung dieser Untersuchung
| |
| kann zu dieser Ansicht führen.
| |
| Was erzielt das Denken, wenn es den Zusammenhang
| |
| der Wahrnehmungen vollzieht?
| |
| Betrachten wir zwei Wahrnehmungen A und B. Diese
| |
| sind uns zunächst als begriffsfreie Entitäten gegeben. Die
| |
| Qualitäten, die meiner Sinneswahrnehmung gegeben sind,
| |
| kann ich durch kein begriffliches Nachdenken in etwas anderes
| |
| verwandeln. Ich kann auch keine gedankliche Qualität
| |
| finden, durch die ich dasjenige, was in der sinnenfäligen
| |
| Wirklichkeit gegeben ist, konstruieren könnte, wenn
| |
| mir die Wahrnehmung mangelte. Ich kann nie einem Rotblinden
| |
| eine Vorstellung der Qualität «Rot» verschaffen,
| |
| auch wenn ich ihm dieselbe mit allen nur erdenklichen Mitteln
| |
| begrifflich umschreibe. Die Sinneswahrnehmung hat
| |
| somit ein Etwas, das nie in den Begriff eingeht; das wahrgenommen
| |
| werden muß, wenn es überhaupt Gegenstand
| |
| unserer Erkenntnis werden soll. Was für eine Rolle spielt
| |
| also der Begriff, den wir mit irgendeiner Sinneswahrnehmung
| |
| verknüpfen? Er muß offenbar ein ganz selbständiges
| |
| Element, etwas Neues hinzubringen, das wohl zur Sinneswahrnehmung
| |
| gehört, das aber in der Sinneswahrnehmung
| |
| nicht zum Vorschein kommt.
| |
| Nun ist es aber doch gewiß, daß dieses neue «Etwas»,
| |
| das der Begriff zur Sinneswahrnehmung hinzubringt, erst
| |
| das ausspricht, was unserem Erklärungsbedürfnis entgegenkommt.
| |
| Wir sind erst imstande, irgendein Element in
| |
| der Sinnenwelt zu verstehen, wenn wir einen Begriff davon
| |
| haben. Was die sinnenfällige Wirklichkeit uns bietet,
| |
| darauf können wir ja immer hinweisen; und jeder, der die
| |
| Möglichkeit hat, gerade dieses in Rede stehende Element
| |
| wahrzunehmen, weiß, um was es sich handelt. Durch den
| |
| Begriff sind wir imstande, etwas von der Sinnenwelt zu
| |
| sagen, was nicht wahrgenommen werden kann.
| |
| Daraus erhellt aber unmittelbar das Folgende. Wäre das
| |
| Wesen der Sinneswahrnehmung in der sinnlichen Qualität
| |
| erschöpft, dann könnte nicht in Form des Begriffes etwas
| |
| völlig Neues hinzukommen. Die Sinneswahrnehmung ist
| |
| also gar keine Totalität, sondern nur eine Seite einer solchen.
| |
| Und zwar jene, die bloß angeschaut werden kann.
| |
| Durch den Begriff erst wird uns das klar, was wir anschauen.
| |
| Jetzt können wir die inhaltliche Bedeutung dessen, was
| |
| wir im vorigen Kapitel methodisch entwickelt haben, aussprechen:
| |
| Durch die begriffliche Erfassung eines in der Sinnenwelt
| |
| Gegebenen gelangt erst das Was des im Anschauen
| |
| Gegebenen zur Erscheinung. Wir können den Inhalt des
| |
| Angeschauten nicht aussprechen, weil dieser Inhalt sich in
| |
| dem Wie des Angeschauten, d. h. in der Form des Auftretens
| |
| erschöpft. Somit finden wir im Begriffe das Was, den
| |
| andern Inhalt des in der Sinnenwelt in Form der Anschauung
| |
| Gegebenen.
| |
| Erst im Begriffe also bekommt die Welt ihren vollen Inhalt.
| |
| Nun haben wir aber gefunden, daß uns der Begriff
| |
| über die einzelne Erscheinung hinaus auf den Zusammenhang
| |
| der Dinge verweist. Somit stellt sich das, was in der
| |
| Sinnenwelt getrennt, vereinzelt auftritt, für den Begriff als
| |
| einheitliches Ganzes dar. So entsteht durch unsere naturwissenschaftliche
| |
| Methodik als Endziel die monistische
| |
| Naturwissenschaft; aber sie ist nicht abstrakter Monismus,
| |
| der die Einheit schon vorausnimmt, und dann die einzelnen
| |
| Tatsachen des konkreten Daseins in gezwungener
| |
| Weise darunter subsumiert, sondern der konkrete Monismus,
| |
| der Stück für Stück zeigt, daß die scheinbare Mannigfaltigkeit
| |
| des Sinnendaseins sich zuletzt nur als eine ideelle
| |
| Einheit erweist. Die Vielheit ist nur eine Form, in der sich
| |
| der einheitliche Weltinhalt ausspricht. Die Sinne, die nicht
| |
| in der Lage sind, diesen einheitlichen Inhalt zu erfassen, halten
| |
| sich an die Vielheit; sie sind geborene Pluralisten. Das
| |
| Denken aber überwindet die Vielheit und kommt so durch
| |
| eine lange Arbeit auf das einheitliche Weltprinzip zurück.
| |
| Die Art nun, wie der Begriff (die Idee) in der Sinnenwelt
| |
| sich auslebt, macht den Unterschied der Naturreiche.
| |
| Gelangt das sinnenfällig wirkliche Wesen nur zu einem solchen
| |
| Dasein, daß es völlig außerhalb des Begriffes steht,
| |
| nur von ihm als einem Gesetze in seinen Veränderungen
| |
| beherrscht wird, dann nennen wir dieses Wesen unorganisch.
| |
| Alles, was mit einem solchen vorgeht, ist auf die
| |
| Einflüsse eines anderen Wesens zurückzuführen; und wie
| |
| die beiden aufeinander wirken, das läßt sich durch ein
| |
| außer ihnen stehendes Gesetz erklären. In dieser Sphäre
| |
| haben wir es mit Phänomenen und Gesetzen zu tun, die,
| |
| wenn sie ursprünglich sind, Urphänomene heißen können.
| |
| In diesem Falle steht also das wahrzunehmende Begriffliche
| |
| außerhalb einer wahrgenommenen Mannigfaltigkeit.
| |
| Es kann aber eine sinnenfällige Einheit selbst schon über
| |
| sich hinausweisen; sie kann, wenn wir sie erfassen wollen,
| |
| uns nötigen, zu weiteren Bestimmungen als zu den uns
| |
| wahrnehmbaren fortzugehen. Dann erscheint das begrifflich
| |
| Erfaßbare als sinnenfällige Einheit. Die beiden, Begriff
| |
| und Wahrnehmung, sind zwar nicht identisch, aber
| |
| der Begriff erscheint nicht außer der sinnlichen Mannigfaltigkeit
| |
| als Gesetz, sondern in derselben als Prinzip. Er
| |
| liegt ihr als das sie Durchsetzende, nicht mehr sinnlich
| |
| Wahrnehmbare zugrunde, das wir Typus nennen. Damit
| |
| hat es die organische Naturwissenschaft zu tun.
| |
| Aber auch hier erscheint der Begriff noch nicht in seiner
| |
| ihm eigenen Form als Begriff, sondern erst als Typus.
| |
| Wo nun derselbe nicht mehr bloß als solcher, als durchsetzendes
| |
| Prinzip, sondern in seiner Begriffsform selbst
| |
| auftritt, da erscheint er als Bewußtsein, da kommt endlich
| |
| das zur Erscheinung, was auf den unteren Stufen nur dem
| |
| Wesen nach vorhanden ist. Der Begriff wird hier selbst zur
| |
| Wahrnehmung. Wir haben es mit dem selbstbewußten Menschen
| |
| zu tun.
| |
| Naturgesetz, Typus, Begriff sind die drei Formen, in
| |
| denen sich das Ideelle auslebt. Das Naturgesetz ist abstrakt,
| |
| über der sinnenfälligen Mannigfaltigkeit stehend, es beherrscht
| |
| die unorganische Naturwissenschaft. Hier fallen
| |
| Idee und Wirklichkeit ganz auseinander. Der Typus vereinigt
| |
| schon beide in einem Wesen. Das Geistige wird wirkendes
| |
| Wesen, aber es wirkt noch nicht als solches, es ist
| |
| nicht als solches da, sondern muß, wenn es seinem Dasein
| |
| nach betrachtet werden will, als sinnenfälliges angeschaut
| |
| werden. So ist es im Reiche der organischen Natur. Der
| |
| Begriff ist auf wahrnehmbare Weise vorhanden. Im menschlichen
| |
| Bewußtsein ist der Begriff selbst das Wahrnehmbare.
| |
| Anschauung und Idee decken sich. Es ist eben das
| |
| Ideelle, welches angeschaut wird. Deshalb können auf dieser
| |
| Stufe auch die ideellen Daseinskerne der unteren Naturstufen
| |
| zur Erscheinung kommen. Mit dem menschlichen
| |
| Bewußtsein ist die Möglichkeit gegeben, daß das, was
| |
| auf den unteren Stufen des Daseins bloß ist, aber nicht erscheint,
| |
| nun auch erscheinende Wirklichkeit wird.*
| |
| 4. Das System der Farbenlehre
| |
| Goethes Wirken fällt in eine Zeit, in welcher das Streben
| |
| nach einem absoluten, in sich selber seine Befriedigung
| |
| findenden Wissen alle Geister mächtig erfüllte. Das Erkennen
| |
| wagt sich wieder einmal mit heiligem Eifer daran,
| |
| alle Erkenntnismittel zu untersuchen, um der Lösung der
| |
| höchsten Fragen näher zu kommen. Die Zeit der morgenländischen
| |
| Theosophie, Plato und Aristoteles, dann Descartes
| |
| und Spinoza sind in den vorangehenden Epochen der
| |
| Weltgeschichte die Repräsentanten einer gleich innerlichen
| |
| Vertiefung. Goethe ist ohne Kant, Fichte, Schelling und
| |
| Hegel nicht denkbar. War diesen Geistern vor allem der
| |
| Blick in die Tiefe, das Auge für das Höchste eigen, so
| |
| ruhte sein Anschauen auf den Dingen der unmittelbaren
| |
| Wirklichkeit. Aber in diesem Anschauen liegt etwas von
| |
| jener Tiefe selbst, Goethe übte diesen Blick in der Betrachtung
| |
| der Natur. Der Geist jener Zeit ist wie ein Fluidum
| |
| über seine Naturbetrachtungen ausgegossen. Daher das Gewaltige
| |
| derselben, das bei der Betrachtung der Einzelheiten
| |
| sich stets den großen Zug bewahrt. Goethes Wissenschaft
| |
| geht immer auf das Zentrale.
| |
| Mehr als anderswo können wir diese Wahrnehmung an
| |
| Goethes Farbenlehre machen. Sie ist ja neben dem Versuche
| |
| über die Metamorphose der Pflanze allein zu einem
| |
| abgeschlossenen Ganzen geworden. Und was für ein streng
| |
| geschlossenes, von der Natur der Sache selbst gefordertes
| |
| System stellt sie dar!
| |
| Wir wollen diesen Bau einmal, seinem inneren Gefüge
| |
| nach, betrachten.
| |
| Daß irgend etwas, was im Wesen der Natur begründet
| |
| ist, zur Erscheinung komme, dazu ist die notwendige Voraussetzung,
| |
| daß eine Gelegenheitsursache, ein Organ da
| |
| sei, in dem das eben Besagte sich darstelle. Die ewigen, ehernen
| |
| Gesetze der Natur würden zwar herrschen, auch wenn
| |
| sie nie in einem Menschengeiste sich darstellten, allein ihre
| |
| Erscheinung als solche wäre nicht möglich. Sie wären bloß
| |
| dem Wesen, nicht der Erscheinung nach da. So auch wäre
| |
| es mit der Welt des Lichtes und der Farbe, wenn kein wahrnehmendes
| |
| Auge sich ihnen entgegenstellte. Die Farbe darf
| |
| nicht in Schopenhauerscher Manier von dem Auge ihrem
| |
| Wesen nach abgeleitet werden, wohl aber muß in dem
| |
| Auge die Möglichkeit nachgewiesen werden, daß die Farbe
| |
| erscheine. Das Auge bedingt nicht die Farbe, aber es ist die
| |
| Ursache ihrer Erscheinung.
| |
| Hier muß also die Farbenlehre einsetzen. Sie muß das
| |
| Auge untersuchen, dessen Natur bloßlegen. Deshalb stellt
| |
| Goethe die physiologische Farbenlehre an den Anfang.
| |
| Aber seine Auffassung ist auch da von dem, was man gewöhnlich
| |
| unter diesem Teile der Optik versteht, wesentlich
| |
| verschieden. Er will nicht aus dem Baue des Auges
| |
| dessen Funktionen erklären, sondern er will das Auge unter
| |
| verschiedenen Bedingungen betrachten, um zur Erkenntnis
| |
| seiner Fähigkeiten und Vermögen zu kommen.
| |
| Sein Vorgang ist auch hier ein wesentlich beobachtender.
| |
| Was stellt sich ein, wenn Licht und Finsternis auf das Auge
| |
| wirken; was, wenn begrenzte Bilder in Beziehung zu demselben
| |
| treten usw.? Er fragt zunächst nicht, welche Prozesse
| |
| spielen sich im Auge ab, wenn diese oder jene Wahrnehmung
| |
| zustande kommt, sondern er sucht zu ergründen,
| |
| was durch das Auge im lebendigen Sehakt zustande kommen
| |
| kann. Für seinen Zweck ist das zunächst die allein
| |
| wichtige Frage. Die andere gehört streng genommen nicht
| |
| in das Gebiet der physiologischen Farbenlehre, sondern
| |
| in die Lehre von dem menschlichen Organismus, d. h. in
| |
| die allgemeine Physiologie. Goethe hat es nur zu tun mit
| |
| dem Auge, sofern es sieht und nicht mit der Erklärung des
| |
| Sehens aus jenen Wahrnehmungen, die wir an dem toten
| |
| Auge machen können.
| |
| Von da aus geht er dann über zu den objektiven Vorgängen,
| |
| welche die Farbenerscheinungen veranlassen. Und
| |
| hier ist wichtig festzuhalten, daß Goethe unter diesen objektiven
| |
| Vorgängen keineswegs die nicht mehr wahrnehmbaren
| |
| hypothetischen stofflichen oder Bewegungsvorgänge
| |
| im Sinne hat, sondern daß er durchaus innerhalb der wahrnehmbaren
| |
| Welt stehen bleibt. Seine physische Farbenlehre,
| |
| welche den zweiten Teil bildet, sucht die Bedingungen,
| |
| die vom Auge unabhängig sind und mit der Entstehung der
| |
| Farben zusammenhängen. Dabei sind aber diese Bedingungen
| |
| doch immer noch Wahrnehmungen. Wie mit Hilfe des
| |
| Prismas, der Linse usw. an dem Lichte die Farben entstehen,
| |
| das untersucht er hier. Er bleibt aber vorläufig dabei
| |
| stehen, die Farbe als solche in ihrem Werden zu verfolgen,
| |
| zu beobachten, wie sie an sich, abgesondert von Körpern
| |
| entsteht.
| |
| Erst in einem eigenen Kapitel, der chemischen Farbenlehre,
| |
| geht er über zu den fixierten, an den Körpern haftenden
| |
| Farben. Ist in der physiologischen Farbenlehre die
| |
| Frage beantwortet, wie können Farben überhaupt zur Erscheinung
| |
| kommen, in der physischen jene, wie kommen
| |
| die Farben unter äußeren Bedingungen zustande, so beantwortet
| |
| er hier das Problem, wie erscheint die Körperwelt
| |
| als farbige?
| |
| So schreitet Goethe von der Betrachtung der Farbe, als
| |
| eines Attributes der Erscheinungswelt, zu dieser selbst als
| |
| in jenem Attribute erscheinend vorwärts. Hier bleibt er
| |
| nicht stehen, sondern er betrachtet zuletzt die höhere Beziehung
| |
| der farbigen Körperwelt auf die Seele in dem Kapitel:
| |
| «Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe.»
| |
| Dies ist der strenge, geschlossene Weg einer Wissenschaft:
| |
| von dem Subjekte als der Bedingung wieder zurück
| |
| zu dem Subjekte als dem sich in und mit seiner Welt befriedigenden
| |
| Wesen.
| |
| Wer wird hier nicht den Drang der Zeit wiedererkennen
| |
| - vom Subjekte zum Objekte und wieder in das Subjekt
| |
| zurück —, der Hegel zur Architektonik seines ganzen
| |
| Systems geführt hat.
| |
| In diesem Sinne erscheint denn als das eigentlich optische
| |
| Hauptwerk Goethes der «Entwurf einer Farbenlehre
| |
| ». Die beiden Stücke: «Beiträge zur Optik» und die
| |
| «Elemente der Farbenlehre» müssen als Vorstudien gelten.
| |
| Die «Enthüllungen der Theorie Newtons» sind nur eine
| |
| polemische Beigabe seiner Arbeit.
| |
| 5. Der Goethesche Raumbegriff
| |
| Da nur bei einer mit der Goetheschen ganz zusammenfallenden
| |
| Anschauung vom Raume ein volles Verständnis
| |
| seiner physikalischen Arbeiten möglich ist, so wollen wir
| |
| hier dieselbe entwickeln. Wer zu dieser Anschauung kommen
| |
| will, der muß aus unseren bisherigen Ausführungen
| |
| folgende Überzeugung gewonnen haben: 1. Die Dinge, die
| |
| uns in der Erfahrung als einzelne gegenübertreten, haben
| |
| einen inneren Bezug aufeinander. Sie sind in Wahrheit
| |
| durch ein einheitliches Weltenband zusammengehalten. Es
| |
| lebt in ihnen allen ein gemeinsames Prinzip. 2. Wenn unser
| |
| Geist an die Dinge herantritt und das Getrennte durch ein
| |
| geistiges Band zu umfassen strebt, so ist die begriffliche
| |
| Einheit, die er herstellt, den Objekten nicht äußerlich, sondern
| |
| sie ist herausgeholt aus der inneren Wesenheit der Natur
| |
| selbst. Die menschliche Erkenntnis ist kein außer den
| |
| Dingen sich abspielender, aus bloßer subjektiver Willkür
| |
| entspringender Prozeß, sondern, was da in unserem Geist
| |
| als Naturgesetz auftritt, was sich in unserer Seele auslebt,
| |
| das ist der Herzschlag des Universums selbst.
| |
| Zu unserem jetzigen Zwecke wollen wir die alleräußerlichste
| |
| Beziehung, die unser Geist zwischen den Objekten
| |
| der Erfahrung herstellt, einer Betrachtung unterziehen.
| |
| Wir betrachten den einfachsten Fall, in dem uns die Erfahrung
| |
| zu einer geistigen Arbeit auffordert. Es seien zwei einfache
| |
| Elemente der Erscheinungswelt gegeben. Um unsere
| |
| Untersuchung nicht zu komplizieren, nehmen wir möglichst
| |
| Einfaches, z. B. zwei leuchtende Punkte. Wir wollen ganz
| |
| davon absehen, daß wir vielleicht in jedem dieser leuchtenden
| |
| Punkte selbst schon etwas ungeheuer Kompliziertes
| |
| vor uns haben, das unserem Geiste eine Aufgabe stellt. Wir
| |
| wollen auch von der Qualität der konkreten Elemente der
| |
| Sinnenwelt, die wir vor uns haben, absehen und ganz allein
| |
| den Umstand in Betracht ziehen, daß wir zwei voneinander
| |
| abgesonderte, d. h. für die Sinne abgesondert erscheinende
| |
| Elemente vor uns haben. Zwei Faktoren, die jeder
| |
| für sich geeignet sind, auf unsere Sinne einen Eindruck zu
| |
| machen: das ist alles, was wir voraussetzen. Wir wollen ferner
| |
| annehmen, daß das Dasein des einen dieser Faktoren
| |
| jenes des anderen nicht ausschließt. Ein Wahrnehmungsorgan
| |
| kann beide wahrnehmen.
| |
| Wenn wir nämlich annehmen, daß das Dasein des einen
| |
| Elementes in irgendeiner Weise abhängig von dem des anderen
| |
| ist, so stehen wir vor einem von unserem jetzigen verschiedenen
| |
| Problem. Ist das Dasein von B ein solches, daß
| |
| es das Dasein von A ausschließt und doch von ihm seinem
| |
| Wesen nach abhängig ist, dann müssen A und B in einem
| |
| Zeitverhältnis stehen. Denn die Abhängigkeit des B von A
| |
| bedingt, wenn man sich gleichzeitig vorstellt, daß das
| |
| Dasein von B jenes von A ausschließt, daß dies letztere
| |
| dem ersteren vorangeht. Doch das gehört auf ein anderes
| |
| Blatt.
| |
| Für unseren jetzigen Zweck wollen wir ein solches Verhältnis
| |
| nicht annehmen. Wir setzen voraus, daß die Dinge,
| |
| mit denen wir es zu tun haben, sich hinsichtlich ihres Daseins
| |
| nicht ausschließen, sondern vielmehr miteinander bestehende
| |
| Wesenheiten sind. Wenn von jeder durch die innere
| |
| Natur geforderten Beziehung abgesehen wird, so
| |
| bleibt nur dies übrig, daß überhaupt ein Bezug der Sonderqualitäten
| |
| besteht, daß ich von der einen auf die andere
| |
| übergehen kann. Ich kann von dem einen Erfahrungselement
| |
| zum zweiten gelangen. Für niemanden kann ein Zweifel
| |
| darüber bestehen, was das für ein Verhältnis sein kann,
| |
| das ich zwischen Dingen herstelle, ohne auf ihre Beschaffenheit,
| |
| auf ihr Wesen selbst einzugehen. Wer sich fragt,
| |
| welcher Übergang von einem Dinge zum anderen gefunden
| |
| werden kann, wenn dabei das Ding selbst gleichgültig
| |
| bleibt, der muß sich darauf unbedingt die Antwort geben:
| |
| der Raum. Jedes andere Verhältnis muß sich auf die qualitative
| |
| Beschaffenheit dessen gründen, was gesondert im Weltendasein auftritt. anderes Rücksicht als darauf, daß die Dinge eben gesonderte
| |
| sind. Wenn ich überlege: A ist oben, B unten, so bleibt
| |
| mir völlig gleichgültig, was A und B sind. Ich verbinde mit
| |
| ihnen gar keine andere Vorstellung, als daß sie eben getrennte
| |
| Faktoren der von mir mit den Sinnen aufgefaßten
| |
| Welt sind.
| |
| Was unser Geist will, wenn er an die Erfahrung herantritt,
| |
| das ist: er will die Sonderheit überwinden, er will aufzeigen,
| |
| daß in dem Einzelnen die Kraft des Ganzen zu sehen
| |
| ist. Bei der räumlichen Anschauung will er sonst gar
| |
| nichts überwinden, als die Besonderheit als solche. Er will
| |
| die allerallgemeinste Beziehung herstellen. Daß A und B
| |
| jedes nicht eine Welt für sich sind, sondern einer Gemeinsamkeit
| |
| angehören, das sagt die räumliche Betrachtung.
| |
| Dies ist der Sinn des Nebeneinander. Wäre ein jedes Ding
| |
| ein Wesen für sich, dann gebe es kein Nebeneinander. Ich
| |
| könnte überhaupt einen Bezug der Wesen aufeinander nicht
| |
| herstellen.
| |
| Wir wollen nun untersuchen, was weiteres aus dieser
| |
| Herstellung einer äußeren Beziehung zweier Besonderheiten
| |
| folgt. Zwei Elemente kann ich nur auf eine Art in solcher
| |
| Beziehung denken. Ich denke A neben B. Dasselbe
| |
| kann ich nun mit zwei anderen Elementen der Sinnenwelt
| |
| C und D machen. Ich habe dadurch einen konkreten Bezug
| |
| zwischen A und B und einen solchen zwischen C und
| |
| D festgesetzt. Ich will nun von den Elementen A, B, C und
| |
| D ganz absehen und nur die konkreten zwei Bezüge wieder
| |
| aufeinander beziehen. Es ist klar, daß ich diese als zwei besondere
| |
| Entitäten geradeso aufeinander beziehen kann, wie
| |
| A und B selbst. Was ich hier aufeinander beziehe, sind
| |
| konkrete Beziehungen. Ich kann sie a und b nennen. Wenn
| |
| ich nun noch um einen Schritt weiter gehe, so kann ich a
| |
| wieder auf b beziehen. Aber jetzt habe ich alle Besonderheit
| |
| bereits verloren. Ich finde, wenn ich a betrachte, kein
| |
| besonderes A und B mehr, welche aufeinander bezogen werden;
| |
| ebensowenig bei b. Ich finde in beiden nichts anderes,
| |
| als daß überhaupt bezogen wurde. Diese Bestimmung ist
| |
| aber in a und b ganz die gleiche. Was es mir möglich machte,
| |
| a und b noch auseinander zu halten, das war, daß sie auf A,
| |
| B, C und D hinwiesen. Lasse ich diesen Rest von Besonderheiten
| |
| weg und beziehe ich nur a und b noch aufeinander,
| |
| d. h. den Umstand, daß überhaupt bezogen wurde (nicht
| |
| daß etwas Bestimmtes bezogen wurde), dann bin ich wieder
| |
| ganz allgemein bei der räumlichen Beziehung angekommen,
| |
| von der ich ausgegangen bin. Weiter kann ich nicht
| |
| mehr gehen. Ich habe das erreicht, was ich vorher angestrebt
| |
| habe: der Raum selbst steht vor meiner Seele.
| |
| Hierin liegt das Geheimnis der drei Dimensionen. In
| |
| der ersten Dimension beziehe ich zwei konkrete Erscheinungselemente
| |
| der Sinnenwelt aufeinander; in der zweiten
| |
| Dimension beziehe ich diese räumlichen Bezüge selbst aufeinander.
| |
| Ich habe eine Beziehung zwischen Beziehungen
| |
| hergestellt. Die konkreten Erscheinungen habe ich abgestreift,
| |
| die konkreten Beziehungen sind mir geblieben. Nun
| |
| beziehe ich diese selbst räumlich aufeinander. Das heißt:
| |
| ich sehe ganz davon ab, daß es konkrete Beziehungen sind;
| |
| dann aber muß ich ganz dasselbe, was ich in der einen finde,
| |
| in der zweiten wiederfinden. Ich stelle Beziehungen zwischen
| |
| Gleichem her. Jetzt hört die Möglichkeit des Beziehens
| |
| auf, weil der Unterschied aufhört.
| |
| Das, was ich vorher als Gesichtspunkt meiner Betrachtung
| |
| angenommen habe, die ganz äußerliche Beziehung,
| |
| habe ich jetzt selbst als Sinnen Vorstellung wieder erreicht;
| |
| von der räumlichen Betrachtung bin ich, nachdem ich dreimal
| |
| die Operation durchgeführt habe, zum Raum, d. i. zu
| |
| meinem Ausgangspunkte gekommen.
| |
| Daher kann der Raum nur drei Dimensionen haben.
| |
| Was wir hier mit der Raumvorstellung unternommen haben,
| |
| ist eigentlich nur ein spezieller Fall der von uns immer
| |
| angewendeten Methode, wenn wir an die Dinge betrachtend
| |
| herantreten. Wir stellen konkrete Objekte unter einen
| |
| allgemeinen Gesichtspunkt. Dadurch gewinnen wir Begriffe
| |
| von den Einzelheiten; diese Begriffe betrachten wir
| |
| dann selbst wieder unter den gleichen Gesichtspunkten, so
| |
| daß wir dann nur mehr die Begriffe der Begriffe vor uns haben;
| |
| verbinden wir auch diese noch, dann verschmelzen sie
| |
| in jene ideelle Einheit, die mit nichts anderem mehr als mit
| |
| sich selbst unter einen Gesichtspunkt gebracht werden
| |
| könnte. Nehmen wir ein besonderes Beispiel. Ich lerne zwei
| |
| Menschen kennen: A und B. Ich betrachte sie unter dem Gesichtspunkte
| |
| der Freundschaft. In diesem Falle werde ich
| |
| einen ganz bestimmten Begriff a von der Freundschaft der
| |
| beiden Leute bekommen. Ich betrachte nun zwei andere
| |
| Menschen, C und D, unter dem gleichen Gesichtspunkte.
| |
| Ich bekomme einen anderen Begriff b von dieser Freundschaft.
| |
| Nun kann ich weiter gehen und diese beiden Freundschaftsbegriffe
| |
| aufeinander beziehen. Was mir da übrig
| |
| bleibt, wenn ich von dem Konkreten, das ich gewonnen
| |
| habe, absehe, ist der Begriff der Freundschaft überhaupt.
| |
| Diesen kann ich aber realiter auch erhalten, wenn ich die
| |
| Menschen E und F unter dem gleichen Gesichtspunkte und
| |
| ebenso G und H betrachte. In diesem wie in unzähligen
| |
| anderen Fällen kann ich den Begriff der Freundschaft überhaupt
| |
| erhalten. Alle diese Begriffe sind aber dem Wesen
| |
| nach miteinander identisch; und wenn ich sie unter dem
| |
| gleichen Gesichtspunkte betrachte, dann stellt sich heraus,
| |
| daß ich eine Einheit gefunden habe. Ich bin wieder zu dem
| |
| zurückgekehrt, wovon ich ausgegangen bin.
| |
| Der Raum ist also die Ansicht von Dingen, eine Art,
| |
| wie unser Geist sie in eine Einheit zusammenfaßt. Die drei
| |
| Dimensionen verhalten sich dabei in folgender Weise. Die
| |
| erste Dimension stellt einen Bezug zwischen zwei Sinneswahrnehmungen
| |
| her.101 Sie ist also eine konkrete Vorstellung.
| |
| Die zweite Dimension bezieht zwei konkrete Vorstellungen
| |
| aufeinander und geht dadurch in das Gebiet der
| |
| 101 Sinneswahrnehmung bedeutet hier dasselbe, was Kant Empfindung
| |
| nennt.
| |
| Abstraktion über. Die dritte Dimension endlich stellt nur
| |
| noch die ideelle Einheit zwischen den Abstraktionen her.
| |
| Es ist also ganz unrichtig, die drei Dimensionen des Raumes
| |
| als völlig gleichbedeutend zu nehmen. Welche die erste ist,
| |
| hängt natürlich von den wahrgenommenen Elementen ab.
| |
| Dann aber haben die anderen eine ganz bestimmte und
| |
| andere Bedeutung als diese erste. Es war von Kant ganz
| |
| irrtümlich angenommen, daß er den Raum als totum auffaßte,
| |
| statt als eine begrifflich in sich bestimmbare Wesenheit.
| |
| Wir haben nun bisher vom Raume als von einem Verhältnis,
| |
| einer Beziehung, gesprochen. Es fragt sich nun
| |
| aber: Gibt es denn nur dieses Verhältnis des Nebeneinander?
| |
| Oder ist eine absolute Ortsbestimmung für ein jedes
| |
| Ding vorhanden? Dieses letztere ist natürlich durch unsere
| |
| obigen Erklärungen gar nicht berührt. Untersuchen wir
| |
| aber einmal, ob es ein solches Ortsverhältnis, ein ganz bestimmtes
| |
| «Da» auch gibt. Was bezeichne ich in Wirklichkeit,
| |
| wenn ich von einem solchen «Da» spreche? Doch
| |
| nichts anderes, als daß ich einen Gegenstand angebe, dem
| |
| der eigentlich in Frage kommende unmittelbar benachbart
| |
| ist. «Da» heißt in Nachbarschaft von einem durch mich
| |
| bezeichneten Objekte. Damit ist aber die absolute Ortsangabe
| |
| auf ein Raumverhältnis zurückgeführt. Die angedeutete
| |
| Untersuchung entfällt somit.
| |
| Werfen wir nun noch ganz bestimmt die Frage auf: Was
| |
| ist nach den vorausgegangenen Untersuchungen der Raum?
| |
| Nichts anderes als eine in den Dingen liegende Notwendigkeit,
| |
| ihre Besonderheit in ganz äußerlicher Weise, ohne
| |
| auf ihre Wesenheit einzugehen, zu überwinden und sie in
| |
| eine Einheit, schon als solche äußerliche, zu vereinigen. Der
| |
| Raum ist also eine Art, die Welt als eine Einheit zu erfassen.
| |
| Der Raum ist eine Idee. Nicht, wie Kant glaubte, eine
| |
| Anschauung.
| |
| 6. Goethe, Newton und die Physiker
| |
| Als Goethe an die Betrachtung des Wesens der Farben
| |
| herantrat, war es wesentlich ein Kunstinteresse, das ihn auf
| |
| diesen Gegenstand brachte. Sein intuitiver Geist erkannte
| |
| bald, daß die Farbengebung in der Malerei einer tiefen Gesetzlichkeit
| |
| unterliege. Worinnen diese Gesetzlichkeit besteht,
| |
| das konnte weder er selbst entdecken, solange er sich
| |
| nur im Gebiete der Malerei theoretisierend bewegte, noch
| |
| vermochten ihm unterrichtete Maler darüber eine befriedigende
| |
| Auskunft zu geben. Diese wußten wohl praktisch,
| |
| wie sie die Farben zu mischen und anzuwenden hatten,
| |
| konnten sich aber darüber nicht in Begriffen aussprechen.
| |
| Als Goethe nun in Italien nicht nur den erhabensten Kunstwerken
| |
| dieser Art, sondern auch der farbenprächtigsten
| |
| Natur gegenübertrat, da erwachte in ihm besonders mächtig
| |
| der Drang, die Naturgesetze des Farbenwesens zu erkennen.
| |
| Über das Geschichtliche legt Goethe selbst in der «Geschichte
| |
| der Farbenlehre» ein ausführliches Bekenntnis ab.
| |
| Hier wollen wir nur das Psychologische und Sachliche auseinandersetzen.
| |
| Gleich nach seiner Rückkehr aus Italien begannen Goethes
| |
| Farbenstudien. Dieselben wurden besonders intensiv
| |
| in den Jahren 1790 und 1791, um dann den Dichter fortdauernd
| |
| bis an sein Lebensende zu beschäftigen.
| |
| Wir müssen uns den Stand der Goetheschen Weltanschauung
| |
| in dieser Zeit, am Beginne seiner Farbenstudien,
| |
| vergegenwärtigen. Damals hatte er bereits seinen großartigen
| |
| Gedanken von der Metamorphose der organischen
| |
| Wesen gefaßt. Es war ihm schon durch seine Entdeckung
| |
| des Zwischenkieferknochens die Anschauung der Einheit
| |
| alles Naturdaseins aufgegangen. Das Einzelne erschien ihm
| |
| als besondere Modifikation des idealen Prinzipes, das im
| |
| Ganzen der Natur waltet. Er hatte schon in seinen Briefen
| |
| aus Italien ausgesprochen, daß eine Pflanze nur dadurch
| |
| Pflanze ist, daß sie die «Idee der Pflanze» in sich trage.
| |
| Diese Idee galt ihm als etwas Konkretes, als mit geistigem
| |
| Inhalte erfüllte Einheit in allen besonderen Pflanzen. Sie
| |
| war mit den Augen des Leibes nicht, wohl aber mit dem
| |
| Auge des Geistes zu erfassen. Wer sie sehen kann, sieht sie
| |
| in jeder Pflanze.
| |
| Damit erscheint das ganze Reich der Pflanzen und bei
| |
| weiterer Ausgestaltung dieser Anschauung das ganze Naturreich
| |
| überhaupt als eine mit dem Geiste zu erfassende
| |
| Einheit.
| |
| Niemand aber vermag aus der bloßen Idee heraus die
| |
| Mannigfaltigkeit, die vor den äußeren Sinnen auftritt, zu
| |
| konstruieren. Die Idee vermag der intuitive Geist zu erkennen.
| |
| Die einzelnen Gestaltungen sind ihm nur zugänglich,
| |
| wenn er die Sinne nach außen richtet, wenn er beobachtet,
| |
| anschaut. Warum eine Modifikation der Idee gerade
| |
| so und nicht anders als sinnenfällige Wirklichkeit auftritt,
| |
| dazu muß der Grund nicht ausgeklügelt, sondern im
| |
| Reich der Wirklichkeit gesucht werden.
| |
| Dies ist Goethes eigenartige Anschauungsweise, die sich
| |
| wohl am besten als empirischer Idealismus kennzeichnen
| |
| läßt. Sie kann mit den Worten zusammengefaßt werden:
| |
| Den Dingen einer sinnlichen Mannigfaltigkeit, soweit sie
| |
| gleichartig sind, liegt eine geistige Einheit zugrunde, die
| |
| jene Gleichartigkeit und Zusammengehörigkeit bewirkt.
| |
| Von diesem Punkte ausgehend, entstand für Goethe die
| |
| Frage: Welche geistige Einheit liegt der Mannigfaltigkeit
| |
| der Farbenwahrnehmungen zugrunde? Was nehme ich in
| |
| jeder Farbenmodifikation wahr? Und da ward ihm bald
| |
| klar, daß das Licht die notwendige Grundlage jeder Farbe
| |
| sei. Keine Farbe ohne Licht. Die Farben aber sind die Modifikationen
| |
| des Lichtes. Und nun mußte er jenes Element
| |
| in der Wirklichkeit suchen, welches das Licht modifiziert,
| |
| spezifiziert. Er fand, daß dies die lichtlose Materie, die
| |
| tätige Finsternis, kurz das dem Licht Entgegengesetzte ist.
| |
| So war ihm jede Farbe durch Finsternis modifiziertes Licht.
| |
| Es ist vollständig unrichtig, wenn man glaubt, Goethe habe
| |
| mit dem Lichte etwa das konkrete Sonnenlicht, das gewöhnlich
| |
| «weißes Licht» genannt wird, gemeint. Nur der
| |
| Umstand, daß man sich von dieser Vorstellung nicht losmachen
| |
| kann und das auf so komplizierte Weise zusammengesetzte
| |
| Sonnenlicht als den Repräsentanten des Lichtes
| |
| an sich ansieht, verhindert das Verständnis der Goetheschen
| |
| Farbenlehre. Das Licht, wie es Goethe auffaßt, und
| |
| wie er es der Finsternis als seinem Gegenteil gegenüberstellt,
| |
| ist eine rein geistige Entität, einfach das allen Farbenempfindungen
| |
| Gemeinsame. Wenn Goethe das auch nirgends
| |
| klar ausgesprochen hat, so ist doch seine ganze Farbenlehre
| |
| so angelegt, daß nur dieses darunter verstanden
| |
| werden darf. Wenn er mit dem Sonnenlichte experimentiert,
| |
| um seine Theorie durchzuführen, so ist der Grund
| |
| davon nur der, daß das Sonnenlicht, trotzdem es das Resultat
| |
| so komplizierter Vorgänge ist, wie sie eben im Sonnenkörper
| |
| auftreten, doch für uns sich als Einheit darstellt,
| |
| die ihre Teile nur als aufgehobene in sich enthält. Das, was
| |
| wir mit Hilfe des Sonnenlichtes für die Farbenlehre gewinnen,
| |
| ist aber doch nur eine Annäherung an die Wirklichkeit.
| |
| Man darf Goethes Theorie nicht so auffassen, als wenn
| |
| nach ihr in jeder Farbe Licht und Finsternis real enthalten
| |
| wären. Nein, sondern das Wirkliche, das unserem Auge
| |
| gegenübertritt, ist nur eine bestimmte Farbennuance. Nur
| |
| der Geist vermag diese sinnenfällige Tatsache in zwei geistige
| |
| Entitäten auseinanderzulegen: Licht und Nicht-Licht.
| |
| Die äußeren Veranstaltungen, wodurch dieses geschieht,
| |
| die materiellen Vorgänge in der Materie, werden davon
| |
| nicht im mindesten berührt. Das ist eine ganz andere Sache.
| |
| Daß ein Schwingungsvorgang im Äther vorgeht, während
| |
| vor mir «Rot» auftritt, das soll nicht bestritten werden.
| |
| Aber was real eine Wahrnehmung zustande bringt, das hat,
| |
| wie wir schon gezeigt haben, mit dem Wesen des Inhaltes
| |
| gar nichts zu tun.
| |
| Man wird mir einwenden: Es läßt sich aber nachweisen,
| |
| daß alles an der Empfindung subjektiv ist und nur der Bewegungsvorgang,
| |
| der ihr zugrunde liegt, das außer unserem
| |
| Gehirne real Existierende. Dann könnte man von einer
| |
| physikalischen Theorie der Wahrnehmungen überhaupt
| |
| nicht sprechen, sondern nur von einer solchen der zugrunde
| |
| liegenden Bewegungsvorgänge. Mit diesem Beweise verhält
| |
| es sich ungefähr so: Wenn jemand an einem Orte A.
| |
| ein Telegramm an mich, der ich mich in B. befinde, aufgibt,
| |
| dann ist das, was ich von dem Telegramm in die
| |
| Hände bekomme, restlos in B. entstanden. Es ist der Telegraphist
| |
| in B.; er schreibt auf Papier, das nie in A. war,
| |
| mit Tinte, die nie in A. war; er selbst kennt A. gar nicht
| |
| usw.; kurz es läßt sich beweisen, daß in das, was mir vorliegt,
| |
| gar nichts von A. eingeflossen ist. Dennoch ist alles,
| |
| was von B. herrührt, für den Inhalt, das Wesen des Telegrammes
| |
| ganz gleichgültig; was für mich in Betracht
| |
| kommt, ist nur durch B. vermittelt. Will ich das Wesen des
| |
| Inhaltes des Telegrammes erklären, dann muß ich ganz
| |
| von dem absehen, was von B. herrührt.
| |
| Ebenso verhält es sich mit der Welt des Auges. Die Theorie
| |
| muß sich auf das dem Auge Wahrnehmbare erstrecken
| |
| und innerhalb desselben die Zusammenhänge suchen. Die
| |
| materiellen raum-zeitlichen Vorgänge mögen recht wichtig
| |
| sein für das Zustandekommen der Wahrnehmungen;
| |
| mit dem Wesen derselben haben sie nichts zu tun.
| |
| Ebenso verhält es sich mit der heute vielfach besprochenen
| |
| Frage: ob den verschiedenen Naturerscheinungen:
| |
| Licht, Wärme, Elektrizität usw. nicht ein und dieselbe Bewegungsform
| |
| im Äther zugrunde liege? Hertz hat nämlich
| |
| kürzlich gezeigt, daß die Verbreitung der elektrischen Wirkungen
| |
| im Raume denselben Gesetzen unterliegt wie die
| |
| Verbreitung der Lichtwirkungen. Daraus kann man schließen,
| |
| daß Wellen, wie sie der Träger des Lichtes sind, auch
| |
| der Elektrizität zugrunde liegen. Man hat ja auch bisher
| |
| schon angenommen, daß im Sonnenspektrum nur eine Art
| |
| von Wellenbewegung tätig ist, die sich, je nachdem sie auf
| |
| wärme-, licht- oder chemisch-empfindende Reagentien
| |
| fällt, Wärme-, Licht- oder chemische Wirkungen erzeugen.
| |
| Dies ist ja aber von vornherein klar. Wenn man untersucht,
| |
| was in dem Räumlich-Ausgedehnten vorgeht, während
| |
| die in Rede stehenden Entitäten vermittelt werden,
| |
| dann muß man auf eine einheitliche Bewegung kommen.
| |
| Denn ein Medium, in dem nur Bewegung möglich ist, muß
| |
| auf alles durch Bewegung reagieren. Es wird auch alle Vermittelungen,
| |
| die es übernehmen muß, durch Bewegung vollbringen.
| |
| Wenn ich dann die Formen dieser Bewegung untersuche,
| |
| dann erfahre ich nicht: was das Vermittelte ist,
| |
| sondern auf welche Weise es an mich gebracht wird. Es ist
| |
| einfach ein Unding, zu sagen: Wärme oder Licht seien Bewegung.
| |
| Bewegung ist nur die Reaktion der bewegungsfähigen
| |
| Materie auf das Licht.
| |
| Goethe selbst hat die Wellentheorie noch erlebt und in
| |
| ihr nichts gesehen, was mit seiner Überzeugung von dem
| |
| Wesen der Farbe nicht in Einklang zu bringen wäre.
| |
| Man muß sich nur von der Vorstellung losmachen, daß
| |
| Licht und Finsternis bei Goethe reale Wesenheiten sind,
| |
| sondern sie als bloße Prinzipien, geistige Entitäten ansehen;
| |
| dann wird man eine ganz andere Ansicht über seine Farbenlehre
| |
| gewinnen, als man sie gewöhnlich sich bildet. Wenn
| |
| man wie Newton unter dem Lichte nur eine Mischung aus
| |
| allen Farben versteht, dann verschwindet jeglicher Begriff
| |
| von dem konkreten Wesen «Licht». Dasselbe verflüchtigt
| |
| sich vollständig zu einer leeren Allgemeinvorstellung, der
| |
| in der Wirklichkeit nichts entspricht. Solche Abstraktionen
| |
| waren der Goetheschen Weltanschauung fremd. Für ihn
| |
| mußte eine jegliche Vorstellung konkreten Inhalt haben.
| |
| Nur hörte für ihn das «Konkrete» nicht beim «Physischen»
| |
| auf.
| |
| Für «Licht» hat die moderne Physik eigentlich gar keinen
| |
| Begriff. Sie kennt nur spezifizierte Lichter, Farben, die
| |
| in bestimmten Mischungen den Eindruck: Weiß hervorrufen.
| |
| Aber auch dieses «Weiß» darf nicht mit dem Lichte
| |
| an sich identifiziert werden. Weiß ist eigentlich auch nichts
| |
| weiter als eine Mischfarbe. Das «Licht» im Goetheschen
| |
| Sinne kennt die moderne Physik nicht; ebensowenig die
| |
| «Finsternis». Die Farbenlehre Goethes bewegt sich somit
| |
| in einem Gebiete, welches die Begriffsbestimmungen der
| |
| Physiker gar nicht berührt. Die Physik kennt einfach alle
| |
| die Grundbegriffe der Goetheschen Farbenlehre nicht. Sie
| |
| kann somit von ihrem Standpunkte aus diese Theorie gar
| |
| nicht beurteilen. Goethe beginnt eben da, wo die Physik
| |
| aufhört.
| |
| Es zeugt von einer ganz oberflächlichen Auffassung der
| |
| Sache, wenn man fortwährend von dem Verhältnis Goethes
| |
| zu Newton und zu der modernen Physik spricht und
| |
| dabei gar nicht daran denkt, daß damit auf zwei ganz verschiedene
| |
| Arten, die Welt anzusehen, gewiesen ist.
| |
| Wir sind der Überzeugung, daß derjenige, welcher unsere
| |
| Erörterungen über die Natur der Sinnesempfindungen
| |
| im richtigen Sinne erfaßt hat, gar keinen andern Eindruck
| |
| von der Goetheschen Farbenlehre gewinnen kann, als den
| |
| geschilderten. Wer freilich diese unsere grundlegenden
| |
| Theorien nicht zugibt, der bleibt auf dem Standpunkt der
| |
| physikalischen Optik stehen und damit lehnt er auch Goethes
| |
| Farbenlehre ab.*
| |
| XVII
| |
| GOETHE GEGEN DEN ATOMISMUS
| |
| 1.
| |
| Es ist heute viel die Rede von der fruchtbaren Entwicklung
| |
| der Naturwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert.
| |
| Ich glaube, man kann mit Recht nur von bedeutungsvollen
| |
| naturwissenschaftlichen Erfahrungen sprechen, die
| |
| gemacht worden sind, und von einer Umgestaltung der
| |
| praktischen Lebensverhältnisse durch diese Erfahrungen.
| |
| Was aber die Grundvorstellungen betrifft, durch welche
| |
| die moderne Naturanschauung die Erfahrungswelt zu begreifen
| |
| sucht, so halte ich diese für ungesund und einem
| |
| energischen Denken gegenüber für unzulänglich. Ich habe
| |
| mich darüber bereits auf S. 258 ff. dieser Schrift ausgesprochen.
| |
| In jüngster Zeit hat nun ein namhafter Naturforscher
| |
| der Gegenwart, der Chemiker Wilhelm Ostwald
| |
| dieselbe Ansicht geäußert.102 Er sagt: «Vom Mathematiker
| |
| bis zum praktischen Arzt wird jeder naturwissenschaftlich
| |
| denkende Mensch auf die Frage, wie er sich die Welt <im
| |
| Innern> gestaltet denkt, seine Ansicht dahin zusammenfassen,
| |
| daß die Dinge sich aus bewegten Atomen zusammensetzen,
| |
| und daß diese Atome und die zwischen ihnen wirkenden
| |
| Kräfte die letzten Realitäten seien, aus denen die
| |
| einzelnen Erscheinungen bestehen. In hundertfältigen Wie-
| |
| 102 «Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus»; Vortrag,
| |
| gehalten in der 3. allgemeinen Sitzung der Versammlung der Gesellschaft
| |
| Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Lübeck am 20. 9.1895;
| |
| Leipzig 1895. - Dies ist kurze Zeit, nachdem die betreffenden Äußerungen
| |
| Ostwalds gemacht worden sind, geschrieben.
| |
| derholungen kann man diesen Satz hören und lesen, daß
| |
| für die physikalische Welt kein anderes Verständnis gefunden
| |
| werden kann, als indem man sie auf <Mechanik
| |
| der Atome> zurückführt; Materie und Bewegung erscheinen
| |
| als die letzten Begriffe, auf welche die Mannigfaltigkeit
| |
| der Naturerscheinungen bezogen werden muß. Man
| |
| kann diese Auffassung den wissenschaftlichen Materialismus
| |
| nennen.» Ich habe in dieser Schrift S. 258 ff. gesagt,
| |
| daß die modernen physikalischen Grundanschauungen unhaltbar
| |
| sind. Dasselbe spricht Ostwald (S. 6. seines Vortrages)
| |
| mit folgenden Worten aus: «Daß diese mechanistische
| |
| Weltansicht den Zweck nicht erfüllt, für den sie ausgebildet
| |
| worden ist; daß sie mit unzweifelhaften und allgemein
| |
| bekannten und anerkannten Wahrheiten in Widerspruch
| |
| tritt.» Die Übereinstimmung der Ausführungen Ostwalds
| |
| und der meinigen geht noch weiter. Ich sage (S. 274 dieser
| |
| Schrift): «Das sinnenfällige Weltbild ist die Summe sich
| |
| metamorphosierender Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugrunde
| |
| liegende Materie.» Ostwald sagt (S. 12f.): «Wenn
| |
| wir uns aber überlegen, daß alles, was wir von einem bestimmten
| |
| Stoffe wissen, die Kenntnis seiner Eigenschaften
| |
| ist, so sehen wir, daß die Behauptung, es sei ein bestimmter
| |
| Stoff zwar noch vorhanden, hätte aber keine von seinen
| |
| Eigenschaften mehr, von einem reinen Nonsens nicht sehr
| |
| weit entfernt ist. Tatsächlich dient uns diese rein formelle
| |
| Annahme nur dazu, die allgemeinen Tatsachen der chemischen
| |
| Vorgänge, insbesondere die stöchiometrischen Massengesetze,
| |
| mit dem willkürlichen Begriffe einer an sich unveränderten
| |
| Materie zu vereinigen.» Und S. 256 dieser
| |
| Schrift ist zu lesen: «Diese Erwägungen sind es, die mich
| |
| dazu zwangen, jede Theorie der Natur, die prinzipiell über
| |
| das Gebiet der wahrgenommenen Welt hinausgeht, als unmöglich
| |
| abzulehnen und lediglich in der Sinnenwelt das
| |
| einzige Objekt der Naturwissenschaft zu suchen.» Das
| |
| Gleiche finde ich in Ostwalds Vortrag ausgesprochen auf
| |
| S. 25 und 22: «Was erfahren wir denn von der physischen
| |
| Welt? Offenbar nur das, was uns unsere Sinneswerkzeuge
| |
| davon zukommen lassen.» «Realitäten, aufweisbare und
| |
| meßbare Größen miteinander in bestimmte Beziehung zu
| |
| setzen, so daß, wenn die einen gegeben sind, die anderen
| |
| gefolgert werden können, das ist die Aufgabe der Wissenschaft
| |
| und sie kann nicht durch Unterlegung irgendeines
| |
| hypothetischen Bildes, sondern nur durch Nachweis gegenseitiger
| |
| Abhängigkeitsbeziehungen meßbarer Größen gelöst
| |
| werden.» Wenn man davon absieht, daß Ostwald im
| |
| Sinne eines Naturforschers der Gegenwart spricht, und deshalb
| |
| in der Sinnenwelt nichts als aufweisbare und meßbare
| |
| Größen sieht, so entspricht seine Ansicht vollständig der
| |
| meinigen, wie ich sie z. B. in dem Satze (S. 299) ausgesprochenhabe:
| |
| «Die Theorie muß sich auf das... Wahrnehmbare
| |
| erstrecken und innerhalb desselben die Zusammenhänge
| |
| suchen.»
| |
| Ich habe in meinen Ausführungen über Goethes Farbenlehre
| |
| den gleichen Kampf gegen die naturwissenschaftlichen
| |
| Grundvorstellungen der Gegenwart geführt wie
| |
| Prof. Ostwald in seinem Vortrage «Die Überwindung des
| |
| wissenschaftlichen Materialismus». Was ich an die Stelle
| |
| dieser Grundvorstellungen gesetzt habe, stimmt allerdings
| |
| nicht überein mit den Aufstellungen Ostwalds. Denn dieser
| |
| geht, wie ich weiter unten zeigen werde, von denselben
| |
| oberflächlichen Voraussetzungen aus wie seine Gegner, die
| |
| Anhänger des wissenschaftlichen Materialismus. Ich habe
| |
| auch ausgeführt, daß die Grundvorstellungen der modernen
| |
| Naturanschauung die Ursache der ungesunden Beurteilung
| |
| sind, die Goethes Farbenlehre erfahren hat und noch
| |
| fortwährend erfährt.
| |
| Ich möchte nun etwas genauer mich mit der modernen
| |
| Naturanschauung auseinandersetzen. Aus dem Ziel, das
| |
| sich diese Naturanschauung gesetzt hat, suche ich zu erkennen,
| |
| ob sie eine gesunde ist oder nicht.
| |
| Nicht mit Unrecht hat man die Grundformel, nach der
| |
| die moderne Naturanschauung die Welt der Wahrnehmungen
| |
| beurteilt, in den Worten des Descartes gesehen: «Ich
| |
| finde, wenn ich die körperlichen Dinge näher prüfe, daß
| |
| darin sehr wenig enthalten ist, was ich klar und deutlich
| |
| einsehe, nämlich die Größe, oder die Ausdehnung in Länge,
| |
| Tiefe, Breite, die Gestalt, die von der Endigung dieser Ausdehnung
| |
| herrührt, die Lage, welche die verschieden gestalteten
| |
| Körper unter sich haben, und die Bewegung oder
| |
| Änderung dieser Lage, welchen man die Substanz, die
| |
| Dauer und Zahl hinzufügen kann. Was die übrigen Sachen
| |
| betrifft, wie das Licht, die Farben, die Töne, Gerüche, Geschmacksempfindungen,
| |
| Wärme, Kälte und die sonstigen,
| |
| dem Tastsinn spürbaren Qualitäten (Glätte, Rauheit), so
| |
| treten sie in meinem Geiste mit solcher Dunkelheit und
| |
| Verworrenheit auf, daß ich nicht weiß, ob sie wahr oder
| |
| falsch sind, d. h. ob die Ideen, die ich von diesen Gegenständen
| |
| fasse, in der Tat die Ideen von irgendwelchen reellen
| |
| Dingen sind, oder ob sie nur chimärische Wesen vorstellen,
| |
| die nicht existieren können.» Im Sinne dieses Descartesschen
| |
| Satzes zu denken, ist den Bekennern der modernen
| |
| Naturanschauung in einem solchen Grade zur Gewohnheit
| |
| geworden, daß sie jede andere Denkweise kaum
| |
| der Beachtung wert finden. Sie sagen: Was als Licht wahrgenommen
| |
| wird, wird durch einen Bewegungsvorgang bewirkt,
| |
| der durch eine mathematische Formel ausgedrückt
| |
| werden kann. Wenn eine Farbe in der Erscheinungswelt auftritt,
| |
| führen sie diese zurück auf eine schwingende Bewegung
| |
| und berechnen die Zahl der Schwingungen in einer
| |
| bestimmten Zeit. Sie glauben, die ganze Sinnenwelt werde
| |
| erklärt sein, wenn gelungen sein wird, alle Wahrnehmungen
| |
| auf Verhältnisse zurückzuführen, die in solchen mathematischen
| |
| Formeln sich aussprechen lassen. Ein Geist, der
| |
| eine solche Erklärung geben könnte, hätte nach Ansicht
| |
| dieser Naturgelehrten das Äußerste erreicht, was dem Menschen
| |
| in bezug auf Erkenntnis der Naturerscheinungen
| |
| möglich ist. Du Bois-Reymond, ein Repräsentant dieser Gelehrten,
| |
| sagt von einem solchen Geiste: Ihm «wären die
| |
| Haare auf unserem Haupte gezählt, und ohne sein Wissen
| |
| fiele kein Sperling zur Erde». («Über die Grenzen des Naturerkennens
| |
| », [5. Aufl., Leipzig 1882] S. 13.) Die Welt
| |
| zu einem Rechenexempel zu machen, ist das Ideal der modernen
| |
| Naturanschauung.
| |
| Da ohne das Vorhandensein von Kräften die Teile der
| |
| angenommenen Materie niemals in Bewegung geraten würden,
| |
| so nehmen die modernen Naturgelehrten auch die
| |
| Kraft unter die Elemente auf, aus denen sie die Welt erklären,
| |
| und Du Bois-Reymond sagt: «Naturerkennen... ist
| |
| Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf
| |
| Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit
| |
| unabhängige Zentralkräfte bewirkt werden, oder Auflösung
| |
| der Naturvorgänge in Mechanik der Atome.» [a. a.
| |
| O., S. 10] Durch die Einführung des Kraftbegriffs geht die
| |
| Mathematik in die Mechanik über.
| |
| Die Philosophen von heute103 stehen so sehr unter dem
| |
| Einfluß der Naturgelehrten, daß sie allen Mut zu selbständigem
| |
| Denken verloren haben. Sie nehmen die Aufstellungen
| |
| der Naturgelehrten rückhaltlos an. Einer der angesehensten
| |
| deutschen Philosophen, W. Wundt1 sagt in seiner
| |
| «Logik» («Logik. [Eine Untersuchung der Prinzipien der
| |
| Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung]
| |
| », IL Bd. [Methodenlehre], 1. Abt., [2. Aufl., Stuttgart
| |
| 1894], S. 266): «Mit Rücksicht... und in Anwendung
| |
| des Grundsatzes, daß wegen der qualitativen Unveränderlichkeit
| |
| der Materie alle Naturvorgänge in letzter Instanz
| |
| Bewegungen sind, betrachtet man als das Ziel der Physik
| |
| ihre vollständige Überführung in . . . angewandte Mechanik.
| |
| »
| |
| Du Bois-Reymond findet: «Es ist eine psychologische
| |
| Erfahrungstatsache, daß, wo solche Auflösung (der Naturvorgänge
| |
| in Mechanik der Atome) gelingt, unser Kausalitätsbedürfnis
| |
| vorläufig sich befriedigt fühlt.» [a. a. O., S.
| |
| 10] Das mag für Du Bois-Reymond eine Erfahrungstatsache
| |
| sein. Aber es muß gesagt werden, daß es noch andere
| |
| Menschen gibt, die sich durch eine banale Erklärung der
| |
| Körperwelt - wie Du Bois-Reymond sie im Auge hat -
| |
| durchaus nicht befriedigt fühlen.
| |
| Zu diesen anderen Menschen gehört Goethe. Wessen
| |
| Kausalitätsbedürfnis befriedigt ist, wenn es ihm gelungen
| |
| ist, die Naturvorgänge auf Mechanik der Atome zurückzuführen,
| |
| dem fehlt das Organ, um Goethe zu verstehen.
| |
| 103 Dies ist im Beginne der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
| |
| geschrieben. Was darüber heute zu sagen ist, darüber* [vgl. Anm.
| |
| S.21].
| |
| 2.
| |
| Größe, Gestalt, Lage, Bewegung, Kraft usw. sind genau
| |
| in demselben Sinne Wahrnehmungen wie Licht, Farben,
| |
| Töne, Gerüche, Geschmacksempfindungen, Wärme, Kälte
| |
| usw. Wer die Größe eines Dinges von seinen übrigen Eigenschaften
| |
| absondert und für sich betrachtet, der hat es nicht
| |
| mehr mit einem wirklichen Dinge, sondern mit einer Abstraktion
| |
| des Verstandes zu tun. Es ist das Widersinnigste,
| |
| das sich denken läßt, einem von der sinnlichen Wahrnehmung
| |
| abgezogenen Abstraktum einen andern Grad von
| |
| Realität zuzuschreiben als einem Dinge der sinnlichen
| |
| Wahrnehmung selbst. Die Raum- und Zahlverhältnisse haben
| |
| von den übrigen Sinneswahrnehmungen nichts voraus
| |
| als ihre größere Einfachheit und leichtere Oberschaubarkeit.
| |
| Auf dieser Einfachheit und Überschaubarkeit beruht
| |
| die Sicherheit der mathematischen Wissenschaften.
| |
| Wenn die moderne Naturanschauung alle Vorgänge der
| |
| Körperwelt auf mathematisch und mechanisch Ausdrückbares
| |
| zurückführt, so beruht dies darauf, daß das Mathematische
| |
| und Mechanische für unser Denken leicht und
| |
| bequem zu handhaben ist. Und das menschliche Denken
| |
| neigt zur Bequemlichkeit. Man kann das gerade an Ostwalds
| |
| oben erwähntem Vortrage sehen. Dieser Naturgelehrte
| |
| will an Stelle von Materie und Kraft die Energie
| |
| setzen. Man höre: «Welches ist die Bedingung, damit eines
| |
| unserer (Sinnes-) Werkzeuge sich betätigt? Wir mögen die
| |
| Sache wenden, wie wir wollen, wir finden nichts Gemeinsames,
| |
| als das: Die Sinneswerkzeuge reagieren auf Energieunterschiede
| |
| zwischen ihnen und der Umgehung. In einer
| |
| Welt, deren Temperatur überall die unseres Körpers
| |
| wäre, würden wir auf keine Weise etwas von der Wärme erfahren
| |
| können, ebenso wie wir keinerlei Empfindung von
| |
| dem konstanten Atmosphärendrucke haben, unter dem
| |
| wir leben; erst wenn wir Räume anderen Druckes herstellen,
| |
| gelangen wir zu seiner Kenntnis.» (S. 25 f. des Vortrags.)
| |
| Und weiter (S. 29): «Denken Sie sich, Sie bekämen einen
| |
| Schlag mit einem Stocke! Was fühlen Sie dann, den Stock
| |
| oder seine Energie? Die Antwort kann nur eine sein: die
| |
| Energie. Denn der Stock ist das harmloseste Ding von der
| |
| Welt, solange er nicht geschwungen wird. Aber wir können
| |
| uns auch an einem ruhenden Stocke stoßen! Ganz richtig:
| |
| was wir empfinden, sind, wie schon betont, Unterschiede
| |
| der Energiezustände gegen unsere Sinnesapparate, und daher
| |
| ist es gleichgültig, ob sich der Stock gegen uns oder
| |
| wir uns gegen den Stock bewegen. Haben aber beide gleiche
| |
| und gleichgerichtete Geschwindigkeit, so existiert der Stock
| |
| für unser Gefühl nicht mehr, denn er kann nicht mit uns
| |
| in Berührung kommen und einen Energieaustausch bewerkstelligen.
| |
| » Diese Auslassungen beweisen, daß Ostwald die
| |
| Energie aus dem Gebiete der Wahrnehmungswelt aussondert,
| |
| d. h. von allem, was nicht Energie ist, abstrahiert. Er
| |
| führt alles Wahrnehmbare auf eine einzige Eigenschaft des
| |
| Wahrnehmbaren, auf die Äußerung von Energie, also auf
| |
| einen abstrakten Begriff zurück. Die Befangenheit Ostwalds
| |
| in den naturwissenschaftlichen Gewohnheiten der
| |
| Gegenwart ist deutlich erkennbar. Auch er könnte, wenn
| |
| er gefragt würde, zur Rechtfertigung seines Verfahrens
| |
| nichts anführen, als daß es für ihn eine psychologische Erfahrungstatsache
| |
| ist, daß sein Kausalitätsbedürfnis befriedigt
| |
| ist, wenn er die Naturvorgänge in Äußerungen der
| |
| Energie aufgelöst hat. Es ist im Wesen gleichgültig: ob Du
| |
| Bois-Reymond die Naturvorgänge in Mechanik der Atome,
| |
| oder Ostwald in Energieäußerungen auflöst. Beides entspringt
| |
| der Neigung des menschlichen Denkens zur Bequemlichkeit.
| |
| Ostwald sagt am Schlusse seines Vortrags (S. 34): «Ist
| |
| die Energie, so notwendig und nützlich sie auch zum Verständnis
| |
| der Natur ist, auch zureichend für diesen Zweck
| |
| (nämlich die Erklärung der Körperwelt)? Oder gibt es Erscheinungen,
| |
| welche durch die bisher bekannten Gesetze
| |
| der Energie nicht vollständig dargestellt werden können?
| |
| . . . Ich glaube der Verantwortlichkeit, die ich heute
| |
| durch meine Darlegung Ihnen gegenüber eingenommen
| |
| habe, nicht besser gerecht werden zu können, als wenn ich
| |
| hervorhebe, daß diese Frage mit Nein zu beantworten ist.
| |
| So immens die Vorzüge sind, welche die energetische Weltauffassung
| |
| vor der mechanistischen oder materialistischen
| |
| hat, so lassen sich schon jetzt, wie mir scheint, einige Punkte
| |
| bezeichnen, welche durch die bekannten Hauptsätze der
| |
| Energetik nicht gedeckt werden, und welche daher auf das
| |
| Vorhandensein von Prinzipien hinweisen, die über diese hinausgehen.
| |
| Die Energetik wird neben diesen neuen Sätzen
| |
| bestehen bleiben. Nur wird sie künftig nicht, wie wir sie
| |
| noch heute ansehen müssen, das umfassendste Prinzip für
| |
| die Bewältigung der natürlichen Erscheinungen sein, sondern
| |
| wird voraussichtlich als ein besonderer Fall noch allgemeinerer
| |
| Verhältnisse erscheinen, von deren Form wir
| |
| zurzeit allerdings kaum eine Ahnung haben.»
| |
| 3.
| |
| Würden unsere Naturgelehrten auch Schriften von Leuten
| |
| lesen, die außerhalb ihrer Gilde stehen, so hätte Prof.
| |
| Ostwald eine Bemerkung wie diese nicht machen können.
| |
| Denn ich habe bereits 1891, in der erwähnten Einleitung
| |
| der Goetheschen Farbenlehre, ausgesprochen, daß wir von
| |
| solchen «Formen» allerdings eine Ahnung und mehr als
| |
| eine solche haben können, und daß in dem Ausbau der
| |
| naturwissenschaftlichen Grundvorstellungen Goethes die
| |
| Aufgabe der Naturwissenschaft der Zukunft liegt.
| |
| So wenig wie die Vorgänge der Körperwelt sich in Mechanik
| |
| der Atome, so wenig lassen sie sich in Energieverhältnisse
| |
| «auflösen». Durch ein solches Verfahren wird
| |
| nichts weiter erreicht, als daß die Aufmerksamkeit von
| |
| dem Inhalt der wirklichen Sinnenwelt abgelenkt, und einem
| |
| unwirklichen Abstraktum zugewendet wird, dessen
| |
| ärmlicher Fond von Eigenschaften doch auch nur aus derselben
| |
| Sinnenwelt entnommen ist. Man kann nicht die eine
| |
| Gruppe von Eigenschaften der Sinnenwelt: Licht, Farben,
| |
| Töne, Gerüche, Geschmäcke, Wärmeverhältnisse usw. dadurch
| |
| erklären, daß man sie «auflöst» in die andere Gruppe
| |
| von Eigenschaften derselben Sinnenwelt: Größe, Gestalt,
| |
| Lage, Zahl, Energie usw. Nicht «Auflösung» der einen
| |
| Art von Eigenschaften in die andere kann Aufgabe der
| |
| Naturwissenschaft sein, sondern Aufsuchung von Beziehungen
| |
| und Verhältnissen zwischen den wahrnehmbaren
| |
| Eigenschaften der Sinnenwelt. Wir entdecken dann gewisse
| |
| Bedingungen, unter denen eine Sinneswahrnehmung die andere
| |
| notwendig nach sich zieht. Wir finden, daß zwischen
| |
| gewissen Erscheinungen ein intimerer Zusammenhang besteht
| |
| als zwischen anderen. Wir verknüpfen die Erscheinungen
| |
| dann nicht mehr in der Weise, wie sie sich der zufälligen
| |
| Beobachtung darbieten. Denn wir erkennen, daß
| |
| gewisse Zusammenhänge von Erscheinungen notwendig
| |
| sind. Ihnen gegenüber sind andere Zusammenhänge zufällig.
| |
| Notwendige Zusammenhänge von Erscheinungen
| |
| nennt Goethe Urphänomene.
| |
| Der Ausdruck eines Urphänomens besteht immer darin,
| |
| daß man von einer bestimmten sinnlichen Wahrnehmung
| |
| sagt, sie rufe notwendig eine andere hervor. Dieser Ausdruck
| |
| ist das, was man ein Naturgesetz nennt. Wenn man
| |
| sagt: «Durch Erwärmung wird ein Körper ausgedehnt», so
| |
| hat man einen notwendigen Zusammenhang von Erscheinungen
| |
| der Sinnenwelt (Wärme, Ausdehnung) zum Ausdrucke
| |
| gebracht. Man hat ein Urphänomen erkannt und es
| |
| in Form eines Naturgesetzes ausgesprochen. Die Urphänomene
| |
| sind die von Ostwald gesuchten Formen für die allgemeinsten
| |
| Verhältnisse der unorganischen Natur.
| |
| Die Gesetze der Mathematik und Mechanik sind ebenso
| |
| nur Ausdrücke von Urphänomenen wie die Gesetze, die
| |
| andere sinnliche Zusammenhänge in eine Formel bringen.
| |
| Wenn G. Kirchhoff sagt: Die Aufgabe der Mechanik ist:
| |
| «Die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig
| |
| und auf die einfachste Weise zu beschreiben», so irrt er.
| |
| Die Mechanik beschreibt die in der Natur vor sich gehenden
| |
| Bewegungen nicht bloß auf die einfachste Weise und
| |
| vollständig, sondern sie sucht gewisse notwendige Bewegungsvorgänge
| |
| auf, die sie aus der Summe der in der Natur
| |
| vor sich gehenden Bewegungen heraushebt, und spricht
| |
| diese notwendigen Bewegungsvorgänge als mechanische
| |
| Grundgesetze aus. Es muß als ein Gipfel der Gedankenlosigkeit
| |
| bezeichnet werden, daß der Kirchhoffsche Satz
| |
| immer und immer wieder als etwas besonders Bedeutendes
| |
| angeführt wird, ohne Gefühl davon, daß die Aufstellung
| |
| des einfachsten Grundgesetzes der Mechanik ihn widerlegt.
| |
| Das Urphänomen stellt einen notwendigen Zusammenhang
| |
| von Elementen der Wahrnehmungswelt dar. Es kann
| |
| deshalb kaum etwas Unzutreffenderes gesagt werden, als
| |
| was H. Helmholtz in seiner Rede auf der Weimar er Goethe-
| |
| Versammlung vom 11. Juni 1892 vorgebracht hat: «Es ist
| |
| zu bedauern, daß Goethe zu jener Zeit die von Huyghens
| |
| schon aufgestellte Undulationstheorie des Lichtes nicht gekannt
| |
| hat; diese würde ihm ein viel richtigeres und anschaulicheres
| |
| <Urphänomen> an die Hand gegeben haben,
| |
| als der dazu kaum geeignete und sehr verwickelte Vorgang,
| |
| den er sich in den Farben trüber Medien zu diesem Ende
| |
| wählte.»104
| |
| Also die unwahrnehmbaren Undulationsbewegungen,
| |
| die zu den Lichterscheinungen von den Bekennern der modernen
| |
| Naturanschauung hinzugedacht werden, sollen
| |
| Goethe ein viel richtigeres und anschaulicheres «Urphänomen
| |
| » an die Hand gegeben haben, als der keineswegs verwickelte,
| |
| sondern sich vor unseren Augen abspielende Prozeß,
| |
| der darin besteht, daß Licht durch ein trübes Mittel
| |
| gesehen gelb, Finsternis durch ein erhelltes Mittel gesehen
| |
| blau erscheint. Die «Auflösung» der sinnlich wahrnehmbaren
| |
| Vorgänge in unwahrnehmbare mechanische Bewegungen
| |
| ist den modernen Physikern so sehr zur Gewohnheit
| |
| geworden, daß sie gar keine Ahnung davon zu haben
| |
| 104 H. L. F. v. Helmholtz, Goethes Vorahnungen kommender wissenschaftlicher
| |
| Ideen usw.; Berlin 1892, S. 34.
| |
| scheinen, daß sie ein Abstraktum an die Stelle der Wirklichkeit
| |
| setzen. Aussprüche wie den Helmholtzschen wird
| |
| man erst tun dürfen, wenn alle Sätze Goethes von der Art
| |
| des folgenden aus der Welt geschafft sein werden: «Das
| |
| Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon
| |
| Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das
| |
| Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter
| |
| den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.» [«Sprüche in
| |
| Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 376] Goethe bleibt
| |
| innerhalb der Erscheinungswelt stehen; die modernen Physiker
| |
| lesen einige Fetzen aus der Erscheinungswelt auf und
| |
| versetzen diese hinter die Phänomene, um dann von diesen
| |
| hypothetischen Realitäten die Phänomene der wirklich
| |
| wahrnehmbaren Erfahrung abzuleiten.*
| |
| 4.
| |
| Einzelne jüngere Physiker behaupten, sie legen dem Begriffe
| |
| der bewegten Materie keinen über die Erfahrung
| |
| hinausgehenden Sinn bei. Einer von ihnen, der das merkwürdige
| |
| Kunststück zustande bringt, Anhänger der mechanischen
| |
| Naturlehre und der indischen Mystik zugleich
| |
| zu sein. Anton Lampa (vgl. dessen «Nächte des Suchenden
| |
| », Braunschweig 1893) bemerkt gegen die Ausführungen
| |
| Ostwalds, daß dieser «einen Kampf führe, wie weiland
| |
| der tapfere Manchaner gegen die Windmühlen. Wo ist
| |
| denn der Riese des wissenschaftlichen (Ostwald meint naturwissenschaftlichen)
| |
| Materialismus? Den gibt es ja gar
| |
| nicht. Es hat einmal einen sogenannten naturwissenschaftlichen
| |
| Materialismus der Herren Büchner, Vogt und Moleschott
| |
| gegeben, ja gibt ihn noch, in der Naturwissenschaft
| |
| selbst aber existiert er nicht, in der Naturwissenschaft war
| |
| er auch nie zu Hause. Das hat Ostwald übersehen, sonst
| |
| wäre er bloß gegen die mechanische Auffassungsweise zu
| |
| Felde gezogen, was er zufolge seines Mißverständnisses nur
| |
| nebenbei tut, was er aber ohne dieses Mißverständnis wahrscheinlich
| |
| überhaupt nicht getan hätte. Kann man denn
| |
| glauben, daß eine Naturforschung, welche die Bahnen wandelt,
| |
| die Kirchhoff eingeschlagen, den Begriff der Materie
| |
| in einem solchen Sinne fassen kann, wie der Materialismus
| |
| es getan? Das ist unmöglich, das ist ein offen zutage liegender
| |
| Widerspruch. Der Begriff der Materie kann, gleich
| |
| wie jener der Kraft, bloß einen durch die Forderung nach
| |
| einer möglichst einfachen Beschreibung präzisierten, d. h.
| |
| kantisch ausgedrückt, bloß empirischen Sinn haben. Und
| |
| wenn irgendein Naturforscher mit dem Worte Materie einen
| |
| darüber hinausliegenden Sinn verbindet, so tut er das
| |
| nicht als Naturforscher, sondern als materialistischer Philosoph.
| |
| » («Die Zeit», Wien, Nr. 61 vom 30. Nov. 1895).
| |
| Lampa muß, nach diesen Worten, als Typus des normalen
| |
| Naturforschers der Gegenwart bezeichnet werden. Dieser
| |
| wendet die mechanische Naturerklärung an, weil sie
| |
| bequem zu handhaben ist. Er vermeidet es aber, über den
| |
| wahren Charakter dieser Naturerklärung nachzudenken,
| |
| weil er sich vor der Verwickelung in Widersprüche fürchtet,
| |
| denen sein Denken sich nicht gewachsen fühlt.
| |
| Wie kann jemand, der klares Denken liebt, mit dem Begriffe
| |
| der Materie einen Sinn verbinden, ohne über die Erfahrungswelt
| |
| hinauszugehen? In der Erfahrungswelt sind
| |
| Körper von bestimmter Größe und Lage, es sind Bewegungen
| |
| und Kräfte, ferner die Phänomene des Lichtes, der Farben,
| |
| der Wärme, der Elektrizität, des Lebens usw. vorhanden.
| |
| Darüber, daß die Größe, die Wärme, die Farbe usw.
| |
| an einer Materie haften, sagt die Erfahrung nichts aus.
| |
| Aufzufinden ist die Materie innerhalb der Erfahrungswelt
| |
| nirgends. Wer Materie denken will, der muß sie zu der Erfahrung
| |
| hinzudenken.
| |
| Ein solches Hinzudenken der Materie zu den Erscheinungen
| |
| der Erfahrungswelt ist in den physikalischen und
| |
| physiologischen Erwägungen zu bemerken, die in der modernen
| |
| Naturlehre unter dem Einflüsse Kants und Johannes
| |
| Müllers heimisch geworden sind. Diese Erwägungen
| |
| haben zu dem Glauben geführt, daß die äußeren Vorgänge,
| |
| die den Schall im Ohre, das Licht im Auge, die Wärme im
| |
| Organe des Wärmesinnes usw. entstehen lassen, nichts gemein
| |
| haben mit der Schallempfindung, der Licht- und Wärmeempfindung
| |
| usw. Diese äußeren Vorgänge sollen vielmehr
| |
| gewisse Bewegungen der Materie sein. Der Naturforscher
| |
| untersucht dann, welche Art von äußeren Bewegungsvorgängen
| |
| in der menschlichen Seele Schall, Licht, Farbe
| |
| usw. entstehen lassen. Er kommt zu dem Schlusse, daß sich
| |
| außerhalb des menschlichen Organismus nirgends im ganzen
| |
| Weltenraum Rot, Gelb oder Blau finde, sondern daß
| |
| es nur eine wellenförmige Bewegung einer feinen, elastischen
| |
| Materie, des Äthers, gebe, die, wenn sie durch das
| |
| Auge empfunden wird, sich als Rot, Gelb oder Blau darstellt.
| |
| Wenn kein empfindendes Auge vorhanden wäre, so
| |
| wäre auch keine Farbe, sondern nur bewegter Äther vorhanden,
| |
| meint der moderne Naturlehrer. Der Äther sei
| |
| das Objektive, die Farbe bloß etwas Subjektives, im menschlichen
| |
| Körper Gebildetes. Der Leipziger Professor Wundt,
| |
| den man zuweilen als einen der größten Philosophen der
| |
| Gegenwart preisen hört, sagt deshalb von der Materie, sie
| |
| sei ein Substrat, «das uns niemals selbst, sondern immer nur
| |
| in seinen Wirkungen anschaulich wird.» Und er findet, daß
| |
| «eine widerspruchslose Erklärung der Erscheinungen erst
| |
| gelingt», wenn man ein solches Substrat annimmt (Logik,
| |
| IL Bd., [1. Abt., 2. Aufl.,] S. 445). Der Descartessche Wahn
| |
| von deutlichen und verworrenen Vorstellungen ist zur
| |
| grundlegenden Vorstellungsart der Physik geworden.*
| |
| 5.
| |
| Wessen Vorstellungsvermögen durch Descartes, Locke,
| |
| Kant und die moderne Physiologie nicht vom Grund aus
| |
| verdorben ist, der wird niemals begreifen, wie man Licht,
| |
| Farbe, Ton, Wärme usw. bloß für subjektive Zustände
| |
| des menschlichen Organismus ansehen und dennoch das
| |
| Vorhandensein einer objektiven Welt von Vorgängen
| |
| außerhalb des Organismus behaupten kann. Wer den
| |
| menschlichen Organismus zum Erzeuger der Ton-, Wärme-,
| |
| Farben- usw. -Geschehnisse macht, der muß ihn auch
| |
| zum Hervorbringer der Ausdehnung, Größe, Lage, Bewegung,
| |
| der Kräfte usw. machen. Denn diese mathematischen
| |
| und mechanischen Qualitäten sind in Wirklichkeit mit dem
| |
| übrigen Inhalte der Erfahrungswelt untrennbar verbunden.
| |
| Die Abtrennung der Raum-, Zahl- und Bewegungsverhältnisse,
| |
| sowie der Kraftäußerungen von den Wärme-,
| |
| Ton-, Farben- und den anderen Sinnesqualitäten ist nur
| |
| eine Funktion des abstrahierenden Denkens. Die Gesetze
| |
| der Mathematik und Mechanik beziehen sich auf abstrakte
| |
| Gegenstände und Vorgänge, die von der Erfahrungswelt
| |
| abgezogen sind, und können daher auch nur innerhalb der
| |
| Erfahrungswelt Anwendung finden. Werden aber auch die
| |
| mathematischen und mechanischen Formen und Verhältnisse
| |
| für bloß subjektive Zustände erklärt, dann bleibt
| |
| nichts übrig, was dem Begriffe von objektiven Dingen und
| |
| Ereignissen als Inhalt dienen könnte. Und aus einem leeren
| |
| Begriffe können keine Erscheinungen abgeleitet werden.
| |
| So lange die modernen Naturgelehrten und ihre Schleppträger,
| |
| die modernen Philosophen, daran festhalten, daß
| |
| die Sinneswahrnehmungen nur subjektive Zustände sind,
| |
| die durch objektive Vorgänge hervorgerufen werden, wird
| |
| ein gesundes Denken ihnen stets entgegenhalten, daß sie
| |
| entweder mit leeren Begriffen spielen, oder dem Objektiven
| |
| einen Inhalt zuschreiben, den sie aus der für subjektiv
| |
| erklärten Erfahrungswelt entlehnen. Ich habe in einer
| |
| Reihe von Schriften das Widersinnige der Behauptung von
| |
| der Subjektivität der Sinnesempfindungen nachgewiesen.105
| |
| Doch ich will davon absehen, ob den Bewegungsvorgängen
| |
| und den sie hervorrufenden Kräften, auf die die
| |
| neuere Physik alle Naturerscheinungen zurückführt, eine
| |
| andere Realitätsform zugeschrieben wird als den Sinneswahrnehmungen,
| |
| oder ob das nicht der Fall ist. Ich will jetzt
| |
| bloß fragen, was die mathematisch-mechanische Naturanschauung
| |
| leisten kann. Anton Lampa meint («Nächte des
| |
| Suchenden», S. 92): «Mathematische Methode und Mathematik
| |
| sind nicht identisch, denn die mathematische Me-
| |
| 105 «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung
| |
| mit besonderer Rücksicht auf Schiller» (1886), Gesamtausgabe
| |
| Dornach 1960; «Wahrheit und Wissenschaft- Vorspiel einer Philosophie
| |
| der Freiheit)» (1892), Gesamtausgabe Dornach 1958; «Philosophie
| |
| der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung»
| |
| (1894), Gesamtausgabe Dornach 1972.
| |
| thode ist durchführbar ohne Anwendung von Mathematik.
| |
| Einen klassischen Beleg für diese Tatsache bieten uns innerhalb
| |
| der Physik die Experimentaluntersuchungen über
| |
| Elektrizität von Faraday, der kaum ein Binom zu quadrieren
| |
| verstand. Die Mathematik ist ja nichts als ein Mittel,
| |
| logische Operationen abzukürzen und daher in so verwickelten
| |
| Fällen noch durchzuführen, wo uns das gewöhnliche
| |
| logische Denken im Stich lassen würde. Aber sie leistet
| |
| gleichzeitig noch viel mehr: indem jede Formel implicite
| |
| ihren Werdeprozeß ausdrückt, schlägt sie eine lebendige
| |
| Brücke bis zu den elementaren Erscheinungen, welche als
| |
| Ausgangspunkt der Untersuchung gedient hatten. Die Methode
| |
| aber, welche sich der Mathematik nicht bedienen
| |
| kann - was immer der Fall ist, wenn die in die Untersuchung
| |
| eingehenden Größen nicht meßbar sind — hat daher,
| |
| um der mathematischen gleich zu kommen, nicht nur
| |
| streng logisch zu sein, sondern auch dem Geschäft der Zurückführung
| |
| auf die Grunderscheinungen eine besondere
| |
| Sorgfalt zuzuwenden, da sie der mathematischen Stütze
| |
| entbehrend gerade hier leicht straucheln kann; wenn sie
| |
| aber dieses leistet, wird sie wohl mit Recht auf den Titel
| |
| einer mathematischen Anspruch erheben, insofern damit
| |
| der Grad der Exaktheit ausgedrückt werden soll.»
| |
| Ich würde mich mit Anton Lampa nicht so ausführlich
| |
| beschäftigen, wenn er nicht durch einen Umstand ein
| |
| besonders geeignetes Beispiel eines Naturforschers der Gegenwart
| |
| wäre. Er befriedigt seine philosophischen Bedürfnisse
| |
| aus der indischen Mystik und verunreinigt deshalb
| |
| die mechanische Naturanschauung nicht wie andere mit
| |
| allerlei philosophischen Nebenvorstellungen. Die Naturlehre,
| |
| die er im Auge hat, ist sozusagen die chemisch reine
| |
| Naturansicht der Gegenwart. Ich finde, daß Lampa ein
| |
| Hauptkennzeichen der Mathematik gänzlich unberücksichtigt
| |
| gelassen hat. Wohl schlägt jede mathematische Formel
| |
| eine «lebendige Brücke» bis zu den elementaren Erscheinungen,
| |
| welche als Ausgangspunkt der Untersuchungen
| |
| gedient haben. Aber diese elementaren Erscheinungen
| |
| sind von derselben Art wie die nichtelementaren,
| |
| von denen aus die Brücke geschlagen wird. Der Mathematiker
| |
| führt die Eigenschaften komplizierter Zahl- und
| |
| Raumgebilde, sowie deren wechselseitige Beziehungen auf
| |
| die Eigenschaften und Beziehungen der einfachsten Zahlund
| |
| Raumgebilde zurück. Ebenso macht es der Mechaniker
| |
| in seinem Gebiete. Er führt zusammengesetzte Bewegungsvorgänge
| |
| und Kräftewirkungen auf einfache, leicht überschaubare
| |
| Bewegungen und Kräftewirkungen zurück. Dabei
| |
| bedient er sich der mathematischen Gesetze, insofern
| |
| Bewegungen und Kraftäußerungen durch Raumgebilde
| |
| und Zahlen ausdrückbar sind. In einer mathematischen
| |
| Formel, die ein mechanisches Gesetz zum Ausdruck bringt,
| |
| bedeuten die einzelnen Glieder nicht mehr rein mathematische
| |
| Gebilde, sondern Kräfte und Bewegungen. Die Verhältnisse,
| |
| in denen diese Glieder zueinander stehen, werden
| |
| nicht durch eine rein mathematische Gesetzmäßigkeit
| |
| bestimmt, sondern durch die Eigenschaften der Kräfte und
| |
| Bewegungen. Sobald man von diesem besonderen Inhalte
| |
| der mechanischen Formeln absieht, hat man es nicht mehr
| |
| mit mechanischer, sondern lediglich mit mathematischer
| |
| Gesetzlichkeit zu tun. Wie die Mechanik zur reinen Mathematik,
| |
| verhält sich die Physik zur Mechanik. Die Aufgabe
| |
| des Physikers ist, komplizierte Vorgänge auf dem Gebiete
| |
| der Farben-, Ton-, Wärmeerscheinungen, der Elektrizität,
| |
| des Magnetismus usw. auf einfache Geschehnisse innerhalb
| |
| der gleichen Sphäre zurückzuführen. Er hat z. B.
| |
| komplizierte Farbenvorkommnisse auf die einfachsten Farbenvorkommnisse
| |
| zurückzuführen. Dabei hat er sich der
| |
| mathematischen und mechanischen Gesetzlichkeit zu bedienen,
| |
| insofern die Farbenvorgänge in räumlich und zahlenmäßig
| |
| zu bestimmenden Formen sich abspielen. Nicht
| |
| die Zurückführung der Farben-, Ton- usw. -Vorgänge auf
| |
| Bewegungserscheinungen und Kräfteverhältnisse innerhalb
| |
| einer farb- und tonlosen Materie, sondern die Aufsuchung
| |
| der Zusammenhänge innerhalb der Farben-, Tonusw.
| |
| -Erscheinungen entspricht auf physikalischem Gebiete
| |
| der mathematischen Methode.
| |
| Die moderne Physik überspringt die Ton-, Farben- usw.
| |
| Erscheinungen als solche und betrachtet nur unveränderliche,
| |
| anziehende und abstoßende Kräfte und Bewegungen
| |
| im Raume. Unter dem Einflüsse dieser Vorstellungsart ist
| |
| die Physik heute bereits angewandte Mathematik und Mechanik
| |
| geworden, und die übrigen Gebiete der Naturwissenschaft
| |
| sind auf dem Wege, das Gleiche zu werden.*
| |
| Es ist unmöglich, eine «lebendige Brücke» zu schlagen
| |
| von der Tatsache: An diesem Orte des Raumes herrscht ein
| |
| bestimmter Bewegungsvorgang der farblosen Materie, -
| |
| und der andern Tatsache: Der Mensch sieht an diesem Orte
| |
| Rot. Aus Bewegung kann nur wieder Bewegung abgeleitet
| |
| werden. Und aus der Tatsache, daß eine Bewegung auf ein
| |
| Sinnesorgan und dadurch auf das Gehirn wirkt, folgt -
| |
| nach mathematischer und mechanischer Methode - nur,
| |
| daß das Gehirn von der Außenwelt zu gewissen Bewegungsvorgängen
| |
| veranlaßt wird, nicht aber, daß es die konkreten
| |
| Töne, Farben, Wärmeerscheinungen usw. wahrnimmt.
| |
| Dies hat auch Du Bois-Reymond erkannt. Man lese
| |
| S. 35f. seiner «Grenzen des Naturerkennens» (5. Aufl.):
| |
| «Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten
| |
| Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits,
| |
| andererseits den für mich ursprünglichen, nicht
| |
| weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen:
| |
| ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke Süßes, rieche
| |
| Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot» . . . Und S. 34: «Bewegung
| |
| kann nur Bewegung erzeugen.» Du Bois-Reymond
| |
| ist deshalb der Meinung, daß hiermit eine Grenze des Naturerkennens
| |
| zu verzeichnen ist.
| |
| Der Grund, warum man die Tatsache: «ich sehe Rot»
| |
| nicht aus einem bestimmten Bewegungsvorgang herleiten
| |
| kann, ist, meiner Ansicht nach, leicht anzugeben. Die Qualität
| |
| «Rot» und ein bestimmter Bewegungsvorgang sind in
| |
| Wirklichkeit eine untrennbare Einheit. Die Trennung der
| |
| beiden Geschehnisse kann nur eine begriffliche, im Verstande
| |
| vollzogene sein. Der dem «Rot» entsprechende Bewegungsvorgang
| |
| hat an sich keine Wirklichkeit; er ist ein
| |
| Abstraktum. Die Tatsache: «ich sehe Rot» aus einem Bewegungsvorgang
| |
| herleiten zu wollen, ist genau so absurd,
| |
| wie die Ableitung der wirklichen Eigenschaften eines in
| |
| Würfelform kristallisierten Steinsalzkörpers aus dem mathematischen
| |
| Würfel. Nicht weil eine Grenze des Erkennens
| |
| uns hindert, können wir aus Bewegungen keine anderen
| |
| Sinnesqualitäten ableiten, sondern weil eine derartige
| |
| Forderung keinen Sinn hat.
| |
| 6.
| |
| Das Streben, die Farben, Töne, Wärmeerscheinungen usw.
| |
| als solche zu überspringen und nur die ihnen entsprechenden
| |
| mechanischen Vorgänge zu betrachten, kann nur aus
| |
| dem Glauben entspringen, daß den einfachen Gesetzen der
| |
| Mathematik und Mechanik ein höherer Grad von Begreiflichkeit
| |
| entspricht, als den Eigenschaften und wechselseitigen
| |
| Beziehungen der übrigen Gebilde der Wahrnehmungswelt.
| |
| Dies ist aber durchaus nicht der Fall. Die einfachsten
| |
| Eigenschaften und Verhältnisse der Raum- und
| |
| Zahlgebilde werden ohne weiteres begreiflich genannt, weil
| |
| sie sich leicht und vollkommen überschauen lassen. Zurückführung
| |
| auf einfache, beim unmittelbaren Innewerden
| |
| einleuchtende Tatbestände ist alles mathematische und mechanische
| |
| Begreifen. Der Satz, daß zwei Größen, die einer
| |
| dritten gleich sind, auch einander gleich sein müssen, wird
| |
| durch unmittelbares Innewerden des Tatbestandes, den er
| |
| ausdrückt, erkannt. In dem gleichen Sinne werden auch die
| |
| einfachen Vorkommnisse der Ton- und Farbenwelt und der
| |
| übrigen Sinneswahrnehmungen durch unmittelbare Anschauung
| |
| erkannt.
| |
| Nur weil sie durch das Vorurteil verführt sind, daß ein
| |
| einfaches mathematisches oder mechanisches Faktum begreiflicher
| |
| ist, als ein elementares Vorkommnis der Tonoder
| |
| Farbenerscheinung als solches, schalten die modernen
| |
| Physiker das Spezifische des Tones oder der Farbe aus den
| |
| Erscheinungen aus und betrachten nur die Bewegungsvorgänge,
| |
| die den Sinneswahrnehmungen entsprechen. Und
| |
| weil sie Bewegungen nicht denken können ohne etwas, das
| |
| sich bewegt, nehmen sie die aller sinnenfälligen Eigenschaften
| |
| entkleidete Materie als Träger der Bewegungen an.
| |
| Wer in diesem Vorurteil der Physiker nicht befangen ist,
| |
| der muß einsehen, daß die Bewegungsvorgänge Zustände
| |
| sind, die an die sinnenfälligen Qualitäten gebunden sind.
| |
| Der Inhalt der wellenförmigen Bewegungen, die den Tonvorkommnissen
| |
| entsprechen, sind die Tonqualitäten selbst.
| |
| Das gleiche gilt für die übrigen Sinnesqualitäten. Durch unmittelbares
| |
| Innewerden erkennen wir den Inhalt der oszillierenden
| |
| Bewegungen der Erscheinungswelt, nicht durch
| |
| Hinzudenken einer abstrakten Materie zu den Erscheinungen.
| |
| 7.
| |
| Ich weiß, daß ich mit diesen Ansichten etwas ausspreche,
| |
| was den Physiker-Ohren der Gegenwart ganz unmöglich
| |
| klingt. Ich kann mich aber nicht auf den Standpunkt
| |
| Wundts stellen, der in seiner «Logik» (IL Bd., 1. Abt. [2.
| |
| Aufl. 1894]) die Denkgewohnheiten der modernen Naturforscher
| |
| für bindende logische Normen ausgibt. Die Gedankenlosigkeit,
| |
| der er sich dabei schuldig macht, wird besonders
| |
| an der Stelle klar, wo er den Versuch Ostwalds bespricht,
| |
| an die Stelle der bewegten Materie die in oszillierender
| |
| Bewegung befindliche Energie zu setzen. Wundt
| |
| bringt folgendes vor: «Es ergibt sich . .. aus der Existenz
| |
| der Interferenzerscheinungen die Notwendigkeit der Voraussetzung
| |
| irgendeiner oszillierenden Bewegung. Da aber
| |
| eine Bewegung ohne ein Substrat, das sich bewegt, undenkbar
| |
| ist, so ist damit auch die Ableitung der Lichterscheinungen
| |
| aus einem mechanischen Vorgang ein unumgängliches
| |
| Erfordernis. Allerdings hat Ostwald der letzteren
| |
| Annahme zu entgehen gesucht, indem er die <strahlende
| |
| Energie> nicht auf die Schwingungen eines materiellen Mediums
| |
| zurückführt, sondern als eine in oszillierender Bewegung
| |
| befindliche Energie definiert. Gerade dieser aus einem
| |
| anschaulichen und einem rein begrifflichen Bestandteil zusammengesetzte
| |
| Doppelbegriff scheint mir aber schlagend
| |
| zu beweisen, daß der Energiebegriff selbst eine Zerlegung
| |
| fordert, die auf Elemente der Anschauung zurückführt.
| |
| Eine reale Bewegung kann nur als die Ortsveränderung
| |
| eines im Raume gegebenen realen Substrates definiert werden.
| |
| Dieses reale Substrat kann sich uns bloß durch Kraftwirkungen,
| |
| die von ihm ausgehen, oder durch Kräftefunktionen,
| |
| als deren Träger wir es betrachten, verraten. Aber
| |
| daß solche bloß begrifflich zu fixierende Kräftefunktionen
| |
| selbst sich bewegen, dies scheint mir eine Forderung zu sein,
| |
| die nicht erfüllt werden kann, ohne daß man sich irgendein
| |
| Substrat hinzudenkt.» [a. a. O., S. 410]
| |
| Der Energiebegriff Ostwalds steht der Wirklichkeit um
| |
| vieles näher als das angeblich «reale» Substrat Wundts. Die
| |
| Erscheinungen der Wahrnehmungswelt, Licht, Wärme,
| |
| Elektrizität, Magnetismus usw., lassen sich unter den allgemeinen
| |
| Begriff der Kraftleistung, d. i. der Energie bringen.
| |
| Wenn Licht, Wärme usw. in einem Körper eine Veränderung
| |
| hervorrufen, so ist damit eben eine Kraftleistung vollzogen.
| |
| Man hat, wenn man Licht, Wärme usw. als Energie
| |
| bezeichnet, von dem den einzelnen Sinnesqualitäten spezifisch
| |
| Eigenen abgesehen und betrachtet eine allgemeine,
| |
| ihnen gemeinsam zukommende Eigenschaft.
| |
| Diese Eigenschaft erschöpft zwar nicht alles, was in den
| |
| Dingen der Wirklichkeit vorhanden ist; aber sie ist eine
| |
| reale Eigenschaft dieser Dinge. Der Begriff der Eigenschaften
| |
| hingegen, welche die von den Physikern und ihren philosophischen
| |
| Verteidigern hypothetisch angenommene Materie
| |
| haben soll, schließt einen Unsinn ein. Diese Eigenschaften
| |
| sind aus der Sinnenwelt entlehnt und sollen doch
| |
| einem Substrat zukommen, das nicht zur Sinnenwelt gehört.
| |
| Es ist unbegreiflich, wie Wundt behaupten kann, der
| |
| Begriff «strahlende Energie» sei deshalb ein unmöglicher,
| |
| weil er einen anschaulichen und einen begrifflichen Bestandteil
| |
| enthalte. Der Philosoph Wundt sieht also nicht ein, daß
| |
| jeder Begriff, der sich auf ein Ding der sinnlichen Wirklichkeit
| |
| bezieht, notwendig einen anschaulichen und einen
| |
| begrifflichen Bestandteil enthalten muß. Der Begriff
| |
| «Steinsalzwürfel» hat doch den anschaulichen Bestandteil
| |
| des sinnlich wahrnehmbaren Steinsalzes und den anderen
| |
| rein begrifflichen, den die Stereometrie feststellt.
| |
| 8.
| |
| Die Entwicklung der Naturwissenschaft in den letzten
| |
| Jahrhunderten hat zur Zerstörung aller Vorstellungen geführt,
| |
| durch welche diese Wissenschaft Glied einer Weltauffassung
| |
| sein kann, die den höheren menschlichen Bedürfnissen
| |
| genügt. Sie hat dazu geführt, daß die «modernen
| |
| » wissenschaftlichen Köpfe es als absurd bezeichnen,
| |
| wenn man davon spricht, daß die Begriffe und Ideen ebenso
| |
| zur Wirklichkeit gehören, wie die im Raume wirkenden
| |
| Kräfte und die den Raum erfüllende Materie. Begriffe und
| |
| Ideen sind diesen Geistern ein Produkt des menschlichen
| |
| Gehirns und nichts weiter. Noch die Scholastiker wußten,
| |
| wie es um diese Sache steht. Aber die Scholastik wird von
| |
| der modernen Wissenschaft verachtet. Sie wird verachtet,
| |
| aber man kennt sie nicht. Man weiß vor allem nicht, was
| |
| an der Scholastik gesund und was an ihr krank ist. Gesund
| |
| an ihr ist, daß sie eine Empfindung dafür hatte, daß Begriffe
| |
| und Ideen nicht nur Hirngespinste sind, die der
| |
| menschliche Geist ersinnt, um die wirklichen Dinge zu verstehen,
| |
| sondern daß sie mit den Dingen selbst etwas, ja
| |
| mehr zu tun haben als Stoff und Kraft. Diese gesunde Empfindung
| |
| der Scholastiker ist ein Erbstück von den großen
| |
| Weltanschauungsperspektiven Platos und Aristoteles'.
| |
| Krank ist an der Scholastik die Vermischung dieser Empfindung
| |
| mit den Vorstellungen, die in die mittelalterliche
| |
| Entwicklung des Christentums eingezogen sind. Diese Entwicklung
| |
| findet den Quell alles Geistigen, also auch der
| |
| Begriffe und Ideen in dem unerkennbaren, weil außerweltlichen
| |
| Gott. Es hat den Glauben an etwas nötig, das nicht
| |
| von dieser Welt ist. Ein gesundes menschliches Denken hält
| |
| sich aber an diese Welt. Es kümmert sich um keine andere.
| |
| Aber es vergeistigt zugleich diese Welt. Es sieht in Begriffen
| |
| und Ideen Wirklichkeiten dieser Welt ebenso wie in den
| |
| durch die Sinne wahrnehmbaren Dingen und Ereignissen.
| |
| Die griechische Philosophie ist ein Ausfluß dieses gesunden
| |
| Denkens. Die Scholastik nahm noch eine Ahnung dieses
| |
| gesunden Denkens in sich auf. Aber sie strebte darnach,
| |
| diese Ahnung im Sinne des als christlich geltenden Jenseitsglaubens
| |
| umzudeuten. Nicht die Begriffe und Ideen
| |
| sollten das Tiefste sein, was der Mensch in den Vorgängen
| |
| dieser Welt erschaut, sondern Gott, sondern das Jenseits.
| |
| Wer die Idee einer Sache erfaßt hat, den zwingt nichts,
| |
| noch nach einem weiteren «Ursprung» der Sache zu suchen.
| |
| Er hat das erreicht, was das menschliche Erkenntnisbedürfnis
| |
| befriedigt. Aber was kümmerte die Scholastiker
| |
| das menschliche Erkenntnisbedürfnis? Sie wollten retten,
| |
| was sie als christliche Gottesvorstellung ansahen. Sie wollten
| |
| im jenseitigen Gott den Ursprung der Welt finden, obwohl
| |
| ihnen ihr Suchen nach dem Innern der Dinge nur
| |
| Begriffe und Ideen lieferte.*
| |
| 9.
| |
| Im Verlauf der Jahrhunderte wurden die christlichen Vorstellungen
| |
| wirksamer als die dunklen Empfindungen, die
| |
| aus dem griechischen Altertum ererbt waren. Man verlor
| |
| die Empfindung für die Wirklichkeit der Begriffe und
| |
| Ideen. Man verlor damit aber auch den Glauben an den -
| |
| Geist selbst. Es begann die Anbetung des rein Materiellen:
| |
| die Ära Newtons in der Naturwissenschaft begann. Nun
| |
| war nicht mehr die Rede von der Einheit, die der Mannigfaltigkeit
| |
| der Welt zugrunde liegt. Nun wurde alle Einheit
| |
| geleugnet Die Einheit wurde herabgewürdigt zu einer
| |
| «menschlichen» Vorstellung. In der Natur sah man nur die
| |
| Vielheit, die Mannigfaltigkeit. Diese allgemeine Grundvorstellung
| |
| war es, die Newton verführte, nicht eine ursprüngliche
| |
| Einheit im Lichte zu sehen, sondern ein Zusammengesetztes.
| |
| Goethe hat in den «Materialien zur Geschichte der
| |
| Farbenlehre» einen Teil der Entwicklung naturwissenschaftlicher
| |
| Vorstellungen dargelegt. Aus seiner Darstellung ist zu
| |
| ersehen, daß die neuere Naturwissenschaft durch die allgemeinen
| |
| Vorstellungen, deren sie sich zum Erfassen der Natur
| |
| bedient, in der Farbenlehre zu ungesunden Ansichten
| |
| gelangt ist. Diese Wissenschaft hat das Verständnis dafür
| |
| verloren, was das Licht innerhalb der Reihe der Naturqualitäten
| |
| ist. Deshalb weiß sie auch nicht, wie unter gewissen
| |
| Bedingungen das Licht gefärbt erscheint, wie im
| |
| Reiche des Lichtes die Farbe entsteht.
| |
| XVIII
| |
| GOETHES WELTANSCHAUUNG IN SEINEN
| |
| «SPRÜCHEN IN PROSA»
| |
| Der Mensch ist nicht zufrieden mit dem, was die Natur
| |
| freiwillig seinem beobachtenden Geiste darbietet. Er fühlt,
| |
| daß sie, um die Mannigfaltigkeit ihrer Schöpfungen hervorzubringen,
| |
| Triebkräfte braucht, die sie dem Beobachter zunächst
| |
| verbirgt. Die Natur spricht ihr letztes Wort nicht
| |
| selbst aus. Unsere Erfahrung zeigt uns, was die Natur schaffen
| |
| kann, aber sie sagt uns nicht, wie dieses Schaffen geschieht.
| |
| In dem menschlichen Geiste selbst liegt das Mittel,
| |
| die Triebkräfte der Natur zu enthüllen. Aus dem Menschengeiste
| |
| steigen die Ideen auf, die Aufklärung darüber
| |
| bringen, wie die Natur ihre Schöpfungen zustande bringt.
| |
| Was die Erscheinungen der Außenwelt verbergen, im Innern
| |
| des Menschen wird es offenbar. Was der menschliche
| |
| Geist an Naturgesetzen erdenkt: es ist nicht zur Natur hinzu
| |
| erfunden; es ist die eigene Wesenheit der Natur, und
| |
| der Geist ist nur der Schauplatz, auf dem die Natur die
| |
| Geheimnisse ihres Wirkens sichtbar werden läßt. Was wir
| |
| an den Dingen beobachten, das ist nur ein Teil der Dinge.
| |
| Was in unserem Geiste emporquillt, wenn er sich den Dingen
| |
| gegenüberstellt, das ist der andere Teil. Dieselben Dinge
| |
| sind es, die von außen zu uns sprechen, und die in uns sprechen.
| |
| Erst wenn wir die Sprache der Außenwelt mit der
| |
| unseres Innern zusammenhalten, haben wir die volle Wirklichkeit.
| |
| Was wollten die wahren Philosophen aller Zeiten?
| |
| Nichts anderes als das Wesen der Dinge verkünden,
| |
| das diese selbst aussprechen, wenn der Geist sich ihnen als
| |
| Sprachorgan darbietet.
| |
| Wenn der Mensch sein Inneres über die Natur sprechen
| |
| läßt, so erkennt er, daß die Natur hinter dem zurückbleibt,
| |
| was sie vermöge ihrer Triebkräfte leisten könnte. Der Geist
| |
| sieht das, was die Erfahrung enthält, in vollkommenerer
| |
| Gestalt. Er findet, daß die Natur ihre Absichten mit ihren
| |
| Schöpfungen nicht erreicht. Er fühlt sich berufen, diese
| |
| Absichten in vollendeter Form darzustellen. Er schafft Gestalten,
| |
| in denen er zeigt: dies hat die Natur gewollt; aber
| |
| sie konnte es nur bis zu einem gewissen Grade vollbringen.
| |
| Diese Gestalten sind die Werke der Kunst. In ihnen schafft
| |
| der Mensch das in einer vollkommenen Weise, was die Natur
| |
| unvollkommen zeigt.
| |
| Philosoph und Künstler haben das gleiche Ziel. Sie suchen
| |
| das Vollkommene zu gestalten, das ihr Geist erschaut,
| |
| wenn sie die Natur auf sich wirken lassen. Aber es stehen
| |
| ihnen verschiedene Mittel zu Gebote, um dies Ziel zu erreichen.
| |
| In dem Philosophen leuchtet ein Gedanke, eine
| |
| Idee auf, wenn er einem Naturprozeß gegenübersteht. Diese
| |
| spricht er aus. In dem Künstler entsteht ein Bild dieses Prozesses,
| |
| das diesen vollkommener zeigt, als er sich in der
| |
| Außenwelt beobachten läßt. Philosoph und Künstler bilden
| |
| die Beobachtung auf verschiedenen Wegen weiter. Der
| |
| Künstler braucht die Triebkräfte der Natur in der Form
| |
| nicht zu kennen, in der sie sich dem Philosophen enthüllen.
| |
| Wenn er ein Ding oder einen Vorgang wahrnimmt, so entsteht
| |
| unmittelbar ein Bild in seinem Geiste, in dem die Gesetze
| |
| der Natur in vollkommenerer Form ausgeprägt sind
| |
| als in dem entsprechenden Dinge oder Vorgange der Außenwelt.
| |
| Diese Gesetze in Form des Gedankens brauchen nicht
| |
| in seinen Geist einzutreten. Erkenntnis und Kunst sind aber
| |
| doch innerlich verwandt. Sie zeigen die Anlagen der Natur,
| |
| die in der bloßen äußeren Natur nicht zur vollen Entwickelung
| |
| kommen.
| |
| Wenn nun in dem Geiste eines echten Künstlers außer
| |
| vollkommenen Bildern der Dinge auch noch die Triebkräfte
| |
| der Natur in Form von Gedanken sich aussprechen,
| |
| so tritt der gemeinsame Quell von Philosophie und Kunst
| |
| uns besonders deutlich vor Augen. Goethe ist ein solcher
| |
| Künstler. Er offenbart uns die gleichen Geheimnisse in der
| |
| Form seiner Kunstwerke und in der Form des Gedankens.
| |
| Was er in seinen Dichtungen gestaltet, das spricht er in seinen
| |
| natur- und kunstwissenschaftlichen Aufsätzen und in
| |
| seinen «Sprüchen in Prosa» in der Form des Gedankens aus.
| |
| Die tiefe Befriedigung, die von diesen Aufsätzen und Sprüchen
| |
| ausgeht, hat darin ihren Grund, daß man den Einklang
| |
| von Kunst und Erkenntnis in einer Persönlichkeit verwirklicht
| |
| sieht. Das Gefühl hat etwas Erhebendes, das bei jedem
| |
| Goetheschen Gedanken auftritt: Hier spricht jemand, der
| |
| zugleich das Vollkommene, das er in Ideen ausdrückt, im
| |
| Bilde schauen kann. Die Kraft eines solchen Gedankens
| |
| wird verstärkt durch dieses Gefühl. Was aus den höchsten
| |
| Bedürfnissen einer Persönlichkeit stammt, muß innerlich
| |
| zusammengehören. Goethes Weisheitslehren antworten auf
| |
| die Frage: Was für eine Philosophie ist der echten Kunst
| |
| gemäß? Ich versuche diese aus dem Geiste eines echten
| |
| Künstlers geborene Philosophie im Zusammenhange nachzuzeichnen.
| |
| Der Gedankeninhalt, der aus dem menschlichen Geiste
| |
| entspringt, wenn dieser sich der Außenwelt gegenüberstellt,
| |
| ist die Wahrheit. Der Mensch kann keine andere Erkenntnis
| |
| verlangen als eine solche, die er selbst hervorbringt. Wer
| |
| hinter den Dingen noch etwas sucht, das deren eigentliches
| |
| Wesen bedeuten soll, der hat sich nicht zum Bewußtsein
| |
| gebracht, daß alle Fragen nach dem Wesen der Dinge nur
| |
| aus einem menschlichen Bedürfnisse entspringen: das, was
| |
| man wahrnimmt, auch mit dem Gedanken zu durchdringen.
| |
| Die Dinge sprechen zu uns, und unser Inneres spricht,
| |
| wenn wir die Dinge beobachten. Diese zwei Sprachen stammen
| |
| aus demselben Urwesen, und der Mensch ist berufen,
| |
| deren gegenseitiges Verständnis zu bewirken. Darin besteht
| |
| das, was man Erkenntnis nennt. Und dies und nichts anderes
| |
| sucht der, der die Bedürfnisse der menschlichen Natur
| |
| versteht. Wer zu diesem Verständnisse nicht gelangt,
| |
| dem bleiben die Dinge der Außenwelt fremdartig. Er hört
| |
| aus seinem Innern das Wesen der Dinge nicht zu sich sprechen.
| |
| Deshalb vermutet er, daß dieses Wesen hinter den
| |
| Dingen verborgen sei. Er glaubt an eine Außenwelt noch
| |
| hinter der Wahrnehmungswelt. Aber die Dinge sind nur
| |
| so lange äußere Dinge, so lange man sie bloß beobachtet.
| |
| Wenn man über sie nachdenkt, hören sie auf, außer uns zu
| |
| sein. Man verschmilzt mit ihrem inneren Wesen. Für den
| |
| Menschen besteht nur so lange der Gegensatz von objektiver
| |
| äußerer Wahrnehmung und subjektiver innerer Gedankenwelt,
| |
| als er die Zusammengehörigkeit dieser Welten
| |
| nicht erkennt. Die menschliche Innenwelt ist das Innere
| |
| der Natur.
| |
| Diese Gedanken werden nicht widerlegt durch die Tatsache,
| |
| daß verschiedene Menschen sich verschiedene Vorstellungen
| |
| von den Dingen machen. Auch nicht dadurch,
| |
| daß die Organisationen der Menschen verschieden sind, so
| |
| daß man nicht weiß, ob eine und dieselbe Farbe von verschiedenen
| |
| Menschen in der ganz gleichen Weise gesehen
| |
| wird. Denn nicht darauf kommt es an, ob sich die Menschen
| |
| über eine und dieselbe Sache genau das gleiche Urteil bilden,
| |
| sondern darauf, ob die Sprache, die das Innere des
| |
| Menschen spricht, eben die Sprache ist, die das Wesen der
| |
| Dinge ausdrückt. Die einzelnen Urteile sind nach der Organisation
| |
| des Menschen und nach dem Standpunkte, von
| |
| dem aus er die Dinge betrachtet, verschieden; aber alle Urteile
| |
| entspringen dem gleichen Elemente und führen in das
| |
| Wesen der Dinge. Dieses kann in verschiedenen Gedankennuancen
| |
| zum Ausdruck kommen; aber es bleibt deshalb
| |
| doch das Wesen der Dinge.
| |
| Der Mensch ist das Organ, durch das die Natur ihre Geheimnisse
| |
| enthüllt. In der subjektiven Persönlichkeit erscheint
| |
| der tiefste Gehalt der Welt. «Wenn die gesunde Natur
| |
| des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der
| |
| Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten
| |
| Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines,
| |
| freies Entzücken gewahrt, dann würde das Weltall,
| |
| wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt,
| |
| aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens
| |
| und Wesens bewundern» (Goethe, «Winckelmann», Kürschners
| |
| National-Literatur, Bd. 27, S. 42). Nicht in dem, was
| |
| die Außenwelt liefert, liegt das Ziel des Weltalls und des
| |
| Wesens des Daseins, sondern in dem, was im menschlichen
| |
| Geiste lebt und aus ihm hervorgeht. Goethe betrachtet es
| |
| daher als einen Irrtum, wenn der Naturforscher durch Instrumente
| |
| und objektive Versuche in das Innere der Natur
| |
| dringen will, denn «der Mensch an sich selbst, insofern er
| |
| sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste
| |
| physikalische Apparat, den es geben kann, und das
| |
| ist eben das größte Unheil der neueren Physik, daß man die
| |
| Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat,
| |
| und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die
| |
| Natur erkennen, ja was sie leisten kann, dadurch beschränken
| |
| und beweisen will». «Dafür steht ja aber der Mensch
| |
| so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt.
| |
| Was ist denn eine Saite und alle mechanische Teilung derselben
| |
| gegen das Ohr des Musikers? Ja, man kann sagen,
| |
| was sind die elementarischen Erscheinungen der Natur
| |
| selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und
| |
| modifizieren muß, um sie sich einigermaßen assimilieren zu
| |
| können?» (Vgl. Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 351)
| |
| Der Mensch muß die Dinge aus seinem Geiste sprechen
| |
| lassen, wenn er ihr Wesen erkennen will. Alles, was er über
| |
| dieses Wesen zu sagen hat, ist den geistigen Erlebnissen seines
| |
| Innern entlehnt. Nur von sich aus kann der Mensch die
| |
| Welt beurteilen. Er muß anthropomorphisch denken. In die
| |
| einfachste Erscheinung, z. B. in den Stoß zweier Körper
| |
| bringt man einen Anthropomorphismus hinein, wenn man
| |
| sich darüber ausspricht. Das Urteil: «Der eine Körper
| |
| stößt den andern», ist bereits anthropomorphisch. Denn
| |
| man muß, wenn man über die bloße Beobachtung des Vorganges
| |
| hinauskommen will, das Erlebnis auf ihn übertragen,
| |
| das unser eigener Körper hat, wenn er einen Körper
| |
| der Außenwelt in Bewegung versetzt. Alle physikalischen
| |
| Erklärungen sind versteckte Anthropomorphismen. Man
| |
| vermenschlicht die Natur, wenn man sie erklärt, man legt
| |
| die inneren Erlebnisse des Menschen in sie hinein. Aber
| |
| diese subjektiven Erlebnisse sind das innere Wesen der
| |
| Dinge. Und man kann daher nicht sagen, daß der Mensch
| |
| die objektive Wahrheit, das «An sich» der Dinge nicht erkenne,
| |
| weil er sich nur subjektive Vorstellungen über sie
| |
| machen kann.106 Von einer andern als einer subjektiven
| |
| 106 Goethes Anschauungen stehen in dem denkbar schärfsten Gegensatz
| |
| zur Kantschen Philosophie. Diese geht von der Auffassung aus, daß
| |
| die Vorstellungswelt von den Gesetzen des menschlichen Geistes beherrscht
| |
| werde und deshalb alles, was ihr von außen entgegengebracht
| |
| wird, in ihr nur als subjektiver Abglanz vorhanden sein könne.
| |
| Der Mensch nehme nicht das «An sich» der Dinge wahr, sondern die
| |
| Erscheinung, die dadurch entsteht, daß die Dinge ihn affizieren und
| |
| er diese Affektionen nach den Gesetzen seines Verstandes und seiner
| |
| Vernunft verbindet. Daß durch diese Vernunft das Wesen der Dinge
| |
| spricht, davon haben Kant und die Kantianer keine Ahnung. Deshalb
| |
| konnte die Kantsche Philosophie für Goethe nie etwas bedeuten.
| |
| Wenn er sich einzelne ihrer Sätze aneignete, so gab er ihnen einen
| |
| völlig anderen Sinn, als sie innerhalb der Lehre ihres Urhebers
| |
| haben. Es ist durch eine Notiz, die erst nach Eröffnung des Weimarischen
| |
| Goethe-Archivs bekannt geworden ist, klar, daß Goethe den
| |
| Gegensatz seiner Weltauffassung und der Kantschen sehr wohl
| |
| durchschaute. Für ihn liegt der Grundfehler Kants darin, daß dieser
| |
| «das subjektive Erkenntnisvermögen nun selbst als Objekt betrachtet
| |
| und den Punkt, wo subjektiv und objektiv zusammentreffen,
| |
| zwar scharf aber nicht ganz richtig sondert». Subjektiv und objektiv
| |
| treten zusammen, wenn der Mensch das, was die Außenwelt ausspricht,
| |
| und das, was sein Inneres vernehmen läßt, zum einigen Wesen
| |
| der Dinge verbindet. Dann hört aber der Gegensatz von subjektiv
| |
| und objektiv ganz auf; er verschwindet in der geeinten Wirklichkeit.
| |
| Ich habe darauf schon hingedeutet in dieser Schrift S. 218 ff.
| |
| Gegen meine damaligen Ausführungen polemisiert nun K. Vorländer
| |
| im 1. Heft der «Kantstudien». Er findet, daß meine Anschauung
| |
| über den Gegensatz von Goethescher und Kantscher Weltauffassung
| |
| «mindestens stark einseitig und mit klaren Selbstzeugnissen
| |
| Goethes in Widerspruch» sei und sich «aus dem völligen Mißverständnis
| |
| der transzendentalen Methode» Kants von meiner Seite
| |
| erkläre. Vorländer hat keine Ahnung von der Weltanschauung, in
| |
| der Goethe lebte. Mit ihm zu polemisieren würde mir gar nichts
| |
| nützen, denn wir sprechen verschiedene Sprachen. Wie klar sein
| |
| Denken ist, zeigt sich darin, daß er bei meinen Sätzen nie weiß, was
| |
| gemeint ist. Ich mache z. B. eine Bemerkung zu dem Goetheschen
| |
| Satze: «Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr
| |
| wird, betrachtet er sie in bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn
| |
| es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder
| |
| mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nützen oder
| |
| schaden. Diese ganz natürliche Art, die Sachen anzusehen und zu bemenschlichen
| |
| Wahrheit kann gar nicht die Rede sein. Denn
| |
| Wahrheit ist Hineinlegen subjektiver Erlebnisse in den objektiven
| |
| Erscheinungszusammenhang. Diese subjektiven
| |
| Erlebnisse können sogar einen ganz individuellen Charakter
| |
| annehmen. Sie sind dennoch der Ausdruck des inneren
| |
| Wesens der Dinge. Man kann in die Dinge nur hineinlegen,
| |
| was man selbst in sich erlebt hat. Demnach wird auch jeder
| |
| urteilen, scheint so leicht zu sein, als sie notwendig i s t . . . Ein weit
| |
| schwereres Tagewerk übernehmen diejenigen, deren lebhafter Trieb
| |
| nach Kenntnis die Gegenstände der Natur an sich selbst und in
| |
| ihren Verhältnissen untereinander zu beobachten strebt, sie suchen
| |
| und untersuchen, was ist, und nicht was behagt.» Meine Bemerkung
| |
| lautet: «Hier zeigt sich, wie Goethes Weltanschauung gerade der
| |
| entgegengesetzte Pol der Kantschen ist. Für Kant gibt es überhaupt
| |
| keine Ansicht über die Dinge, wie sie an sich sind, sondern nur wie
| |
| sie in bezug auf uns erscheinen. Diese Ansicht laßt Goethe nur als
| |
| ganz untergeordnete Art gelten, sich zu den Dingen in ein Verhältnis
| |
| zu setzen.» Dazu sagt Vorländer: «Diese (Worte Goethes) wollen
| |
| weiter nichts als einleitend den trivialen Unterschied zwischen dem
| |
| Angenehmen und dem Wahren auseinandersetzen. Der Forscher soll
| |
| suchen, <was ist und nicht was behagt>. Wer, wie Steiner, die letztere
| |
| allerdings sehr untergeordnete Art, sich zu den Dingen in ein Verhältnis
| |
| zu setzen, als diejenige Kants zu bezeichnen wagt, dem ist zu
| |
| raten, daß er sich erst die Grundbegriffe der Kantschen Lehre, z. B.
| |
| den Unterschied von subjektiver und objektiver Empfindung, etwa
| |
| aus § 3 der Kr. d. U. klarmache.» Nun habe ich durchaus nicht, wie
| |
| aus meinem Satze klar hervorgeht, gesagt, daß jene Art, sich zu den
| |
| Dingen in ein Verhältnis zu setzen, die Kants ist, sondern daß Goethe
| |
| die Kantsche Auffassung vom Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt
| |
| nicht entsprechend dem Verhältnis findet, in dem der Mensch
| |
| zu den Dingen steht, wenn er erkennen will, wie sie an sich sind.
| |
| Goethe ist der Ansicht, daß die Kantsche Definition nicht dem
| |
| menschlichen Erkennen, sondern nur dem Verhältnisse entspricht,
| |
| in das sich der Mensch zu den Dingen setzt, wenn er sie in bezug auf
| |
| sein Gefallen und Mißfallen betrachtet. Wer einen Satz in einer solchen
| |
| Weise mißverstehen kann wie Vorländer1 der mag es sich ersparen,
| |
| andern Leuten Ratschläge zu geben über ihre philosophische
| |
| Ausbildung, und lieber erst sich die Fähigkeit aneignen, einen Satz
| |
| richtig lesen zu lernen. Goethesche Zitate aufsuchen und sie historisch
| |
| zusammenstellen kann jeder; sie im Sinne der Goetheschen
| |
| Weltanschauung deuten, kann jedenfalls Vorländer nicht.
| |
| Mensch, gemäß seinen individuellen Erlebnissen etwas in
| |
| gewissem Sinne anderes in die Dinge hineinlegen. Wie ich
| |
| mir gewisse Vorgänge der Natur deute, ist für einen andern,
| |
| der nicht das gleiche innerlich erlebt hat, nicht ganz
| |
| zu verstehen. Es handelt sich aber gar nicht darum, daß alle
| |
| Menschen das gleiche über die Dinge denken, sondern nur
| |
| darum, daß sie, wenn sie über die Dinge denken, im Elemente
| |
| der Wahrheit leben. Man kann deshalb die Gedanken
| |
| eines andern nicht als solche betrachten und sie annehmen
| |
| oder ablehnen, sondern man soll sie als die Verkünder
| |
| seiner Individualität ansehen. «Diejenigen, welche
| |
| widersprechen und streiten, sollten mitunter bedenken, daß
| |
| nicht jede Sprache jedem verständlich sei» (Natw. Schr.,
| |
| 4. Bd., 2. Abt., S. 355). Eine Philosophie kann niemals eine
| |
| allgemeingültige Wahrheit überliefern, sondern sie schildert
| |
| die inneren Erlebnisse des Philosophen, durch die er
| |
| die äußeren Erscheinungen deutet.
| |
| Wenn ein Ding durch das Organ des menschlichen Geistes
| |
| seine Wesenheit ausspricht, so kommt die volle Wirklichkeit
| |
| nur durch den Zusammenfluß des äußeren Objektiven
| |
| und des inneren Subjektiven zustande. Weder durch einseitiges
| |
| Beobachten, noch durch einseitiges Denken erkennt
| |
| der Mensch die Wirklichkeit. Diese ist nicht als etwas Fertiges
| |
| in der objektiven Welt vorhanden, sondern wird erst
| |
| durch den menschlichen Geist in Verbindung mit den Dingen
| |
| hervorgebracht. Die objektiven Dinge sind nur ein Teil
| |
| der Wirklichkeit. Wer ausschließlich die sinnliche Erfahrung
| |
| anpreist, dem muß man mit Goethe erwidern, «daß
| |
| die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist» (Natw.
| |
| Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 503). «Alles Faktische ist schon
| |
| Theorie», d. h. es offenbart sich im menschlichen Geiste ein
| |
| Ideelles, wenn er ein Faktisches betrachtet. Diese Weltauffassung,
| |
| die in den Ideen die Wesenheit der Dinge erkennt
| |
| und die Erkenntnis auffaßt als ein Einleben in das Wesen
| |
| der Dinge, ist nicht Mystik. Sie hat aber mit der Mystik das
| |
| gemein, daß sie die objektive Wahrheit nicht als etwas in
| |
| der Außenwelt Vorhandenes betrachtet, sondern als etwas,
| |
| das sich im Innern des Menschen wirklich ergreifen läßt.
| |
| Die entgegengesetzte Weltanschauung versetzt die Gründe
| |
| der Dinge hinter die Erscheinungen, in ein der menschlichen
| |
| Erfahrung jenseitiges Gebiet. Sie kann nun entweder sich
| |
| einem blinden Glauben an diese Gründe hingeben, der von
| |
| einer positiven Offenbarungsreligion seinen Inhalt erhält,
| |
| oder Verstandeshypothesen und Theorien darüber aufstellen,
| |
| wie dieses jenseitige Gebiet der Wirklichkeit beschaffen
| |
| ist. Der Mystiker sowohl wie der Bekenner der Goetheschen
| |
| Weltanschauung lehnen sowohl den Glauben an ein
| |
| Jenseitiges, wie auch die Hypothesen über ein solches ab,
| |
| und halten sich an das wirkliche Geistige, das sich in dem
| |
| Menschen selbst ausspricht. Goethe schreibt an [F. H.]
| |
| Jacobi: «Gott hat dich mit der Metaphysik gestraft und dir
| |
| einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich dagegen mit der Physik
| |
| gesegnet... Ich halte mich fest und fester an die Gottesverehrung
| |
| des Atheisten (Spinoza) . . . und überlasse
| |
| euch alles, was ihr Religion heißt und heißen müßt...
| |
| Wenn du sagst, man könne an Gott nur glauben . . . , so sage
| |
| ich dir, ich halte viel aufs Schauen.» [WA 7, 214] Was
| |
| Goethe schauen will, ist die in seiner Ideenwelt sich ausdrückende
| |
| Wesenheit der Dinge. Auch der Mystiker will
| |
| durch Versenkung in das eigene Innere die Wesenheit der
| |
| Dinge erkennen; aber er lehnt gerade die in sich klare und
| |
| durchsichtige Ideenwelt ab als untauglich zur Erlangung
| |
| einer höheren Erkenntnis. Er glaubt nicht, sein Ideenvermögen,
| |
| sondern andere Kräfte seines Innern entwickeln
| |
| zu müssen, um die Urgründe der Dinge zu schauen. Gewöhnlich
| |
| sind es unklare Empfindungen und Gefühle, in
| |
| denen der Mystiker das Wesen der Dinge zu ergreifen
| |
| glaubt. Aber Gefühle und Empfindungen gehören nur
| |
| zum subjektiven Wesen des Menschen. In ihnen spricht
| |
| sich nichts über die Dinge aus. Allein in den Ideen sprechen
| |
| die Dinge selbst. Die Mystik ist eine oberflächliche Weltanschauung,
| |
| trotzdem die Mystiker den Vernunftmenschen
| |
| gegenüber sich viel auf ihre «Tiefe» zugute tun. Sie wissen
| |
| nichts über die Natur der Gefühle, sonst würden sie sie
| |
| nicht für Aussprüche des Wesens der Welt halten; und sie
| |
| wissen nichts von der Natur der Ideen, sonst würden sie
| |
| diese nicht für flach und rationalistisch halten. Sie ahnen
| |
| nicht, was Menschen, die wirklich Ideen haben, in diesen
| |
| erleben. Aber für viele sind Ideen eben bloße Worte. Sie
| |
| können die unendliche Fülle ihres Inhaltes sich nicht aneignen.
| |
| Kein Wunder, daß sie ihre eigenen ideenlosen Worthülsen
| |
| als leer empfinden.*
| |
| * * *
| |
| Wer den wesentlichen Inhalt der objektiven Welt in dem
| |
| eigenen Innern sucht, der kann auch das Wesentliche der
| |
| sittlichen Weltordnung nur in die menschliche Natur selbst
| |
| verlegen. Wer eine jenseitige Wirklichkeit hinter der
| |
| menschlichen vorhanden glaubt, der muß in ihr auch den
| |
| Quell des Sittlichen suchen. Denn das Sittliche im höheren
| |
| Sinne kann nur aus dem Wesen der Dinge kommen. Der
| |
| Jenseitsgläubige nimmt deshalb sittliche Gebote an, denen
| |
| sich der Mensch zu unterwerfen hat. Diese Gebote gelangen
| |
| zu ihm entweder auf dem Wege einer Offenbarung,
| |
| oder sie treten als solche in sein Bewußtsein ein, wie es beim
| |
| kategorischen Imperativ Kants der Fall ist. Wie dieser aus
| |
| dem jenseitigen «An sich» der Dinge in unser Bewußtsein
| |
| kommt, darüber wird nichts gesagt. Er ist einfach da, und
| |
| man hat sich ihm zu unterwerfen. Der Erfahrungsphilosoph,
| |
| der von der reinen Sinnesbeobachtung alles Heil erwartet,
| |
| sieht in dem Sittlichen nur das Wirken der menschlichen
| |
| Triebe und Instinkte. Aus dem Studium dieser sollen
| |
| die Normen folgen, die für das sittliche Handeln maßgebend
| |
| sind.
| |
| Goethe läßt das Sittliche aus der Ideenwelt des Menschen
| |
| entstehen. Nicht objektive Normen und auch nicht
| |
| die bloße Triebwelt lenken das sittliche Handeln, sondern
| |
| die in sich klaren Ideen, durch die sich der Mensch selbst
| |
| die Richtung gibt. Ihnen folgt er nicht aus Pflicht, wie er
| |
| objektiv-sittlichen Normen folgen müßte. Und auch nicht
| |
| aus Zwang, wie man seinen Trieben und Instinkten folgt.
| |
| Sondern er dient ihnen aus Liebe. Er liebt sie, wie man ein
| |
| Kind liebt. Er will ihre Verwirklichung und setzt sich für
| |
| sie ein, weil sie ein Teil seines eigenen Wesens sind. Die Idee
| |
| ist die Richtschnur und die Liebe ist die treibende Kraft in
| |
| der Goetheschen Ethik. Ihm ist Pflicht, «wo man liebt, was
| |
| man sich selbst befiehlt» (Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt.
| |
| S. 460).
| |
| Ein Handeln im Sinne der Goetheschen Ethik ist ein
| |
| freies Handeln. Denn der Mensch ist von nichts abhängig
| |
| als von seinen eigenen Ideen. Und er ist niemandem verantwortlich
| |
| als sich selbst. Ich habe bereits in meiner «Philosophie
| |
| der Freiheit»107 den billigen Einwand entkräftet, daß
| |
| die Folge einer sittlichen Weltordnung, in der jeder nur
| |
| sich selbst gehorcht, die allgemeine Unordnung und Disharmonie
| |
| des menschlichen Handelns sein müsse. Wer diesen
| |
| Einwand macht, der übersieht, daß die Menschen gleichartige
| |
| Wesen sind und daß sie deshalb niemals sittliche
| |
| Ideen produzieren werden, die durch ihre wesentliche Verschiedenheit
| |
| einen unharmonischen Zusammenklang bewirken
| |
| werden.108
| |
| 107 (Berlin 1894 [Gesamtausgabe Dornach 1973]).
| |
| l08 Wie wenig Verständnis für die ethischen Anschauungen sowohl, wie
| |
| für eine Ethik der Freiheit und des Individualismus im allgemeinen,
| |
| bei den Fachphilosophen der Gegenwart vorhanden ist, zeigt folgender
| |
| Umstand. Ich habe im Jahre 1892 in einem Aufsatz der
| |
| «Zukunft» (Nr. 5) mich für eine streng individualistische Auffassung
| |
| der Moral ausgesprochen [jetzt in «Gesammelte Aufsätze zur Kulturund
| |
| Zeitgeschichte 1887-1901»; Gesamtausgabe Dornach 1966, S.
| |
| 169 ff.]. Auf diesen Aufsatz hat Ferdinand Tönnies in Kiel in einer
| |
| Broschüre: «<Ethische Kultur> und ihr Geleite. Nietzsche-Narren in
| |
| der <Zukunft> und in der <Gegenwart>...» (Berlin 1893) geantwortet.
| |
| Er hat nichts vorgebracht als die Hauptsätze der in philosophische
| |
| Formeln gebrachten Philistermoral. Von mir aber sagt er, daß ich
| |
| «auf dem Wege zum Hades keinen schlimmeren Hermes» hätte
| |
| finden können als Friedrich Nietzsche. Wahrhaft komisch wirkt es
| |
| auf mich, daß Tönnies, um mich zu verurteilen, einige von Goethes
| |
| «Sprüchen in Prosa» vorbringt. Er ahnt nicht, daß, wenn es für
| |
| mich einen Hermes gegeben hat, es nicht Nietzsche, sondern Goethe
| |
| gewesen war. Ich habe die Beziehungen der Ethik der Freiheit zur
| |
| Ethik Goethes bereits S. 195 ff. dieser Schrift dargelegt. Ich hätte die
| |
| wertlose Broschüre nicht erwähnt, wenn sie nicht symptomatisch
| |
| wäre für das in fachphilosophischen Kreisen herrschende Mißverständnis
| |
| der Weltanschauung Goethes.
| |
| Wenn der Mensch nicht die Fähigkeit hätte, Schöpfungen
| |
| hervorzubringen, die ganz in dem Sinne gestaltet sind, wie
| |
| die Werke der Natur, und nur diesen Sinn in vollkommenerer
| |
| Weise zur Anschauung bringen, als die Natur es vermag,
| |
| so gäbe es keine Kunst im Sinne Goethes. Was der
| |
| Künstler schafft, sind Naturobjekte auf einer höheren
| |
| Stufe der Vollkommenheit. Kunst ist Fortsetzung der Natur,
| |
| «denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur
| |
| gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an,
| |
| die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu
| |
| steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten
| |
| und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie
| |
| und Bedeutung aufruft und sich endlich bis zur Produktion
| |
| des Kunstwerkes erhebt» (Goethe, «Winckelmann»; Nat.-
| |
| Lit. Bd. 27, S. 47). Nach dem Anblicke der griechischen
| |
| Kunstwerke in Italien schreibt Goethe: «Diese hohen
| |
| Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von
| |
| Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht
| |
| worden.»109 Der bloßen sinnenfälligen Erfahrungswirklichkeit
| |
| gegenüber sind die Kunstwerke ein schöner
| |
| Schein; für den, der tiefer zu schauen vermag, sind sie
| |
| «eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die ohne sie
| |
| niemals offenbar wurden» ([freie Wiedergabe] vgl. Natw.
| |
| Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 494).
| |
| Nicht der Stoff, den der Künstler aus der Natur aufnimmt,
| |
| macht das Kunstwerk; sondern allein das, was der
| |
| Künstler aus seinem Innern in das Werk hineinlegt. Das
| |
| höchste Kunstwerk ist dasjenige, welches vergessen macht,
| |
| daß ihm ein natürlicher Stoff zugrunde liegt, und das lediglich
| |
| durch dasjenige unser Interesse erweckt, was der
| |
| 109 Italienische Reise, 6. Sept. 1787.
| |
| Künstler aus diesem Stoffe gemacht hat. Der Künstler gestaltet
| |
| natürlich; aber er gestaltet nicht wie die Natur selbst.
| |
| In diesen Sätzen scheinen mir die Hauptgedanken ausgesprochen
| |
| zu sein, die Goethe in seinen Aphorismen über
| |
| Kunst niedergelegt hat.
| |
| Daten zur Herausgabe von Goethes «Naturwissenschaftlichen Schriften» durch Rudolf Steiner und Daten zur Herausgabe der Lexikonbände,
| |
| an denen Rudolf Steiner naturwissenschaftlicher Mitarbeiter war. (Außer dem «Pierer» ist jeweils nur die Erstausgabe verzeichnet.)
| |
| Kürschners «Deutsche
| |
| Natiortal-Literatur>>:
| |
| Goethes Werke
| |
| 1884 I. (33.) Band
| |
| 1887 II. (34.) Band
| |
| 1890 III. (35.) Band
| |
| 1897 IV. (36.) Band, 1. Abt.
| |
| IV. (36.) Band, 2. Abt.
| |
| Weimarer oder
| |
| Sophien-Ausgabe
| |
| II. Abteilung
| |
| 1891 VI. Band
| |
| 1892 VII., IX. Band
| |
| 1893 (VIII.), XI. Band
| |
| 1894 X.Band
| |
| 1896 XII. Band
| |
| Ergänzend zu Goethes
| |
| «Naturwissenschaftlichen Schriften»
| |
| 1886 Grundlinien einer Erkenntnistheorie
| |
| der Goetheschen Weltanschauung, mit
| |
| besonderer Rücksicht auf Schiller.
| |
| Zugleich eine Zugabe zu Goethes
| |
| «Naturwissenschaftlichen Schriften»
| |
| in Kürschners «Deutscher National-
| |
| Literatur»
| |
| 1897 Goethes Weltanschauung
| |
| Lexikalische Werke
| |
| 1884 Kürschners Taschen-
| |
| Konversations-Lexikon
| |
| 1888 Kürschners Quart-Lexikon
| |
| Pierers Konversations-Lexikon
| |
| 7. Auflage, I.Band
| |
| 1889 - 2., 3,, 4. Band
| |
| 1890 - 5., 6. Band
| |
| Copyright Rudolf Steiner Nach lass-Verwaltung Buch: 1 Seite: 345
| |
| P E R S O N E N R E G I S T ER
| |
| Alton, Eduard d' (1803-1854)
| |
| 100 f.
| |
| Aristoteles (384-322 v. Chr.)
| |
| 284, 327
| |
| Avenarius, Richard (1843-1896)
| |
| 153
| |
| Batsch, August Karl (1761-1802)
| |
| 39
| |
| Bayle, Pierre (1647-1906) 215
| |
| Blumenbach, Johann Friedrich
| |
| (1752-1840) 50 f., 55, 63 f.
| |
| Böttiger, Karl August (1760 bis
| |
| 1835)110
| |
| Bruno, Giordano (1548-1600)
| |
| 215 f.
| |
| Büchner, Ludwig (1824-1899)
| |
| 314
| |
| Camper, Pieter (1722-1789) 51,
| |
| 58 ff.
| |
| de Candolle, Augustin Pyrame
| |
| (1778-1841)104,115
| |
| Cohn, Ferdinand (1828-1898) 27
| |
| Cuvier, George Baron v. (1769
| |
| bis 1832) 113 f.
| |
| Darwin, Charles (1809-1882)
| |
| 29 f., 34, 100
| |
| Descartes, Rene (1596-1650) 284,
| |
| 305 f., 317
| |
| Dietrich, Friedrich Gottlieb (1765
| |
| bis 1850) 27
| |
| Du Bois-Reymond, Emil (1818
| |
| bis 1896) 306 f., 309 f., 322
| |
| Eckermann, Johann Peter (1792
| |
| bis 1854) 115
| |
| Einsiedel, August Hildebrand v.
| |
| (1721-1793) 44
| |
| Elie de Beaumont, Leonce (1798
| |
| bis 1874) 247
| |
| Faraday, Michael (1791-1867)
| |
| 319
| |
| Fichte, Johann Gottlieb (1762 bis
| |
| 1814)121, 154,167, 181, 224 f.,
| |
| 284
| |
| Forster, Georg (1754-1794) 51
| |
| Freytag, Gustav (1816-1895)
| |
| 208 f.
| |
| Galilei, Galileo (1564-1642) 119
| |
| Geoffroy Saint-Hilaire, Etienne
| |
| (1772-1844) 113 ff.
| |
| Gingins-Lassaraz, Frederic Charles
| |
| Baron de (1790-1863) 115
| |
| Gleichen, Wilhelm Friedrich v.
| |
| (1717-1783) 25
| |
| Haeckel, Ernst (1834-1919) 34,
| |
| 104,116
| |
| Harpf, Adolf (1857-1927) 228
| |
| Hartmann, Eduard v. (1842 bis
| |
| 1906) 127 f., 229 ff., 258 f.
| |
| Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
| |
| (1770-1831) 109, 121, 129,
| |
| 226 ff., 284, 287
| |
| Helmholtz, Hermann v. (1821 bis
| |
| 1894) 313 f.
| |
| Heraklit (etwa 540-480 v. Chr.)
| |
| 270 f.
| |
| Herbart, Johann Friedrich (1776
| |
| bis 1841) 178,183
| |
| Herder, Johann Gottfried v.
| |
| (1744-1803) 26, 32 f., 35 f.,
| |
| 46 ff., 52 f., 55, 59, 62, 66 f.
| |
| Hertz, Heinrich (1857-1894) 299
| |
| Hill, John (1716-1775) 36 f.
| |
| Holbach, Dietrich Baron v. (1723
| |
| bis 1789) 19
| |
| Humboldt, Gebrüder 68
| |
| Hutton, James (1726-1797) 247
| |
| Huyghens, Christian (1629-1695)
| |
| 313
| |
| Jacobi, Friedrich Heinrich (1743
| |
| bis 1819) 25,68,76f.,80,117,217
| |
| Jacobi, Karl Maximilian (1775
| |
| bis 1858) 68
| |
| Josephi, Johann Wilhelm (1763
| |
| bis 1845) 62 f.
| |
| Kalb, Charlotte v., geb. Marschalk
| |
| von Ostheim (1761 bis
| |
| 1843)67
| |
| Kant, Immanuel (1724-1804)
| |
| 80 f., 109,138,142 ff., 146,151,
| |
| 157,219 ff., 284, 316
| |
| Keil, Robert (1826-1894) 22, 44
| |
| Kepler, Johannes (1571-1630)
| |
| 105, 107
| |
| Kirchhoff, Gustav Robert (1824
| |
| bis 1887) 312, 315
| |
| Kletteniberg, Susanna Katharina
| |
| v. (1723-1774) 18
| |
| Knebel, Karl Ludwig v. (1744 bis
| |
| 1834) 9, 25 ff., 32, 39,49, 54 f.,
| |
| 59,62
| |
| Kopernikus, Nikolaus (1473 bis
| |
| 1543)107
| |
| Kreyenbühl, J. 204
| |
| Krug, Wilhelm Traugott (1770
| |
| bis 1842) 154
| |
| Lampa, Anton 314 f., 318 f.
| |
| Langenbeck, Konrad Johann
| |
| Martin (1776-1851) 64
| |
| Lavater, Johann Kaspar (1741
| |
| bis 1801) 40, 42 ff., 49, 77 f.
| |
| Leibniz, Gottfried Wilhelm, Freiherr
| |
| v. (1646-1716) 178,181
| |
| Linne, Karl v. (1707-1778) 23 f.,
| |
| 27 f.
| |
| Locke, John (1632-1704) 157
| |
| Loder, Justus Christian v. (1753
| |
| bis 1832) 44, 52, 59, 61 f., 110
| |
| Martius, Karl Friedrich Philipp von
| |
| (1794-1868)112
| |
| Merck^ Johann Heinrich (1741 bis
| |
| 1791) 26, 44 f., 50 f., 58 ff., 63 f.
| |
| Mill, John Stuart (1806-1873)
| |
| 144 f., 266
| |
| Moleschott,Jakob (1822-1893)
| |
| 314
| |
| Moritz, Karl Philipp (1757-1793)
| |
| 38
| |
| Müller, Johannes (1801-1858)
| |
| 316
| |
| Nees von Esenbeck, Christian
| |
| Gottfried (1776-1858) 101
| |
| Newton, Sir Isaak (1643-1727)
| |
| 257, 279, 288, 300 f.
| |
| Oken, Lorenz (1779-1851) 47 f.
| |
| Ostwald, Wilhelm (1853-1932)
| |
| 302 ff.,309 ff.,314 f., 325
| |
| Paracelsus, Theophrastus (1493
| |
| od.1494-1541) 18
| |
| Plato (427-347 v. Chr.) 284, 327
| |
| Reif fenstein, Johann Friedrich
| |
| (1719-1793) 35
| |
| Rousseau, Jean-Jacques (1712 bis
| |
| 1778) 24 f.
| |
| Sachsen-Weimar-Eisenach, Karl
| |
| August, Herzog v. (1757-1828)
| |
| 22, 24, 39, 44, 68, 242 f.
| |
| Sachsen-Weimar-Eisenach, Luise
| |
| Auguste, Herzogin v. (1757 bis
| |
| 1830) 243 f.
| |
| Schelling, Friedrich Wilhelm v.
| |
| (1755-1854) 109,121,151,
| |
| 157, 225 f., 284
| |
| Schiller, Friedrich v. (1759-1805)
| |
| 68,108,138,186, 223 f.
| |
| Schieiden, Matthias Jakob (1804
| |
| bis 1881) 106
| |
| Schopenhauer, Arthur (1788 bis
| |
| 1860)151,153,157,178,228,
| |
| 230 f.
| |
| Schröer, Karl Julius (1825-1900)
| |
| 108,213
| |
| Schrön, Ludwig Heinrich Friedrich
| |
| (1799-1875) 250
| |
| Shakespeare (1564-1616) 77,138
| |
| Sömmerring, Samuel Thomas
| |
| (1755-1830) 50, 57 ff., 63 f.,
| |
| 108 f.
| |
| Spinoza, Benedictus (1632-1677)
| |
| 76 ff., 80,121, 215 ff., 284
| |
| Stein, Charlotte v., geb. v.
| |
| Schardt (1742-1827) 22 f.,
| |
| 25 ff., 51 f., 55, 77, 244
| |
| Stein, Friedrich v. (1772-1844) 68
| |
| Tönnies, Ferdinand (1855-1936)
| |
| 342
| |
| Vic d'Azyr, Felix (1748-1794)
| |
| 63
| |
| Vischer, Friedrich Theodor (1807
| |
| bis 1887) 264 f.
| |
| Vogt, Karl (1817-1895) 314
| |
| Voigt, Friedrich Sigismund (1781
| |
| bis 1850) 101
| |
| Volkelt, Johannes (1848-1930)
| |
| 146, 157
| |
| Vorländer, Karl (1860-1928)
| |
| 336 f.
| |
| Wackenroder, Wilhelm Heinrich
| |
| (1773-1798) 107
| |
| Waitz, Johann Christian Wilhelm
| |
| (1766-1796) 58
| |
| Weber, M. J. 64
| |
| Werner, Abraham Gottlob (1749
| |
| bis 1817) 246
| |
| Wolf, Friedrich August (1759 bis
| |
| 1824)111
| |
| Woiff, Caspar Friedrich (1733 bis
| |
| 1794)111,183
| |
| Wundt, Wilhelm (1832-1920)
| |
| 307, 316 f., 324 ff.
| |
| Zimmermann, Johann Georg
| |
| (1728-1795) 59
| |