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Aktuelle Version vom 29. Oktober 2023, 14:01 Uhr

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

ÖFFENTLICHE VORTRÄGE

Pfade der Seelenerlebnisse

Acht öffentliche Vorträge
gehalten zwischen dem 14. Oktober 1909
und 10 März 1910
im Architektenhaus zu Berlin


GA 58

1957

Inhaltsverzeichnis


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DIE MISSION DER GEISTESWISSENSCHAFT EINST UND JETZT

Wie schon durch mehrere Jahre hindurch, wird auch in diesem Jahre von mir eine Reihe von Vorträgen gehalten werden aus dem Gebiete der Geisteswissenschaft. Für die­jenigen der verehrten Zuhörer, welche in den verflossenen Jahren an diesen Vorträgen teilgenommen haben, ist ja kein Zweifel darüber, in welchem Sinne hier das Wort «Geisteswissenschaft» genommen wird. Es wird sich - das sei für diejenigen der verehrten Zuhörer gesagt, die in den verflossenen Jahren nicht da waren - nicht darum handeln, irgend eine abstrakte Wissenschaft hier zu entfalten, ähnlich dem, was wir in den gebräuchlichen Seelenlehren oder Psychologien haben; es wird sich auch nicht um etwas handeln, was sich auf den Standpunkt stellt, der heute das Wort Geisteswissenschaft nur gebraucht für die Darstellung der verschiedenen kulturgeschichtlichen Gebiete, son­dern um eine Wissenschaft, für die der Geist etwas Wirkliches, etwas Reales ist. Um eine solche Wissenschaft wird es sich handeln, die von dem Gesichtspunkt auszugehen hat, daß dem Menschen nicht nur das Gebiet der sinnlichen Wirklichkeit zugänglich ist und alles, was der Verstand des Menschen und seine sonstigen Erkenntniskräfte, insofern sie gebunden sind an die sinnliche Wahrnehmung, erfahren können, was also Sinneserkenntnis und Verstan­deserkenntnis ist; sondern es wird sich um etwas handeln, was sich auf einen Gesichtspunkt stellt, bei dem nicht nur solche Erkenntnis vorhanden ist, sondern bei dem es die

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Möglichkeit gibt für den Menschen, hinter das Gebiet der sinnlichen Erscheinungen zu kommen, Beobachtungen an­zustellen, die dem Verstand und dem Gebiete, an das der Verstand gebunden ist, nicht zugänglich sind.

Heute in einer einleitenden Darstellung soll es sich dar­um handeln, zu zeigen, welche Aufgabe diese Geisteswissen­schaft in dem Leben des Menschen der Gegenwart hat. Und es soll dies anschaulich gemacht werden an dem Unterschied, wie diese Geisteswissenschaft, die so uralt ist wie das mensch­liche Streben überhaupt, in vergangenen Zeiten auftrat, und wie sie sich zeigen muß in unserer Zeit. Wenn wir von «un­serer Zeit» sprechen, so ist das hier natürlich nicht so gemeint, daß etwa bloß die allerunmittelbarste Gegenwart in Be­tracht kommen soll; sondern es ist gemeint, was seit einer verhältnismäßig längeren Zeit sich als verwandt mit unserm Geistesleben herausstellt, und was in voller Entwickelung in unserer unmittelbaren Gegenwart begriffen ist.

Es ist ja für den, der das Geistesleben der Menschheit nur ein wenig überblickt, von vornherein klar, daß man mit dem Worte « Übergangszeit» vorsichtig sein soll. Wenn man sich den Begriff nur einigermaßen zurechtlegt, wird man im Grunde genommen jede Zeit als eine Übergangszeit charakterisieren können. Dennoch aber gibt es Zeiten in der Menschheit, wo sich sozusagen Sprünge darstellen im Fort-gange des Geisteslebens. Der Mensch des sechzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts und unserer Zeit wird sich sei­nem ganzen Seelen- und Geistesleben nach anders zur Welt verhalten müssen als die Menschheit früherer Zeiten. Und je weiter wir zurückgehen in der Menschheitsentwickelung, desto mehr wird es uns auffallen, daß die Menschheit immer andere Sehnsuchten, immer andere Bedürfnisse hat, und

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daß sie dasjenige, was sie als Fragen über die großen Rätsel des Daseins aufwirft, durch sich selbst in einer immer an­dern Weise beantwortet haben will. Nun können wir uns das Wesen solcher Übergänge deutlich machen, wenn wir uns bekannt machen mit Menschen solcher Übergangszeiten, die in gewisser Beziehung noch Gefühls- und Erkenntniskräfte und Willensimpulse in sich haben, die von früheren Epochen des Geisteslebens vererbt sind, aber die doch schon den Trieb in sich fühlen, in eine neue Zeit hineinzuleben. Wir können in den verschiedensten Epochen des mensch­lichen Werdens solche geschichtlichen Persönlichkeiten fin­den. Wollen wir uns heute zunächst einmal an eine inter­essante Persönlichkeit halten, um zu sehen, wie sie die Fra­gen nach dem Wesen des Menschen aufwirft und nach alledem, was zunächst den Menschen interessieren muß. An eine Persönlichkeit wollen wir uns wenden, die an der Mor­genröte des neuzeitlichen Geisteslebens die so charakteri­sierte innere Seelenverfassung hat. Und ich möchte nicht eine der bekannteren Persönlichkeiten aus der Reihe der Denker wählen, sondern ich möchte gerade am Ausgangs­punkt dieser Vorträge eine in den weitesten Kreisen unbe­kannte Denkerpersönlichkeit wählen aus dem siebzehnten Jahrhundert, wo es zahlreiche solcher Persönlichkeiten ge­geben hat, die in sich noch die Gefühlsgewohnheiten, die Denkgewohnheiten des Mittelalters hatten, die noch so er­kennen wollten, wie man vor Jahrhunderten erkannt hat, und die doch schon hineinragten in die Erkenntnisbedürf­nisse der neueren Zeit. Eine Persönlichkeit also möchte ich Ihnen nennen, über deren äußeres Leben man ,in der äuße­ren Geschichte sozusagen gar nichts weiß. Das ist für die geisteswissenschaftliche Betrachtung immer etwas außerordentlich

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Angenehmes; denn wer gern in der Geistes­wissenschaft mit unbefangenem Blick verweilt, der wird schon gespürt haben, wie sehr ihn alles das stören kann, was einer Persönlichkeit aus dem gewöhnlichen alltäglichen Leben angehängt wird, was die heutigen Biographen aus dem gewöhnlichen Leben zusammentragen. Man könnte in diesem Sinn der Geschichte dankbar sein, daß sie uns so wenig aufbewahrt hat, zum Beispiel von Shakespeare; denn dadurch wird uns - wie das heute zum Beispiel bei Goethe der Fall ist - bei Shakespeare nicht das Bild ver­dorben durch allerlei kleine Züge, wie sie die Biographen so gern zusammentragen. Aber ich will Ihnen eine Person­lichkeit nennen für unsern Zweck, die noch viel unbekann­ter ist als Shakespeare, eine Denkerpersönlichkeit aus dem siebzehnten Jahrhundert, die aber für den, der in die Den­kergeschichte der Menschheit hineinzuschauen vermag, eine ungeheure Bedeutung hat. Gerade eine der hervorragend­sten Persönlichkeiten aus der Denkergeschichte der Mensch­heit steht vor uns in der Persönlichkeit des Franziskus Jose­phus Philip pus Graf von Hoditz und Wolframitz, der in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts in Böhmen ein einsames Denkerleben gelebt hat. Was ihm vor allen Dingen als wichtige Frage in der Seele gelegen hat und was, wenn wir uns in seine Seele vertiefen, uns symptomatisch so schön hineinführen kann in das, was eine Seele dazumal bewegen konnte, das hat er niedergelegt in einem kleinen Büchelchen (ich habe nicht nachgeforscht, ob es inzwischen in aller Ausführlichkeit gedruckt worden ist), das er ge­nannt hat «Libellus de hominis convenientia». Darin wirft diese einsame Denkerpersönlichkeit die große Frage des Da­seins auf, die beim Menschen durchaus im Mittelpunkt aller

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Lebensverhältnisse steht: die Frage nach dem «Wesen des Menschen». Und er sagt geradezu mit einem eindringlichen, aus einem tiefen Erkenntnisgefühl herauskommenden Be­dürfnisse, nichts entstelle den Menschen mehr, als wenn er nicht wisse, welches eigentlich sein Wesen ist.

Nun wendet sich dieser Franziskus Josephus Philippus Graf von Hoditz und Wolframitz an bedeutende Denker-persönlichkeiten aus alten Zeiten - an eine Denkerpersön­lichkeit aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert, an Aristoteles - und sagt: Was kann uns dieser alte Denker sagen, wenn die Frage aufgeworfen wird: Welches ist eigent­lich das Wesen des Menschen? Da stellt sich unser Denker die Antwort des Aristoteles vor Augen: « Der Mensch ist ein vernünftiges Tier. » Und dann wendet sich unser Denker zu einem Neueren, zu Cartesius, und fragt: Was wußte dieser Denker über die Frage zu sagen: Was ist eigentlich das Wesen des Menschen? Da ergab sich für ihn die Ant­wort: Der Mensch ist ein denkendes Wesen. Nun stand unser Denker mit seiner forschenden, suchenden Seele da und mußte sich sagen: Auf die wichtige Frage nach dem Wesen des Menschen geben mir diese beiden Denker, die mir die Repräsentanten vieler Denker sind, keine Antwort! Denn wenn die Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Menschen gegeben wird, verlange ich zu erfahren, was der Mensch ist, und was der Mensch tun soll. Was mir Ari­stoteles antwortet - der Mensch sei ein vernünftiges Tier -, das antwortet nicht auf die Frage, was der Mensch ist; denn man kann nicht erkennen an seiner Antwort, was eigentlich das Wesen der Vernünftigkeit ist. Und auch die Antwort, die Cartesius, der Denker des siebzehnten Jahrhunderts, gibt, antwortet nicht auf die Frage: «Was soll der Mensch

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seinem Wesen gemäß tun?» Denn wenn man auch schon weiß, daß der Mensch ein Wesen ist, das denken kann, so weiß man noch nicht, was er eigentlich denken soll, um in der richtigen Weise ins Leben einzugreifen, um wirklich in seinem Denken einen Bezug zum Leben herzustellen!

So hat sich unser Denker vergeblich umgesehen nach einer Antwort auf die für ihn so brennende Frage des Daseins, welche den Menschen, wenn er sie sich nicht zu beantworten vermag, entstellt in seinem Wesen.

Da stieß er auf etwas, was freilich den heutigen Menschen sonderbar berühren wird, insbesondere, wenn er im Sinne der heutigen wissenschaftlichen Bildung denken will, was aber für jene einsame Persönlichkeit nach ihrer damaligen Seelenverfassung wirklich die einzig treffende Antwort war. Er sagte sich: Das kann mir nichts nützen, zu wissen, daß der Mensch ein vernunftiges Tier ist, oder daß der Mensch ein denkendes Wesen ist! Aber was ich gefunden habe bei einem anderen Denker, der es wieder von einer älteren Überlieferung her hat, - das antwortet mir auf meine Frage. Und mit Worten, zu denen er auf diese Art gekommen war, gab sich dieser Mann Antwort auf seine Frage: « Der Mensch ist seinem Wesen nach das Ebenbild der Gottheit! »

Wir würden heute sagen: « Der Mensch ist seinem Wesen nach dasjenige, was er seinem ganzen Ursprung nach aus der geistigen Welt heraus ist.»

Was der Graf von Hoditz und Wolframitz weiter an seine Betrachtung anschließt, braucht uns heute nicht zu beschäftigen. Es braucht uns nur das eine zu interessieren, daß er aus den Bedürfnissen seiner Seele heraus auf eine Antwort hinweisen mußte, welche über alles, was der Mensch in seiner Umgebung sehen und mit seinem Ver­- stande

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begreifen kann, hinausging. Wenn wir nun aber das, was jenes Büchlein enthält, weiter prüfen, dann stellt sich heraus, daß dieser Persönlichkeit nicht irgendwelche Mit­teilungen aus der geistigen Welt zur Verfügung standen. Sagen wir etwa so: Hätte sich dieser Persönlichkeit die Frage auf die Seele gelegt, wie sich die Erde zur Sonne ver­hält, dann hätte sie, auch wenn sie nicht selber Naturfor­scher gewesen wäre, irgendwo innerhalb der Beobachtungs­welt die Antwort gefunden, die seit dem Auftauchen der neueren Naturwissenschaft aus der Erfahrung gegeben wer­den konnte. Also in bezug auf äußere Fragen der Sinnen-welt hätte diese Persönlichkeit den Blick hinwenden kön­nen auf etwas, was ihr Leute hätten sagen können, die diese Fragen selber durch ihre Beobachtung, durch ihre Erlebnisse erforscht haben. In bezug auf die Fragen des menschlichen Geisteslebens aber, in bezug auf das, was der Mensch ist, insofern er ein Geist ist, darauf gaben ihm keine solchen Erlebnisse seiner damaligen Zeit Antwort. Man kann es ganz genau sehen, daß er sozusagen nicht irgend einen Weg finden konnte zu Menschen, welche selbst eigene Erlebnisse in der geistigen Welt gehabt hätten, welche ebenso durch unmittelbare Erfahrung ihm irgendwelche Eigenschaften der geistigen Welt hätten sagen können, so wie ihm die Naturforscher sagen konnten, was sie dazumal eben über diese oder jene Frage der äußeren Sinnenwelt wußten. Da­her wandte sich dieser Denker an das, was Überlieferung war, was er vorfand in den Urkunden, die ihm aus der religiösen Überlieferung gegeben waren. Er verarbeitete allerdings - und das ist charakteristisch für seine ganze Seelentiefe -, was er so als Überlieferung haben konnte; aber man sieht aus der Art, wie er arbeitete, daß er nur

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seinen Verstand anstrengen konnte, um eine neue Form zu geben dem, was sich im Laufe der Geschichte ausgebildet hat oder was durch Überlieferung oder Schrift bis zu ihm gekommen ist.

Nun wird gar mancher sagen: Ja, gibt es denn überhaupt solche Persönlichkeiten, kann es solche Menschen geben, welche ebenso aus der Beobachtung, aus der Erfahrung, aus dem unmittelbaren Erlebnis heraus eine Antwort geben können auf Fragen, welche sich auf die Rätsel des geistigen Lebens beziehen?

Das ist eben das, was die Geisteswissenschaft in der neue­ren Zeit dem Menschen wiederum zum Bewußtsein bringen wird, daß es eine Möglichkeit gibt, ebenso in einer geistigen Welt, die keinem äußeren sinnlichen Auge, keinem Tele­skop und Mikroskop zugänglich ist, zu forschen, wie es möglich ist zu forschen in der Sinneswelt; und daß Ant­wort gegeben werden kann aus der unmittelbaren Erfah­rung heraus über die Fragen nach der Beschaffenheit auch einer solchen, über die sinnliche Erfahrung hinaus liegenden Welt. Dann wird man erkennen, wie es, allerdings not­wendig hervorgerufen durch den ganzen Entwicklungsgang der Menschheit, eine Epoche gegeben hat, wo mit anderen Mitteln dasjenige in die Ôffentlichkeit getragen worden ist, was der Geistesforscher in der geistigen Welt erkundet hat; und daß es heute wiederum eine Epoche gibt, wo die Mög­lichkeit besteht, daß wiederum von den Ergebnissen der Geistesforschung gesprochen werden und wiederum Ver­ständnis dafür gefunden werden kann. Dazwischen aller­dings liegt diejenige Zeit, in deren Abendröte die Zeit unse­res einsamen Denkers hineinfiel, da die ganze menschliche Entwicklung eine Weile « ausruhte » von dem Hinaufsteigen

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in die geistige Welt, sich vorzugsweise an die Überliefe­rungen durch alte Urkunden oder mündliche Mitteilung hielt, und wo man in gewissen Kreisen anfing Zweifel zu hegen, ob der Mensch überhaupt durch eigene Kraft, durch Entwickelung seiner in ihm verborgen liegenden, schlum­mernden Erkenntniskräfte aufsteigen kann in eine über­sinnliche Welt. Gibt es denn nun irgend einen vernünftigen Gedanken, aus dem heraus man sagen kann, es sei unsinnig, von einer solchen geistigen Welt zu sprechen, von einer Welt, die über die sinnliche hinaus liegt? Eine solche Über­legung sollte dem Menschen schon die Betrachtung der Ent­wickelung seiner sinnlichen Wissenschaft selber eingeben. Und gerade die unbefangene Betrachtung der Entwicke­lung dieses Fortschrittes, den die Menschheit gemacht hat, das wunderbare Fortschreiten in der Enträtselung der äuße­ren sinnlichen Naturgeheimnisse sollte den Menschen dar­auf hinweisen, daß es eine höhere, übersinnliche Erkenntnis geben muß. - Wie das?

Wer unbefangen des Menschen Entwickelung betrachtet, wird sich sagen müssen: Gerade die Wissenschaft, die sich mit der äußeren Sinnenwelt beschäftigt, hat sich im Laufe der Zeit entwickelt. Mit welchem Stolze weisen viele Men­schen darauf hin - und mit durchaus berechtigtem Stolze in gewissem Sinne -, wie man vor Jahrhunderten nichts wußte über dieses oder jenes, was dem äußeren Sinnes­gebiete angehört, und wie uns die großen Fortschritte der Naturwissenschaft, die seit dem fünfzehnten und sechzehn­ten Jahrhundert immer mehr und mehr sich steigern, Kunde gebracht haben von dem, was man vorher über diese äußere Sinneswelt nicht gewußt hat. Müßte man sich nicht eigent­lich sagen: Die Sonne, die am Morgen aufgeht, sich während

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des Tages über den Horizont hinbewegt, sie ging dem Men­schen vor Jahrtausenden ebenso auf, wie sie ihm heute auf­geht. Das, was der Mensch im Umkreise der Erde und im Zusammenhange mit der Bahn der Sonne in alten Zeiten sehen konnte, bot sich ihm für die äußere Sinnesanschauung vor Jahrtausenden ebenso dar, wie es sich dargeboten hat in der Zeit, in welcher Galilei, Newton, Kepler, Kopernikus usw. wirkten. Was aber wußte diese Menschheit über die äußere Sinneswelt zu sagen? Kann man davon reden, daß die Wissenschaft, wie wir sie haben, auf die unsere Zeit mit Recht so stolz ist, bloß durch eine Betrachtung der äußeren Sinneswelt errungen ist? Würde die äußere Sinneswelt, so wie sie ist, diese Wissenschaft so geben können, dann würde man nicht nötig haben, über das, was diese äußere Sinnes-welt gibt, hinauszugehen. Dann hätte man vor Jahrhun­derten dasselbe wissen müssen über diese Sinneswelt wie heute. Daß man heute mehr weiß, daß man die Stellung der Sonne und so weiter heute anders ansieht, worauf beruht denn das? Es beruht darauf, daß der menschliche Verstand, die menschlichen Erkenntniskräfte, welche sich auf die äußere Sinneswelt beziehen, sich entwickelt haben; daß sie etwas anderes geworden sind im Laufe der Jahrtausende und der Jahrhunderte. 0 diese menschlichen Erkenntnis-kräfte waren nicht im alten Griechenland, was sie geworden sind seit dem sechzehnten Jahrhundert bis in unsere Zeit hinein.

Wer diesen Werdegang des Menschen unbefangen be­trachtet, der muß sich sagen: Der Mensch hat etwas heran-gebildet, was er früher nicht hatte; und er hat gelernt, in anderer Weise als früher diese äußere Welt anzusehen, weil er zu den Erkenntniskräften, welche sich auf die äußere

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Sinneswelt beziehen, etwas anderes hinzuentwickelt hat. Deshalb wurde ihm klar, daß die Sonne sich nicht um die Erde herum bewegt, sondern er wurde durch die Entwicke­lung seiner Erkenntniskräfte dazu veranlaßt, sich die Erde um die Sonne herumgehend zu denken. Der Mensch hat also in unserer Zeit andere solcher Kräfte, als er sie in frühe­ren Zeiten hatte!

Für den, der auf die Errungenschaften der äußeren Wissenschaft stolz ist, und der unbefangen den Fortschritt studiert, kann es gar keinem Zweifel unterliegen, daß der Mensch entwickelungsfähig in seinem Innern ist - daß er nicht nur dasjenige in sich haben kann, was wir an Kräften der äußeren Welt sehen; - und daß von Entwicklungsstufe zu Entwicklungsstufe seine Kräfte sich umgebildet haben, bis der Mensch so geworden ist, wie er heute ist. Der Mensch hat nicht nur das zu entwickeln, was in seinen äußeren Kräften ist; sondern es entwickelt sich auch in seinem Innern etwas, wodurch er imstande wird, die Welt im neuen Glanze seiner inneren Fähigkeiten als Erkenntnis auferstehen zu lassen. Es gehört zu den schönsten Worten, die der große Dichter-Denker Goethe - im Buche über Winckelmann -gesprochen hat, als er sagte: «Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines freies Entzücken gewährt, dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauch­zen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens be­wundern. » Und: «Indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen

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hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Voll­kommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ord­nung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt.»

So mag der Mensch sich herausgeboren fühlen aus den Kräften, die er mit seinen Augen sehen, mit seinem Ver­stande begreifen kann. Aber wenn er das in dem Sinne, wie wir es auseinandergesetzt haben, unbefangen betrachtet, so wird er gerade von dem Gesichtspunkt der äußeren Wissen­schaft sich sagen müssen: Nicht nur die Natur außen hat Kräfte, die sich heranentwickeln, bis sie angeschaut werden von einem Menschenauge, bis sie gehört werden von einem Menschenohr, bis sie begriffen werden durch einen mensch­lichen Verstand; sondern wenn wir den Gang der mensch­lichen Entwickelung verfolgen, so finden wir, daß sich auch im Innern des Menschen etwas entwickelt; daß seine Er­kenntniskräfte zuerst schlummernd waren für die äußere Naturbetrachtung, daß diese schlummernden Kräfte dann erweckt wurden bis hinein in unsere Zeit, so daß die im Altertum schlummernden Erkenntniskräfte sich als entwik­kelt ausnehmen. Und durch die entwickelten Erkenntnis-kräfte schaut der Mensch heute hinaus und erringt das, was wir die großen Fortschritte der äußeren sinnlichen Wissen­schaft nennen.

Nun muß die Frage an einen Menschen herantreten: Soll aber nun die Notwendigkeit vorhanden sein, daß dasjenige, was im Innern des Menschen ist, nun stehen bleibt und nur noch Kräfte entwickelt, die ein Spiegelbild dessen geben, was von außen gesehen werden kann? Oder muß es nicht auch noch andere, in der Menschenseele schlummernde Kräfte und Fähigkeiten geben, die entwickelt werden können? Ist

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es nicht ein durchaus vernünftiger Gedanke, wenn man sich sagt: Man muß die Frage aufwerfen, ob es denn nicht mög­lich sei, daß der Mensch in der Seele noch andere verbor­gene Kräfte habe, die geweckt werden können? Ist es denn nicht möglich, daß der Mensch dasjenige, was er im Innern hat, nicht nur dazu entwickeln kann, daß er es bis zu einem Spiegelbild der äußeren Welt bringt? Kann es nicht so sein, wenn er sich weiter entwickelt, daß vielleicht das, was früher in ihm verborgen und schlummernd war, geistig auf­leuchtet? - als dasjenige, was Goethe das «Geistesauge», das « Geistesohr» nennt -, wodurch sich ihm erschließt eine geistige Welt, die hinter der sinnlichen Welt liegt?

Für den, der unbefangen diesen Gedanken verfolgt, wird es nicht unsinnig erscheinen, verborgene Kräfte zu ent­wickeln, die hinaufführen können in die übersinnliche Welt, und die Antwort geben können auf die Frage: Was ist denn eigentlich der Mensch? Wenn er ein Ebenbild der geistigen Welt ist, was ist denn dann die geistige Welt?

Wenn wir uns den Menschen als äußeres Wesen charak­terisieren, wenn wir uns seine Gesten, seine Instinkte und so weiter vor die Seele führen, so werden wir, wenn wir auf die äußere Welt blicken, des Menschen Gesten, In­stinkte und Kräfte in einem unvollkommenen Zustande an niederen Wesen sehen. Und wir werden die äußere Er­scheinung des Menschen als die Zusammenfassung dessen begreifen, was wir draußen über verschiedene Wesen, über niedere Wesen verteilt finden, Instinkte und so weiter. Wir können es begreifen, weil wir dasjenige, was wir am Menschen sehen, draußen sehen als etwas, woraus wir den Menschen entwickelt denken. Sollte es nun nicht möglich sein, mit solchen entwickelten Kräften in ähnlicher Weise

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auch in eine geistige Außenwelt zu sehen? Wesenheiten, Kräfte, Dinge da zu sehen, wie Steine, Pflanzen und Tiere in der sinnlichen Außenwelt? Sollte es nicht möglich sein, solche geistigen Vorgänge zu sehen, die ebenso aufklären über alles, was im Innern des Menschen als Unsichtbares lebt, wie es möglich ist, das Sinnliche in bezug auf den Men­schen zu erklären?

Aber es war eben die Zeit, die sozusagen eine Zwischen­zeit war zwischen einer alten und einer neuen Art, die Geisteswissenschaft mitzuteilen. Es war die Zeit so, daß sie eine Ruhepause war für den weitaus größten Teil der Menschheit. Nichts Neues wurde gefunden; sondern das, was alte Urkunden und alte Überlieferungen enthielten, wurde immer wieder und wieder aufgenommen. Das war so richtig für jene Epoche; denn eine jede Epoche erfordert das Charakteristische für ihre ureigensten Bedürfnisse. Wir haben einmal eine solche Zwischenzeit; und wir müssen uns klar sein, daß die Menschen in dieser Zwischenzeit in einer andern Lage waren als vorher und nachher; daß sie sich in dieser Zwischenzeit in einem gewissen Sinne abgewöhnten, überhaupt hinzuschauen auf die verborgenen Kräfte in der Menschenseele, die durch ihre Entwickelung zum Anschauen der geistigen Welt führen können. Daher kam es, daß eine Zeit heranrückte, wo der Mensch sozusagen den Glauben und das Verständnis dafür verloren hatte, daß es eine solche innere Entwickelung verborgener Kräfte zur übersinnlichen Erkenntnis gibt. Zwar eines konnte niemals geleugnet wer­den: daß im Menschen selber etwas ist, was sich nicht sinn­lich anschauen läßt. Denn welches unbefangene Denken möchte wohl sagen, daß zum Beispiel der menschliche Ver­stand selber etwas sei, was der Mensch schon mit einem

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äußeren Auge gesehen habe? Welches unbefangene Denken müßte nicht wenigstens das zugeben, daß die menschlichen Erkenntniskräfte selber übersinnlicher Natur sind?

Das ist sozusagen als Erkenntnis auch niemals geschwun­den; auch in der Zeit nicht, in welcher sich die Menschen gewissermaßen abgewöhnt hatten, zu glauben, daß sich die übersinnlichen Seelenkräfte bis zu der übersinnlichen An­schauung hinaufentwickeln können. Derjenige Denker, der das Hinaufschauen in die übersinnlicheWelt gewissermaßen auf ein kleinstes Maß heruntergebracht hat, der da sagt: Es gibt keine Möglichkeit für den Menschen, durch irgend eine übersinnliche Anschauung hinaufzudringen in eine Welt, die uns entgegentritt als eine geistige, wie uns Tiere, Pflan­zen und Mineralien und der äußere physische Mensch in der Sinnenwelt entgegentreten - dieser Denker, der aber aus seinem unbefangenen Denken heraus durchaus anerken­nen mußte, daß es ein Übersinnliches gibt, das niemals ge­leugnet werden kann, - dieser Denker, der dadurch wie an einem letzten Punkt einer vorzeitigen Entwicklung steht, ist Kant. Kant ist der Denker, der dadurch in einer gewissen Weise einen alten Entwicklungsgang der Menschheit bis zu einem letzten Abschluß gebracht hat. Denn was denkt Kant über das Verhältnis des Menschen zu einer übersinnlichen, geistigen Welt? Er leugnet nicht, daß der Mensch Über-sinnliches erblickt, wenn er in sich selber schaut; daß er dazu Erkenntniskräfte anwenden muß, die man nicht mit sinn­lichen Augen wahrnehmen kann, und wenn man noch so raffiniert die sinnlichen Instrumente verstärkt. So weist Kant hin auf ein Gebiet der übersinnlichen Welt: das sind die menschlichen Erkenntniskräfte selbst, was die Seele braucht, wenn sie sich ein Spiegelbild der äußeren Welt entwerfen

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will. Nun aber ist er dazu gekommen zu sagen, das sei auch das einzige, was der Mensch über eine übersinnliche Welt wissen kann; der Mensch könne von der übersinn­lichen Welt nur jenes Stück erkennen, das aus den Mitteln besteht, sich eine Anschauung über die Sinneswelt zu ver­schaffen. Kants Meinung ist: Wohin auch der Mensch seine Anschauung richten mag, er erblickt nur eines, was er als ein Übersinnliches bezeichnen kann: was seine eigenen Sinne Übersinnliches enthalten, um die Tatsache eines Sinnlichen wahrzunehmen, zu begreifen, zu verstehen.

So also gibt es im Sinne der Kantischen Weltauffassung keinen Weg, der die geistige Welt zur Anschauung, zum Erlebnis bringt, sondern nur die Möglichkeit, einzusehen, daß die äußere Sinneswelt nicht erkannt werden kann mit sinnlichen Mitteln, sondern nur mit übersinnlichen Mitteln. Das ist das einzige Erlebnis, das der Mensch haben kann aus der übersinnlichen Welt; sonst aber ist kein Zugang zu der geistigen Welt, keine Anschauung, kein Erlebnis! Das ist das Weltgeschichtliche, um was es sich bei Kant handelt. Nicht zu leugnen ist aber im Sinne Kants, daß der Mensch, wenn er nachdenkt über das, was mit seinem Handeln, sei­nem Wirken und Tun zusammenhängt, auch wiederum Mittel findet, um auf die sinnliche Welt zu wirken. Auch Kant mußte sich sagen: Der Mensch folgt nicht so wie die untergeordneten Wesen bloß instinktiven Antrieben, wenn er dieses oder jenes unternimmt, sondern er folgt auch An­trieben, die bloß in seiner Seele sind, die ihn hoch erheben können über das, was bloßer äußerer Antrieb ist. Wie könnte denn auch ein unbefangenes Denken solche Antriebe zum äußeren Handeln leugnen? Man braucht ja nur den Blick hinzuwenden auf einen Menschen, welcher diese oder

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jene noch so reizvollen Antriebe aus der Welt erhalten würde, um dieses oder jenes zu tun; der diesen Reizen und Lockungen aber nicht folgt; sondern der sich für sein Han­deln zur Richtschnur nimmt, was er nicht aus den äußeren Anreizungen empfangen kann. Braucht man nicht nur hin­zuweisen auf die großen Märtyrer des Lebens, die geblutet haben, die alles, was für sie in der Sinneswelt da ist, bin-gegeben haben für etwas, was sie über die Sinneswelt hin-ausführen sollte? Man braucht nur auf das Erlebnis in der menschlichen Seele - auch im Sinne von Kant - hinzu­weisen, auf das menschliche Gewissen, das gegenüber dem, was noch so reizvoll und lockend an den Menschen heran­tritt, ihm sagen kann: Folge nicht dem, was da reizt und lockt, folge dem, was aus geistigen Untergründen heraus wie eine unbezwingliche Stimme in deiner Seele spricht! Und so war es denn auch für Kant sicher, daß es eine solche Stimme im Innern des Menschen gibt, die etwas spricht, was nicht zu vergleichen ist mit dem, was Aussage der äußeren Sinneswelt ist. Kant faßt das in die bedeutungsvollen Worte zusammen, die er den « kategorischen Imperativ» nennt. Nun sagt er aber, weiter komme der Mensch nicht als bis zu diesem Mittel seiner Seelenwelt, aus einem Übersinn­lichen heraus in der sinnlichen Welt zu handeln; denn der Mensch könne nicht heraus aus der Sinneswelt. Er fühlt, daß Pflicht, kategorischer Imperativ, Gewissen aus ihm sprechen; aber er kann nicht hineindringen in die Welt, aus der Gewissen, Pflicht, kategorischer Imperativ herausströ­men. Nur wiederum bis an die Grenze der übersinnlichen Welt gestattet sozusagen das Kantische Denken, daß der Mensch komme. Alles übrige, was in diesen Reichen selber liegt, woraus Gewissen, Pflicht und kategorischer Imperativ

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sprechen, und was mit der Natur unserer Seele übersinnlich gleichartig ist, das alles entzieht sich der Beobachtung im Sinne Kants. Da kann der Mensch nicht hinein; da kann er nur Rückschlüsse machen. Er kann sich sagen: Die Pflicht spricht; aber ich bin ein schwacher Mensch; in der gewöhn­lichen Welt kann ich nicht ausführen, was in ihrem ganzen Umfange Gewissen und Pflicht mir befehlen. Also muß ich annehmen, daß sich mein Dasein nicht in dieser sinnlichen Welt erschöpft, sondern daß es eine Bedeutung hat über die sinnliche Welt hinaus. Ich kann mir das als einen Glauben vorhalten, aber ich kann unmöglich hineindringen in diese Welt; ich kann überhaupt nicht hinein in diese Welt, aus welcher sprechen sittliches Bewußtsein, kategorischer Impe­rativ, Gewissen, Pflicht und so weiter!

Nun steht eine andere Persönlichkeit in dieser Beziehung diametral gegenüber dem, was Kant ausgesprochen hat aus den Gesichtspunkten heraus, welche eben angeführt wor­den sind. Und diese Persönlichkeit ist keine andere als wiederum der Dichter-Denker Goethe. Wer wirklich die Seelen beider Männer miteinander vergleichen kann, der weiß, wie sie sich diametral gerade in bezug auf die wich­tigsten Erkenntnisfragen gegenüberstehen. Als Goethe das in sich aufgenommen hatte, was Kant gerade darüber be­merkt, da sagte er aus seiner inneren Seelenerfahrung her­aus: Kant behauptet, daß man zwar Rückschlüsse tun kann über einen Weg in die geistige Welt hinein, daß man aber keine Erlebnisse haben kann. Kant behauptet, daß es nur eine verstandesmäßige, begriffliche Urteilskraft gäbe, nicht aber eine anschauliche Urteilskraft, die Erlebnisse habe in der geistigen Welt. Kant behauptet das. Wer aber wie ich, sagt Goethe, indem er dabei seine ganze Persönlichkeit einsetzt,

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rastlos sich durchgerungen hat, um sich hinaufzuarbei­ten durch die Sinneswelt bis in eine übersinnliche Welt hin­auf, der weiß, daß man nicht nur Rückschlüsse machen kann, sondern durch eine anschauende Urteilskraft sich in diese geistige Welt wirklich erheben kann! - Das war Goethes persönlich gehaltener Einwand gegen Kant. Und Goethe betont noch besonders, daß es ein Abenteuer der Vernunft sei, wenn jemand behaupten wollte, es gäbe eine solche anschauende Urteilskraft; aber er sagt, daß er aus seiner Erfahrung heraus das Abenteuer der Vernunft mutig bestanden habe!

Nichts anderes aber ist das innere Prinzip, der innere Nerv dessen, was man wahre Geisteswissenschaft nennt, als die Erkenntnis dessen, was Goethe die « anschauende Urteilskraft » nennt, wovon er weiß, daß es hineinführt in eine geistige Welt, daß es entwickelt werden kann, immer höher und höher hinaufgesteigert werden und dann zu einer unmittelbaren Anschauung, zu einem Erlebnis in der geistigen Welt führen kann. Was eine solche gesteigerte Anschauung den Menschen, welche sie suchen, bringen kann, das ist der Inhalt der wahren Geisteswissenschaft. Das soll uns in den kommenden Vorträgen beschäftigen: Ergebnisse einer solchen Wissenschaft, die zu ihren Quellen hat die entwickelten verborgenen Fähigkeiten der Menschenseele, durch die der Mensch hineinschaut in eine geistige Welt, wie ihm durch die äußeren Sinneswerkzeuge hineinzuschauen ge­stattet ist in die Welt der Chemie, der Physik und so weiter.

Nun kann man aber die Frage aufwerfen: Gibt es nur heute diese Möglichkeit, verborgene, in der Seele schlum­mernde Erkenntnisfähigkeiten zu entwickeln? oder hat es diese Möglichkeit zu allen Zeiten gegeben?

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Ein Blick, der eben im geisteswissenschaftlichen Sinne hinschweift über das, was in der menschlichen Geschichte geschehen ist, lehrt uns nun, daß es uralte Weisheitsschätze gegeben hat, die sich zum Teil zusammengedrängt haben in dem, was dann in dem charakterisierten mittleren Zeit­raum in Schriften, in Überlieferungen der Menschheit ge­blieben war. Weiter lehrt uns diese Geisteswissenschaft, daß es heute wiederum möglich ist, der Menschheit nicht nur das Alte zu verkünden, sondern über dasjenige zu sprechen, was die menschliche Seele heute selber vermag durch Ent­wickelung der in ihr schlummernden Fähigkeiten und Kräfte, so daß die gesunde Urteilskraft - auch wenn der Mensch nicht selber in die übersinnliche Welt hineinzuschauen ver­mag - die Mitteilungen der Geistesforscher verstehen kann. Was Goethe zunächst damals, als er jenen Ausspruch gegen Kant tat, mit anschauender Urteilskraft im Auge hatte, das ist in gewisser Beziehung der Anfang des heute keineswegs unbekannten Erkenntnisweges nach aufwärts. Die Geistes­wissenschaft wird, wie wir sehen werden, in die Lage ver­setzt, hinzuweisen darauf, daß es verborgene Erkenntnis-kräfte gibt, welche in verschiedenen Stufen hinaufgehen und dadurch immer mehr und mehr hineindringen in die geistige Welt.

Wenn wir von Erkenntnis sprechen, so sprechen wir zu­nächst von der Erkenntnis der gewöhnlichen Welt, der « gegenständlichen Erkenntnis»; wir sprechen dann von der «imaginativen Erkenntnis » (wobei aber der Ausdruck « ima­ginativ » als ein « terminus technicus » gebraucht ist, ebenso wie die andern); wir sprechen von der « inspirierten » Er­kenntnis und endlich von der wahren « intuitiven» Er­kenntnis. Das sind Entwickelungsstufen, die die Seele durchmacht

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bei ihrem Weg in die übersinnliche Welt hinauf. Das sind aber auch Entwickelungsstufen, die im Sinne der heu­tigen Seelenverfassung der eigentliche Geistesforscher durch-macht. Ahnliche Wege haben auch die alten Geistesforscher durchgemacht. Aber Geistesforschung hat als solche keinen Sinn, wenn sie nur das Besitztum einiger weniger sein sollte. Geistesforschung ist ja nicht etwas, was sich nur richten kann an kleine Kreise. Gewiß, was der wissenschaftliche Forscher zu sagen hat über die Natur der Pflanze, was er zu sagen hat über gewisse Vorgänge in der tierischen Welt, davon kann jemand sagen: Diese Wissenschaft kann der Menschheit dienen, auch wenn sie das Besitztum kleiner Kreise, der Botaniker, der Zoologen und so weiter ist. -Das ist bei der Geistesforschung nicht der Fall. Geistes-forschung hat es zu tun mit solchen Dingen, die für jede Menschenseele Lebensbedürfnis sind; sie hat es zu tun mit Fragen, die zusammenhängen mit des Menschen gerecht­fertigten innersten Seelenfreuden und Seelenleiden; mit sol­chen Dingen, durch deren Wissen der Mensch imstande ist, sein Schicksal zu ertragen, so zu ertragen, daß er es mit innerer Befriedigung und innerer Beseligung erlebt, auch wenn es leidvoll und sch,nerzvoll ist. Fragen, ohne deren Beantwortung der Mensch verödet und leer würde in seinem Innern, das sind die Fragen der Geisteswissenschaft. Fragen der Geisteswissenschaft sind nicht solche, die da nur für engste Kreise beantwortet werden können, sondern die jede menschliche Seele, auf welcher Entwickelungs- und Bildungs­stufe sie auch stehe, interessieren müssen, weil deren Beant­wortung geistiges Lebensbrot ist für eine jegliche Seele. So aber war es immer, zu allen Zeiten. Wenn Geisteswissen­schaft so zur Menschheit sprechen will, dann muß sie die

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Mittel und Wege finden, um verstanden zu werden; sie muß verstanden werden können von denjenigen, die sie ver­stehen wollen; das heißt, sie muß sich richten an diejenigen Kräfte, welche gerade zu einem gewissen Zeitalter in der Menschenseele ausgebildet sind, um den Mitteilungen des Geistesforschers einen Widerhall zu geben. Da sich das Men­schengeschlecht ändert von Epoche zu Epoche und immer neue Seelenbeschaffenheiten auftreten, so ist es natürlich, daß Geisteswissenschaft einstmals über die brennendsten Seelenfragen anders urteilen mußte als heute. Im grauen Altertum mußte zu einer Menschheit gesprochen werden, die nicht verstanden hätte, wenn so gesprochen worden wäre wie heute; denn die Seelenkräfte, welche heute ent­wickelt sind, waren im grauen Altertum nicht vorhanden. Man hätte zu den Menschen gesprochen, wie wenn man etwa zu Pflanzen spräche, wenn man so gesprochen hätte, wie heute der Geistesforscher sprechen muß. Daher mußte in alten Zeiten der Geistesforscher sich anderer Mittel be­dienen, als das heute der Fall ist. Und wenn wir zurück­blicken auf graue Vorzeiten, so lehrt uns die Geisteswissen­schaft selber: um Antwort geben zu können in der Art und Weise, wie es die Menschheit der grauen Vorzeit nach ihren damaligen Seelenkräften brauchte, mußte auch derjenige, der sich für das Hineinblicken in die geistige Welt vor­bereitete, früher sich anders dazu vorbereiten; er mußte selber in seiner Seele andere Kräfte entwickeln, als sie der Geistesforscher heute entwickeln muß, um in solchen For­men zu sprechen, wie es für die heutige Menschheit nötig ist.

Diejenigen, welche diese in der Seele schlummernden Kräfte entwickeln, um hineinschauen zu können in die gei­stige Welt und dort geistige Wesenheiten zu sehen, wie

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man in der physischen Welt Steine, Pflanzen und Tiere sieht, nennt man heute in der Geisteswissenschaft und hat sie immer genannt « Eingeweihte » oder « Initiierte »; und man spricht von demjenigen, was die Seele durchzumachen hat, um zum Hineinschauen in die geistige Welt zu kom­men, von « Einweihung » oder « Initiation ». Der Weg aber zu dieser Einweihung war anders in alten Zeiten; und er ist anders in unseren neueren Zeiten, weil die Mission der Geisteswissenschaft immer eine verschiedene ist. Die alte Initiation, welche diejenigen durchzumachen hatten, die zu den Menschen der Vorzeit zu sprechen hatten, führte diese Menschen auch hinauf zum unmittelbaren Erleben der gei­stigen Welt; sie konnten hineinschauen in Reiche um den Menschen herum, die höher sind als das, was die Sinne um uns herum schauen können. Aber diese Menschen schauten auf eine solche Art hinein, daß sie ihre Anschauung um-wandelten, so daß das Geschaute dann von den Menschen in einem Symbolum, in einem Sinnbild verstanden werden konnte. Sinnbildlich konnten die alten Eingeweihten nur ausdrücken, was sie erschauten. Solche Sinnbilder erstreck­ten sich auf den ganzen Umfang dessen, was den Menschen interessiert an der Welt. Und solche Sinnbilder aus einer wirklichen Welterfahrung sind uns erhalten in den Mythen und Sagen, die aus den verschiedensten Zeiten von den ver­schiedensten Völkern vorhanden sind. Solche Mythen und Sagen sind nur für den grünen Tisch der Gelehrsamkeit

- nicht für wahre Forschung - etwas, was aus der «Volks-phantasie » entsprungen ist. Für denjenigen, der die Tat­sachen kennt, sind Mythen und Sagen herausgeschöpft aus den Anschauungen der Geistesforscher, und in einer jeg­lichen wirklichen Mythe und Sage haben wir zu sehen ein

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äußeres Bild für etwas, was der Geistesforscher in seiner geistigen Anschauung erlebt hat; oder mit einem Wort Goethes: Was er mit Geistesaugen gesehen, mit Geistes-ohren gehört hat. Dann erst werden uns Sagen und Mythen begreiflich, wenn wir sie auffassen als Sinnbilder für eine wirkliche Erkenntnis der geistigen Welt.

Es sind das zunächst diejenigen Sinnbilder, durch die man zu dem weitesten Umkreis des Volkes sprach. Denn was sich heute der Mensch einbildet, daß die Menschenseele immer so gewesen wäre, wie sie gerade in diesem Jahrhundert ist, das ist nicht der Fall. Die Menschenseele hat sich geändert; ihre ganze Empfänglichkeit war früher eine andere. Die Menschenseele war befriedigt, wenn sie dieses Bild, das im Mythos gegeben war, empfing; denn dadurch wurde die Seele angeregt, dasjenige, was sie außen sah, in einer viel unmittelbareren Anschauung vor sich zu haben. Heute ist die Mythe eine Phantasie. Wenn aber früher der Mythos sich in die Menschenseele hineinsenkte, stand vor der Men­schenseele das, was die Geheimnisse der menschlichen Natur sind. Und wenn die Seele auf die Wolken, auf die Sonne und so weiter sah, so geschah das in der Weise, daß sich für sie notwendig ein Verständnis dessen ergab, was sie vor Augen hatte, wenn sie den Mythos hatte. Für eine kleinere Anzahl wurde dann das, was man höheres Wissen nennen könnte, in den Symbolen gegeben. Während man heute ge­radeaus redet und reden muß, konnte man dasjenige, was die Seele des alten Weisen oder Eingeweihten erlebte, nicht ausdrücken in unseren Seelenkräften; denn die hatte weder der Eingeweihte, noch hatte sie sein Zuhörer. Diese Kräfte wurden erst entwickelt. Man konnte sich nur ausdrücken, wenn man sich der Sinnbilder bediente. Diese Sinnbilder

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sind in einer Literatur erhalten, welche dem Menschen heute höchst merkwürdig vorkommt. Heute wird der Mensch Ge­legenheit haben, insbesondere wenn neben dem Erkenntnis-drang auch die Neugierde erweckt ist für solche Sachen, da oder dort manches alte Buch - ich hätte bald gesagt: man­chen alten Schmöker - vor Augen zu bekommen, wo sich wunderbare Bilder befinden, welche symbolisch zum Bei­spiel den Zusammenhang der Planeten ausdrücken; wo irgendwelche geometrische Figuren sind, Dreiecke, Vierecke und so weiter. Wer mit den heute entwickelten Erkenntnis-kräften an diese Bilder herantritt, der wird, wenn er nicht gerade seine Seele in dieser Richtung entwickelt hat, daß er Geschmack daran findet, aus unserer heutigen Bildung heraus sagen: Was kann man mit all diesem Zeug anfan­gen? Was kann man anfangen mit dem, was uns da als sogenannter « salomonischer Schlüssel » als symbolische Figur überliefert ist, mit diesen Dreiecken, Vierecken und so weiter?

Gewiß, auch der Geistesforscher wird Ihnen sagen: für den heutigen Menschen ist vom Standpunkte der heutigen Bildung aus zunächst nichts damit anzufangen. Dazumal aber, als diese Bilder den Schülern überliefert worden sind, da wurde dadurch wirklich in den Seelen etwas erweckt. Heute ist die Menschenseele anders. In der Zeit, wo die Menschenseele sich entwickeln muß, um auf die Fragen der Natur und des Lebens in der heutigen Weise zu antworteji, da kann der Seele nicht aufgehen der innere Trieb, der­artiges so anzuschauen, wie man es zum Beispiel tat bei den zwei ineinander verschlungenen Dreiecken, das eine mit der Spitze nach oben, das andere mit der Spitze nach unten. Wenn dieses Bild früher einem Menschen vor die Augen trat, da regte und rührte sich beim Anschauen etwas in seiner

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Seele; da sah die Seele in etwas hinein. So wie heute das Auge durch das Mikroskop etwas sieht, wie zum Beispiel die Pflanzenzellen, was es ohne das Mikroskop nicht sehen kann, so dienten als Werkzeuge für die Seele diese sym­bolischen Figuren. Da sah man, wenn man den sogenannten salomonischen Schlüssel in der Seele als Vorstellung hatte, in die geistige Welt hinein, wie man eben mit der bloßen Seele nicht in die geistige Welt hineinsieht. So ist aber die Seele heute nicht mehr. Daher kann auch, was in solchen alten Schriften aus den Geheimnissen der geistigen Welt überliefert worden ist, nicht mehr in demselben Maße «Wis­senschaft » sein; und diejenigen, welche es heute als Wissen­schaft ausgeben oder noch im neunzehnten Jahrhundert als Wissenschaft ausgegeben haben, die tun etwas, was nicht mehr sachgemäß ist. Das ist auch der Grund, warum Sie mit solchen Schriften, wie es zum Beispiel diejenigen von Eliphas Lévy sind, vom Standpunkte der heutigen Bildung aus nichts mehr werden anfangen können. Es ist eben für unsere Zeit etwas Antiquiertes, wenn solche Symbole heute gegeben werden, die die geistige Welt erklären sollen. Aber es war in früheren Zeiten die Art und Weise der Geistes­wissenschaft, entweder in den gewaltigen Bildern der My­then und Sagen, oder aber in solchen Symbolen zur mensch­lichen Seele zu sprechen.

Dann kam die Zeit, wo anders zu der menschlichen Seele gesprochen werden mußte. Das war jene Zwischenzeit, wo sich die Erkenntnisse der geistigen Welt in schriftlicher oder mündlicher Überlieferung von den Vorfahren auf die Nach­kommen verpflanzten. Wir können, auch wenn wir nur das äußere Leben studieren, handgreiflich hinweisen, wie sich das fortpflanzte. Es gab zum Beispiel eine gewisse Sekte im

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nördlichen Afrika zur Zeit der Entstehung des Christen­tums; man nennt sie die «Therapeuten ». Von dieser Sekte sagt ein Mann, der in ihre Erkenntnisse eingeweiht war, daß sie alte Urkunden hatten, die herrührten von ihren Be­gründern, die selber noch in die geistige Welt hineinschauen konnten; was ihre Nachfolger eben nur lesen konnten in den Schriften, die sie ihnen hinterlassen hatten; oder was höchstens diejenigen sehen konnten, die sich durch ihre Seelenanlage hinaufentwickelt hatten in die geistige Welt. Das ist für eine alte Zeit gesagt. Wir können aber hinein­gehen in das Mittelalter und finden da, wie gewisse bedeu­tende Geister betonen: Wir haben gewisse Erkenntniskräfte, wir haben einen menschlichen Verstand, dann andere Er­kenntniskräfte, welche hinaufreichen, um gewisse Geheim­nisse des Daseins zu begreifen. Aber es gibt Geheimnisse, Mysterien des Daseins, die müssen geoffenbart sein; die können wir nicht sehen, wenn wir unsere Erkenntniskräfte entfalten, die können wir nur suchen in den Schriften!

So entstand der große Zwiespalt bei den Geistern des Mittelalters zwischen dem, was man durch den Verstand wissen kann, und dem, was man glauben muß, weil es über-liefert, geoffenbart ist. Und scharf wird - ganz im Sinne der damaligen Zeit - die Grenze zwischen beidem hinge-stellt. Gewiß, für die damalige Zeit war das berechtigt; denn in der Art waren die Seelenkräfte nicht mehr, daß man gewisse mathematische Zeichen hätte sinnbildlich an­wenden und dadurch Erkenntnisse hervorrufen können in der Seele. Diese Zeit war vorbei. Bis hinein in die neuere Zeit gab es für die Seele nur eines für das Erfassen des Übersinnlichen: den Blick hinwenden auf das eigene Innere; was zum Beispiel ein Augustinus teilweise getan hat.

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So also hatte der Mensch die Möglichkeit verloren, in der äußeren Welt etwas zu sehen, was ihm tiefere innere Ge­heimnisse verriet. Er konnte in den Symbolen nichts anderes mehr sehen als Phantasiegebilde. Nur das Eine gab es noch, daß man ihm die übersinnliche Welt so hinstellte, daß sie dem entsprach, was in ihm selber übersinnlich war; daß man ihm sagte: Du hast ein Denken; dieses Denken ist in Raum und Zeit begrenzt; aber in der geistigen Welt ist ein Wesen, das ein All-Denken ist. Du hast eine begrenzte Liebe, aber in der geistigen Welt ist ein Wesen, das eine All-Liebe ist! Wenn man dem Menschen die geistige Welt veranschau-lichte an dem, was er selber im Innern erlebte, dann erwei­terte sich sein Inneres zu dem Anschauen der göttlich durch-lebten Natur; dann hatte er ein Gottesbewußtsein. Aber über die Einzelheiten konnte er sich nur Auskünfte holen aus den alten Schriften; denn er hatte nichts mehr, was ihn selbst in die geistige Welt hineinführen konnte.

Nun kamen die neueren Zeiten, welche gerade den Stolz der Naturwissenschaft gebracht haben. Das sind die Zeiten, wo nicht etwa bloß bei denjenigen, welche die naturwissen­schaftlichen Erkenntnisse erlangen konnten, sondern wo bei allen Menschen Fähigkeiten hervorgerufen wurden, die über das Sinnliche hinaus zunächst ein Verständnis entwickeln konnten. Da entwickelte sich das, was in der menschlichen Seele verstehen kann, daß nicht das Sinnenbild das Richtige ist, sondern was als Erkenntniskraft einsehen kann, daß die Wahrheit dem Sinnenschein widerspricht. Was sich so in der Seele heranentwickelt hat, daß es die äußere Natur so anschauen kann, wie sie sich nicht in der Sinnenwelt dar­stellt, das werden immer mehr diejenigen verstehen lernen, welche heute als Geistesforscher in die geistige Welt hinaufdringen,

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und die dann erzählen, daß man da ebenso eine geistige Welt und geistige Wesenheiten sieht, wie man hier die sinnliche Welt mit Tieren, Pflanzen und Mineralien sieht.

So muß der Geistesforscher sprechen für diejenigen Ge­biete, welche dem heutigen Verständnis nahe liegen. Und wir werden sehen, wie die Symbole, während sie früher Mittel waren zu einer Erkenntnis der geistigen Welt, heute Mittel geworden sind für eine geistige Entwickelung. Wäh­rend zum Beispiel der « salomonische Schlüssel » früher in der Seele hervorgerufen hatte eine wirkliche geistige Er­kenntnis, tut er das heute nicht mehr. Wenn aber die Seele auf sich wirken läßt, was ihr der Geistesforscher klar machen kann, dann fängt in der Seele sich etwas zu regen an, was sich allmählich hinaufentwickeln kann in die geistige Welt, und wenn es in der geistigen Welt Schauungen hat, kann es zu den Menschen heute so sprechen, daß es das Geschaute in derselben Logik ausdrücken kann, welche auch die Logik für die äußere Wissenschaft ist. Daher muß die heutige Gei­steswissenschaft oder Geheimwissenschaft so sprechen, daß sie ein jeder einsehen kann, der nur seinen Verstand um­fassend genug anwendet. Was der Geistesforscher heute mitzuteilen hat, das muß er kleiden in die Begriffsformen, welche heute auch in der andern Wissenschaft üblich sind; dann sonst würde er nicht demjenigen Rechnung tragen, was heutige Zeitbedürfnisse sind. Hineinschauen kann so nicht gleich jeder in die geistige Welt; aber weil die entspre­chenden Verstandes- und Gemütskräfte in jeder Seele aus­gebildet sind, so ist die Geisteswissenschaft, wenn sie richtig gebracht wird, etwas, was jeder heute mit seiner gewöhn­lichen Vernunft begreifen kann. Der Geistesforscher ist

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heute wieder in der Lage, etwas hinzustellen, wovon unser einsamer Denker sich gesagt hat: « Der Mensch ist seinem Wesen nach ein Ebenbild der Gottheit. » Wollen wir den Menschen physisch begreifen, so schauen wir hin auf das, was der Mensch physisch erforschen kann. Wollen wir be­greifen, was der Mensch innerlich, geistig ist, dann weisen wir auf eine Welt, die der Geistesforscher geistig erforschen kann. Da zeigt sich, daß der Mensch nicht nur etwas ist, was mit der Geburt oder der Empfängnis ins Dasein tritt, und was mit dem Tode wieder hinausgeht; sondern es zeigt sich, daß der Mensch außer seinem physischen Teil über-sinnliche Glieder hat. Erkennt man die Natur dieser über­sinnlichen Glieder, so dringt man ein in das Reich, wo nicht nur Glauben, sondern Wissen ist. Und wenn Kant an der Abendröte einer alten Zeit gesagt hat: Den kategorischen Imperativ können wir erkennen; durch eine Anschauung hineindringen in das Reich von Freiheit, göttlichem Dasein und Unsterblichkeit kann kein Mensch, so hat er damit nur die Erfahrung seiner Zeit zum Ausdruck gebracht. - Eine Geisteswissenschaft wird zeigen, daß es möglich ist, in eine geistige Welt einzudringen. Sie wird zeigen: ebenso wie das mit dem Mikroskop bewaffnete Auge in eine Welt eindrin­gen kann, welche dem unbewaffneten Auge nicht zugänglich ist, ebenso kann die mit den Mitteln der Geisteswissenschaft ausgerüstete Seele eindringen in eine der unbewaffneten Seele verschlossene geistige Welt, in der Liebe, Gewissen, Freiheit und Unsterblichkeit erkannt werden können, wie in der äußeren physischen Welt Tiere, Pflanzen und Mine­ralien erkannt werden können. - Das kann als etwas mit­geteilt werden, was in den nächsten Vorträgen weiter aus­geführt werden soll. -

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Wenn wir nun die Beziehungen des Geistesforschers zu seinem Publikum betrachten und dabei noch einmal den Blick richten auf die Geisteswissenschaft in der alten Zeit und in der neueren Zeit, so können wir sagen: Die Sinn­bilder, die der Geistesforscher der alten Zeit zu verwenden hatte, wirkten unmittelbar auf die menschliche Seele. Was wir heute die Verstandes- und Vernunftkräfte nennen, war noch nicht vorhanden. Die Bilder wirkten unmittelbar, und man sah dadurch hinein in eine geistige Welt, so daß der Geistesforscher der alten Zeiten den Menschen nicht so gegenüberstand, daß sie durch ihre Vernunft hätten prüfen können, was er ihnen durch diese Sinnbilder überlieferte. Man kann sagen: es wirkten diese Sinnbilder wie suggestiv, wie eine Eingebung; man war von ihnen hingenommen, hin-gezwungen; man vermochte nichts dagegen. Wem daher ein solches Bild gegeben wurde, der war, wenn es nicht rich­tig war, in jenen alten Zeiten geradezu ausgeliefert an die­jenigen, welche ihm dieses Bild als ein falsches gaben; denn es wirkte unmittelbar! Daher war es in den alten Zeiten außerordentlich bedeutungsvoll, daß diejenigen, welche hin­aufstiegen in die geistige Welt, den festen Glauben, das absoluteste Vertrauen erwecken konnten, daß sie zuver­lässig waren; und wenn sie das mißbrauchten, was sie ver­mochten, dann war eine Macht in ihren Händen, die sie in der schlimmsten Weise ausbeuten konnten. Deshalb gibt es in der Geisteswissenschaft neben den Glanzzeiten auch Zeiten des Verfalls; Zeiten, in denen mißbraucht wurde die Kraft und Macht der Eingeweihten, die nicht zuverlässig waren. So hing es in einem hohen Grade in den alten Zeiten bloß von dem Eingeweihten ab, wie er sich zu seinem Publi­kum verhielt. Das ist nun in der Gegenwart - man könnte

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sagen: Gott sei Dank! - etwas anders geworden. Es ändert sich nicht alles auf einmal. Daher ist es auch heute noch not­wendig, daß der Eingeweihte ein zuverlässiger Mensch ist; und ist er das, dann ist es gerechtfertigt, daß man ihm wirk­liches Vertrauen entgegenbringt. Aber in einer gewissen Be­ziehung ist der heutige Mensch doch schon in einem andern Verhältnis zum Geistesforscher als früher. Denn heute muß der Geistesforscher so sprechen, wenn er im Sinne seiner Zeit spricht, daß jeder unbefangene Verstand, der einsehen will, auch einsehen kann. Das ist natürlich noch weit davon entfernt, daß nun ein jeder auch einsehen müßte, der ein­sehen könnte. Aber die Vernunft kann heute Richterin sein über das, was man einsehen kann, und daher soll derjenige, der sich der Geisteswissenschaft ergibt, seine unbefangen wirkende Vernunft überall anwenden.

Das wird die Mission der Geisteswissenschaft von heute sein: durch die Entwicklung der verborgenen Kräfte hin­aufzusteigen in eine geistige Welt, wie die moderne Physio­logie durch das Mikroskop hinuntersteigt in eine Welt der kleinsten Lebewesen, die das unbewaffnete Auge nicht sieht. Und die allgemeine Vernunft wird die Ergebnisse der Gei­stesforschung prüfen können, wie sie die Ergebnisse des Physiologen, des Botanikers und so weiter prüfen kann. Denn die gesund wirkende Vernunft wird sich sagen kön­nen: Es stimmt das alles überein! Der heutige Mensch wird dazu kommen, zu sagen: Meine Vernunft sagt mir, daß es so sein kann; es kann einem einleuchten, wenn man sich seiner Vernunft bedient, was der Geistesforscher zu sagen hat. Und so soll der Geistesforscher sprechen, wenn er sich wirklich fühlt als innerhalb der Mission der Geisteswissen­schaft in der Gegenwart stehend. Aber es wird auch heute

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eine Übergangszeit geben. Denn es könnten dadurch, daß die Mittel zur geistigen Entwickelung da oder dort vor­liegen, und die Menschen sie auch unrichtig anwenden kön­nen, manche Leute sich hinaufleben in eine geistige Welt, wenn ihr Sinn nicht rein, wenn ihr Pflichtgefühl nicht heilig und ihr Gewissen nicht untrüglich ist. Dann werden sie aber durch das Hinaufdringen in eine übersinnliche Welt statt zum Geistesforscher zu einem solchen werden können, der nicht durch das eigene Erlebnis wissen kann, ob die Dinge den Tatsachen entsprechen: dann werden solche angeblichen Geistesforscher auch dementsprechende Dinge mitteilen. Und da die Menschen auf der andern Seite nur langsam und all­mählich hinaufsteigen können im Gebrauch ihrer Vernunft-kräfte zum Verständnisse dessen, was die Geistesforscher sagen, so wird gerade auf diesem Gebiet die Scharlatanerie, der Humbug, der Aberglaube üppige Blüten hervorbringen können. Aber der Mensch ist heute doch schon in einer an­deren Lage. In gewisser Weise hat es sich heute doch schon selber zuzuschreiben, wer aus einer gewissen Neugier her­aus, ohne seine Vernunft anwenden zu wollen, auf blinden Glauben hin denen, die sich als Geistesforscher ausgeben, zuläuft. Weil die Menschen eben noch zu bequem sind, die Vernunft selbst anzuwenden und sich lieber einem blinden Glauben hingeben, als selbst zu denken, deshalb ist es in unserer Zeit möglich, daß an die Stelle des alten, seine Macht mißbrauchenden Eingeweihten durch unsere Entwickelung leicht der moderne Scharlatan tritt, der bewußt oder un-bewußt nicht die Wahrheit, sondern etwas von ihm selber vielleicht für wahr Gehaltenes den Menschen aufbindet. Das kann noch sein, weil wir heute am Anfange einer Ent­wickelung stehen.

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Gegen nichts aber soll der Mensch seine gesunde Vernunft mehr aufbieten als gegen das, was ihm aus der Geistes­wissenschaft heraus geboten werden kann. Man kann einen Teil der Schuld in sich selber suchen, wenn man auf Schar­latanerie und Humbug hereinfällt; denn sie werden noch weithin üppig treibende Blüten tragen - und haben sie schon getragen in unserer Zeit. Das ist auch etwas, was bei der Erwähnung der Mission der Geisteswissenschaft in un­serer Zeit nicht unberücksichtigt bleiben darf.

Wer aber in unserer Zeit dem Geistesforscher zuhört und nicht mit einer willkürlichen, alles gleich in Zweifel ziehen­den und abweisenden Vernunft -, sondern mit einer gesun­den Vernunft alles prüft, der wird schon ein Gefühl dafür haben können, wie die Geisteswissenschaft dem Menschen Trost und Hoffnung bringen kann in schweren Stunden und Aufklärung in bezug auf die großen Rätselfragen des Daseins. Der Mensch wird heute ein Gefühl dafür erhalten können, daß die großen Rätselfragen des Daseins, die gro­ßen Schicksalsfragen gelöst werden können aus der Geistes­wissenschaft; er wird wissen können, was von ihm geboren wird und stirbt, und was ewiger Wesenskern in dem Men­schen ist. Kurz: es wird heute dem Menschen möglich sein

- und dafür sollen die nächsten Vorträge einige, wenn auch wenige Belege bringen -, wenn er den guten Willen hat und die Kraft entfalten will durch Aufnehmen und In-sich-Ver­arbeiten der Mitteilungen der Geisteswissenschaft, daß er sich aus seinem innersten Gefühl heraus sagen kann:

Wahr ist es, was der junge Goethe ahnend gesagt hat, was der alte Goethe uns in jeder Zeile, die er in der Reife seines Lebens geschrieben hat, mitteilen wollte, was er sei­nen Faust sagen läßt, daß der Weise spricht:

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« Die Geisterwelt ist nicht verschlossen;

Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot!

Auf! bade, Schüler, unverdrossen

Die ird'sche Brust im Morgenrot!>)

Im Morgenrot des Geistes!

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DIE ASKESE UND DIE KRANKHEIT

Des Menschen Leben pendelt hin und her zwischen Arbeit und Müßiggang. Diejenige Lebensbetätigung, welche uns in dem heutigen Vortrage beschäftigen soll, und die mit dem Namen der Askese zu bezeichnen ist, wird je nach den Lebensvoraussetzungen des einen oder des anderen, dieser oder jener Partei, entweder zur Arbeit gerechnet oder aber auch zum Müßiggang. Eine sachliche, unparteiische Betrach­tung, wie sie im Sinne der Geisteswissenschaft gehalten wer­den muß, ist nur möglich, wenn man in Betracht zieht, wie dasjenige, was mit «Askese» bezeichnet wird - wenn es im höchsten Sinne des Wortes aufgefaßt und aller Mißbrauch daraus verbannt wird -, eingreift in das menschliche Leben, indem es dieses menschliche Leben entweder fördert oder auch schädigt.

Zunächst ist es ja richtig, daß die meisten Menschen, und zwar begründeterweise, sich gegenwärtig eine ziemlich falsche Vorstellung von dem machen, was eigentlich mit dem Worte Askese bezeichnet werden sollte. Nach dem griechischen Ursprung dieses Wortes könnte man nämlich ebenso gut einen Athleten als einen Askesen bezeichnen. In unserer Zeit hat das Wort Askese eine ganz bestimmte Fär­bung erhalten durch die Gestalt, welche die entsprechende Lebensbetätigung im Laufe des Mittelalters angenommen hat; und für eine Reihe von Menschen hat das Wort die Färbung bekommen, die ihm zum Beispiel im Verlaufe des 19. Jahrhunderts Schopenhauer gegeben hat. Heute wieder­um erlangt das Wort eine gewisse Färbung durch allerlei

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Einflüsse orientalischer Philosophie und orientalischer Reli­gion, nämlich durch das, was im Abendlande so häufig als «Buddhismus» bezeichnet wird. Nun wird es sich heute für uns darum handeln, den wahren Ursprung dessen, was As­kese ist, in der menschlichen Natur aufzusuchen; und ge­rade die Geisteswissenschaft, wie sie in den hier bereits ge­haltenen Vorträgen charakterisiert worden ist, wird dazu berufen sein, Klarheit auf diesem Gebiete zu schaffen, und zwar aus dem Grunde, weil ihre ganze Grundauffassung zusammenhängt mit etwas, was auch noch in der griechi­schen Wortbedeutung « askesis » zum Ausdruck kommt.

Geisteswissenschaft, Geistesforschung, wie sie von dieser Stelle hier schon seit Jahren vertreten wird, stellt sich auf eine ganz bestimmte Grundlage in bezug auf die Menschen-natur. Die Geisteswissenschaft geht davon aus, daß man auf keiner Stufe der menschlichen Entwickelung sagen darf:

da oder dort liegen die Grenzen des menschlichen Erken­nens. Die Frage: was kann der Mensch wissen und was kann er nicht wissen? - diese Frage, die man heute in weite­sten Kreisen für so berechtigt hält, ist für die Geisteswissen­schaft ganz falsch gestellt. Die Geisteswissenschaft fragt nicht: Was kann man auf einer gewissen Stufe der mensch­lichen Entwickelung wissen? Was ergeben sich für eine solche Stufe menschlicher Entwickelung für Grenzen des Erken­nens? Was kann man da nicht wissen? Was bleibt ein Un­bekanntes, weil die menschliche Erkenntniskraft nun ein­mal nicht ausreicht? Alle diese Fragen beschäftigen zunächst die Geisteswissenschaft als solche nicht. Sie steht ganz fest und sicher auf dem Boden der Entwickelung, namentlich auch der Entwickelung der menschlichen Seelenkraft. Sie sagt: die menschliche Seele ist entwickelungsfähig. Wie in

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dem Pflanzensamen die künftige Pflanze schlummert und herausgeholt wird durch die Kräfte, die im Innern des Samens sind und durch solche, die von außen auf den Samen wirken, so schlummern verborgene Kräfte und Fähig­keiten immerfort in der menschlichen Seele. Und was der Mensch auf einer gewissen Stufe der Entwickelung noch nicht erkennen kann, das kann er erkennen, wenn er wie­derum eine Strecke in der Entwickelung seiner vorher ver­borgenen geistigen Fähigkeiten weitergeschritten ist.

Welche Kräfle zu immer tieferer Erkenntnis der Welt, zu einem immer weiteren Horizonte können wir uns an­eignen? - das ist die Frage der Geisteswissenschaft. Sie fragt nicht: Wo liegen die Grenzen der Erkenntnis? sondern:

Wie kann der Mensch über die jeweiligen Grenzen durch die Entwickelung seiner Fähigkeiten hinauskommen? - So umstellt die Geisteswissenschaft den menschlichen Erkennt­nis-Horizont nicht mit einer Mauer, sondern sie ist vielmehr in allen ihren Methoden, in allen ihren Idealen darauf be­dacht, diesen Horizont des Erkennens immer weiter zu machen. Wie wir in den folgenden Vorträgen immer mehr und mehr sehen werden. - Und nicht in unbestimmten Redensarten, sondern in ganz bestimmter Weise zeigt die Geisteswissenschaft, wie der Mensch über das hinaus­kommen kann, was ihm an Erkenntniskräften sozusagen ohne sein Zutun durch eine Entwickelung gegeben worden ist, an der er selbst mit seinem Bewußtsein nicht beteiligt war. Denn diese Erkenntniskräfte beschäftigen sich zunächst nur mit der den menschlichen Sinnen gegebenen Welt, die durch den Verstand begreifbar ist, und an welche diese Sinne sich binden. Durch die in der Seele schlummernden Kräfte ist der Mensch imstande, weiter zu dringen zu jenen Welten,

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die zunächst den Sinnen nicht gegeben sind, die der an die Sinne sich bindende Verstand nicht erreichen kann. Und nur damit nicht von Anfang an der Vorwurf erhoben werde, daß unbestimmt gesprochen wird, soll ganz kurz einiges von dem angedeutet werden, was Sie ganz ausführ­lich über die Wege zur Erlangung höherer Erkenntnis ver­folgen können in meiner Schrift: «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten? »

Wenn man davon spricht, daß der Mensch über das ihm gegebene Maß von Erkenntnisfähigkeiten hinausgelangen soll, so ist es notwendig, daß er nicht ins Blaue, nicht ins Unbestimmte hinein seine Schritte mache, sondern daß er von dem festen Boden, auf dem er steht, den Weg hinüber findet in eine neue Welt. Wie kann das sein?

In dem gewöhnlichen normalen Menschenleben von heute wechseln ja für den Menschen zwei Zustände ab, die wir bezeichnen mit «Wachen » und « Schlafen ». Ohne uns heute weiter auf die Charakteristik der beiden Zustände einzu­lassen, können wir sagen, daß sie sich für die Erkenntnis-fähigkeit des Menschen dadurch unterscheiden, daß der Mensch während des Wachens die Anregung erhält für seine Sinne und für seinen an die Sinne gebundenen Ver­stand. An dieser Anregung entwickelt er seine äußere Er­kenntnis. Da ist er während des Wachens ganz hingegeben an die äußere Sinnenwelt. Im Schlafe ist der Mensch ent­rückt dieser äußeren Sinnenwelt. Eine einfache, ganz logi­sche Erwägung könnte es jedem Menschen klarmachen, daß es nicht so ganz unsinnig ist, wenn die Geistesforschung sagt, daß es wirklich ein Wesenhaftes in der Menschennatur gibt, was sich im Schlafe von dem, was wir sonst den physi­schen Menschen nennen, trennt. Es ist ja schon im Verlaufe

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dieser Vorträge darauf aufmerksam gemacht worden, daß im Sinne der Geisteswissenschaft dasjenige, was sozusagen am Menschen mit Augen zu sehen, mit Händen zu greifen ist, der physische Leib, nur eines der Glieder der mensch­lichen Wesenheit ist. Als ein zweites Glied dieser Menschen-natur haben wir dann zu betrachten den sogenannten Ather­oder Lebensleib. Physischer Leib und Atherleib bleiben während des Schlafes im Bette liegen. Von diesen Gliedern unterscheiden wir sodann dasjenige, was wir Bewußtseins-leib oder - stoßen wir uns nicht an dem Ausdruck - Astral­leib nennen, den Träger von Lust und Leid, Freude und Schmerz, von Trieb, Begierde und Leidenschaft, und außer­dem dasjenige Glied, wodurch der Mensch die eigentliche Krone der Erdenschöpfung ist: das Ich. Diese beiden letzten Glieder der menschlichen Wesenheit trennen sich im Schlafe vom physischen Leib und Ätherleib. Eine einfache logische Erwägung, sagte ich, kann den Menschen lehren, daß es doch nicht so ganz unsinnig ist, was die Geistesforschung sagt, wenn es der Mensch sich nur überlegt: daß dasjenige, was im Menschen vorhanden ist als Lust und Leid, Freude und Schmerz, was an Urteilskraft im Ich ist, doch nicht ver­schwinden kann in der Nacht und nicht jeden Morgen neu entstehen muß, sondern daß es da bleibt. Betrachten Sie dieses Herausgehen des astralischen Leibes und des Ich, wenn Sie wollen, als ein bloßes Bild: aber das ist nicht hin­wegzuleugnen, daß sich Ich und astralischer Leib zurück­ziehen von dem, was wir physischen Leib und Ätherleib nennen.

Nun ist es aber das Eigentümliche, daß gerade die inner­sten Glieder der menschlichen Wesenheit, Astralleib und Ich, innerhalb welcher der Mensch das erlebt, was man

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seine seelischen Erlebnisse nennt, im Schlafe hinuntersinken wie in ein unbestimmtes Dunkel. Das heißt aber nichts an­deres, als daß dieses Innerste der menschlichen Wesenheit (des eigentlichen menschlichen Lebens, so wie das normale Leben heute ist) der Anregung der äußeren Welt bedarf, wenn es seiner selbst und der Außenwelt bewußt werden soll. So können wir sagen, daß in dem Augenblick, wo mit dem Einschlafen die Anregung von außen aufhört, und auch die Kraft aufhört, die das Bewußtsein von außen rege hält, der Mensch ohnmächtig ist, in sich ein Bewußtsein zu entwickeln. Könnte der Mensch nun im normalen Verlaufe seines Lebens diese inneren Glieder seiner Wesenheit so an­regen, so durchkraften, so innerlich beleben, daß er in ihnen ein Bewußtsein haben könnte ohne die Anregungen der Außenwelt, ohne sinnliche Eindrücke, ohne die Arbeit des an die Sinnenwelt gebundenen Verstandes, dann würde der Mensch durch ein solches Bewußtsein, durch solche Fähig­keiten in der Lage sein, auch anderes wahrzunehmen als das, was nur durch die Anregungen der Sinne kommt. So sonderbar es klingt, paradox eigentlich: Wenn der Mensch einen Zustand herstellen könnte, der dem Schlaf auf der einen Seite ähnlich und doch wiederum vom Schlaf wesent­lich verschieden wäre, dann würde er zu einer übersinn­lichen Erkenntnis kommen können. Ähnlich müßte dieser Zustand dem Schlaf dadurch sein, daß der Mensch ebenso wie im Schlafe keine Anregung von außen bekommt oder wenigstens nichts darauf gibt; - unähnlich müßte er dem Schlaf darinnen sein, daß der Mensch nicht in die Bewußt-losigkeit versinkt, sondern trotz aller mangelnden Anregung der äußeren Sinnenwelt ein in sich belebtes Inneres entfaltet. Nun kann der Mensch - das eben gibt die geisteswissenschaftliche

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Erfahrung - zu einem solchen Zustand kommen; zu einem Zustand, den man, wenn das Wort nicht miß­braucht wird, wie es heute häufig geschieht, einen hell­seherischen Zustand nennen kann. Und es soll in Kürze nur ein Beispiel angegeben werden von den zahlreichen inneren Übungen, durch die der Mensch zu einem solchen Zustande kommen kann.

Ausgehen muß der Mensch, wenn er mit Sicherheit in diesem Zustande leben soll, von der äußeren Welt. Nun liefert die Außenwelt dem Menschen Vorstellungen durch seine Sinne, die er dann die Wahrheit nennt, wenn er es dahin bringt, daß seine Vorstellungen den äußeren Gegen­ständen, der äußeren Wirklichkeit entsprechen. Durch eine solche Wahrheit kann aber der Mensch nicht über die äußere Sinnenwelt hinauskommen. - Es handelt sich nun darum, die Brücke zu schlagen zwischen der äußeren Sinneswahr­nehmung und dem, was davon frei sein und dennoch Wahr­heit bieten soll. Zu den ersten Stufen der Übungen, um eine solche Erkenntnisart sich anzueignen, gehört das sogenannte sinnbildliche oder symbolische Vorstellen. Wollen wir uns an einem Beispiel einmal ein brauchbares Sinnbild vorAugen führen, ein für die geistige Entwickelung brauchbares Sym­bol! Entwickeln wir es in der Form eines Gespräches, das etwa der Lehrer eines Schülers der Geisteswissenschaft mit diesem führt.

Um den Schüler zum Verständnis einer gewissen sym­bolischen Vorstellung zu bringen, könnte der Lehrer etwa folgendes sagen: Sieh dir einmal die Pflanze an, wie sie im Boden wurzelt, wie sie heranwächst, grünes Blatt um grünes Blatt hervortreibt und sich heraufentwickelt zur Blüte und zur Frucht. - Ich mache darauf aufmerksam, daß es dabei

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nicht ankommt auf irgendwelche naturwissenschaftliche Vorstellungen; denn wir werden schon sehen, daß es sich nicht um den Unterschied zwischen Pflanze und Mensch handelt, sondern um das Gewinnen brauchbarer sinnbild­licher Vorstellungen. - Nun könnte der Lehrer sagen: Jetzt betrachte einmal den Menschen, wie er vor dir steht im Leben. Dieser Mensch hat zweifellos manches vor der Pflanze voraus. Er kann in sich entwickeln Triebe, Begier­den, Leidenschaften, ein Vorstellungsleben, das ihn hinauf-führt die ganze Leiter von blinden Empfindungen und Trie­ben bis zu den höchsten sittlichen Idealen. Wenn wir den Menschen mit der Pflanze vergleichen, so könnte nur eine naturwissenschaftliche Phantastik der Pflanze einen ähn­lichen Bewußtseinsinhalt zuschreiben, wie ihn der Mensch hat. Wir sehen aber dafür an der Pflanze, man könnte sagen, gewisse Vorzüge auf einer niederen Stufe gegenüber dem Menschen. Wir sehen an der Pflanze eine gewisse Sicherheit des Wachstums ohne die Möglichkeit einer Ver­irrung. Wir sehen dagegen beim Menschen jeden Augen­blick die Möglichkeit, daß er abirren kann von dem, was seine richtige Stellung im Leben ist. Wir sehen, wie der Mensch seiner ganzen Substanz nach durchzogen ist von Trieben, Begierden und Leidenschaften, welche ihn in Irrtum, in Lüge und Täuschung hineinbringen können. Die Pflanze ist dagegen in ihrer Substantialität nicht von alledem durch­zogen; sie ist ein reines, keusches Wesen. Erst wenn der Mensch sich in seinem ganzen Trieb- und Begierdenleben läutert, kann er hoffen, daß er ebenso rein und keusch sein wird auf einer höheren Stufe, wie es die Pflanze in ihrer Sicherheit und Festigkeit auf niederer Stufe ist. - Und so können wir uns weiter folgendes Bild machen: Die Pflanze

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wird durchzogen von dem grünen Farbstoff, dem Chloro­phyll, der die Blätter mit der grünen Farbe durchtränkt. Der Mensch wird durchzogen von seinem Trieb- und Lei­denschaftsträger, von seinem roten Blut. Das ist eine Art Entwickelung nach oben. Dafür aber hat der Mensch zu gleicher Zeit Eigenschaften mit in Kauf nehmen müssen, die in der Pflanze noch nicht sind. Nun muß der Mensch, könnte man sagen, sich das hohe Ideal, dem er zusteuert, vor Augen stellen, einmal auf einer entsprechenden Stufe dahin zu kommen, jene innere Sicherheit, jene Selbstherr-schaft und Reinheit zu erlangen, welche ihm in der Pflanze auf einer niederen Stufe als Vorbild vor Augen stehen. Und nun könnten wir uns fragen: Was muß der Mensch tun, wenn er zu einer solchen Stufe emporsteigen soll?

Dazu muß er Herr und Beherrscher werden dessen, was sonst ohne seinen Willen herumwühlt in seinem Innern an Trieben, Begierden und Leidenschaften. Er muß über sich selbst hinauswachsen; er muß dasjenige in sich ertöten, was ihn sonst beherrscht, und dasjenige auf eine höhere Stufe erheben, was von dem Niederen beherrscht wird. - So hat sich der Mensch von der Pflanze heraufentwickelt. Was ihm zugekommen ist seit seiner Pflanzenstufe, das muß er sozu­sagen als etwas zu Besiegendes - oder nehmen wir den Aus­druck - etwas zu Ertötendes ansehen, um ein höheres Leben aus demselben herauszuholen. Das ist des Menschen Zu­kunftsprozeß, den Goethe mit dem schönen Wort bezeichnet:

Und so lang du das nicht hast,

Dieses: Stirb und werde!

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.

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Nicht das etwa ist zu erreichen, daß der Mensch seine Triebe, Begierden und Leidenschaften ertötet, sondern daß er sie läutert und reinigt, indem er den Herrscher über sich ertötet. So kann der Mensch, hinblickend auf die Pflanze, sagen: Es ist etwas in mir, was höher steht als die Pflanze, was aber gerade ertötet und besiegt werden muß in mir.

Zum Bilde dieses zu Besiegenden sei dasjenige gemacht, was an der Pflanze nicht mehr lebensfähig ist, was an ihr abgestorben ist, das dürre Holz. Und wir stellen als Bild zunächst das dürre Holz in Form des Kreuzes als einen Teil unseres Sinnbildes hin. Dann aber muß der Mensch daran gehen, den Träger seiner Triebe, Begierden und Lei­denschaften, sein rotes Blut so zu reinigen und zu läutern, daß es ein keuscher, gereinigter Ausdruck seiner höheren Wesenheit ist, dessen, was Schiller den höheren Menschen in dem Menschen nennt; so daß dieses Blut gleichsam ein Abbild wird des reinen, keuschen Pflanzensaftes, der sich durch die Pflanzensubstanz ergießt.

Und da blicken wir hin - so würde der Lehrer zum Schü­ler weiter sagen - zu jener Blüte, wo dieser Pflanzensaft, sich fortwährend von Stufe zu Stufe durch die Blätter er­hebend, sich zuletzt zu der Farbe der Blüte in der roten Rose ausgestaltet. Nun stelle dir die rote Rose als das hin, was dir ein Vorbild deines gereinigten und geläuterten Blu­tes sein kann: der Pflanzensaft pulst durch die rote Rose so, daß er trieb- und begierdenlos ist; deine Triebe und Begier­den aber sollen der Ausdruck deiner reinen Ich-Wesenheit sein. - So ergänzt sich das Holz des Kreuzes, das dasjenige bezeichnet, was überwunden werden muß, durch einen Kranz von roten Rosen, der an diesem Kreuze angebracht wird. Da hat man ein Bild, ein Symbol, das uns nicht bloß

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durch unseren trockenen Verstand, sondern mit Aufrufung aller unserer Gefühle ein Bild des menschlichen Lebens gibt, wie es sich zu einem höheren Ideal heraufgestaltet.

Nun kann jemand kommen und sagen: Deine Vorstel­lung ist eine Einbildung, die keiner Wahrheit entspricht. Was du dir da als Bild vorzauberst, dieses schwarze Kreuz mit den roten Rosen, das ist eine leere Einbildung! - Ge­wiß, darüber soll auch gar kein Zweifel sein, daß dieses Bild, wie es sich derjenige, der hinaufsteigen will in die geistigen Welten, im Geiste vor Augen stellt, eine Einbil­dung ist. Es muß eine Einbildung sein! Denn dazu ist dieses Bild nicht da, daß es etwa in der Art der Sinneserkenntnis etwas abbildete, was außen vorhanden ist. Würde es das tun, dann brauchten wir es nicht; dann brauchten wir uns bloß allen denjenigen Eindrücken zu überlassen, die uns von außen zukommen, zu denen wir nur die Abbilder zu schaffen haben. So aber schaffen wir ein Bild, zu dem wir zwar die Elemente von der Außenwelt genommen haben, das wir aber zusammengestellt haben nach gewissen Emp­findungen und Vorstellungen unseres eigenen Innern. Nur müssen wir uns bei jedem Schritte bewußt sein, daß wir bei dem, was wir tun, nicht den Faden der inneren Vorgänge verlieren; denn sonst würden wir bald in die Phantastik hineinkommen. Wer in die höheren Welten hinaufkommen will durch innere Betrachtung, Meditation und so weiter, der lebt nicht nur in abstrakten Bildern, sondern er lebt in der Gefühls- und Vorstellungswelt, die sich ihm beim Auf­bauen solcher Bilder ergeben hat. Diese Bilder erwecken in ihm eine Summe von inneren Seelenvorgängen, und unter Ausschluß dessen, was von außen kommt, ergibt sich der­jenige, der in die höheren Welten kommen will, mit allen

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Kräften der Betrachtung dieser Bilder. Nicht dazu sind solche Bilder da, etwa äußere Zustände abzubilden, sondern um die in dem Menschen schlummernden Kräfte zu erwecken. Denn der Mensch wird bemerken, wenn er Geduld undAusdauer hat

- es dauert lange Zeit, aber es tritt ein -, daß die ruhige Hingabe an solche Bilder ihm etwas geben kann, was sich entwickeln soll. Er wird sehen, daß sich sein Inneres ver­wandelt, daß tatsächlich ein Zustand eintritt, der auf der einen Seite mit dem Schlafe zu vergleichen ist. Während aber mit dem Einschlafen überhaupt hinuntersinken alle Vorstellungen und alles Seelenleben, werden durch die be­schriebene Hingabe, durch Meditation, durch solche Vor­stellungen innere Kräfle erweckt. Der Mensch fühlt sehr bald, daß eine Verwandlung mit ihm vorgeht, daß er da­durch inneres Leben hat, wenn er auch zunächst auf Ein­drücke der Außenwelt verzichtet. So erweckt der Mensch durch solche durchaus unwirklichen Symbole innere Kräfte, und er wird dann schon einsehen, daß er mit diesen erweck­ten Kräften etwas anfangen kann.

Gewiß, es kann von anderer Seite wiederum der Ein­wand gemacht werden: Ja, wenn nun der Mensch solche Kräfte entwickelt und wirklich in die geistige Welt einge­drungen ist, wie er meint, wie kann er denn da wissen, daß das eine Wirklichkeit ist, was er da wahrnimmt? - Das kann nur durch die Erfahrung bewiesen werden, wie die äußere Welt nur durch die Erfahrung bewiesen werden kann. Die bloßen Vorstellungen unterscheiden sich von den Wahrnehmungen auf das strengste. Nur wer in dieser Be­ziehung nicht auf den Grund der Dinge geht, kann die bloße Vorstellung mit der Wahrnehmung verwechseln. Es ist ja heute besonders bei den philosophisch angehauchten

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Kreisen ein gewisses Mißverständnis eingerissen. Die Scho­penhauersche Philosophie geht zum Beispiel in ihrem ersten Teile davon aus, daß die Welt des Menschen Vorstellung sei. Den Unterschied zwischen Wahrnehmung und Vorstel­lung bekommen Sie, wenn Sie hierzu Ihre Uhr betrachten. Solange Sie in Kontakt sind mit Ihrer Uhr, ist es Ihre Wahr­nehmung; drehen Sie sich um, so haben Sie ein Bild der Uhr in sich; das ist Ihre Vorstellung. Im praktischen Leben wer­den Sie sehr bald unterscheiden lernen zwischen Wahrneh­mung und Vorstellung; und wer das nicht könnte, würde in die Irre gehen. Auch das andere Beispiel ist schon ange­führt worden: wenn Sie sich ein noch so heißes Stück Eisen vorstellen, es brennt nicht; wenn Sie aber ein Stück heißes Eisen ergreifen, werden Sie schon merken, daß die Wahr­nehmung etwas anderes ist als die Vorstellung. Ebenso ist es mit jenem Beispiel, das in der Kantischen Philosophie ge­geben wird, das zwar nach einer gewissen Seite hin eine Be­rechtigung hat, aber nur Irrtümer in dem letzten Jahr­hundert hervorgerufen hat. Kant versucht, einen gewissen Gottesbegriff aus den Angeln zu heben, indem er zeigt, daß zwischen hundert vorgestellten und hundert wirklichen Talern gar kein Unterschied sei dem Inhalte nach. Aber man darf sich eben darauf überhaupt nicht berufen, daß in dem Inhalte kein Unterschied sei; denn man verwechselt dann leicht die Wahrnehmung und den unmittelbaren Kon­takt mit der Wirklichkeit mit demjenigen, was bloßer Vor­stellungsinhalt ist. Wer hundert Taler Schulden bezahlen soll, der wird schon den Unterschied merken zwischen hun­dert wirklichen und hundert eingebildeten Talern.

So ist es auch mit der geistigen Welt. Wenn die im Men­schen schlummernden Kräfte und Fähigkeiten aus seinem

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Innern hervortreten, und eine Welt um ihn herum ist, die er vorher nicht gekannt hat, die wie aus einer dunklen geistigen Tiefe herausleuchtet, da kann derjenige, der nur laienhaft auf diesem Gebiete ist, sagen: das kann Selbst­suggestion sein, kann irgend eine Einbildung sein. Wer aber Erlebnisse auf diesem Gebiete hat, wird wohl unterscheiden können zwischen dem, was Wirklichkeit ist und dem, was bloße Einbildung ist; und zwar genau so, wie man im Phy­sischen unterscheiden kann zwischen einem vorgestellten und einem wirklichen Stück heißen Stahls.

So sehen wir, daß es eine Möglichkeit gibt, einen andern Bewußtseinszustand hervorzurufen. Ich habe Ihnen das nur kurz durch ein Beispiel angeführt, wie durch innere Übun­gen aus der Seele die in ihr schlummernden Fähigkeiten herausgeholt werden. Während der Mensch so übt und die schlummernden Fähigkeiten herausholt, sieht er natürlich nichts von einer geistigen Welt; da ist er damit beschäftigt, seine Fähigkeiten herauszuholen. Das dauert unter Um-ständen nicht nur Jahre, sondern ganze Leben lang. Aber alle diese Anstrengungen führen zuletzt dazu, daß der Mensch diese in ihm schlummernden Erkenntniskräfte an­wenden lernt auf die geistige Welt, ebenso wie er seine Augen anwenden gelernt hat unter der Einwirkung unbe­kannter geistiger Mächte zur Beobachtung der äußeren sicht­baren Welt. Solches Arbeiten an der eigenen Seele, solches Entwickeln der Seele zu einer Welt, in der man noch nicht drinnen steht, die man gerade durch die entwickelten Fähig­keiten empfangen soll, die einem aufgehen soll durch das, was man ihr entgegenbringt, solches Arbeiten an der eige­nen Seele kann man im wahren Sinne des Wortes Askese nennen. Denn «Askese» heißt im griechischen Worte sid'

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üben, sich fähig machen zu irgend etwas, Kräfte, die da schlummern, in Tätigkeit umsetzen. Das ist die ursprüng­liche Bedeutung des Wortes Askese, und das kann auch die heutige Bedeutung sein, wenn man sich nicht einen Nebel vor Augen stellen und Irrtümer vorhalten will durch eine falsche Anwendung des Wortes Askese, die üblich gewor­den ist durch die Jahrhunderte. Man begreift aber den Sinn der Askese, wie wir ihn eben charakterisiert haben, nur, wenn man berücksichtigt, daß der Mensch durch Entwicke­lung solcher Fähigkeiten sich eine neue Welt erschließen will. Und man begreift ihn am besten, wenn wir jetzt, nach­dem wir das Wort Askese allein auf die geistige Welt an­gewandt haben, es einmal anwenden auf gewisse äußere Verrichtungen des Lebens.

Wird das Wort Askese so auf Entwickelung geistiger Fähigkeiten angewendet, so können wir es auch im Leben dann anwenden, wenn gewisse Fähigkeiten und Kräfte ent­wickelt werden, die noch nicht unmittelbar auf das, wozu sie gehören, angewendet werden; sondern die vorerst her-ausgeholt werden aus irgend einer Wesenheit oder aus irgend etwas, um später erst an dem angewendet zu wer­den, wozu sie eigentlich gehören. So sonderbar es auch er-scheinen mag, so gibt es doch ein naheliegendes Beispiel für das, wozu man das Wort «Askese » in seinem wirklichen Sinne gebrauchen kann; und wir werden dann auch schon sehen, warum das Wort Askese, falsch angewandt, zu einer verderblichen Wirkung führen kann. Wenn wir das Wort Askese im äußeren Leben im richtigen Sinne anwenden, so können wir etwa die Kriegführung während eines Manö-vers eine «Askese » nennen. Das ist durchaus richtig im griechischen Sprachgebrauch. Die Art und Weise, wie da

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die Kräfte angewendet werden, um sie zu erproben, damit sie im wirklichen Kriege einmal da sind, wenn sie gebraucht werden, und um zu sehen, ob man sie auch im richtigen Maße anwenden kann, das ist Askese, das ist Übung. So-lange man Kräfte nicht auf ein unmittelbares Objekt, zu dem sie gehören, anwendet, sondern um die Tüchtigkeit und Beschaffenheit vorher zu erproben, so lange übt man Askese; so daß also das Kriegführen auf dem Manöver-felde sich zum wirklichen Kriegsfalle verhält wie Askese zum Leben überhaupt.

Das menschliche Leben, sagte ich im Anfange, pendelt hin und her zwischen Arbeit und Müßiggang. Aber es liegt mancherlei dazwischen. So liegt zum Beispiel dazwischen das Spiel. Das Spiel ist überall, wo es uns als Spiel ent­gegentritt, eigentlich das Gegenteil von dem, was man As­kese nennen kann. An seinem Gegenteil kann man sehr gut sehen, was das Wesen der Askese ist. Das Spiel ist eine Be­tätigung von Kräften an der Außenwelt in unmittelbarer Befriedigung. Diese Befriedigung selbst, dasjenige, womit gespielt wird, ist auch nicht sozusagen der harte Boden, der harte Untergrund der Außenwelt, wo wir unsere Arbeit verwenden. Dasjenige, womit gespielt wird, ist also unsern Kräften gegenüber ein weiches, bildsames Material, das unsern Kräften folgt. Das Spiel ist nur so lange ein Spiel, als wir uns nicht stoßen an dem Widerstande der äußeren Kräfte, wie bei der Arbeit. Im Spiel haben wir es also zu tun mit dem, was sich unmittelbar auf die Kräfte bezieht, die dabei umgesetzt werden, und in der Betätigung dieser Kräfte liegt selbst die Befriedigung des Spieles. Das Spiel bereitet zu nichts weiter vor; es findet in sich selbst seine Befriedigung. Genau das Umgekehrte liegt vor bei dem,

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was im richtigen Sinne als Askese verstanden werden muß. Da liegt nicht eine Befriedigung an irgend einer Außenwelt vor. Was wir in der Askese kombinieren, selbst wenn wir das Kreuz mit den roten Rosen zusammensetzen, das ist etwas, was an sich nicht bedeutsam ist, sondern was als lebendiges Spiel unserer Kräfte hervorgerufen wird, was in uns selber geschieht und dann erst seine Anwendung finden soll, wenn es in uns selber fertig geworden ist. Die Ent­sagung bezieht sich also darauf, daß wir eine innere Arbeit entfalten mit dem Bewußtsein, uns zunächst nicht anregen zu lassen durch die Außenwelt-daß wir an uns selber arbei­ten, um unsere Kräfte ins Spiel zu bringen, damit sie sich betätigen können in der Außenwelt. So stehen Spiel und Askese einander gegenüber wie zwei Gegensätze.

Wie lebt sich nun dasjenige, was wir in unserm Sinne Askese nennen können, in das Menschenleben ein?

Bleiben wir dabei innerhalb des Gebietes stehen, wo die Askese sowohl in der Licht- wie in der Schattenseite zur Anwendung kommt: beim Ergreifen der übersinnlichen Welten, wenn der Mensch sich das Ziel setzt, hinaufzustei­gen in die geistigen Welten. Da können wir sagen: wenn dem Menschen durch irgend etwas eine übersinnliche Welt entgegentritt, zum Beispiel durch die Mitteilungen eines an­dern Menschen oder durch die Mitteilungen irgendwelcher Urkunden der geschichtlichen Entwickelung, so ist es zu­nächst möglich, daß der Mensch sagt: Es gibt Behauptungen, Mitteilungen über die übersinnlichen Welten; mir selbst sind solche Mitteilungen zunächst nicht verständlich. Ich habe keine Kraft, sie einzusehen. - Dann gibt es wiederum Men­schen, die nicht etwa sagen: Ich will das aufnehmen, was mir da an Mitteilungen geboten wird! sondern die sagen:

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Ich lehne diese Mitteilungen ab; ich will kein Verhältnis zu ihnen haben! Woher kommt das? Das kommt zunächst da­von her, daß ein solcher Mensch im besten Sinne des Wortes die Askese ablehnt; und zwar aus dem Grunde, weil er in seiner Seele nicht die Kraft empfindet, um durch die Mittel, die charakterisiert worden sind, höhere Kräfte aus sich herauszuentwickeln. Er fühlt sich zu schwach dazu.

Es ist ja immer wieder betont worden, daß es nicht ein­mal notwendig ist, daß man selbst Hellsichtigkeit besitzen muß, um, wenn einem durch einen hellsichtigen Menschen die Ergebnisse der Geistesforschung mitgeteilt werden, sie einzusehen. Es ist zwar zur Erforschung der geistigen Tat­sachen Hellsichtigkeit notwendig; wenn aber die Tatsachen einmal erforscht sind, kann jeder Mensch durch seine durch nichts voreingenommene Vernunft einsehen, was ihm der Geistesforscher mitteilt. Der unbefangene Verstand und die gesunde Vernunft sind zunächst das beste Instrument, um dasjenige zu beurteilen, was aus den geistigen Welten mit­geteilt wird. Wer auf dem Boden der Geistesforschung steht, wird immer sagen können: wenn er überhaupt noch vor etwas Furcht haben könnte, so hätte er sie vor denen, die derartige Mitteilungen hinnehmen, ohne sie mit ihrem Ver­stande genau zu prüfen; nicht aber vor denen, die ihre durch nichts beirrte Vernunft anwenden. Der Vernunftgebrauch ist es, der alles verständlich macht, was aus der Geistesfor­schung heraus kommt.

Es kann aber sein, daß sich ein Mensch zu schwach fühlt, daß er nicht aus sich die Kräfte hervorholen kann zum Ver­ständnis der Mitteilungen aus der geistigen Welt. Wenn das der Fall ist, lehnt er sie ab aus einem ihm selbst angemesse­nen Selbsterhaltungstrieb. Er würde sich verwirren, wenn

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er diese Mitteilungen aufnehmen würde. Das verspürt er. Und im Grunde genommen ist es bei all denen, welche die auf dem Wege der Geistesforschung erkundeten Dinge ab­lehnen, der Selbsterhaltungstrieb, der diese Dinge ablehnt:

ein Bewußtsein, das nicht imstande ist, Übungen - also im besten Sinne des Wortes Askese - auf sich anzuwenden. Ein solcher Selbsterhaltungstrieb sagt sich: Wenn die Dinge an mich herankämen, so würden sie mich verwirren; sie würden, wenn sie in meinen Geist hereinkämen, meinen Geist anfüllen; ich könnte nichts damit anfangen; also lehne ich sie ab! So ist das materialistische Bewußtsein, das keinen Schritt hinausgehen will über das, was die auf dem Boden der Tatsachen vermeintlich feststehende Wissenschaft bietet.

Es kann aber auch etwas anderes der Fall sein. Und da kommen wir zu einer gefährlichen Seite der Askese. Es kann eine gewisse Gier vorhanden sein, Mitteilungen aus den geistigen Welten zu empfangen, und nicht der innere Drang und die Verpflichtung, mit Vernunft und Logik die Mittei­lungen zu prüfen. Es kann eine Art innerer Sensationslust vorhanden sein nach Mitteilungen aus der geistigen Welt. Dann läßt man sie hinein in sich. Dann wirkt nicht dasjenige, was eben im Menschen als Selbsterhaltungstrieb bezeichnet worden ist, sondern etwas Entgegengesetztes: dann wirkt tatsächlich eine Art Selbstvernichtungstrieb. Denn das über­flutet den Menschen, was er unverstanden in seine Seele hineinläßt, und dem gegenüber er nicht seine Vernunft anwenden will. Dahin gehört aller blinde Glaube, jedes auf bloße Autorität Hingenommene an Mitteilungen aus den geistigen Welten, aus den unsichtbaren Welten. Und dieses Annehmen auf Autorität hin entspricht einer Askese, die nicht aus einem gesunden Selbsterhaltungstrieb entspringt,

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sondern aus einem krankhaften Selbstvernichtungs­trieb, zu ertrinken in der Flut der erhaltenen Offenbarun­gen. Das hat nun für die menschliche Seele eine bedeutsame Schattenseite. Es ist im schlimmen Sinne eine Askese, wenn der Mensch sagt: Ich will nichts weiter, ich will auf alles verzichten, ich will glauben, im Vertrauen leben! Es ist ja diese Stimmung vielfach durch die verschiedensten Zeiten ausgebildet gewesen. Man darf aber nicht alles anführen, was so aussieht wie ein blinder Glaube. Wenn zum Beispiel erzählt wird, daß es in den alten griechischen Mysterien-schulen des Pythagoras eine ständige Redensart war: «Der Meister hat es gesagt! » so bedeutet das niemals: der Meister hat es gesagt, also glauben wir es! sondern es bedeutet bei seinen Schülern etwa folgendes: der Meister hat es gesagt; also ist es für uns eine Aufforderung, darüber nachzuden­ken; wir werden sehen, wie weit wir damit kommen, wenn wir unsere Kräfte in Bewegung setzen! «Glauben » braucht nicht immer ein blinder Glaube zu sein und einem Selbst­vernichtungstrieb zu entspringen. Wer im Vertrauen zu jemandem Mitteilungen aus der Geistesforschung entgegen-nimmt, braucht das nicht aus einem blinden Glauben zu tun; er kann zum Beispiel dahinter gekommen sein, daß der Mensch, der so etwas sagt, die Dinge ernst nimmt, daß er die Mitteilungen in präzis logische Formen bringt, daß er auf andern Gebieten, wo der Gläubige nachzuprüfen in der Lage ist, logisch ist und nicht dummes Zeug schwatzt. Deshalb kann der Schüler gerade durch die Beobachtung jener Dinge, die er verfolgen kann, den begründeten Glau­ben haben, daß der Betreffende auch, wenn er über irgend­welche dem Gläubigen noch unbekannten Dinge spricht, auf einem ebenso sicheren Boden stehe. Daher kann der

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Gläubige sagen: Ich werde arbeiten! Dasjenige, was mir ge­sagt wird und wozu ich Vertrauen habe, kann mir ein Leit­stern sein, um mich hinaufzuranken zu jenen Fähigkeiten, die sich mir selbst begreiflich machen werden, wenn ich mich zu ihnen hinaufarbeite.

Wenn aber diese gute Grundlage des Vertrauens nicht da ist, wenn der Mensch Verzicht auf das Verstehen übt, wenn er sich anregen läßt von den Mitteilungen aus den unsichtbaren Welten, ohne sie verstehen zu wollen, dann geht das allmählich in eine recht schlimme Eigenschaft des Menschen über. Es ist dieses ein Übel, das kaum als Askese zu bezeichnen ist. Wer im blinden Vertrauen einfach etwas aufnimmt, ohne den Willen zu haben, es nach und nach zu verstehen, ohne es also zu durchdringen; wer also in seinen Willen den Willen eines andern aufnimmt, ganz blind, der verliert allmählich jene gesunden Seelenkräfte, die ein sicheres Zentrum unseres inneren Lebens bilden, und die das Gerüst schaffen für alle unsere Empfindungen für die Richtigkeit des Lebens. Lüge und Hang zum Irrtum stellen sich bei demjenigen Menschen ein, der nicht prüfen will in seinem Innern, nicht die Vernunft walten lassen will, sondern der geradezu den Hang hat zu ertrinken in dem, was er mitgeteilt bekommt - zu versinken, mit seinem Selbst zu verschwinden. Wer nicht den gesunden Wahr­heitssinn walten lassen will, der wird bald sehen, wie Lüge und Hang zur Täuschung ihm auch in der wirklichen Welt anhaften werden. Das ist ganz ernst zu bedenken, wenn man sich der geistigen Welt nähert, daß man sich durch diese Unterlassungssünde leicht einem Leben hingeben kann, das kein rechtes Gefühl mehr hat für das, was Wahrheit, was Richtigkeit im Leben ist. Wer das Üben ernst nimmt,

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wer seine Kräfte anstrengen will, der darf nicht unterlassen, solche Erkenntnis sich vor die Seele zu führen, wie sie jetzt eben ausgesprochen worden ist.

Nun können wir aber noch tiefer hineingehen in das, was wir im tieferen Sinne asketisches Üben der Seelenkräfte nennen können. Wir haben jetzt den Menschen nur insofern betrachtet, als er nicht mächtig ist, in gesunder Weise innere Kräfte wirklich zu entwickeln. Das eine Mal lehnt er es ab, solche Kräfte zu entwickeln, aus gesundem Selbsterhaltungs­trieb, weil er solche Kräfte nicht entwickeln will; das andere Mal lehnt er nicht ab, solche Kräfte in sich zu entwickeln, aber er lehnt ab, Vernunft und Urteil zu entwickeln. Da haben wir es immer zu tun mit der Sucht des Menschen, auf dem Standpunkt stehen zu bleiben, wo er einmal steht.

- Nehmen wir aber das andere: der Mensch schickt sich an, nun wirklich seine inneren Fähigkeiten zu entwickeln; er wendet auf seine eigene Seele solche Übungen an, wie sie charakterisiert worden sind. Da kann nun wieder ein Zwei-faches eintreten. Zunächst kann dasjenige eintreten, was gerade da energisch angestrebt wird in unserer geisteswissen­schaftlichen Weltenströmung, wo sie mit Ernst und Würde aufgefaßt wird. Der Mensch kann sozusagen nur in dem Maße hingelenkt werden auf die Entwickelung von inne­ren Geisteskräften, als er fähig wird, mit diesen Geistes­kräften etwas anzufangen, und zwar etwas Richtiges und Ordentliches anzufangen. Das heißt, es kann auf der einen Seite die Rede sein - was in meiner Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» weiter ausgeführt ist -, wie der Mensch sich selber zu üben, wie er an sich zu arbei­ten hat, um sich die Fähigkeiten zum Hineinschauen in die geistige Welt zu verschaffen. Und zu gleicher Zeit muß die

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Möglichkeit geboten sein, an dem Vorhandenen, was die Geistesforscher zu allen Zeiten als die geistigen Tatsachen gefunden haben, selber die Kräfte zu schulen und ein rich­tiges Gleichgewicht herzustellen zwischen dem, was man als Kraft entwickelt im Innern, und dem, was man von der Außenwelt begreifen soll. Wenn der Mensch es unterläßt, die Kräfte, die er in sich entwickelt, wirklich im Begreifen der Außenwelt anzuwenden; wenn er den kaum zu be­zähmenden Wunsch hat, recht viel innere Seelenkräfte zu entwickeln, alles mögliche in Bewegung zu bringen in der Seele, damit sie Geistes-Augen und Geistes-Ohren ent­wickele, und dabei zu bequem ist, sich in langsamer und richtiger Art mit den bereits vorliegenden Tatsachen der Geistesforschung still und in vernünftiger Arbeit zu be­fassen, dann kann es sein, daß durch seine Askese etwas recht Schlimmes auftritt. Es kann sein, daß der Mensch in sich allerlei Kräfte und Fähigkeiten entwickelt, mit denen er aber nichts anzufangen weiß, keine Möglichkeit hat, diese Kräfte auch in der Außenwelt anzuwenden. Darauf läuft manche Schulung hinaus, insbesondere solche, die Erkennt­niskräfte entwickelt ohne die Möglichkeit, dieselben anzu­wenden, und auch Schulungen, die nicht energisch darauf aus­gehen, Askese zu üben zunächst durch geistige Mittel, wie sie charakterisiert worden sind, damit der Mensch durch seine Übungen stärker und immer stärker werde. Es gibt auch Methoden, die darauf ausgehen, einen anderen Weg einzu­schlagen; einen Weg, den man ja als einen bequemeren be­zeichnen kann, der aber leicht zu Unfug führen kann. Dieser Weg geht darauf hinaus, jene Hindernisse zu beseitigen, welche die Seele zunächst von den Eindrücken der Körper­lichkeit hat, um dadurch zu einem inneren Leben zu kommen.

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DieseHindernisse zu beseitigen, war auch das einzigeBestre­ben dessen, was man im Mittelalter die Askese genannt hat, und was es zum Teil in der neueren Zeit noch gibt. Statt jene wahre Askese zu üben, die darauf hinausgeht, der Seele einen immer reicheren Inhalt zu geben, geht eine falsche Askese davon aus, die Seele zu lassen, wie sie ist, und dafür den Leib zu schwachen, die Kräfte des Körperlichen in ihrer Wirksamkeit zu vermindern. So gibt es ja Mittel, um diesen Leib herabzustimmen, so daß er in seinen Funktionen nicht mehr stark und kräftig ist wie im gewöhnlichen Leben, son­dern daß er schwächer und schwächer wird. Dadurch kann dann erreicht werden, daß die schwach gebliebene Seele eine Art Oberhand über die schwach gewordenen körperlichen Funktionen hat. Während bei einer richtigen Askese der Leib bleiben soll, wie er ist, und die Seele Sieger werden soll über den Leib, wird bei einer andern Askese die Seele gelassen, wie sie ist, und dagegen durch allerlei Prozeduren, Fasten, Kasteien und so weiter, der Leib sozusagen in sich selber schwach gemacht, so daß dann die Seele stärker ist und zu einer Art von Bewußtsein kommen kann, trotzdem sie ihre Kräfte gar nicht erhöht hat. Das ist die Stimmung mancher Asketen des Mittelalters: sie ertöten die Stärke des Leibes, vermindern seine Funktion, lassen die Seele, wie sie ist, und versetzen sich in den Zustand der Erwartung, der ihnen von außen, ohne ihr Zutun, dasjenige bringen soll, was Inhalt der geistigen Welt ist.

Es ist das die bequemere Methode; es ist aber diejenige Methode, die den Menschen nicht in Wahrheit stärker

macht. Die wahre Methode fordert, daß der Mensch sein Denken, Fühien und Wollen läutert und reinigt, daß er

Denken, Fühlen und Wollen gerade stärker macht, damit

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sie kräftiger und Sieger werden über das Leibliche. Die an­dere Methode stimmt den Leib herunter, und dann soll die Seele ohne eine Hinzufügung von neuen Fähigkeiten war­ten, bis die gotterfüllte Welt in sie einströmt.

Diese Stimmung - Sie können sie in manchen Anweisun­gen des Mittelalters als « Askese » finden - führt zur Welt­fremdheit und zur Weltenferne, und sie muß dazu führen. Denn im gegenwärtigen Zustand unserer Menschheitsent-wicklung besteht ein gewisses Verhältnis zwischen den Wahrnehmungskräften in uns und dem, was draußen ist. Wollen wir hinauskommen über den gegenwärtigen Mensch­heitszustand, dann können wir es nur dadurch tun, daß wir unsere Kräfte in uns erhöhen und dann mit den erhöhten Kräften die Außenwelt um so tiefer und bedeutsamer er­fassen. Stimmen wir aber unsere normalen Menschenkräfte herab, machen wir uns unfähig, das normale Verhältnis zur Außenwelt zu haben, bemühen wir uns, besonders das Den­ken, Fühlen und Wollen herabzustimmen, und versetzen wir dann unsere Seele in den Zustand der Erwartung, dann fließt in diese Seele etwas ein, was kein Verhältnis zu un­serer heutigen Welt hat, was uns zu einem Sonderling macht, zu einem Menschen, der unbrauchbar ist für die wirkliche Arbeit in unserer Welt. Während echte, wahre Askese zu einem Menschen führt, der brauchbarer und immer brauch­barer für die Welt wird, weil er immer tiefer hineinschaut in die Welt, führt die andere Askese, die mit der Unter­drückung der körperlichen Funktionen verknüpft ist, dazu, den Menschen herauszuziehen aus der Welt, ihn zu einem Einsiedler, zu einem Eremiten zu machen in jeglicher Be­ziehung. Dann mag er auf seinem einsamen Standpunkt, auf seiner einsamen Seeleninsel mancherlei seelisch-geistige

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Dinge sehen - das soll ihm nicht abgeleugnet werden -, aber brauchbar für die Welt ist eine solche Askese nicht. Askese ist Arbeit, Übung für die Welt, und nicht ein Sich­zurückziehen in Weltenfernen.

Damit soll nun wiederum nicht gesagt werden, daß gleich bis zum Extrem gegangen werden muß. Man kann von der einen Seite der anderen entgegenkommen. Wenn es auch im allgemeinen richtig ist, daß im heutigen Menschheitszyklus ein gewisses normales Verhältnis besteht zwischen der Außenwelt und den Kräften unserer Seele, so darf doch auf der andern Seite gesagt werden, daß eine jede Zeit sozu­sagen das Normale ins Extrem treibt, und daß derjenige, welcher höhere Fähigkeiten entwickeln will, als es die nor­malen sind, die Widerstände, die von unnormalen Zeit-strömungen herkommen, nicht zu berücksichtigen braucht. Und weil die Widerstände in ihm vorhanden sind, kann er unter Umständen auch etwas weiter gehen, als er sonst gehen müßte, wenn die Zeit nicht auch ihrerseits sündigen würde. Das muß deshalb gesagt werden, weil Sie vielleicht vernommen haben, daß manche Angehörige der gegenwär­tigen geisteswissenschaftlichen Strömung auf eine gewisse Diät einen großen Wert legen. Damit ist durchaus nicht gemeint, daß irgend etwas für die Erlangung oder auch nur für das Verständnis höherer Welt- und Lebensverhältnisse erreicht werden soll durch gerade eine solche Lebensweise. Sie kann nur ein äußeres Hilfsmittel sein und darf nur so aufgefaßt werden, daß derjenige, der sich ein Verständnis für die geistigen Welten erwerben will, einen gewissen Wi­derstand finden kann an dem, worinnen er sich hineingelebt hat: an den Sitten und Gebräuchen der äußeren Welt. Und weil er durch diese Sitten und Gebräuche zu tief heruntergeführt

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worden ist in die rein materielle Welt, darum muß er, um sich die Übungen zu erleichtern, über das hinaus­gehen, was für die meisten Menschen das Normale ist. Würde er aber das zu seiner Askese rechnen, zu den Mitteln, die in die geistige Welt hinaufführen, dann würde er ganz fehl gehen. Denn niemand kann der Vegetarismus in die höheren Welten hinaufführen; er kann nur eine Unter­stützung sein, die man so auffaßt: Ich will gewisse Arten des Verständnisses mir eröffnen für die geistigen Welten; da habe ich ein Hindernis an meiner dichten Körperlichkeit, und das ist so stark, daß die Übungen nicht gleich in der richtigen Weise eingreifen; also unterstütze ich mich da­durch, daß ich meiner Leiblichkeit eine gewisse Erleichterung verschaffe. Eine solche Erleichterung ist zum Beispiel der Vegetarismus, der durchaus nicht als ein Dogma aufgestellt wird, sondern nur als etwas, was einem Menschen das Ver­ständnis für die geistigen Welten erleichtern kann. Nie­mand aber soll glauben, daß er etwa durch eine vegetarische Lebensweise geistige Kräfte entwickeln könnte. Denn die Seele bleibt, wie sie ist; nur der Körper wird schwächer. Wenn aber die Seele auf der einen Seite stärker geworden ist, wird sie auf der andern Seite dadurch, daß der Vege­tarismus auf den Menschen wirkt, auch den schwächeren Körper von dem Zentrum der Seelenkräfte aus in entspre­chender Weise stärker gestalten können, so daß ein Mensch, der sich in geistiger Art mit dem Vegetarismus entwickelt, kräftiger, tüchtiger und widerstandsfähiger für das Leben werden und es nicht nur mit jedem Fleischesser aufnehmen, sondern ihn an Leistungsfähigkeit sogar übertreffen kann. Das kommt aber gerade daher, daß nicht das eintritt, was viele glauben, wenn sie von denen, die in einer geistigen

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Strömung darinnen stehen und Vegetarier sind, sagen: Was sind das für arme Kerle, die nicht einmal das bißchen Fleischgenuß haben!

So lange der Mensch diese Stimmung entfalten würde, würde der Vegetarismus ihm nicht im mindesten etwas nüt­zen können. So lange der Mensch Gier und Sucht hat nach Fleisch, nützt ihm der Vegetarismus gar nichts; sondern erst, wenn er auf dem folgenden Standpunkt steht, den ich durch eine kleine Erzählung klarmachen will.

Vor längerer Zeit wurde jemand gefragt: Warum essen Sie denn eigentlich kein Fleisch? Da sagte er: Ich will Sie mit einer Gegenfrage belästigen: Warum essen Sie kein Hundefleisch oder Katzenfleisch? - Das kann man doch nicht essen! war die Antwort. - Warum denn nicht? -Nun, weil ich davor Ekel habe! - Gut, ganz so habe ich Ekel vor allem Fleisch!

Um diese Stimmung handelt es sich. Wenn der Genuß an der Fleischkost aufgehört hat, dann ist erst die Stimmung da, wo die Enthaltung von der Fleischkost in bezug auf die geistigen Welten irgend etwas nützt. Vorher kann die Ent­wöhnung vom Fleisch nur ein Hilfsmittel sein, sich die Be­gierde nach Fleisch abzugewöhnen. Aber wenn man die Begierde sich nicht abgewöhnen kann, dann ist es vielleicht besser, man fängt mit dem Fleisch wieder an; denn das fort­währende Sichquälen damit ist durchaus nicht der richtige Weg, um in das Verständnis der Geisteswissenschaft hinein-zukommen.

Aus alledem sehen Sie charakterisiert, was man wahre und falsche Askese nennen kann. Zur falschen Askese wer­den aber leicht diejenigen geführt, die nur die Sucht haben, ihre inneren seelischen Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln,

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denn ihnen wird es ziemlich gleichgültig sein, die Außenwelt wirklich zu erkennen. Sie wollen ja zunächst nur diese see­lischen Fähigkeiten entwickeln und dann abwarten, was da kommt. Das könnte man am besten, wenn man seinen Leib so viel quält wie möglich; dann wird er schwach, dann darf die Seele schwach bleiben und kann dann so in irgendeine geistige Welt hineinsehen, wenn sie auch noch so unbrauch­bar ist zum Begreifen einer wirklichen geistigen Welt. Dies ist aber der Weg zur Täuschung; denn in dem Augenblick, wo der Mensch sich den Rückweg verriegelt in die physische Welt zurück, tritt ihm keine wahre geistige Welt entgegen, sondern nur die Trugbilder seines eigenen Selbstes. Und sie müssen ihm aus dem Grunde entgegentreten, weil er die Seele läßt, wie sie ist. Weil er sein Ich auf dem Standpunkt stehen läßt, auf dem es steht, entwickelt es sich nicht zu höheren Kräften, und den Zusammenhang mit der Welt vermauert sich der Mensch dadurch, daß er die Funktionen, durch welche er mit der Welt in Beziehung tritt, herab-drückt. Er kommt durch seine Askese nicht nur dazu, welt­fremd zu sein, sondern auch sich das anzuzüchten, was man nennen kann: Er sieht Bilder, die ihm seine eigene Seele auf der Stufe, bis zu der er gekommen ist, vorgaukeln kann, er sieht sein durch sein eigenes Selbst getrübtes Bild an Stelle einer wahren geistigen Welt. Und die zweite Folge ist die, welche uns auf moralischem Gebiete entgegentritt: wer so glaubt, gerade durch Demut und Hingabe an die geistige Welt ein richtiges Leben zu entfalten, der sieht gar nicht, daß er mit aller Gewalt in sein Selbst sich hineinspinnt, ein Egoist im ärgsten Sinne des Wortes wird, sich zu gar nichts hinentwickeln will als zu dem, wo er schon steht. Dieser Egoismus, der ausarten kann in einen wilden Ehrgeiz und

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eine wilde Eitelkeit, ist deshalb so gefährlich, weil ihn der Betreffende, der ihn hat, selbst niemals sehen kann. Er selbst hält sich gewöhnlich für einen Menschen, der zu den Füßen seines Gottes in tiefster Demut hinsinkt, während der Teu­fel des Größenwahns in ihm spielt. Was er in Demut ent­wickeln soll, das weist er ab; denn er würde gerade dadurch demütig sein, daß er sich sagt: Nicht wo ich stehe, sind die Kräfte der geistigen Welt; sondern die müssen erst entwik­kelt werden; ich muß hinaufsteigen; ich darf nicht mit den Kräften, die ich schon habe, warten.

So sehen wir, wie zu Täuschung, Irrtum, Eitelkeit und Selbstsucht, ja, zu allen möglichen Wahnsinnsuntergründen gerade diese Art von Askese führen kann, die zunächst auf Ertötung des Äußeren ausgeht und nicht auf Erstarkung des Innern. Insbesondere würde es in unserer heutigen Zeit von dem größten Übel sein, wenn jemand nicht durch Er­höhung seiner Seelenkräfte, sondern durch Abtötung des Äußeren in die geistige Welt sich erheben wollte. Er spinnt sich dadurch nur in sein eigenes Selbst ein. Daher kann auch für den gegenwärtigen Menschen das Vorbild zur Askese nicht von denen geholt werden, die zu ihrer Zeit vielleicht auf einer einsamen Seeleninsel den Zugang gesucht haben zu einer geistigen Welt; sondern das heutige Ideal einer wahren Askese kann nur bei der heutigen, der modernen Geisteswissenschaft gesucht werden, die fest auf dem Boden der Wirklichkeit steht; durch die der Mensch seine Kräfte und Fähigkeiten entwickelt, durch die er hinaufsteigt zum Begreifen einer geistigen Welt, die aber dennoch eine Welt der Wirklichkeit ist; nicht eine Welt, in welche der Mensch sich einspinnt.

Nun gibt es aber noch andere Schattenseiten einer solchen

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einseitigen Askese. Wenn Sie die ganze umliegende Natur betrachten, werden Sie finden, daß, je weiter wir hinauf­gehen vom Pflanzenreich zum Tierreich und Menschenreich, die Lebensverhältnisse nach und nach einen ganz anderen Charakter annehmen. Beschäftigen Sie sich mit dem, was man nennen könnte «Pflanzenkrankheiten », so werden Sie sehen, daß diese Pflanzenkrankheiten einen durchaus ande­ren Charakter tragen als das, was man Krankheiten beim Tier oder gar erst beim Menschen nennt. Denn Krankheiten der Pflanzen werden nur von außen bewirkt, durch irgend­welche unnormalen Verhältnisse von Wind und Wetter, Licht und Sonnenschein. Diese Verhältnisse der Außenwelt können die Pflanzen krank machen. Gehen Sie nun zum Tier hinauf, so können Sie sehen, daß auch das Tier in sei­nen inneren Verhältnissen, wenn es sich selbst überlassen ist, einen weit größeren Fonds von Gesundheit hat als der Mensch. Der Mensch ist eben nicht nur imstande, durch das Leben, in das er hineingestellt ist, durch die Verhältnisse, die ihm von außen entgegentreten, sich krank zu machen, son­dern auch durch alles, was sich in sein Inneres oder von dort nach außen ergießt. Damit hängt es nun auf der einen Seite zusammen, daß die Seele, wenn sie nicht richtig dem Körper­lichen angepaßt ist, wenn dasjenige, was als geistige Anlage aus früheren Verkörperungen herstammt, sich in seiner In­nerlichkeit nicht vollständig anpassen kann an die äußere Körperlichkeit, schon dadurch innere Ursachen der Erkran­kung auftreten, die oft so falsch beurteilt werden können. Da sehen wir, wie innere Krankheiten auftreten können als Symptome dafür, daß kein rechtes Zusammenpassen zwi­schen Leib und Seele da ist. Wir können oft sehen, daß Menschen, bei denen solche Symptome auftreten, daß die

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Leiber nicht recht zusammenpassen, gern darauf zielen, in die höheren Welten hinaufzukommen, indem sie das Leib­liche abzutöten versuchen, weil sie durch ihre Krankheits­verhältnisse schon dazu geführt sind, ihre Seele abzutrennen von dem Körperlichen, das nicht vollständig durchdrungen ist von dem Seelischen. Bei solchen Menschen tritt uns dann entgegen, daß der Leib sich in der verschiedensten Weise in sich selber verhärtet, daß er sich in sich selbst gestaltet; und da sie sich in ihrer Seele nicht stärker gemacht haben, son­dern gerade ihre Schwäche benutzt haben, um frei zu wer­den von den Eindrücken der Leiblichkeit, und dadurch ihre gesundenden, erstarkenden und kräftigenden Fähigkeiten dem Leibe entziehen, kann dann der Leib die Disposition zu allen möglichen Erkrankungen erhalten. Während eine gesunde Askese die Kräftigung und Stärkung der Seele ent­wickeln wird, so daß die Seele auch wieder zurückwirkt auf den Leib und ihn stark machen wird gegen jede Krankheits­einwirkung von außen, wird eine falsche Askese den Men­schen angreifbar machen für jeden von außen kommenden Krankheitseinfluß.

Das ist der gefährliche Zusammenhang zwischen jeder falschen Askese und den Krankheiten gerade in unserer Zeit. Und das ist es auch, was in weiteren Kreisen, in denen man sich leicht Mißverständnissen gegenüber solchen Din­gen hingibt, allerlei Irrtümer hervorrufen kann über das, was geisteswissenschaftliche Weltanschauung dem Menschen bringen kann. Denn gewiß werden diejenigen, die auf dem Wege einer falschen Askese zu einer Anschauung der gei­stigen Welt kommen wollen, ein abschreckendes Bild bieten können für die Außenstehenden; denn sie werden durch ihre falsche Askese ein breites Angriffsfeld den schädlichen

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Einflüssen der Außenwelt geben können; sie werden nicht gestärkt und gekräftigt sein gegen die Irrtümer unserer Zeit, sondern sie werden ihnen erst recht ausgesetzt sein.

Das kann uns auch gerade an mancher theosophischen Geistesströmung unserer Zeit entgegentreten. Dadurch, daß mancherlei sich «Theosophie» nennt, ist es noch nicht mit einem Freibrief versehen, um als geistige Strömung man­chen entgegengesetzten Strömungen der Gegenwart ge­wachsen zu sein. Wenn Materialismus in der Welt draußen herrscht, so ist er ein wenig dem angemessen, was von drau­ßen kommt, den Begriffen, die man sich in der Sinneswelt von dem machen muß, worauf der sinnliche Blick gerichtet ist. Daher kann man sagen, daß der Materialismus der äußeren Welt, der nichts von einer geistigen Welt weiß, in gewisser Weise berechtigt ist. Wenn aber eine Weltanschau­ung auftritt, die über die geistige Welt etwas mitteilen will, und die, weil sie nicht auf einer wirklichen Erstarkung der geistigen Kräfte beruht, in sich die materialistischen Vor­urteile der Zeit in ihren karikierten Formen hineinnimmt, dann ist das um so schlimmer. Daher ist eine solche theo­sophische Weltanschauung, in welche die Irrtümer der Zeit eingedrungen sind, unter Umständen viel schädlicher als eine materialistische, und es darf wohl darauf hingewiesen werden, daß wirklich materialistische Vorstellungen im weitesten Umfange gerade in die theosophische Weltan­schauung eingedrungen sind. Da spricht man dann vom Geistigen nicht als von Geist, sondern als ob der Geist nur eine unendlich verfeinerte nebulose Materie sei. Wenn man vom Ätherleib spricht, stellt man sich nur das Physische über einen gewissen Grad hinaus verfeinert vor und spricht dann von Äther-« Schwingungen ». Beim Astralischen sind

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dann diese Schwingungen noch feiner, im Mentalen wie­derum feiner und so weiter. Überall sind «Vibrationen», überall «Schwingungen ». Man kommt eigentlich niemals in eine wirkliche geistige Welt mit seinen Vorstellungen hin­ein, sondern bleibt bei solchen Vorstellungen stehen, die sich auf eine materielle Welt beziehen sollten. Da erlebt man es denn, daß sich die Menschen in Wahrheit einen materia­listischen Dunst vormachen bei den allergewöhnlichsten Lebenserscheinungen. Wenn man zum Beispiel irgendwo ist, wo man spüren kann, daß eine gute Stimmung herrscht, wo die Seelen der Menschen zusammenklingen, und einer, der das fühlt, etwa sagt, es herrsche eine harmonische Stim­mung in diesem Kreis von Menschen, so mag das alltäglich ausgedrückt sein, aber es ist richtig und führt eher zu einem richtigen Verständnis, als wenn in einer Gesellschaft von Theosophen einer sagt: 0, hier sind feine Vibrationen! Dazu muß man ja erst theosophischer Materialist sein und sich eine grobklotzig gedachte Materie vorstellen, um da­von sprechen zu können. Und dem, der ein Gefühl dafür hat, vergeht dann seine Stimmung; das Ganze vernebelt sich, wenn die Betreffenden ihre «vibrations » oder Vibrationen herumtanzen lassen. Da sehen wir, wie auf diesem Gebiete durch das Eindringen materialistischer Vorstellungen in eine geistige Weltanschauung ein abschreckendes Bild ge­schaffen werden kann für die Außenstehenden, die dann sagen können: Diese Leute haben eine geistige Welt; aber anders ist es auch nicht als bei uns: bei uns tanzt der Licht-äther, bei denen tanzt sogar der geistige Äther! Das ist ein und derselbe Materialismus. Materialismus hier, Materialis­mus da!

Das sollte man durchaus im rechten Lichte sehen! Dann

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würde man nicht mehr eine falsche Anschauung gewinnen können über das, was die geisteswissenschaftliche Weltan­schauungs-Strömung in unserer Zeit den Menschen bringen kann. Dann würde man einsehen, daß Askese auch etwas sein kann, was durch Erstarkung des Seelenlebens hinauf­führt in die geistige Welt und dadurch auch wieder neue Kräfte hineinbringen kann in unser physisch-materielles Dasein. Diese Kräfte sind dann keine krankmachenden Kräfte, sondern gesund wirkende Kräfte; sie führen unserm Leiblichen gesunde Lebenskräfte zu. - Es ist freilich schwe­rer, zu konstatieren, ob eine Weltanschauung uns gesunde Lebenskräfte zuführt oder kranke; die kranken sieht man in der Regel, während man die gesunden gewöhnlich nicht beachtet. Wer es beobachten kann, der wird sehen, wie die­jenigen, die in einer wahren Geistesströmung stehen und sich von ihr befruchten lassen, gesunde Kräfte aus ihr zie­hen, die bis in das Physische gesundend herunterwirken können. Und der wird auch sehen, wie die Krankheits-erscheinungen nur wirken können, wenn etwas von der Außenwelt, was nicht aus einer geistigen Strömung fließt, hineingetragen wird in eine geistige Strömung. Das wirkt dann aber schlimmer innerhalb der geistigen Strömung, als wenn es draußen bleibt, wo der Mensch durch die Konven­tionen davor geschützt ist,. daß gewisse Irrtümer zu starke Wirkungen hervorbringen.

Wenn wir diese Dinge so aufnehmen, werden wir wahre Askese auffassen als eine Vorübung zu einem höheren Le­ben, als eine Entwickelung von Kräften, und werden das gute alte griechische Wort wiederum so verstehen, wie es gemeint ist. Denn «askein» heißt «sich bemühen», «sich stark machen», ja sogar «sich schmücken», daß sich die

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Menschlichkeit an einem offenbaren kann gegenüber der Welt. Askese ist ein Sich-stark-machen, wenn sie in ihrem richtigen Sinne aufgefaßt wird. Wenn sie aber so aufgefaßt wird, daß der Mensch die Seele lassen will, wie sie ist, und dann durch Herabstimmen der äußeren Leiblichkeit etwas erreichen will, dann trennt er die Seele von dem Leib und macht den Leib zum Angriffspunkt aller möglichen schäd­lichen Einflüsse, und dann ist Askese ein Quell aller mög­lichen Erkrankungsverhältnisse des Leibes.

Was die Licht- und Schattenseiten des Egoismus sind, wird sich uns in der Betrachtung des Wesens des Egoismus zeigen. Heute wird sich Ihnen aber gezeigt haben, daß es bei der wahren, richtigen Askese darauf ankommt, wie sie wirkt, was sie fruchtet, wie sie sich in die Welt gerade so hineinstellt, daß sie niemals Selbstzweck sein kann, sondern nur Mittel zur Erreichung eines höheren Menschheitszieles, zum Hineinleben in die höheren Welten. Daher muß der Mensch, wenn er zu dieser Askese schreiten will, einen siche­ren Boden der Wirklichkeit unter seinen Füßen haben. Er darf nicht fern und fremd werden der Welt, in die er hin­eingestellt ist; sondern er muß jederzeit die Welt wieder­erkennen. Was er aus der höchsten der Welten herunter-bringen kann in diese Welt, das muß er hier - in dieser Welt - wiederum an seiner Arbeit bemessen und beurteilen können; denn sonst könnten leicht diejenigen Recht haben, welche behaupten, Askese wäre nicht Arbeit, sondern Mü­ßiggang! Müßiggang kann allerdings sehr leicht der Anlaß zu einer falschen Askese werden - und besonders in unserer heutigen Zeit. Wer aber seine Verhältnisse sicher und fest macht und nicht den Boden unter den Füßen verliert, der beachtet gerade einer so ernsten Sache wie unsern menschlichen

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Fähigkeiten gegenüber ein höchstes Ideal in der As­kese. 0, es können unsere Ideen hoch hinaufsteigen, wenn wir uns ein Ideal für alles Üben menschlicher Fähigkeiten, wie sie wirken sollen in der Welt, vor Augen führen.

Sehen wir uns einmal das Alte Testament in seinem An­fange an. Da heißt es: «Und Gott sprach: Es werde Licht! »... Von Tag zu Tag läßt Gott aus der geistigen Welt die physisch-sinnliche Welt entstehen; und am Schlusse eines jeden Tages fühlt sich der Gott befriedigt, wenn er die phy­sische Welt, die aus der geistigen herausgeschaffen ist, an­sieht, so daß er sagen kann: Es ist gut! «Und Gott sahe, daß es gut war! » - So müssen wir von dem festen Boden der Wirklichkeit, auf dem wir zunächst stehen, uns unser ge­sundes Denken, unsern sicheren Charakter, unsere unbeirr­ten Gefühle erhalten, hineinsteigen in die geistige Welt, die Tatsachen, aus denen alle physische Welt herausgeboren ist, erforschen, aber wir müssen uns die Möglichkeit bewah­ren, wenn wir die gewonnenen Kräfte in der physischen Welt zur Anwendung bringen und sehen, wie sie in die Welt hineinpassen, uns dann sagen zu können: «Wenn wir uns als Geistesforscher, als Geisteswisser und -erkenner zur Umwelt stellen und sehen, wie die Kräfte, die wir entwickelt haben, in die Welt hineinpassen, dann zeigt sich uns, daß es gut war. » Wenn wir unsere Kräfte so in der wirklichen Welt erproben, die wir durch eine richtige Askese gewinnen können, dann erwerben wir uns das Recht, daß wir jetzt sagen können, wenn wir sie gebrauchen: «Siehe da, sie sind gut!»

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BUDDHA UND CHRISTUS

Seit ihrem Bestehen hängt es der geisteswissenschaftlichen Bewegung an, daß sie verwechselt wird mit mancherlei an­deren Tendenzen und Bestrebungen der Gegenwart. So hängt es ihr insbesondere an, daß sie geziehen wird, irgendwelche orientalische Geistesströmungen, namentlich die buddhistische Geistesströmung in die Kultur des Abendlandes verpflanzen zu wollen. Daher muß die Geistesfor­schung besonders das heutige Thema interessieren, das Betrachtungen anstellen will über die Bedeutung der Buddha­-Religion auf der einen Seite und die des Christentums auf der andern Seite - und zwar von dem Gesichtspunkt aus, wie er sich für eine geisteswissenschaftliche Betrachtung er­gibt. Diejenigen der verehrten Zuhörer, die schon öfter hier an diesen Vorträgen teilgenommen haben, werden wissen, daß es sich hier handelt um eine im wissenschaftlichen Sinne gehaltene, weit ausgreifende Betrachtung über die Welt­erscheinungen vom Gesichtspunkte des Geisteslebens aus.

Wer sich nun ein wenig mit dem Wesen des Buddhismus befaßt hat, wird seinerseits wissen, wie der Stifter des Bud­dhismus, der Gotama Buddha, eigentlich immer alle die Fragen abgelehnt hat, die sich auf die Entwickelung der Welt und auf die Grundlagen unseres Daseins beziehen; wie er nicht darüber sprechen wollte. Und wie er einzig und allein sprechen wollte über dasjenige, wodurch der Mensch zu einem in sich befriedigenden Dasein kommen könne. So wird man schon von diesem Gesichtspunkt aus die Geistes­wissenschaft oder Theosophie, da sie durchaus nicht ablehnt,

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über die Quellen des Weltendaseins, über die großen Ent­wickelungstatsachen zu sprechen, nicht einseitig mit dem Buddhismus verwechseln dürfen. Und wenn eine ganz be­stimmte Anschauung innerhalb der Geisteswissenschaft im­mer mehr und mehr mit dem Buddhismus zusammengewor­fen wird, nämlich die Anschauung von den wiederholten Erdenleben des Menschen und von dem, was als geistige Verursachung von früheren Erdenleben in spätere Erden­leben hinüberzieht, so darf ohne weiteres gesagt werden:

Es ist sonderbar, wenn der Geisteswissenschaft der Vorwurf gemacht wird, diese Anschauung von der Wiederverkör­perung des Menschen, von den wiederholten Erdenleben, sei Buddhismus. Es ist deshalb sonderbar, weil man doch endlich begreifen sollte, daß es der Geisteswissenschaft nicht darum zu tun ist, sich zu diesem oder jenem Namen zu be­kennen, sondern um das, was als Wahrheit erforschbar ist, ganz unabhängig von jeglichen Namen in unserer Zeit. Wenn aber doch die Lehre von der Wiederverkörperung der Menschen oder den wiederholten Erdenleben auch unter den Anschauungen des Gotama Buddha zu finden ist, wenn auch in ganz anderer Form, so ist das für die Theosophie oder Geisteswissenschaft der heutigen Zeit nichts anderes, als wenn unsere elementaren Lehren über Geometrie bei Euklid zu finden sind. Und ebensowenig wie einem Lehrer der Geometrie der Vorwurf gemacht werden darf, daß er «Euklidismus» treibe, ebensowenig sollte der Geisteswissen­schaft, wenn sie eine Lehre wie die von der Wiederverkör­perung zu der ihrigen macht, deshalb der Vorwurf des Bud­dhismus gemacht werden, weil bei Buddha ähnliche An­schauungen zu finden sind. Aber es ist dennoch notwendig, darauf hinzuweisen, daß gerade Geisteswissenschaft ein

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Instrument ist, um eine jegliche Religion - also auf der einen Seite auch die, welche unserer europäischen Kultur zugrunde liegt, das Christentum, und auf der andern Seite das buddhistische Bekenntnis - nach den Quellen im geistes­wissenschaftlichen Sinne zu prüfen.

Daß Geisteswissenschaft «Buddhismus» sein wolle, das ist ja nicht nur ein von Nichtkennern der Theosophie heut gemachter Vorwurf; sondern es ist das etwas, was zum Bei­spiel auch der große Orientalist, der um die orientalischen Religionsbekenntnisse und ihr Bekanntwerden in Europa verdienstvolle Max Müller sich durchaus nicht ausreden ließ; und gegenüber einem Schriftsteller hat er einmal dar­über eine Bezeichnung gewählt, die er in einem Gleichnis zum Ausdruck brachte. Er sagte: Wenn ein Mensch irgend­wo auftreten würde mit einem Schwein, das gut grunzen kann, so würde kein Mensch deswegen hinzulaufen und etwas Besonderes daran finden, daß ein Mensch herumgeht mit einem gut grunzenden Schwein. Wenn aber ein Mensch allein auftreten würde, der das Grunzen des Schweines täu­schend nachahmen kann, da würden dann die Leute herbei-laufen und das als ein besonderes Wunder anschauen! -Max Müller wählt dieses Beispiel, weil er mit dem Schwein, das seiner Natur nach grunzt, den wirklichen Buddhismus bezeichnen wollte, der auch in Europa bekannt geworden ist. Um diese wirkliche Lehre des Buddhismus, so meint er, kümmere sich kein Mensch in Europa; während der falsche Buddhismus oder, wie er sagt, «der theosophische Schwin­del der Frau Blavatsky» überall Zuspruch fände, wo es nur möglich sei. - Man kann dieses Gleichnis eigentlich nicht besonders glücklich finden; aber abgesehen davon, daß es nicht glücklich genannt werden kann, die echte Lehre des

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Buddhismus, die auf so mühevolle Weise zustande gekom­men ist, in dieser Weise verglichen zu sehen, will ja auch Max Müller damit sagen, daß Frau Blavatsky den Bud­dhismus gerade in schlechter Weise dargestellt hat. Also es läßt sich auch wieder nicht damit vergleichen, daß es einem Menschen in täuschender Weise gelungen sei, das Grunzen des Schweines gut nachzuahmen; denn in die­sein Falle müßte man ja annehmen, daß es eben der Ma­dame Blavatsky besonders gut gelungen sei, das Grun­zen des Schweines nachzuahmen. Und das werden auch heute von den verständigen Theosophen die wenigsten glauben wollen, daß Frau Blavatsky, der man als Verdienst anrechnen muß, daß sie den Stein ins Rollen gebracht hat, glücklich das wiedergegeben hat, was echter und wahrer Buddhismus ist. Aber das ist auch gar nicht nötig. Ebenso­wenig wie jemand, der Geometrie treiben will, den Euklid gut wiedergeben muß, ebensowenig hat er es nötig, dem wirklichen Sinne nach Buddhismus zu treiben, wenn er Theosophie lehren will.

Wenn wir im Sinne der Geisteswissenschaft uns nun hin­einvertiefen wollen in den Geist des Buddhismus, um ihn dann vergleichen zu können mit dem Geist des Christen­tums, so tun wir am besten, wenn wir nicht gleich auf die großen Lehren gehen, welche ja leicht in dieser oder jener Weise interpretiert werden können, sondern wenn wir ver­suchen, uns an den Symptomen eine Vorstellung der Trag­weite und der Bedeutung des Buddhismus zu verschaffen; - also an dem, was wirksam ist in der Vorstellungsweise und in der ganzen Denkungsart des Buddhismus. Da kom­men wir am besten zurecht, wenn wir uns an eine innerhalb des buddhistischen Bekenntnisses sehr angesehene Schrift

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halten: das sind die Fragen des Königs Milinda an den bud­dhistischen Weisen Nagasena.

Da werden wir zunächst an ein Gespräch erinnert, wel­ches so recht aus dem Innern heraus uns den Geist buddhi­stischer Denkungsweise geben kann. Da will der mächtige, der geistvolle König Milinda Fragen stellen an den bud­dhistischen Weisen Nagasena. Er, der König Milinda, der niemals von einem Weisen besiegt worden ist, denn er wußte immer dasjenige zurückzuweisen, was man seinen Anschau­ungen entgegengestellt hat, will sich mit dem buddhistischen Weisen Nagasena unterhalten über die Bedeutung des Ewi­gen, des Unsterblichen in der Menschennatur; über das, was sich von Verkörperung zu Verkörperung hinüberzieht.

Nagasena fragt den König Milinda: Wie bist du hierher gekommen, zu Fuß oder im Wagen? - Im Wagen. - Nun wollen wir einmal untersuchen, meint Nagasena, was der Wagen ist. Ist die Deichsel der Wagen? - Nein. - Ist das Rad der Wagen? - Nein. - Ist das Joch der Wagen? - Nein. -Ist der Sitz, worauf du gesessen hast, der Wagen? - Nein. -Und so, meint Nagasena, kann man alle Teile des Wagens durchgehen; alle Teile sind nicht der Wagen. Dennoch ist alles, was wir da vor uns haben, der Wagen, nur aus einzel­nen Teilen zusammengesetzt; das ist nur ein «Name» für das, was aus den Teilen zusammengesetzt ist. Sehen wir von den Teilen ab, so haben wir eigentlich nichts anderes als nur einen Namen!

Der Sinn und der Zweck dessen, was Nagasena hier dem König vorbringen will, ist der: abzulenken den Blick von dem, worauf das Auge ruhen kann in der physisch sinn­lichen Welt. Er will zeigen, daß eigentlich nichts in der physischen Welt dasjenige ausmacht, was mit dem «Namen»

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irgendeines Zusammenhanges bezeichnet wird, um so die Wertlosigkeit und Bedeutungslosigkeit des Physisch-Sinnlichen in seinen Teilen darzulegen. Und um den gan­zen Gebrauch dieses Gleichnisses klarzumachen, meint Naga­sena: So ist es auch mit dem, was den Menschen zusammen­faßt, und was sich von Erdenleben zu Erdenleben hinüber­zieht. Sind Hände und Beine und Kopf dasjenige, was von Erdenleben zu Erdenleben geht? Nein! Was du heute tust, und was du morgen tust, ist das dasjenige, was von Erden­leben zu Erdenleben geht? Nein! Was ist es also, was wir zusammenfassen an einem Menschen? Name und Form ist es! Aber damit ist es so, wie mit Namen und Form des Wa­gens. Wenn wir die einzelnen Teile zusammenfassen, haben wir nur einen Namen. Wir haben nichts Besonderes außer den Teilen!

Und um das noch besonders anschaulich zu machen, kön­nen wir auf ein anderes Gleichnis unsere Aufmerksamkeit lenken, das wiederum der Weise Nagasena entwickelte vor dem König Milinda. - Da sagt der König Milinda: Du sagst, weiser Nagasena, daß sich von einer Verkörperung in die andere hinüberlebt Name und Form dessen, was als Mensch vor mir steht. Ist es nun der Name und die Form desselben Wesens, die wiedererscheinen in einer neuen Verkörperung, in einem neuen Erdenleben? Da sagte ihm Nagasena: Siehe einmal, der Mango-Baum trägt eine Frucht. Es kommt ein Dieb, der stiehlt diese Frucht. Der Eigentümer des Mango­Baumes sagt: «Du hast mir meine Frucht gestohlen!» Der Dieb aber erwidert: «Das ist nicht deine Frucht! Deine Frucht war das, was du in die Erde hineingesenkt hast -das hat sich aufgelöst. Was aber auf dem Mango-Baum wächst, das trägt nur denselben Namen, das ist nicht deine

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Frucht!» - Da meinte Nagasena: Es ist wahr, es trägt den­selben Namen und dieselbe Form; es ist nicht dieselbe Frucht. Aber deshalb kann man den Dieb doch bestrafen, wenn er gestohlen hat! Und so - meinte der Weise - wäre es mit dem, was in einem späteren Erdenleben wieder­erscheint gegenüber dem, was in früheren Verkörperungen da war. Es ist so, wie mit der Frucht des Mango-Baumes, die in die Erde hineingesenkt worden ist. Aber nur dadurch, daß der Eigentümer die Frucht in die Erde gesenkt hat, ist es möglich, daß die Frucht auf dem Baume wächst. Des­halb muß man die Frucht ansehen als das Eigentum des­jenigen Menschen, der die Frucht in die Erde gesenkt hat.

So ist es mit dem Menschen, mit den Taten und Schick­salen des neuen Lebens; man muß sie ansehen als die Wir­kung und Frucht des vorhergehenden Lebens. Aber was erscheint, ist etwas Neues, wie die Frucht auf dem Mango-­Baume etwas Neues ist.

So hatte Nagasena das Bestreben, dasjenige aufzulösen, was einmal in einem Erdenleben da ist, um zu zeigen, wie nur die Wirkungen sich hinüberleben in das spätere Erdenleben.

An solchen Dingen kann man sozusagen den ganzen Geist der buddhistischen Lehre besser spüren als an den großen Prinzipien, die in der einen oder der andern Weise interpretiert werden können. Wenn wir den Geist solcher Gleichnisse auf uns wirken lassen, dann sehen wir anschau­lich genug, daß der Buddhist seine Bekenner ablenken will von dem, was als ein einzelnes Ich, als eine bestimmte Per­sönlichkeit hier als Mensch vor uns steht; und hinweisen will er vor allem darauf, daß dasjenige, was in einer neuen Verkörperung erscheint, zwar die Wirkung dieser Persönlichkeit

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ist, daß man aber kein Recht habe, von einem ein­heitlichen Ich im wahren Sinne des Wortes zu sprechen, das sich hinübererstreckt von einem Erdenleben in das andere.

Wenn wir nun herübergehen vom Buddhismus zum Chri­stentum, so können wir, obwohl das Gleichnis nie gewählt worden ist, das Beispiel des Nagasena im christlichen Sinne umschreiben und es etwa in der folgenden Weise gestalten. Wir könnten sagen: Es könnte etwa der König Milinda wieder auferstanden sein, sagen wir als Christ; und es würde sich das Gespräch, wenn der Geist des Christentums darinnen waltete, in folgender Weise abspielen müssen. Nagasena müßte sagen: Sieh hier die Hand! Ist die Hand der Mensch? Nein! Die Hand ist nicht der Mensch. Denn wenn nur eine Hand da wäre, wäre kein Mensch da. Wenn wir aber die Hand abschneiden vom Menschen, dann ver­dorrt sie und würde in drei Wochen keine Hand mehr sein. Wodurch also ist die Hand eine Hand? Durch den Men­schen ist sie eine Hand! - Ist das Herz der Mensch? Nein! Ist das Herz irgend etwas für sich Bestehendes? Nein! Denn wenn wir das Herz aus dem Menschen entfernen, so ist das Herz bald kein Herz mehr - und der Mensch kein Mensch mehr. Also durch den Menschen ist das Herz ein Herz, und durch das Herz ist der Mensch ein Mensch. Und umgekehrt ist der Mensch nur dadurch auf der Erde ein Mensch, daß er das Herz als ein Instrument besitzt! So haben wir im lebendigen Organismus des Menschen Teile, die als Teile nichts sind, die nur in unserer Zusammensetzung etwas sind. Und wenn wir uns überlegen, was die einzelnen Teile nicht sind, so sehen wir, daß wir zurückkommen müssen auf etwas, das unsichtbar hinter ihnen waltet, was sie zusammenhält,

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was sich ihrer als Instrumente bedient, die es gebraucht. Und wenn wir auch alle einzelnen Teile ins Auge fassen können, so haben wir den Menschen nicht er­faßt, wenn wir ihn bloß als Zusammenfassung der einzel­nen Teile betrachten. Und nun könnte Nagasena zurück­blicken auf das Gleichnis mit dem Wagen und könnte jetzt

- allerdings aus dem christlichen Geiste heraus gesprochen -sagen: Wahr ist es, die Deichsel ist nicht der Wagen; denn mit der Deichsel kannst du ja nicht fahren. Wahr ist es, die Räder sind nicht der Wagen; denn mit den Rädern kannst du ja nicht fahren. Wahr ist es, das Joch ist nicht der Wa­gen; denn mit dem Joch kannst du ja nicht fahren. Wahr ist es, der Sitz ist nicht der Wagen; denn mit dem Sitz kannst du ja nicht fahren! Ob zwar der Wagen nur ein Name ist für die zusammengesetzten Teile, so fährst du doch nicht mit den Teilen, mit denen du nicht fahren kannst, sondern du fährst mit etwas, was nicht die Teile sind. Mit dem «Namen» ist doch etwas Besonderes ge­meint! Da werden wir zu etwas geführt, was in keinem der Teile ist!

Daher geht das Bestreben des buddhistischen Geistes da­hin, sozusagen von dem, was man sieht, den Blick abzu­lenken, um hinauszukommen über das, was man sieht; und man verneint die Möglichkeit, in diesem Gesehenen etwas Besonderes zu haben. - Der Geist der christlichen Denk­weise - und auf die kommt es uns an - sieht die einzelnen Teile eines Wagens oder auch eines anderen äußeren Gegen­standes so an, daß überall hingewiesen wird von den Teilen auf das, was das Ganze ist. Und weil die Denkweise und Vorstellungsart so ist - und darauf kommt es an -, deshalb sehen wir, daß aus der buddhistischen Anschauungsweise

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eine ganz besondere Konsequenz, und aus der christlichen Denkweise wiederum eine ganz besondere Konsequenz er­wächst. Die Konsequenz aus der buddhistischen Anschau­ungsweise zeigt sich, wenn ich das, was ich jetzt angedeutet habe, einfach bis ans Ziel hin verfolge:

Ein Mensch steht vor uns. Er ist zusammengesetzt aus gewissen Teilen. Dieser Mensch handelt in der Welt. Er begeht diese oder jene Taten. Indem er so als Mensch vor uns steht, wird ihm aus seinem buddhistischen Bekenntnisse die Wertlosigkeit alles dessen gezeigt, was da ist. Es wird ihm gezeigt die Nichtigkeit und Seinslosigkeit dessen, was da ist. Und er wird darauf hingewiesen, daß er sich frei machen soll von dem Hängen an dem Nichtigen, um zu einem wirklichen, zu einem höheren Dasein zu kommen; daß er den Blick ablenken soll von dem, worauf das Auge ruht, und was sich irgendein menschliches Erkenntnisver­mögen an der Sinnenwelt erwerben kann. Weg von der Sinnenwelt! Denn das, was da geboten wird, wenn wir es nur zusammenfassen als Name und Form, zeigt sich in sei­ner Nichtigkeit. Keine Wahrheit ist in dem, was in der Sinnenwelt vor uns steht!

Wozu führt die christliche Vorstellungsart? Sie betrachtet den einzelnen Teil nicht als einzelnen Teil; sie betrachtet ihn so, daß in ihm ein Ganzes, ein einheitliches Reales waltet. Sie betrachtet die Hand so, daß sie nur dadurch die Hand ist, daß der Mensch sie gebraucht, daß der Mensch sie zur Hand macht. Hier ist das, was vor dem Auge steht, ein Etwas, das unmittelbar hinweist auf das, was hinter ihm steht. Daher folgt aus dieser Denkweise etwas ganz an­deres als aus der buddhistischen Denkweise.

Es folgt daraus, daß wir sagen können: Hier steht ein

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Mensch vor uns. Was er ist als Mensch mit seinen Teilen, mit seinen Taten, das kann er nur dadurch sein, daß hinter alledem eine geistige Wesenheit als Mensch steht, welche dasjenige macht und bewirkt, was er tut; die sowohl die einzelnen Teile bewegt, wie sie die einzelnen Taten voll­bringt. Was sich in den Teilen zeigt und sich auslebt, das hat sich hineinergossen in dasjenige, was man sieht; das wird in dem, was man sieht, Früchte erleben, Resultate er­leben, und aus einem Erlebnis in der Sinnenwelt etwas her­aussaugen, was wir ein «Ergebnis» nennen können, und es selber hineintragen in eine folgende Verkörperung, in ein folgendes Leben. Da steht hinter allem Äußeren der Akteur, das Tätige, was nicht die äußere Welt zurückweist, sondern was die äußere Welt so handhabt, daß die Früchte aus ihr gesogen und in das nächste Leben hineingetragen werden.

Wenn wir als Bekenner der Geisteswissenschaft auf dem Boden der wiederholten Erdenleben stehen, so müssen wir sagen: Was den Menschen zusammenhält in einem Erdenleben, das hat für den Buddhismus keinen Bestand; nur seine Taten haben Wirkungen für das nächste Leben. Was für das Christentum den Menschen zusammenhält in einem Erdenleben, das ist ein volles Ich. Das hat Bestand. Das trägt selbst in das folgende Erdenleben hinüber all die Früchte dieses einen Lebens.

So sehen wir, daß eine ganz bestimmte Konfiguration des Denkens, auf die es viel mehr ankommt als auf Theorien und Prinzipien, diese beiden Weltanschauungen ganz ge­waltig unterscheidet. Würde unsere Zeit nicht besonders dazu neigen, bei allem nur auf Theorien zu sehen, so würde man das Charakteristische einer Geistesrichtung leichter erfassen

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aus ihrer Vorstellungsart heraus, aus den Sym­ptomen.

Mit dem, was gesagt worden ist, hängt auch das aller­letzte zusammen, was uns auf der einen Seite in der bud­dhistischen, auf der andern Seite in der christlichen Den­kungsweise erscheint. Da haben wir in der buddhistischen Denkungsweise mit ungeheuer bedeutungsvollen Worten den Kern der Lehre durch den Stifter des Buddhismus selber ausgesprochen. Der heutige Vortrag wird wahrhaftig nicht dazu gehalten, um etwa irgend etwas Gegnerisches zu ent­wickeln gegen den großen Stifter der buddhistischen Welt­anschauung; sondern es soll die buddhistische Weltanschau­ung in ganz objektiver Weise charakterisiert werden. Ge­rade die Geisteswissenschaft muß sich als das richtige In­strument erweisen, um ohne Sympathie oder Antipathie für dieses oder jenes in den Kern der verschiedenen Geistesströmungen der Welt einzudringen.

Die Buddha-Legende erzählt da deutlich genug, wenn auch in bildhafter Form, was der Stifter des Buddhismus wollte. Da wird erzählt, daß der Gotama Buddha geboren wurde als der Sohn des Königs Suddhodana, daß er in einem fürstlichen Palaste erzogen wurde, wo er nur um­geben war von dem, was das Menschenleben zu erhöhen vermag. Nichts lernte er in seiner Jugend kennen von Men­schenleid und Menschenschmerz; umgeben war er nur von Glück, Freude und Zerstreuung. Da wird uns dann erzählt, wie er einmal den königlichen Palast verließ und wie ihm da Leiden und Schmerzen, alle die Schattenseiten des Lebens zum ersten Male entgegentraten. Da sah er einen siechen, kranken Menschen, da sah er einen alten, dahinwelkenden Greis, und vor allem sah er einen Leichnam. Und daraus

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bildete er sich die Anschauung, daß es wohl anders um das Leben stehen müsse, als es sich ihm bisher drinnen im fürst­lichen Palast gezeigt hatte, wo er nur die Freuden des Lebens zu sehen bekam, nie aber Krankheit und Tod ge­sehen hatte; wo er nie die Anschauung gewonnen hat, daß das Leben hinwelken und sterben könne. Und aus dem, was er jetzt kennen gelernt hatte, bildete er sich die An­schauung, daß das wahre Leben in sich schließe Leiden und Schmerzen. Schwer lastete es auf der großen Seele des Bud­dha, daß das Leben in sich enthält Leiden und Schmerzen, wie sie sich ihm darstellten in dem Kranken, in dem Greis und in dem Leichnam.

Denn er sagte sich: Was ist das Leben wert, wie es sich mir dargestellt hat, wenn ihm eingeboren ist Alter, Krank­heit und Tod! Und daraus entstand dann die monumentale Lehre des Buddha von den Leiden des Lebens, die er in die Worte zusammenfaßte: Geburt ist Leiden! Alter ist Leiden! Krankheit ist Leiden! Tod ist Leiden! Alles Dasein ist er­füllt von Leiden. Daß wir mit dem, was wir lieben - so führte Buddha selbst später diese Lehre weiter aus - nicht immer vereint sein können, ist Leiden! Daß wir vereint sein müssen mit dem, was wir nicht lieben, ist Leiden! Daß wir nicht erhalten können in jeder Lebenslage, was wir wollen, was wir begehren, ist Leiden! So ist Leiden überall, wohin wir den Blick lenken. Wenn auch das Wort «Leiden» bei Buddha nicht so gemeint ist, wie es in unserer Zeit sei­nen Sinn hat, so ist doch das damit gemeint, daß der Mensch überall dem preisgegeben ist, was von außen gegen ihn an­stürmt, wogegen er keine aktiven Kräfte entfalten kann. Leben ist Leiden. Deshalb muß man untersuchen, sagte Bud­dha, welches die Ursachen des Leidens sind.

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Da bot sich ihm die Erscheinung in der Seele dar, die er bezeichnete mit dem «Durst nach Dasein», mit dem «Durst nach Existenz» überhaupt. Wenn überall, wo wir hin­blicken, Leiden in der Welt ist, so müssen wir sagen: Den Menschen muß Leiden befallen, wenn er in diese Welt des Leidens hineintritt. Was ist die Ursache, daß der Mensch lei­den muß? Die Ursache ist, daß er einen Trieb, einen Durst nach Verkörperung in diese Welt hat. Die Leidenschaft, aus der geistigen Welt heraus in eine physische Körperlichkeit zu treten, die äußere Welt des Physischen wahrzunehmen: dar­innen liegt der Grund für das Menschendasein. Daher gibt es nur eine Erlösung vom Leiden, nämlich die: den Durst nach Dasein zu bekämpfen. Und den Durst nach Dasein kann man bekämpfen, wenn man im Sinne des großen Buddha in sich entwickelt den sogenannten «achtgliedrigen Pfad», der ja gewöhnlich dadurch erklärt wird, daß man sagt, er bestünde in der rechten Einsicht, im rechten Ziel, rechten Wort, rechter Tat, rechten Leben, rechten Streben, rechten Gedanken und im rechten Sichversenken. Also in dem richtigen Erfassen des Lebens, in dem richtigen Sich-hin-stellen in das Leben ergibt sich uns nach dem großen Buddha etwas, was nach und nach den Menschen dazu führt, die Leidenschaft nach dem Dasein in sich zu ertöten, was ihn so weit bringt, endlich nicht mehr herabsteigen zu müssen zu einer physischen Verkörperung, was ihn erlöst von einem Dasein, wo Leiden ausgegossen ist überall. Das sind im Sinne des großen Buddha die «vier heiligen Wahrheiten»:

1. die Erkenntnis des Leidens;

2. die Erkenntnis der Ursachen des Leidens;

3. die Erkenntnis der Notwendigkeit der Aufhebung des Leidens;

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4. die Erkenntnis der Mittel zu der Aufhebung des Leidens.

Das sind jene vier heiligen Wahrheiten, welche er, nach­dem seine Erleuchtung unter dem Bodhi-Baum eingetreten war, verkündet hat in der großen Predigt zu Benares im fünften bis sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung.

«Erlösung von den Leiden des Daseins!» das ist es, was der Buddhismus vor allem in den Vordergrund stellt. Das macht ihn zu dem, wodurch man ihn bezeichnen kann als eine «Erlösungs-Religion» im eminentesten Sinne des Wor­tes, eine Religion der Erlösung von den Leiden des Daseins, und weil mit allem Dasein Leid verknüpft ist, von dem Da­sein, das heißt von dem Verlauf der Wiedergeburten des Menschen überhaupt!

Das ist ganz im Einklange mit der im ersten Teile des heutigen Vortrages angezeigten Vorstellungsart. Denn wenn schon der Gedanke, der sich an die äußere Sinnenwelt heftet, nur Nichtigkeit erblickt, wenn ihm das, was die einzelnen Teile zusammensetzt, nur Name und Form ist, wenn nichts hinübergeht, was die Wirkungen der einen Verkörperung in das nächste Leben hinüberführt, dann können wir sagen, daß das «wahre Dasein» erst errungen werden kann, wenn der Mensch über alles hinauskommt, was er in der äußeren Sinneswelt findet.

Es ist nun nicht richtig, und das könnte eine jede einfache Betrachtungsweise zeigen, wenn man das Christentum in demselben Sinne eine «Erlösungs-Religion» nennen wollte wie den Buddhismus. Wenn man das Christentum von die­sem Gesichtspunkt aus in der richtigen Weise neben den Buddhismus stellen will, so konnte man es eine «Religion der Wiedergeburt» nennen. Denn das Christentum geht

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aus von der Erkenntnis, daß alles, was in dem einzelnen Leben eines Menschen vor uns steht, Früchte ergibt, welche für die innerste Wesenheit des Menschen wichtig und wert sind, und die hinübergetragen werden vom Menschen in ein neues Leben und dort auf einer höheren Vollkommen­heitsstufe ausgelebt werden. Alles, was wir erleben und her­aussaugen aus den einzelnen Leben, das erscheint immer wieder, das wird immer vollkommener und vollkommener und erscheint zuletzt in seiner vergeistigten Gestalt. Das scheinbar Nichtigste in unserm Dasein wird, wenn es aufge­nommen ist von dem Geistigen, auferweckt auf einer voll­kommeneren Stufe, wird dem Geistigen einverleibt. Nichts ist nichtig im Dasein, weil es wieder aufersteht, wenn es der Geist in die richtige Form gebracht hat. Eine Religion der Wiedergeburt, der Auferstehung des Besten, was wir erlebt haben, das ist das Christentum nach seiner Denkweise, wo­nach alles, was vor uns steht, nicht ein Nichtiges ist, son­dern Bausteine, um das große Gebäude zu erbauen, das ent­stehen soll durch die Zusammenfügung alles dessen, was wir in der Sinnenwelt Geistiges vor uns haben. Eine Reli­gion der Erlösung vom Dasein ist der Buddhismus, wäh­rend im Gegensatz dazu das Christentum eine Religion der Wiedergeburt auf geistiger Stufe ist.

Das zeigt sich uns in der Denkweise im kleinsten wie im größten und in seinen letzten Prinzipien. Und wenn wir die eigentlichen Ursachen für diese Verschiedenheit suchen, dann können wir sagen: Sie liegen in dem ganz entgegen­gesetzten Charakter der orientalischen und unserer abend­ländischen Kultur. Es ist ein radikaler Unterschied in bezug auf die Vorstellungsart jener Kultur, aus welcher der Bud­dhismus herausgewachsen ist, und jener Kultur, in welche

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sich das Christentum hineinergossen hat im Abendlande. Man kann mit einfachen Worten diesen Unterschied be­zeichnen. Er liegt darinnen, daß alle eigentlich orientalische Kultur, die noch nicht ihre Befruchtung vom Abendlande aus erfahren hat, ungeschichtlich, unhistorisch ist - daß alle abendländische Kultur historisch, geschichtlich ist. Das ist auch letzten Endes der Unterschied zwischen christlicher und buddhistischer Denkungsart. Christliche Denkungsart ist historisch; sie erkennt an, daß es nicht nur wiederholte Erdenleben gibt, sondern daß es darinnen Geschichte gibt; das heißt, dasjenige, was zunächst auf einer unvollkom­meneren Stufe erlebt wird, das kann sich im Laufe der Inkarnationen zu immer vollkommeneren Stufen und höhe­ren Graden hinaufentwickeln. Sieht der Buddhismus die Erlösung von dem Erdendasein in der Erhebung in sein Nirwana, so sieht das Christentum das Ziel seiner Entwick­lung darin, daß alle Erzeugnisse und Errungenschaften der einzelnen Erdenleben in immer höheren und höheren Voll­kommenheitsgraden erglänzen und vergeistigt ihre Wiederauferstehung erleben am Ende des Erdendaseins.

Ungeschichtlich ist der Buddhismus, ganz im Sinne des Kulturbodens, auf dem er erwachsen ist. Ungeschichtlich ist er dadurch, daß er der Außenwelt entgegenstellt und ihr einfach gegenübersetzt den Menschen, wie er in ihr handelt. Der buddhistische Bekenner sagt: Blicken wir zurück auf frühere Verkörperungen des Menschen, blicken wir hin auf spätere Verkörperungen des Menschen: der Mensch steht dieser Außenwelt entgegen. Er fragt nicht: Stand viel­leicht der Mensch in früheren Zeiten der Außenwelt an­ders gegenüber? oder wird er ihr vielleicht in der Zukunft anders gegenüberstehen? Das aber fragt das Christentum.

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Daher kommt der Buddhismus zu der Anschauung, daß das Verhältnis des Menschen zu der Welt, in welche er hineinverkörpert ist, ein immer gleichbleibendes ist; daß der Mensch, wenn er durch den Durst nach Dasein getrieben wird und sich in eine Verkörperung hineinbegibt, in eine Welt des Leidens hineinkommt, gleichgültig ob sie den Menschen in der Vergangenheit zum Durst nach Dasein getrieben hat, oder ob sie ihn jetzt dazu treibt. Immer ist es das Leiden, das die äußere Welt ihm bringen muß. So wiederholen sich die Erdenleben, ohne daß der Begriff der Entwickelung in Wahrheit zu einem geschichtlichen gemacht wird im Buddhismus. Das wird uns auch anschaulich und erklärlich machen, daß der Buddhismus im Grunde genom­men nur in der Abkehr von diesen ewig sich wiederholenden Erdenleben sein Nirwana, seinen glückseligen Zustand sehen kann. Und so wird es uns weiter erklärlich sein, daß der Buddhismus in der äußeren Welt selber die Quellen des Leidens sehen muß. Er sagt: Begibst du dich überhaupt in die Sinneswelt, so mußt du leiden; denn aus der Sinneswelt muß dir Leiden kommen!

Das ist nicht christlich. Die christliche Anschauung ist durchaus historisch und geschichtlich. Sie fragt nicht einfach nach dem zeitlosen und geschichtslosen Gegenüberstehen zur Außenwelt. Sie sagt wohl: Es steht der Mensch, wenn er von Verkörperung zu Verkörperung schreitet, einer Außen­welt gegenüber. Wenn aber diese Außenwelt ihm Leiden bringt, wenn sie ihm etwas darbietet, was ihn nicht befrie­digt, was ihn nicht mit einem innerlidien, harmonischen Dasein erfüllt, so rührt das nicht davon her, daß das Dasein im allgemeinen so ist, daß der Mensch leiden muß; sondern es rührt davon her, daß der Mensch sich in ein falsches Verbältnis

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gebracht hat zu der Außenwelt, daß er sich nicht richtig hineinstellt in die Welt! Auf ein bestimmtes Ereignis weist das Christentum und auch das Alte Testament hin, wodurch der Mensch sich selbst in seinem Innern so ent­wickelt hat, daß er durch sein Inneres das Dasein in der äußeren Welt zu einem Quell des Leidens machen kann. Also ist es nicht die Außenwelt, nicht das, was uns in die Augen dringt, was uns an die Ohren tönt; nicht die Welt, in die wir hineinverkörpert werden, ist es, was uns Leiden bringt; sondern das Menschengeschlecht hat einstmals in sich selber etwas entwickelt,- wodurch es nicht in der rich­tigen Weise zu dieser Außenwelt in Beziehung steht. Das hat sich dann fortgeerbt von Geschlecht zu Geschlecht, wor­an die Menschen heute noch zu leiden haben. So könnte man im christlichen Sinne sagen, daß die Menschen von An­fang ihres Erdendaseins an sich nicht in ein richtiges Ver­hältnis gebracht haben zur Außenwelt.

Das könnten wir nun ausdehnen auf die Grundbekennt­nislehre der beiden Religionen. Der Buddhismus wird jeder­zeit betonen: Die äußere Welt ist eine Maya, eine Illusion! Dagegen wird das Christentum sagen: Wohl ist zunächst das, was der Mensch von der äußeren Welt sieht, etwas, von dem er glaubt, daß es eine Illusion sei; aber das hängt nur vom Menschen ab, der seine Organe so gestaltet hat, daß er vom äußeren Schleier nicht durdiblickt auf die gei­stige Welt. Nicht die Außenwelt selber ist die Täuschung; sondern die menschliche Anschauung ist der Quell der Täu­schung. Buddhistisch ist es, zu sagen: Blicke hin auf das, was dich als die Felsen umgibt, was als der Blitz zuckt, es ist Maya oder Illusion! Was als Donner rollt, es ist Maya oder die große Täuschung! denn die Außenwelt, wie sie da

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ist, ist Maya, die große Täuschung! - Nicht richtig ist es, so würde im Sinne der christlichen Vorstellungsart zu sagen sein, daß die Außenwelt als solche eine Täuschung ist! Son­dern der Mensch hat bis heute noch nicht die Möglichkeit gefunden, seine geistigen Sinne - mit Goethes Worten: seine Geistesaugen und Geistesohren - sich zu eröffnen, die ihm zeigen würden, wie die Außenwelt in ihrer wahren Gestalt zu sehen ist! Nicht das ist der Grund, daß wir von Täu­schung, von Maya umgeben sind, weil die Außenwelt diese Maya wäre, sondern weil der Mensch ein unvollkommenes Wesen ist, das es noch nicht dahin gebracht hat, die Außen­welt in der wahren Gestalt zu sehen. So sucht das Christen­tum in einem vorgeschichtlichen Ereignis eine Tatsache, welche das Menschenherz dazu gebracht hat, sich nicht die richtige Anschauung von der Außenwelt zu bilden. Und in der Entwickelung - durch die Verkörperungen hindurch -muß man im christlichen Sinne das Wiedererringen dessen sehen, was man Geistesaugen, Geistesohren nennen kann, um die Außenwelt in ihrer wahren Gestalt zu sehen. So sind die wiederholten Erdenleben nicht bedeutungslos, son­dern sie sind der Weg dazu, um dasjenige, wovon der Bud­dhismus die Menschen befreien will, gerade in einem geisti­gen Lichte zu sehen; um in der Außenwelt den Geist zu sehen. Eroberung der Welt, die uns heute als physisch er­scheint, durch das, was der Mensch heute noch nicht hat, was er sich aber erringen soll als ein Geistiges; Überwin­dung des menschlichen Irrtums, als ob die Außenwelt nur eine Illusion, nur Maya wäre: das ist der innerste Impuls des Christentums.

Daher stellt das Christentum nicht einen Lehrer hin wie der Buddhismus, der da sagt: Die Welt ist ein Quell des

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Leidens! Heraus aus dieser Welt in eine andere, die ganz anders ist - in eine Welt des Nirwana! Sondern das Chri­stentum stellt als einen mächtigen Impuls, der die Welt vorwärts bringen soll, den Christus hin, der der Welt den stärksten Hinweis gebracht hat auf das menschliche Innere, aus dem der Mensch jene Kräfte entwickeln kann, wodurch er jede Verkörperung, in welcher er auf der Erde lebt, so benutzen kann, daß er die Früchte des einen Daseins zu jedem späteren Dasein durch seine eigene Kraft hinüber­tragen kann. Nicht sollen die Verkörperungen abgeschlossen werden, um in ein Nirwana zu kommen, sondern es soll alles, was in diesen Verkörperungen aufgenommen werden kann, benutzt werden, um es zu verarbeiten, damit es die Auferstehung im geistigen Sinne erfahren kann.

Das ist der tiefste Unterschied, der auf der einen Seite den Buddhismus zu einer ungeschiditlidien Anschauungs-weise macht, und der auf der anderen Seite das Christen­tum zu einer geschichtlichen Anschauungsweise macht, die in einem «Fall» des Menschen den Quell von Leiden und Schmerzen sucht in der «Auferstehung» auch wieder die Heilung von Schmerzen und Leiden. - Nicht dadurch wer­det ihr frei von den Schmerzen und Leiden, daß ihr aus dem Dasein hinausgeht; sondern wenn ihr den Irrtum wie­der gut macht, durch welchen der Mensch sich in ein falsches Verhältnis gebracht hat zur Umwelt. In euch liegt der Grund, warum die Außenwelt ein Quell des Leidens ist! Wird euer Verhältnis zur Umwelt richtig, dann werdet ihr sehen, daß die Außenwelt zwar in Wahrheit als Sinnenwelt zerfließt wie Nebel vor der Sonne, daß sie aber alle eure Taten, die ihr in ihr erlebt habt, im Geistigen wieder auferstehen läßt!

Damit ist das Christentum eine Lehre der Wiedergeburt,

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der Auferstehung, und nur als eine solche darf sie neben den Buddhismus hingestellt werden. Das heißt allerdings:

die beiden Bekenntnisse im Sinne der geisteswissenschaft­lichen Anschauung gegenüberstellen, auf die tiefsten Im­pulse der beiden Lehren eingehen!

Bis in alle Einzelheiten kann man das rechtfertigen, was jetzt im allgemeinen gesagt worden ist. Man kann zum Bei­spiel auch im Buddhismus so etwas finden wie eine «Bergpredigt». Da heißt es:

Derjenige, der das Gesetz hört, das heißt dasjenige, was der Buddha als Gesetz verkündigt, der ist glücklich oder selig. Wer über die Leidenschaften sich erhebt, der ist selig. Wer in der Einsamkeit zu leben vermag, der ist selig. Wer mit den äußeren Kreaturen zu leben vermag, ohne daß er ein Böses tut, der ist selig. Und so weiter.

So könnten wir die buddhistischen Seligpreisungen als ein Gegenstück ansehen zu den Seligpreisungen der «Berg-predigt» im Matthäus-Evangelium. Wir müssen sie nur in der richtigen Weise erfassen. Vergleichen wir sie einmal mit dem, was im Matthäus-Evangelium zu finden ist.

Da hören wir zunächst das gewaltige Wort: «Selig sind die, die da Bettler sind um Geist; denn sie werden in sich finden die Reiche der Himmel.» Da wird nicht nur gesagt:

«Selig sind die, die das Gesetz hören»; sondern da wird noch ein Nachsatz hinzugefügt. Es wird gesagt: Selig sind die, welche arm sind an Geist, so daß sie flehen müssen um Geist; «denn ihrer sind die Reiche der Himmel!» Was heißt das? Man versteht einen solchen Satz nur, wenn man sich die ganze geschichtliche Art der Ansdiauungsweise des Chri­stentums vor die Seele rückt.

Da muß man wiederum darauf hinblicken, daß alle

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menschliche Seelenfähigkeit eine «Geschichte» erlebt hat, daß sich alle Seelenfähigkeit des Menschen entwickelt hat. Geisteswissenschaft kennt real und wahrhaftig das Wort «Entwickelung», so daß dasjenige, was heute da ist, nicht immer da war. Die Geisteswissenschaft sagt uns: Was wir heute unseren Verstand, unser wissenschaftliches Denken nennen, das war in Urzeiten der Menschheit nicht vorhan­den; dafür aber war in den Urzeiten der Menschheit etwas vorhanden, was man ein dunkles, dämmerhaftes Hellsehen nennen könnte. Auf die Art, wie der Mensch heute zu Er­kenntnissen über die Außenwelt kommt, ist er früher nicht dazugekommen. Früher ist in ihm etwas aufgestiegen wie eine «Urweisheit» der Menschheit, die weit hinausgeht über das, was wir heute schon wieder haben ergründen können. Wer die Geschichte kennt, der weiß, daß es eine solche Ur­weisheit gibt. Während die Menschen in Urzeiten nicht gewußt haben, wie man Maschinen baut, Eisenbahnen kon­struiert und mit Hilfe der Naturkräfte die Umwelt be­herrscht, haben sie früher Anschauungen gehabt über die göttlich-geistigen Urgründe der Welt, die weit über unsere heutigen Erkenntnisse hinausgehen.

Diese Anschauungen waren aber nicht durch Nachdenken erworben. Das wäre eine ganz falsche Vorstellung. Man hat nicht so vorgehen können, wie die heutige Wissenschaft vorgehen kann. Wie Eingebungen, die in der Seele aufstie­gen, ist es dem Menschen gegeben worden; wie Offenbarun­gen, Inspirationen in dumpfer, dämmerhafter Art, so daß der Mensch nicht dabei war, als sie in ihm aufstiegen. Aber er konnte erblicken, daß sie da waren; sie waren da als wirkliche Nadibilder der geistigen Welt, der wirklich vor­handenen Urweisheit. - Aber die menschliche Entwickelung

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bestand darinnen, daß die Menschen von Leben zu Leben fortschritten und immer weniger von dieser Urweisheit hatten, von dem alten dämmerhaften Hellsehen. Denn das sollte ja gerade der Menschheit gebracht werden, daß das alte Helisehen sich verlor, und an seine Stelle das Erfassen der Dinge durch die Verstandestätigkeit trat. In der Zu-kunft wird der Mensch beides vereinigen; er wird hellsehe­risch in die geistige Welt hineinschauen können und gleich­zeitig die Formen des heutigen Erkennens in die Zukunft hinein mitbringen. Heute leben wir in einem Zwischenzustand. Das alte Hellsehen ist verlorengegangen, und was dem Menschen heute eigen ist, das ist erst im Laufe der Zeit entstanden. Wodurch ist der Mensch dazu gekommen, von seinem innersten Selbstbewußtsein aus die Sinneswelt mit dem Verstande zu erkennen? Wann tritt insbesondere das Selbstbewußtsein an den Menschen heran?

Das war in der Zeit - so genau wird nur gewöhnlich die Weltentwickelung nicht betrachtet -, in welcher gerade der Christus Jesus in die Welt hineintrat. Da standen die Men­schen an einem Wendepunkt der Entwickelung, wo das alte dämmerhafte Helisehen verlorengegangen, und der Aus­gangspunkt gegeben war für das, was heute unsere besten Errungenschaften liefert. Gerade beim Eintreten des Chri­stus in die Menschheitsentwickelung war der Wendepunkt von der alten zur neuen Zeit. Wahrhaftig, der Christus war der Wendepunkt von der alten zur neuen Anschauung! Und es ist einfach ein technischer Ausdruck für diese Errungen­schaften, die der Mensch damals erfuhr, als er anfing durch sein Selbstbewußtsein - nicht mehr durch Eingebungen - die Welt zu erkennen, wenn Johannes der Täufer die Worte verkündet: «Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!»

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Das heißt die «Erkenntnis der Welt in Begriffen und Ideen» ist nahe herbeigekommen. Mit anderen Worten: Der Mensch ist nicht mehr angewiesen auf das alte Hellsehen, sondern er wird von sich aus die Welt erkennen und erforschen. Und den mächtigsten Impuls für das, was der Mensch aus seinem Ich heraus - nicht durch Eingebungen - erkennen soll, den hat der Christus Jesus gegeben.

Daher liegt etwas Tiefes schon in diesen ersten Worten der Bergpredigt, etwas, was ungefähr sagen wollte: Die Menschen stehen heut auf dem Standpunkt, daß sie Bettler um Geist sind. Früher haben sie hellseherische Anschau­ungen gehabt und hineinschauen können in die geistige Welt. Das ist jetzt verlorengegangen. Aber es wird die Zeit kommen, wo der Mensch durch die innere Kraft seines Ich, durch das sich in seinem Innern offenbarende Wort einen Ersatz finden kann für die alte Hellsichtigkeit. - Daher sind «selig» nicht nur diejenigen, welche in alten Zeiten den Geist errungen hatten durch Eingebungen dumpfer, däm­merhafter Art, sondern diejenigen sind selig, welche heute kein Hellsehen mehr haben, weil die Entwickelung dazu geführt hat. 0 sie sind nicht unselig, die da Bettler sind um Geist, weil sie verarmt sind am Geist. Selig sind sie, denn ihrer ist dasjenige, was sich durch ihr eigenes Ich offenbart, was sie sich durch das Selbstbewußtsein erringen können!

Und sehen wir weiter. «Selig sind die, welche da leiden»; denn wenn auch die sinnliche Außenwelt Leiden verursacht durch die Art, wie sich der Mensch in die Außenwelt hinein­gestellt hat, so ist doch jetzt die Zeit gekommen, wo der Mensch, wenn er sein Selbstbewußtsein erfassen wird und die in seinem Ich liegenden Kräfte entfaltet, erkennen wird das Heilmittel gegen das Leid. In sich selber wird er die

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Möglichkeit finden, sich über das Leid zu trösten. Gekom­men ist die Zeit, wo ein äußerer Trost seine einzigartige Bedeutung verliert, weil das Ich die Kraft finden soll, von innen heraus das Heilmittel gegen das Leid zu finden. Selig sind die, welche in der Außenwelt alles, was früher darin gefunden wurde, nicht mehr finden können. So ist auch der höchste Sinn der Seligpreisung «Selig sind die, welche nach Gerechtigkeit dürsten; denn sie sollen satt werden»: im Ich selber wird ein Quell gefunden werden, um ausgleichende Gerechtigkeit zu finden für das, was in der Welt ungerecht ist.

So ist der Christus Jesus der Hinweis auf das menschliche Ich, auf den göttlichen Teil im Menschen selber, und damit der Hinweis darauf: Nehmt das, was im Christus als ein Vorbild lebt, in euer Inneres auf; dann findet ihr dadurch die Kraft, von Verkörperung zu Verkörperung die Früchte des Erdendaseins zu tragen. Denn wichtig ist es für das Leben des Menschen in der geistigen Welt, daß der Mensch dasjenige erobere, was im Erdendasein erlebt werden kann.

Daher ist ein Ereignis, das ja zunächst nur als ein schmerz­liches genannt werden kann im Christentum, der Tod des Christus Jesus, das Mysterium von Golgatha. Dieser Tod hat ja nicht die gewöhnliche Bedeutung des Todes; sondern der Christus stellt hier den Tod hin als den Ausgangspunkt eines unsterblichen, unbesiegbaren Lebens. Dieser Tod ist nicht bloß so, daß der Christus Jesus sich vom Leben be­freien will; sondern dieser Tod wird erlebt, weil von ihm aus eine Wirkung nach aufwärts führt, und weil aus diesem Tode ewiges, unvergängliches Leben fließen soll.

Das ist etwas - so empfanden auch diejenigen, welche in den ersten Jahrhunderten des Christentums lebten - was

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immer mehr und mehr erkannt werden wird, wenn das Verständnis des Christus-Impulses ein größeres geworden ist, als es heute ist. Dann wird man verstehen, daß sechs Jahrhunderte vor dem Christus einer der größten Menschen aus seinem Palaste herausgetreten ist, einen Toten, einen Leichnam gesehen hat, sich das Urteil bildete: Der Tod ist Leiden! Befreiung vom Tode ist Erlösung! und daß er nichts zu tun haben wollte mit dem, was dem Tode unterworfen ist. Nun gehen sechs Jahrhunderte bis zum Christus hin. Und nachdem weitere sechs Jahrhunderte vergangen sind, wird ein Symbolum aufgerichtet für das, was die zukünf­tige Menschheit erst erkennen wird. Was ist dieses Symbo­lum?

Nicht ein Buddha, nicht ein Auserlesener - nein, naive Menschen gingen hin und sahen das Symbolum: sahen das Kreuz aufgerichtet und einen Leichnam darauf. Und sie sagten nicht: Der Tod ist Leiden! sie wandten sich nicht ab, sondern sie sahen in diesem Leichnam dasjenige, was ihnen Bürge war für das Ewige des Lebens, für das, was allen Tod besiegt, was hinausweist aus aller Sinneswelt. - Der edle Buddha sah einen Leichnam; er wandte sich ab von der Sinneswelt und kam zu dem Urteil: Der Tod ist Leiden! Diejenigen, welche da als naive Menschen hinsahen zu dem Kreuz mit dem Leichnam, sie wandten sich nicht ab - sie sahen darauf hin, weil es ihnen das Zeugnis dafür war, daß aus diesem Erdentode ewiges Leben quillt!

So sechshundert Jahre vor der Begründung des Christen­tums der Buddha vor dem Leichnam, so sechshundert Jahre nach dem Erscheinen des Christus die einfachen Leute, die das Symbolum sahen, das ihnen ausdrückte, was durch die Begründung des Christentums geschehen war. Niemals ist

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ein ähnlicher Umschwung in der Entwickelung der Mensch­heit vor sich gegangen! Wenn man also die Dinge objektiv erfaßt, kann man sich noch mehr klar sein darüber, worin­nen das Große, Bedeutsame des Buddhismus besteht.

Wir haben gesagt: Die Menschen gingen aus von einer Urweisheit, und im Laufe der verschiedenen Inkarnationen ging ihnen diese Urweisheit immer mehr und mehr ver­loren. Das Auftreten des großen Buddha bedeutet das Ende einer alten Entwickelung; es bedeutet den mächtigen, weltgeschichtlichen Hinweis darauf, daß die Menschen ver­loren haben das alte Wissen, die alte Urweisheit. Daraus ist dann geschichtlich zu erklären die Abkehr vom Leben. Der Christus ist der Ausgangspunkt einer neuen Ent­wickelung, welche in diesem Leben die Quellen des Ewigen sieht. - In unserer Zeit ist noch keine Klärung eingetreten in bezug auf diese wichtigen Tatsachen der Menschheitsentwickelung. Daher kann es kommen, weil eben die Dinge noch ungeklärt sind, daß es in unserer Zeit herrliche, edle Naturen gibt, wie der im Jahre 1899 zu Potsdam ver­storbene Oberpräsidialrat Theodor Schulze, die, weil sie in der äußeren Anschauung nicht finden können, was sie für ihr reiches Innenleben brauchen, sich zu etwas anderem wenden und eine Erlösung in dem finden, was ihnen der Buddhismus heute sein kann. Und der Buddhismus zeigt ihnen ja in einem gewissen Sinne, wie der Mensch, heraus­gehoben aus dem Sinnesdasein, durch eine gewisse Ent­faltung seiner inneren Kräfte zu einer Erhöhung über sich selbst kommen kann. Das ist aber nur möglich, weil der größte Impuls, der innerste Quell des Christentums noch so wenig erfaßt ist.

Die Geisteswissenschaft soll einmal das Instrument sein,

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um immer tiefer und tiefer in die Vorstellungsart des Chri­stentums hineinzudringen. Und gerade die Entwickelungs­idee, welche die Geisteswissenschaft ehrlich nimmt, wird imstande sein, die Menschen hinzuführen zu einem genauen und intimen Erfassen des Christentums, so daß sich die Geisteswissenschaft der Hoffnung hingeben darf, daß gegen­über dem verkannten Christentum das richtig verstandene Christentum sich immer mehr herausarbeiten wird, ohne daß sie den Buddhismus in unsere Zeit hineinverpflanzt. Es wäre eine kurzsichtige Anschauung, wenn irgendeine geistes-wissenschaftliche Richtung Buddhismus nach Europa hinein-verpflanzen wollte. Wer die Bedingungen des europäischen Geisteslebens kennt, der weiß, daß selbst diejenigen Rich­tungen, welche heute scheinbar das Christentum bekämp­fen, das ganze Arsenal ihrer Waffen aus dem Christentum selber entnommen haben. Kein Darwin, kein Haeckel wäre möglich - so grotesk es klingt -, wenn es nicht aus der christ­lichen Erziehung heraus möglich geworden wäre so zu den­ken, wie Darwin und Haeckel gedacht haben; wenn nicht die Gedankenformen da wären, mit denen diejenigen, die mit dem Christentum selber erzogen worden sind, sozusagen die eigene Mutter bekämpfen. Was diese Leute sagen, das ist scheinbar oft gegen das Christentum gerichtet. Es ist ge­gen das Christentum gemeint, so wie sie es sagen. Daß sie aber so denken können, das haben sie aus der christlichen Erziehung heraus. Daher wäre es zum mindesten aussichts­los, wenn es auch jemand wollte, etwas Orientalisches in unsere Kultur hineinzutragen; denn es widerspräche allen Bedingungen unseres Geisteslebens im Abendlande. Man muß sich nur klar sein über die Grundlehren der beiden Religionen.

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Wer das Geistesleben genauer betrachtet, der weiß aller­dings, daß die Dinge noch so wenig geklärt sind, daß es Geister gibt, die selbst von der höchsten philosophischen Warte herab die Abkehr vom Leben wollen, die sich sym­pathisch berührt fühlen von den Gedanken des Buddhis­mus. Eine solche Persönlichkeit haben wir in Schopenhauer vor uns. Sein ganzer Lebensnerv hat etwas, was wir als «buddhistisch» bezeichnen können. So, wenn er zum Bei­spiel sagt: Das höchste Menschenbild steht dann vor uns, wenn wir dasjenige sehen, was wir einen «Heiligen» nen­nen, der in seinem Leben alles überwunden hat, was die äußere Welt geben kann; der nur noch in seinem Körper dasteht, nichts mehr in sich birgt als Ideale von der Um­welt; der nichts will, sondern der nur noch darauf wartet, bis sein Körper selber zerstört ist, so daß jede Spur ver­wischt ist von dem, was ihn mit der Sinneswelt verknüpft hat, damit er durch die Abkehr von der Sinnenwelt vernich­ten kann sein Sinnendasein, daß nichts mehr übrig bleibt von dem, was im Leben führt von Furcht zu Leid, von Leid zu Schrecken, von Lust zu Schmerz!

Das ist Hereinragen buddhistischer Empfindung in unser Abendland. Da müssen wir sagen: Gewiß, durch unsere un­geklärten Verhältnisse gibt es das, weil nicht genau ver­standen wird, was der tiefste Impuls dessen ist, was im Christentum lebt an Inhalt und an Form. Was haben wir durch das Christentum errungen? Rein auf den Impuls ge­sehen, haben wir dasjenige errungen, wodurch sich eine der bedeutsamsten Persönlichkeiten gerade in dieser Beziehung so scharf abhebt von Schopenhauer. Wenn Schopenhauer sein Ideal sieht in jemandem, der alles überwunden hat, was ihm das äußere Leben geben kann an Lust und Schmerz,

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der nur noch wartet, bis die letzten Spuren des Zusammen­hanges seines Körpers sich auflösen, so stellt uns dagegen Goethe einen strebenden Menschen hin in seinem «Faust», der von Begierde zu Genuß und von Genuß zu Begierde schreitet, und der sich zuletzt so weit läutert und die Begier­den umgestaltet, daß ihm das Heiligste, was in unser Leben hereinleuchten kann, selber zur Leidenschaft wird; der nicht dasteht und sagt: «Ich warte nur noch, bis die letzten Spu­ren meines Erdendaseins verlöscht sind», sondern der die großen Worte ausspricht: «Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn!»

Das stellt Goethe in seinem Faust dem Sinn und dem Geiste nach in der Weise dar, wie er es in höherem Alter zu seinem Sekretär Eckermann aussprach: Übrigens werden Sie zugeben, daß der Schluß, wo es mit der geretteten Seele nach oben geht, sehr schwer zu machen war, und daß ich bei so übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen mich sehr leicht im Vagen hätte verlieren können, wenn ich nicht mei­nen poetischen Intentionen durch die scharf umrissenen, christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen eine wohl-tätig beschränkende Form und Festigkeit gegeben hätte.

Deshalb steigt Faust auf durch eine Stufenleiter des Da­seins, die von den christlichen Symbolen genommen ist, vom Sterblichen zum Unsterblichen, vom Tode zum Leben.

So sehen wir in Schopenhauer förmlich das Hereinragen des buddhistischen Elementes in unsere abendländische Denkweise, das da sagt: Ich warte, bis ich den Vollkommen­heitsgrad erreicht habe, wo mit meinem Leibe die letzten Spuren meines Erdendaseins verwischt sind! Und Schopen­hauer glaubte mit dieser Anschauung die Gestalten, welche Raffael und Correggio in ihren Bildern geschaffen haben,

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interpretieren zu können. - Goethe wollte eine strebende Individualität hinstellen, die sich bewußt war, daß alles, was im Erdendasein errungen ist, bleibend sein muß, der Ewigkeit einverwoben sein muß: «Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn!»

Das ist der wahre, der realistische christliche Impuls, der zur Wiedererweckung der Erdentaten in ihrer Vergeisti­gung führt. Das ist Auferstehungs-Religion! Das ist Auf­erweckenlassen des Besten, was auf der Erde errungen wird. Das ist im wahren Sinne eine «realistische» Weltanschau­ung, die aus den spirituellen Höhen auch den höchsten In­halt für das Dasein in der Sinneswelt herunterzuholen weiß. Und so können wir sagen: Gerade in Goethe erscheint uns

- wie ein Morgenleuchten - ein sich selbst erst verstehendes Christentum der Zukunft, das alle Größe und Bedeutung des Buddhismus anerkennen wird, das aber im Gegensatz zu der Abkehr von den Verkörperungen hinaufführen wird zur Anerkennung eines jeden Daseins von Verkörperung zu Verkörperung. So sieht Goethe im Sinne des richtigen modernen Christen hin auf eine Vergangenheit, die uns aus einer Welt herausgeboren hat; und er sieht hin auf eine Gegenwart, in welcher wir uns etwas erringen, was - wenn es der richtigen Frucht nach erfaßt wird - in Äonen nicht untergehen kann. So kann Goethe, wenn er den Menschen im echt theosophischen Sinne anschließt an das Universum, nicht umhin, den Menschen auch anzuschließen nach der an­dern Seite an den echten Inhalt des Christentums. Deshalb sagt er:

« Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,

Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,

Bist alsobald und fort und fort gediehen,

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Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen.

So sagten schon Sibyllen, so Propheten.»

Diesen Ausspruch kann Goethe nicht hinstellen als etwas, was den Menschen anschließt an die ganze Welt, ohne dar­auf hinzuweisen, daß so, wie der Mensch herausgeboren ist aus der Konstellation des Daseins, er in der Welt etwas ist, was in Äonen nicht untergehen kann, was Auferstehung feiern muß in seiner vergeistigten Gestalt. Deshalb mußte er diesen Worten hinzufügen die andern:

«Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt

Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.»

Und wir können sagen: Und keine Macht und keine Zeit läßt untergehen, was in der Zeit errungen wird und reif wird als Früchte für die Ewigkeit!

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EINIGES ÜBER DEN MOND IN GEISTESWISSENSCHAFTLICHER BELEUCHTUNG

#G058-1957-SE112 - Pfade der Seelenerlebnisse

#TI

EINIGES ÜBER DEN MOND

IN GEISTESWISSENSCHAFTLICHER

BELEUCHTUNG

#'TX

Mit meinem heutigen Vortrag innerhalb unseres diesjäh­rigen Winterzyklus bin ich allerdings in einer etwas schwie­rigeren Lage als in bezug auf alle übrigen Vorträge. Es sol­len heute Andeutungen gegeben werden, welche ziemlich herausfallen aus der Anschauungsweise und Vorstellungs­art, die man gegenwärtig als «wissenschaftlich» gelten läßt; und da das Vorstellen und die Anschauungsweise der Men­schen sich erzieht an dem, was gewohnt und gebraucht ist im wissenschaftlichen und populär-wissenschaftlichen Ver­kehr, so darf wohl gesagt werden: weil der Gegenstand des heutigen Vortrages davon so fernab liegt, so kann gegen­wärtig bei einem größeren Publikum auch nicht viel Nei­gung vorhanden sein, solche Andeutungen als etwas ande­res anzusehen denn als eine Träumerei, mehr der Willkür des Denkens und Vorstellens entspringend als dem, was sie nun in Wirklichkeit doch sind: Konsequenzen geistes­wissenschaftlicher Forschung. Deshalb bitte ich Sie, den heutigen Vortrag innerhalb unseres Winterzyklus als eine Art Episode zu betrachten, daß er eine Anregung geben soll nach einer gewissen Seite hin, die gerade in diesem Winter geisteswissenschaftlich weniger berührt wird, die vielleicht im nächsten Jahre eingehender behandelt werden wird. Es muß aber doch diese Anregung gegeben werden, um zu zeigen, daß dasjenige, was uns in diesem Winter hier beschäftigt als Seelenwissenschaft, überall Richtungen angibt,

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die hinausführen aus dem unmittelbaren Umkreis des menschlichen Seelenlebens hinein in die großen Zusammen­hänge des Weltendaseins, des ganzen Kosmos. Und dann bitte ich Sie auch zu berücksichtigen, daß aus einem weiten Gebiete heute ein ganz kurzes Kapitel andeutungsweise herausgehoben wird; daß daher der heutige Vortrag ganz genau auf sein Thema hin angesehen werden muß: «Einiges über den Mond in geisteswissenschaftlicher Beleuchtung!»Nicht aber etwas Erschöpfendes über das Thema kann das sein, was ich werde zu sagen haben.

Über den Mond werden Sie heute in den mannigfaltig­sten populären Büchern dieses oder jenes vom Standpunkte der heutigen Wissenschaft lesen. Aber dieser Unterricht, den Sie sich da selber durch Vorträge oder durch die populäre oder sonstige wissenschaftliche Literatur geben können, wird Sie recht unbefriedigt lassen in bezug auf die eigentlichen Fragen über diesen merkwürdigen Begleiter unserer Erde, den wir den Mond nennen. Denn von Jahrzehnt zu Jahr­zehnt im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts sind die An­gaben der äußeren Wissenschaft über den Mond, nach einer gewissen Seite hin, mit Recht immer vorsichtiger und vor­sichtiger geworden, aber auch immer spärlidier; und was man sonst in diesen Mitteilungen über den Mond finden kann, wird uns heute am allerwenigsten beschäftigen. Daß das Fernrohr und die astronomische Photographie uns ein gewisses Bild der Mondscheibe gibt, daß man das, was auf der Mondscheibe zu erkennen ist, bezeichnet als kraterför­mige Gebilde, als allerlei Rillen, Mond-Ebenen, Mond-Täler und dergleichen, daß man sich daraus eine gewisse An­schauung bildet von dem rein räumlichen Antlitz des Mon­des, das alles ist es nicht, was uns beschäftigen soll. Aber im

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wirklich geisteswissenschaftlichen Sinne soll heute die Frage aufgeworfen werden: Hat der Mond irgendeinen besonde­ren Einfluß, eine besondere Bedeutung für das Erdenleben?

Von einer solchen Bedeutung des Mondes für das Erden-leben hat man ja in den verschiedenen verflossenen Jahr­hunderten nach mandierlei Richtungen hin gesprochen. Und da man, was ja nicht zu leugnen ist, alles, was auf der Erde jahraus, jahrein geschieht, in Zusammenhang bringen muß mit der Stellung der Erde zur Sonne und den verschiedenen Verhältnissen in bezug auf ihre Bewegung zur Sonne, so hat man sich immer gefragt, ob außer den gewaltigen Ein­flüssen von Sonnenlicht, Sonnenwärme und sonstigen Son­nenwirkungen auf unsere Erde nicht auch das andere Him­melslicht, der Mond, irgendwelche Bedeutung habe für das Erdenleben, insbesondere vielleicht auch für das Menschen­leben. Man war in gar nicht ferner Vergangenheit geneigt, von einem ziemlich starken Einfluß des Mondes auf das Erdenleben zu sprechen. Ganz abgesehen davon, daß es ja seit langen Zeiten üblich ist, diejenigen Erscheinungen der Erde, die man als Ebbe und Flut des Meeres bezeichnet, in Zusammenhang zu bringen mit den Anziehungen des Mon­des, hat man auch immer von einem Einfluß des Mondes auf die Witterungsverhältnisse unserer Erde gesprochen. Und noch in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhun­derts haben ganz ernsthafte wissenschaftliche Forscher und Ä rzte Zusammenstellungen darüber gemacht, wie der Mond in seinen verschiedenen Erscheinungen bestimmte Wirkun­gen habe auf diese oder jene Krankheitsfälle beim Men­schen, oder auf den Ablauf des menschlichen Lebens über­haupt. Man hatte es in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts keineswegs bloß zu tun mit dem, was man

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Volksglauben oder Volksaberglauben nennen könnte, wenn man zum Beispiel von einem Einfluß der Mondphasen auf Fiebererscheinungen, auf asthmatische Erscheinungen, auf den ominösen Kropf und dergleichen sprach; sondern es gab immer auch Ärzte und wissenschaftliche Naturforscher, die solche Fälle registrierten, weil sie glaubten, annehmen zu müssen, daß der Wechsel der Mondphasen auf den Ablauf des menschlichen Lebens und auf Krankheit und Gesund­heit Einfluß habe.

Mit dem Heranrücken jener wissensdiaftlichen Denkweise, von der klar zu erkennen ist, daß sie ihre Morgenröte und ihren Sonnenaufgang in der Mitte des neunzehnten Jahr­hunderts hat, wurde die Neigung, dem Mond irgendeine Bedeutung für das Erdenleben zuzuschreiben, immer ge­ringer. Einzig und allein blieb die Anschauung, daß der Mond der Veranlasser sei von Ebbe und Flut des Meeres. Dagegen wurde man immer weniger geneigt, dem Mond zum Beispiel irgendeinen Einfluß auf Witterungserschei­nungen zuzuschreiben oder gar auf die anderen genannten Erscheinungen des menschlichen oder des sonstigen Lebens auf der Erde. Und insbesondere war es ein auf einem be­stimmten Gebiete des naturwissenschaftlichen Erkennens im neunzehnten Jahrhundert außerordentlich bedeutsamer und epochemachender Forscher, der einmal die ganze Schale seines Zornes über diejenigen ausgegossen hat, welche irgend­wie noch Miene machten, von einem Einfluß des Mondes zu sprechen, sei es auch nur auf Witterungsverhältnisse oder sonstige Erscheinungen unserer Erde. Dieser hervorragende Forscher war der Entdecker von der Bedeutung der Pflan­zenzelle, Schleiden. Er, der auf diesem Gebiete so Epoche­machendes geleistet hat, er hat einmal in ganz intensiver

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Weise das Wort ergriffen gegen einen anderen deutschen Naturforscher, der gerade eine gewisse große Bedeutung er­langt hat da, wo es sich darum handelt, intime oder auch Grenzgebiete der Forschung ins Auge zu fassen, gegen Gu­stav Theodor Fechner. Es ist heute etwa ein halbes Jahr­hundert her, daß jener berühmte «Mondenstreit» ausge­fochten wurde zwischen dem bedeutsamen Entdecker der Pflanzenzelle und Gustav Theodor Fechner, der in seiner «Zend Avesta» versucht hat, zum Beispiel die Anschau­ung, daß das pflanzliche Leben beseelt sei, durchzuführen; der in seiner Vorschule zur Ästhetik, in seiner «Psycho­Physik» manches geleistet hat für das intime naturwissen­schaftliche Erkennen. Man darf vielleicht über diesen be­rühmten Mondenstreit nicht sprechen, ohne mit ein paar Worten auch Gustav Theodor Fediner genauer zu charak­terisieren.

Gustav Theodor Fechner war ein Forscher, der auf der einen Seite mit ungeheurer Emsigkeit und mit einer wirk­lich großen Umsicht und Genauigkeit versuchte, überall die äußeren Tatsachen der Forschung zusammenzustellen; dann aber wandte er eine Methode an, die man nennen könnte die Methode der Analogien, um zu zeigen, wie alle Erschei­nungen nicht nur im menschlichen Leben, sondern im pflanz­lichen Leben zum Beispiel beseelt seien. Die Methode der Analogie wandte er an, indem er ausging von den Erschei­nungen des menschlichen Lebens, indem er zeigte, wie dieses menschliche Leben verläuft, und dann ähnliche Tatsachen und Erscheinungen nahm, die sich der Anschauung, sagen wir als Leben der Erde, als Leben eines ganzen Sonnen­systems, als Leben der Pflanzenwelt darbieten: Und indem er dann solche Erscheinungen mit dem menschlichen Leben

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verglich, bot sich ihm Analogie über Analogie, und er ver­suchte daraus eine Anschauung zu gewinnen, die er etwa so formulierte: Wenn wir das menschliche Leben verfolgen mit seiner Beseelung, so zeigt sich uns diese Erscheinung; wenn wir die anderen Erscheinungen verfolgen, können wir ge­wisse Ähnlichkeiten mit dem Menschenleben feststellen. Warum also sollen wir die anderen Erscheinungen nicht auch als «beseelt» anerkennen?

Wer auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht und gewohnt ist, alles, was sich auf das Geistesleben bezieht, in einem strengen Sinne wissenschaftlich so zu betrachten, wie der Naturforscher gewohnt ist, wissenschaftlich die äußere Erscheinungswelt zu betrachten, dem kommt manches, was Gustav Theodor Fediner in recht geistreicher Weise ausge­führt hat, wie eine bloße geistreiche Spielerei vor; und ob­wohl eine solche geistreiche Spielerei durchaus anregend sein kann, den Geist flüssig machen kann, so ist es doch not­wendig, daß man mit der bloßen Analogiewirtschaft außer­ordentlich vorsichtig ist. Man kann sagen: Wenn jemand als ein anregender Geist wie Gustav Theodor Fechner so etwas tut, so ist es sehr interessant; wenn aber heute wiederum Leute, die wirklich zu dem Urteil berechtigen, daß sie die Welträtsel mit möglichst wenig Wissen und viel Behagen lösen möchten, sich auf Fechner berufen, und manches von ihm zu ihrer eigenen Vorstellungsart machen, so muß doch betont werden, daß der Nachahmer, der Nachbeter, durch­aus nicht immer dieselbe Empfindung und Befriedigung in uns hervorrufen muß wie derjenige, der als erster auf die­sem Gebiete eine gewisse Anregung gibt, die wir als geist-reich anerkennen, aber durchaus nicht als etwas anderes gelten lassen können.

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Schleiden braucht man ja nicht anders zu charakterisieren, als daß man sagt: Er ist der bedeutsame Entdecker der Pflanzenzelle. Damit ist es von vornherein begreiflich, daß ein solcher Geist, der alle seine Wahrnehmungs- und Er­kenntnisfähigkeiten auf das Reale richten muß, auf das, was man eben mit den äußeren Werkzeugen wahrnehmen kann, auch die Neigung hat, auf diesem äußerlich Realen stehen zu bleiben, und nur wenig Sympathie empfinden kann für Analogien oder für alles, was da ausgesprochen wurde, um dasjenige, was - wie Schleiden sagte - zusam­mengesetzt ist aus einzelnen Pflanzen, und was ihm als dem ersten Entdecker wie ein Wunder vorkommen mußte, um das auf eine durch Analogien gewonnene Weise zu beseelen. So wurde für Schleiden alles ein ziemlicher Greuel, was, von einer solchen geistreichen Form ausgehend, über sozu­sagen im Kleineren spielende Zusammenhänge in der Natur sprach. Und gerade mit Rücksicht auf Gustav Theodor Fechners Analogien-Denkweise hat Schleiden dann die Schale seines Zornes ergossen und hat dabei auch die Mond-frage berührt. Er sagt mit Rücksicht nicht nur auf Fediner, sondern auf alle, welche gewohnt waren in alter Weise, wie es durch die Jahrhunderte hindurch geschehen war, dem Mond allerlei Einflüsse auf Witterung und andere Verhält­nisse zuzuschreiben: Dem Mond geht es so, wie der Katze im Haushalt. Wenn im Haushalt etwas geschehen ist, was man nicht recht erklären kann, dann sagt man: die Katze hat es getan! Ebenso ist es, wenn man in der Natur irgend etwas findet, Witterungsverhältnisse oder dergleichen, was man nicht zurückführen kann auf die Tatsachen des Son­nenumlaufes und so weiter, daß man dann sagt: nun, der Mond ist es, der sich da einmischt, und der das, was aus an-deren

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Ursachen heraus nicht zu erklären ist, nun seinerseits bewirkt! So wurde für Schleiden der Mond die Katze der Naturforschung, weil diese Naturforschung, wo sie noch keinen Aufschluß geben kann, sage: Der Mond hat es ge­tan. Und diese Denkweise warf er denen vor, die sozusagen «Mondgläubige» in angedeuteter Art waren.

Gustav Theodor Fechner fühlte sich natürlich getroffen; denn die Spitze war ja hauptsächlich gegen ihn gerichtet. Und er unternahm jetzt eine Arbeit, die - gleichgültig, ob man sie zustimmend oder ablehnend betrachten will -außerordentlich anregend ist; denn trotzdem Einzelheiten heute vielfach überholt sind, ist diese 1856 von Fediner verfaßte Abhandlung «Schleiden und der Mond» eine außerordentlich interessante. Auf die Erscheinungen von Ebbe und Flut brauchte ja Fechner nicht besonders einzu­gehen, weil ja auch Schleiden sie gelten ließ. Dagegen war schon für alle Witterungsverhältnisse für Schleiden eben der Mond die Katze der Naturforschung. - Fechner machte sich nun daran, ganz genau dasselbe Tatsachenmaterial zu prüfen, das Schleiden angeführt hatte gegen die Katze, ge­gen die Mondforschung, und er hat aus demselben Material einen sehr merkwürdigen Schluß gezogen. Wer an der Hand dieses Buches die Ausführungen prüft, der wird schon sehen, daß Gustav Theodor Fechner auf diesem Gebiete ein außer­ordentlich vorsichtiger Mensch ist, der durchaus - eben nur auf einem intimeren Gebiete - naturwissenschaftlich zu Werke ging. Da bekommt Gustav Theodor Fechner denn zunächst heraus - aus einer Unzahl von Tatsachen, die wir einzeln nicht anzuführen brauchen, jeder kann sie nach­lesen -, daß Regenmenge und Regenhäufigkeit für viele Beobachtungen sich so zeigten, daß sie mit zunehmendem

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Monde größer waren als mit abnehmendem Monde; größer, wenn der Mond in Erdnähe war, und kleiner, wenn der Mond in Erdferne war; und zwar so, daß man sogar die Menge der Niederschläge, die Menge des Regens bei zuneh­mendem Monde zu der Regenmenge bei abnehmendem Monde mit der Verhältniszahl von 107: 100 bezeichnen kann. Und Fediner ging sehr vorsichtig zu Werke. - Ich bemerke, daß es sich nicht um Beobachtungen von zwei oder drei Jahren handelte; sondern gewisse Beobaditungsreihen waren auf Jahrzehnte ausgedehnt und bezogen sich nicht auf einen, sondern auf viele europäische Orte. - Aber Fech­ner sagte, um nun auch auf eine andere Weise den Zufall auszuschließen: Nehmen wir an, das sei ein bloßer Zufall, und es bewirkten andere Verhältnisse, die auf die Witte­rung einwirken, daß dieses Verhältnis von 107 : 100 heraus­kommt. Da betrachtete Fechner nun auch zum Überfluß noch die Witterungsverhältnisse an allen geraden Tagen während des Mondenlaufes und an allen ungeraden Tagen. Denn er meinte: wurde nicht zunehmender und abnehmen-der Mond die Ursache sein, so müßte, statt daß man die Tage des zunehmenden und des abnehmenden Mondes be­trachtete, während der geraden und ungeraden Tage das­selbe Verhältnis herauskommen. Das ist aber nicht der Fall. Da kam eine ganz andere Zahl heraus; durchaus nicht ein konstantes, sondern ein veränderliches Verhältnis, von wel­chem man sagen kann, es ist dem Zufall unterworfen. Für Fediner war aber auch klar, daß er damit kein welterschüt­terndes Resultat gewonnen hatte; denn er mußte sich sagen:

einen großen, gewaltigen Einfluß hat der Mond auf die Witterung nicht; aber die Tatsachen sprechen so, als ob der Mond doch einen Einfluß auf die Witterung habe. Und wie

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Sie schon gesehen haben, ging Fechner ganz wissenschaftlich vor, indem er nur die an den einzelnen Beobaditungsorten von strengen Forschern gewonnenen Resultate in Rechnung zog. Dann versuchte er ein Ähnliches in bezug auf Fieber und sonstige Lebenserscheinungen, und bekam auch da -nicht ein negatives, wenn auch nicht bedeutungsvolles, so doch ein Resultat, von dem man sagen kann: es läßt sich durchaus nicht ableugnen, daß solche Erscheinungen, wie das, sagen wir, der Volksglaube annimmt, anders verlaufen bei zunehmendem und anders bei abnehmendem Mond.

So sehen wir, wie die alte Anschauung über den Mond in einem geistvollen Menschen, in Fediner, um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts noch einen letzten Kampf kämpfte.

Das ist so recht ein Beispiel dafür, daß es total unrichtig ist, wenn heute immer mehr und mehr die Behauptung auf­taucht: die Wissenschaft hätte uns gezwungen oder zwänge uns, nicht mehr von irgendwelchen Annahmen über geistige Untergründe der Dinge zu reden, weil heute, um gleich etwas aus den letzten wissenschaftlichen Tagen und Jahren zu erwähnen, die Wissenschaft - so sagt man ja wohl - vor dem Tore derjenigen Kunst stünde, durch die es ihr gelingen werde, einfache Stoffe in irgendeiner Weise zu lebendiger Substanz zu vereinigen. Zwar haben wir - so wird man immer sagen - noch weit bis dahin, wo man zum Beispiel in der einfachsten Form «Eiweiß» werde herstellen können aus den Bestandteilen des Eiweiß, aus Kohlenstoff, Wasser­stoff, Stickstoff und so weiter; aber wir stehen heute sozu­sagen nach der ganzen Tendenz der Wissenschaft davor, unbedingt zugeben zu müssen, daß das einmal werde ge­schehen können. Und wenn das einmal wird geschehen können

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- so sagen diejenigen, welche solche Behauptungen auf­stellen -, dann darf überhaupt niemand mehr eine andere Anschauung haben als diejenige, welche in monistischer Weise einzelne materielle Glieder zusammenformen läßt zu dem, was man dann als geistige Wesenheit erkennt. - Wenn man so spricht, dann beruft man sich wohl auf die neueren Ziele und Errungenschaften der Wissenschaft und meint:

man könnte gar nicht mehr davon sprechen, daß wir eine Berechtigung haben, hinter dem, was die Sinne wahrneh­men, was die äußere Wissenschaft zu sagen vermag, etwas Geistiges zu erkennen, denn soweit seien wir doch glücklich über die Zeiten hinaus - wird man sagen -, wo man irgend­welche unbestimmte Lebensweisheiten hinter dem, was man sinnlich wahrnehmen kann, behaupten konnte.

Da darf man doch die Frage aufwerfen: Ist es denn wirk­lich die Wissenschaft, die dazu zwingt sozusagen, die Gei­stesforschung abzulehnen? Ist es zum Beispiel ein wissen­schaftliches Resultat - und ich möchte mich dabei durchaus auf den Boden derjenigen stellen, die des Glaubens sind, daß es in einer gar nicht so fernen Zukunft gelingen kann, aus einfachen Substanzen lebendiges Eiweiß herzustellen -, ist denn irgend etwas zwingend dafür, zu sagen, daß das Leben materiell zusammengesetzt ist, und daß wir keinen Geist suchen dürfen?

Wie wenig irgend etwas dazu zwingt, kann eigentlich eine gewöhnliche historische Betrachtung lehren. Es gab eine Zeit, in der man nicht nur glaubte, daß man aus Kohlen­stoff, Wasserstoff und so weiter lebendiges Eiweiß darstel­len kann, sondern in der man sogar geglaubt hat - gleich­gültig, welchen Wert dieser Glaube hatte (und Sie kön­nen die dichterische Darstellung darüber im zweiten Teil

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des «Faust» lesen) -, daß man einen ganzen Menschen aus den Bestandteilen in der Retorte werde herstellen kön­nen. Ja, es gab Zeiten, mag man sie für noch so töricht hal­ten, in denen man diesen Glauben hatte, daß man den Men­schen selber, den «Homunkulus», aus einzelnen Bestand­teilen zusammensetzen kann; daß man nicht nur glaubte, Eiweißklümpchen herstellen zu können. Dennoch hat da­mals kein Mensch daran gezweifelt, daß hinter dem Sinn­lichen der Geist ist. Daraus kann man historisch beweisen, daß keine «Wissenschaft» uns zwingt, den Geist abzulehnen; sondern wo der Geist abgelehnt wird, da hängt das von etwas ganz anderem ab, nämlich von der Möglichkeit des Menschen, den Geist zu spüren oder nicht zu spüren! Wissenschaft, wie sie heute ist oder immer sein wird, kann uns niemals zwin­gen, den Geist abzulehnen. Man kann vollkommen auf wis­senschaftlichem Standpunkt stehen: Ob man den Geist aner­kennt oder ablehnt, das hängt nicht von der Wissenschaft ab, sondern davon, ob man imstande ist, den Geist zu spü­ren oder nicht zu spüren, zu erkennen oder nicht zu erken­nen. Daher können wir, obgleich wir vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft weder Schleiden noch Fechner bei-zustimmen brauchen, begreifen, daß der auf die sinnliche Welt blickende Schleiden alles ablehnte, was als Geist oder Seele hinter den Erscheinungen gesucht wird. Aber er lehnte es nicht ab aus wissensdiaftlichen Gründen, sondern weil seine Anschauungsweise keine Sympathie fand zu dem, was man als Geist hinter den Erscheinungen suchen sollte; er hatte sich zu sehr nur an das Augenfällige gewöhnt. Fechner war eben eine ganz andere Individualität. Er sah auf das Geistige; und wenn er auch Fehler über Fehler machte, war er eben doch ein anders gearteter Mensch, ein Mensch, der

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sich auf das Geistige richtete. Daher ist auch seine Neigung zu erklären, nicht alles abzulehnen, was intimere Einflüsse der Weltenkörper aufeinander bedeuten. Fechner sagte sich einfach: Wenn ich zu diesem Mond hinaufblicke, ist er für mich nicht bloß das Schlackengebilde, als das er dem Tele­skop erscheint; sondern er ist beseelt, wie alle anderen Er­scheinungen auch beseelt sind. Daher dürfen wir auch an­nehmen, daß es Wirkungen von der Mondenseele zu der Erdenseele gibt, die sich äußern in den Untergründen des gewöhnlichen Lebens oder in den Witterungserscheinungen.

Nun ist es merkwürdig - und es ist öfters hier darauf hingewiesen worden -, daß gerade eine gewisse geistesfor­scherische Art auf das Praktische gerichtet ist und immer darauf hinweist, daß die besten Beweise für das, was die Geistesforschung zu sagen hat, durch die Lebenspraxis ge­wonnen werden können. Das ist eigentümlicherweise auch die Art, wie Fediner seine Anschauung verteidigte, indem er dafür Anwendung und Beleg suchte in der Lebenspraxis. Er sagte ungefähr so: Vielleicht könnten über das, was zwischen Schleiden und mir über den Mond auszufechten ist, besser unsere Frauen entscheiden. Da schlage ich einmal folgendes vor: Man braucht zum Waschen Wasser, und man kann das Wasser sammeln nach den Witterungsverhält nissen. Ich schlage nun vor, weil Schleiden und ich unter einem Dache wohnen, und uns gestattet ist, das Wasser zu bestimmten Zeiten zu sammeln, daß meine Frau das Wasser sammelt während der Zeit des zunehmenden Mondes, daß dagegen Schleidens Frau, die ja ganz gewiß, um die Theo­rie ihres Mannes nicht gar zu sehr zuschanden zu machen, darauf eingehen wird, weil sie auf all das nichts gibt, ihre Kannen aufstellt bei abnehmendem Mond. Da wird sichzwar

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herausstellen, daß meine Frau auf je etwa 14 Kannen eine Kanne mehr haben wird als Frau Professor Schleiden, aber zur Überwindung einer vorgefaßten Meinung kann diese ja wohl ein solches Opfer bringen.

Da hätten wir denn sozusagen charakterisiert aus der Denkweise von Menschen heraus, wie im verflossenen Jahr­hundert, also noch vor ganz kurzer Zeit, über den Mond und seinen Einfluß auf die Erde gedacht worden ist. Heute darf man wohl sagen, daß die Menschen, die nun wiederum ein Stück weitergekommen sind in der - wie sie sagen -wissenschaftlichen Weltanschauung, in bezug auf die Schlei­densche Vorstellung Fortschritte gemacht haben in der Art, daß sie heute jeden für einen ganz verträumten, abergläu­bischen Menschen ansehen werden, der auch irgendwie nur festhält an einem solchen Glauben, daß der Mond etwas zu tun haben könnte mit Witterungsverhältnissen und der­gleichen. Heute werden Sie auch bei ganz gescheiten Men­schen keine andere Anschauung finden als diejenige, daß der Mond nur einen Einfluß habe auf Ebbe und Flut; aber alles übrige gilt als ein überwundener Standpunkt.

Aber wenn man auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht, braucht man sich ja nicht auf alles einzuschwören, was einmal Volksglaube war; denn sonst würde man in die Ver­legenheit derjenigen kommen, die den Aberglauben mit der Geisteswissenschaft verwechseln. Vielfach tritt uns ja heute auch als Geisteswissenschaft ein gut Stück Aberglaube ent­gegen, der mißverstandener Volksglaube ist. Auf jenen Mondaberglauben kann man ja billig hinweisen, den man heute an allen Straßenecken sehen kann; denn es ist ja wohl bekannt, daß an unsern Barbierläden überall ein Mond an­gebracht ist. Warum? Weil es ein allgemeiner Glaube ein-

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mal war, daß die Schärfe des Rasiermessers etwas mit dem zunehmenden Monde zu tun habe. Ja, es gab Zeiten, in denen kein Mensch sich entschlossen hätte, ein Schaf zu scheren bei abnehmendem Mond; denn er hätte geglaubt, daß dann die Wolle nicht wieder wächst. Nur wenn er ge­wollt hat, daß eine Sache nicht weiter wächst, hat er das Schneiden bei abnehmendem Monde besorgt. Über solchen Aberglauben ist ja leicht hinauszukommen. Die Herren, die sich rasieren lassen, werden wissen, daß der Bart auch bei abnehmendem Monde wieder wächst. Es ist also ebenso leicht auf diesem Gebiete zu spotten, wie es auf der andern Seite nicht so leicht ist, ganz klar nach allen Richtungen zu sehen. Denn jetzt kommen wir auf ein sonderbares Gebiet, wo wir erst geisteswissenschaftlichen Boden betreten: auf das Gebiet von Ebbe und Flut.

Das gilt ja heute als unbestreitbares Besitztum der Mond-wirkungen. Man sagt: Das ist ganz klar, daß die Flut zu­sammenhängt mit der Anziehungskraft des Mondes. In der Meridianstellung des Mondes sucht man die Anziehungs­kraft der Flut, und in dem Heraustreten des Mondes aus dem Meridian sucht man das Abfluten der Flut zur Ebbe. Nun braucht man ja nur darauf hinzuweisen, daß Ebbe und Flut an zahlreichen Orten, wo sie auftreten, zweimal auf­treten, und daß der Mond doch nur einmal im Meridian steht. Aber man kann noch auf andere Tatsachen hinweisen. Zahlreiche Reisebeschreibungen werden Ihnen zeigen, daß an den verschiedensten Orten der Erde keineswegs überall mit der Meridianstellung des Mondes die Flut zusammen-fällt, daß sie sogar an manchen Orten zwei bis zweieinhalb Stunden später kommt. Allerdings hat man in diesem Falle immer wissenschaftliche Ausflüchte; da sagt man denn:

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Dann hat sich die Flut eben verspätet! - Es gibt gewisse Brunnen, die auch Ebbe und Flut zeigen, bei denen diese Erscheinung gar nicht wegzuleugnen ist; da kommt es sogar vor, daß dann, wenn im Meere Flut ist, im Brunnen Ebbe auftritt, und bei Ebbe im Meer Flut. Da sagt man dann auch: das ist verspätete Ebbe oder verspätete Flut; dann hat sie sich eben so stark verspätet, daß sie zur andern Phase eintritt. Freilich, wenn man in dieser Weise erklären will, kann man so ziemlich alles erklären.

Aber mit Recht ist auch gefragt worden, woher der Mond die Kraft nimmt, um eine solche Anziehung auf das Meer auszuüben. Denn da der Mond viel kleiner ist als die Erde, so hat er auch nur ungefähr ein Siebzigstel der Anziehungs­kraft der Erde; und um solche Massen in Bewegung zu set­zen, wie die Meeresmassen, dazu gehören Millionen von Pferdekräften. Julius Robert Mayer hat sehr interessante Berechnungen darüber aufgestellt, woher der Mond diese Kraft nimmt. Und an diese Frage schließen sich zahlreiche andere an. Daher kann man sagen: Was heute wissenschaft­lich als unanfechtbar gilt, das gerade ist etwas, trotzdem überall nichts dagegen eingewendet wird, was am aller an­fechtbarsten ist. Aber dabei bleibt eines sehr bedeutsam. Wenn man durchaus nachweisen kann, daß Mondenstellung und Mondeneinfluß und Verlauf von Ebbe und Flut so sind, daß man von einer unmittelbaren Einwirkung des einen auf das andere schwer sprechen kann, wenn man alle Erscheinungen in Rechnung zieht, so bleibt doch das eine immer noch bestehen: der Verlauf von Ebbe und Flut ist so, daß sich eine bestimmte Flut jeden Tag - in bezug auf den höchsten Stand des Mondes - um etwa fünfzig Minuten verspätet. So daß das Phänomen von Ebbe und Flut in

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seiner regelmäßigen Aufeinanderfolge schon dem Umlauf des Mondes entspricht. Das ist das Bedeutsamste dabei. - So stehen wir hier vor der merkwürdigen Tatsache, daß wir sagen müssen: Wenn der Mond in seinem Mittagskreise steht, können wir nicht sprechen von seinem Einfluß auf Flut und Ebbe; aber wir können davon sprechen, daß der Verlauf des Mondkreislaufes und der Verlauf von Ebbe und Flut zusammenstimmen, in einer gewissen Korrespon­denz stehen.

Nun möchte ich, um in den Geist der geisteswissenschaft-lidien Denkweise ein wenig hineinzuführen, Sie hinweisen auf eine ähnliche Sache innerhalb unserer Erdenerscheinun-gen, die Goethe viel Kopfzerbrechen gemacht hat. Die Men­schen kennen ja das, was diesen großen Geist der neueren Zeit bewegt hat, so wenig wie möglich. Wer - wie ich - mit den naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes Jahre um Jahre verbracht hat, und Goethes eigene Arbeiten im «Goe­the- und Schiller-Archiv» in Weimar gesehen hat, dem wird da manches aufgefallen sein. Zum Beispiel gibt es bei den Goetheschen Arbeiten «vorbereitende Studien» zu dem, was Goethe dann auf wenigen Seiten als seine «Witterungs­lehre» gibt. Dazu sind vorbereitende Studien von Goethe gemacht worden mit ungeheurem Fleiß, mit ungeheurer Emsigkeit. Immer wieder und wieder hat Goethe seine Freunde engagiert, Studien zu machen, die er dann in Ta­bellen zusammenstellte. Und der Zweck dieser ausgedehn­ten Studien war der: nachzuweisen, daß an den verschiede­nen Orten der Erde der Verlauf des Barometerstandes nicht Zufälligkeiten unterworfen sei, sondern in einer ganz regel­mäßigen Weise geschieht, so daß also das Steigen und Sin­ken der Quecksilbersäule im Barometer an den verschiedensten

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Orten der Erde in einer ganz regelmäßigen Weise ver­läuft. Und Goethe hat auch in seinen Studien viele Belege dafür gebracht, daß an den verschiedenen Orten das Steigen und Sinken des Barometers nicht von Zufälligkeiten ab­hängt, sondern einer über den ganzen Erdkreis hingehenden Gesetzmäßigkeit unterliegt. Goethe wollte damit nach­weisen, daß es nicht richtig ist anzunehmen, daß der Druck der Luft von irgendwelchen äußeren Einflüssen abhängt. Er wußte ja, daß die Menschen dem Monde, der Sonne und anderen kosmischen Einflüssen Verdichtung und Verdün­nung der Luft und damit eine Veränderung des Luftdruckes zuschreiben. Er aber wollte nachweisen: Wie auch die Kon­stellation der Gestirne sei, wie auch Sonne und Mond und so weiter auf den Luftkreis wirken, es ist doch eine kon­stante Regelmäßigkeit über den ganzen Erdball im Steigen und Fallen des Luftdruckes vorhanden. Damit suchte er den Beweis zu erbringen, daß in der Erde selber die Ursachen liegen für das Steigen und Sinken des Barometers. Denn er wollte damit zeigen, daß die Erde nicht jener tote Körper ist, für den sie gewöhnlich angesehen wird, und daß die Erde ebenso von unsichtbaren Gliedern durchdrungen wird, von denen alles Leben ausgeht, wie der Mensch außer sei­nem physischen Körper unsichtbare Glieder seiner Wesen­heit hat, die ihn durchdringen. Und ebenso wie beim Men­schen Einatmung und Ausatmung herrscht, wie er die Luft aufnimmt und wieder herausläßt, so hat auch die Erde als ein belebtes Wesen Einatmung und Ausatmung. Und Ein­atmung und Ausatmung der Erde, also Erscheinungen eines inneren Lebens, drücken sich äußerlich aus in dem steigen­den und sinkenden Quecksilber im Barometer. Wie man also das regelmäßige Ein- und Ausatmen beim menschlichen

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Lebewesen erklären würde aus den inneren Lebensvorgän­gen heraus, so versuchte Goethe das Steigen und Sinken des Barometers zurückzuführen auf das Ein- und Ausatmen der Erde. Die heutige Wissenschaft weiß ja nichts über die Ursachen des steigenden und sinkenden Barometerstandes; deshalb braucht gar nicht aus der Geisteswissenschaft etwas über ihr Verhältnis zu der äußeren Wissenschaft gesagt zu werden; sondern nur darauf soll hingedeutet werden, daß wir in Goethe einen Menschen vor uns haben, der davon überzeugt war, daß die Erde ein beseeltes Wesen ist und in sich selber Erscheinungen zeigt, die sich vergleichen lassen mit den Atmungserscheinungen des menschlichen Wesens. Aber einmal sprach es Goethe auch zu Eckermann aus, daß er auch die Erscheinung von Ebbe und Flut in ähnlicher Weise ansah als einen Ausdruck der inneren Lebendigkeit, des Lebensprozesses der Erde selber.

Mit dieser Anschauung steht Goethe allerdings durchaus nicht vereinzelt da unter den großen Geistern, die ihr geisti­ges Auge auf solche Dinge gerichtet haben. Die matena­listisch denkenden Menschen werden ja das alles lächerlich finden. Aber unter denen, welche einen Sinn für das Leben haben, auch da, wo es sich nicht im engsten Kreise auf­drängt, sondern für das Leben im großen, unter denen hat es immer Menschen gegeben, die ähnliche Ansichten wie Goethe hatten, so zum Beispiel Leonardo da Vinci. In sei­nem ausgezeichneten Buch, in dem er seine umfassenden naturwissenschaftlichen Anschauungen zusammengestellt hat, die für die damalige Menschheit auf der Höhe der Zeit standen, da finden wir die Bemerkung, daß er wirklich

- nicht nur vergleichsweise! - den festen Felsenbau unserer Erde wie ein Knochengerüst der Erde ansieht, und daß ihm

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die Ströme, Flüsse und Wasserläufe der Erde wirklich etwas sind, was zusammengestellt werden kann mit dem Blut­system des Menschen. Und da finden Sie ebenfalls darauf hingewiesen, daß Ebbe und Flut zusammenhängen mit einem inneren gesetzmäßigen Leben unserer Erde. - Audi Kepler sprach es einmal aus, indem er seine Anschauung in ein Bild faßte und sagte: Die Erde ist in gewisser Beziehung wie ein Riesenwalfisch anzusehen, und Ebbe und Flut sind wie Ein- und Ausatmungen dieses Riesenwalfisches. Und so könnte noch manches angeführt werden.

Wie aber wäre es denn, wenn man die vorgenannten Tat­sachen vergliche mit einer solchen Anschauung, wie sie uns bei Goethe auch einmal für Ebbe und Flut entgegentritt? Betrachten wir einmal das, was geisteswissenschaftliches Er­gebnis ist, und versuchen wir das, was vorhin gesagt worden ist über den Verlauf der Mondphasen und über Ebbe und Flut, auf das zu beziehen, was Goethe zum Beispiel gesagt hat: auf das innere Leben der Erde und ihr Aus- und Ein­atmen. - Da müssen wir die geisteswissenschaftlichen Er­gebnisse zugrunde legen. Geisteswissensdiaftliche Ergebnisse kann man nur erhalten, wenn man mit geisteswissenschaft­lichen Mitteln forscht. Und hier kommen wir eben auf jenes höchst gefährliche Gebiet, wo in bezug auf die heutigen Fragen jeder, der da glaubt auf dem Boden der modernen Wissenschaft zu stehen, von Träumereien der Geisteswissen­schaft sprechen wird. Mag er es tun. Besser würde er aber tun, wenn er das, was gegeben wird, als Anregungen be­trachtete; die Beweise dafür wird er in einer intimeren Be­trachtung des Lebens finden können.

Betrachten wir, um in richtiger Weise auf das hinweisen zu können, was der geisteswissenschaftliche Forscher meint,

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den Menschen selbst in bezug auf seine Umwelt. Geistes-wissenschaftlich betrachtet stammt ja der Mensch nicht bloß aus der sinnlichen Welt, sondern aus den geistigen Grund­lagen der Welt, die hinter der äußeren sinnlichen Tatsachen­welt stehen; so daß der Mensch aus der sinnlichen Welt eben nur herausgeboren ist als ein sinnliches Wesen. Inso­fern aber der sinnliche Menschenleib durchdrungen ist von Geist und Seele, ist der Mensch als Geist und Seele aus Geist und Seele des Kosmos herausgeboren. Und nur wenn wir auf Geist und Seele des Kosmos hinweisen vom Geist und der Seele des Menschen aus, können wir ein wenig hinein-blicken in das, was wir als Zusammenhang zwischen Men­schen und Kosmos zu nennen berufen sind.

Wir haben in den vergangenen Vorträgen über mancher­lei Erscheinungen des inneren Seelenlebens des Menschen gesprochen. Uns trat des Menschen Seele vor Augen nicht bloß als jenes nebulose Gebilde, das sie für die heutige Psychologie ist. Wir unterschieden zunächst jenes Glied der menschlichen Seele, das wir die «Empfindungsseele» nann­ten. In der Empfindungsseele wühlt noch dumpf, seiner selbst kaum bewußt, das menschliche Ich und erlebt dort das Getriebe von Lust und Schmerz und von alledem, was ihr an äußeren Erlebnissen von der Außenwelt durch die Vermittlung des Empfindungsleibes zukommt. Innerhalb des Lebens der Empfindungsseele ist das Ich schon vorhan­den; aber es weiß noch nichts von sich. Dann entwickelt sich das Ich weiter, und damit schreitet die Seele vor zu dem zweiten Glied, zu der «Verstandesseele» oder «Gemüts-seele» Und wenn dann das Ich immer weiter und weiter an der Seele arbeitet und baut, wird aus der Verstandes-seele die «Bewußtseinsseele» So unterscheiden wir an dem

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menschlichen Seelengebilde drei verschiedene Seelenteile:

Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Be­wußtseinsseele. Das Ich arbeitet an diesen drei Seelenglie­dern und bringt den Menschen zu einer immer größeren und größeren Vollkommenheit hinauf. Aber diese drei Seelenglieder müssen, so wie sie hier in der Welt, im Men­schen leben und durch den Menschen eben ihre Arbeit ver­richten, in der äußeren Leiblidikeit des Menschen leben. Durch die äußere Leiblichkeit des Menschen können diese drei Seelenglieder auf unserer Erde einzig und allein wir­ken; und zwar wirken sie so, daß die Empfindungsseele zu­nächst zu ihrem Träger und zu ihrem Werkzeug den Emp­findungsleib hat, daß die Verstandesseele zu ihrem Träger dasjenige Glied des Menschen hat, das wir als den Ätherleib oder Lebensleib in den verflossenen Vorträgen bezeichneten; und erst die Bewußtseinsseele hat zu ihrem Träger das, was wir nennen konnten den physischen Leib des Menschen. Denn wir unterschieden bei der Leiblichkeit des Menschen wiederum zuerst den physischen Leib, den er gemeinschaft­lich hat mit allem, was in der mineralischen Welt ist. Zu­gleich ist dieser physische Leib der Träger der Bewußtseins-seele, das heißt, nicht die Bewußtseinsseele selber, nur das Werkzeug der Bewußtseinsseele ist er. Dann sehen wir am Menschen ein höheres Glied seiner Leiblichkeit, das er jetzt nur noch gemeinschaftlich hat mit allem Lebenden, mit der Pflanzenwelt. Was in der Pflanze die Wachstums-, Fort­pflanzungs- und Ernährungsfunktionen bewirkt, das wirkt auch im Menschen; aber das verbindet sich im Menschen mit der Verstandes- oder Gemütsseele. Während die Pflanze einen Ätherleib hat, der nicht durchdrungen ist von einer Verstandesseele, wird der Ätherleib im Menschen zugleich

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der Träger und das Werkzeug der Verstandes- oder Ge­mütsseele, wie der physische Leib der Träger der Bewußt­seinsseele ist. Was außen im Mineral den Kristall bewirkt, das ist im Menschen von der Bewußtseinsseele durchdrun­gen. Was im Tier als astralischer Leib existiert und die tierischen Triebe und Leidenschaften vermittelt, das ist im Menschen noch innerlich vertieft, und das ist der Träger dessen, was wir die Empfindungsseele nennen. So lebt des Menschen Seelisches - Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele - in der dreifachen Leib­lichkeit, in dem Empfindungsleib, in dem Ätherleib und in dem physischen Leib.

So ist es beim Menschen, wenn er im Wachzustande ist. Anders ist es, wenn der Mensch im Schlafzustande ist. Da läßt er zurück im Bette den physischen Leib und den Äther-leib, und mit dem astralischen Leib und dem Ich und all den seelischen Gliedern - also auch denjenigen seelischen Gliedern, die den physischen Leib und den Ätherleib durch­ziehen als Verstandesseele und Bewußtseinsseele - dringt er aus dem physischen Leib und dem Ätherleib heraus. Da lebt der Mensch während des Schlafes in einer geistigen Welt, die er nur nicht wahrnehmen kann, weil er hier auf der Erde darauf angewiesen ist, durch die Instrumente des physischen Leibes und des Ätherleibes die Umwelt wahr­zunehmen. Sobald er im Schlafe diese Instrumente abgelegt hat, kann er diese geistige Welt nicht wahrnehmen; denn er hat im heutigen normalen Leben keine Werkzeuge dazu.

- Nun sind wir in einer besonderen Lage, wenn wir den Menschen einmal betrachten im Wadizustande und einmal im Schlafzustande: Wenn der Mensch im Wachzustande ist, da fällt - zwar für die heutigen Menschen nicht mehr ganz

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genau, insbesondere nicht in den Städten - dieser Wach­zustand zusammen mit der unmittelbaren Wirkung der Sonne auf die Erde. Wir brauchen ja nur noch in das ein­fache Landleben hinauszugehen, wo der Mensch sich noch in gewisser Beziehung dieses Verhältnis bewahrt hat zwi­schen der äußeren Natur und seinem Leben; da werden wir finden, daß der Mensch wacht, wenn die Sonne scheint, und daß er schläft im wesentlichen, wenn die Sonne unterge­gangen ist. Des Menschen regelmäßige Abwechselung zwi­schen Wachen und Schlafen entspricht damit der regel­mäßigen Wirkung des Sonnenscheins auf die Erde und alle dem, was damit im Zusammenhang steht. Und es ist durch­aus nicht als ein bloßes Bild, sondern als eine tiefe Wahrheit zu nehmen, wenn gesagt wird: Die Sonne ruft den astra­lischen Leib und das Ich des Menschen mit Empfindungs­seele, Verstandesseele und Bewußtseinsseeie am Morgen zurück in den physischen Leib, und während des Wachens sieht der Mensch alles, was in seiner Erdenumgebung ist und dazu gehört, durch die Sonne, durch die Wirkung der Sonne. Die Sonne also ist es, welche den Menschen, wenn er alle seine Wesensglieder vereinigt hat beim Tagwachen, aufruft zu seiner gewöhnlichen Lebensanschauung. Und man wird leicht finden, wenn man das Leben nicht ober­flächlich betrachtet, wie die Sonne dieses Verhältnis dem Menschen vermittelt.

Drei Dinge haben wir, die uns zeigen können, wie der Mensch in einem bestimmten Verhältnis zu Erde und Sonne steht. In bezug auf seine Seele, in bezug auf Empfindungs­seele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele ist der Mensch ein innerlich selbständiges Wesen; nicht aber in bezug auf die Träger derselben, in bezug auf physischen Leib, Ätherleib

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und Empfindungsleib. Diese Hüllen, diese Träger und Werkzeuge der drei Seelenglieder sind ja aufgebaut aus dem äußeren Weltenall. So wie sie dem wadienden Menschen dienen sollen, sind sie aufgebaut durch das Verhältnis von Sonne zur Erde. Und zwar in folgender Weise:

Die Empfindungsseele des Menschen lebt im Empfin­dungsleib. Dieser Empfindungsleib, der das äußere Werk­zeug der Empfindungsseele ist, hängt in seiner Eigenart ab von dem Orte auf der Erde, der des Menschen - wenn wir es so nennen wollen - Heimat ist. Der Mensch ist ja auf einem gewissen Punkte der Erde heimisch; und es hängt etwas davon ab, ob ein Mensch geboren ist in Europa oder in Amerika oder Australien. Es hängt nichts davon ab in bezug auf seinen physischen Leib und Lebensleib direkt; aber direkt hängt etwas davon ab in bezug auf seinen Emp­findungsleib. Wenn auch der Mensch innerlich immer freier wird in bezug auf diese äußeren Wirkungen, die auf seinen Empfindungsleib gehen, so müssen wir dennoch sagen: Ge­rade bei denjenigen Menschen, die bodenständig sind, bei denen der Heimatsinn besonders ausgebildet ist, die durch ihre Seele noch nicht die Gewalt ihres Leiblichen überwun­den haben, da drückt sich das Heimatgefühl, das Abhängig-sein von dem Punkte, wo man geboren ist, dadurch aus, daß diese Menschen, wenn sie in andere Gegenden versetzt sind, nicht nur übellaunisch und mürrisch sind, sondern daß sie durch das Ungewohnte in der Umgebung geradezu krank sein können; und es genügt oft schon die Aussicht, wieder in ihre Heimat zurückzukommen, daß sie wiederum gesund sein können, weil die Ursache der Krankheit nicht im phy­sischen Leib oder im Ätherleib liegt, sondern im Empfin­dungsleib, der als seine Stimmungen, Leidenschaften, Begierden

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und so weiter das hat, was unmittelbar von der sinnlichen Umgebung des Ortes kommt, auf dem der Mensch bodenständig ist. Durch seine höhere Entwickelung, indem der Mensch immer freier und freier wird, wird er gerade diese Einflüsse, die ihn an den Boden fesseln, überwinden; aber eine umfassende Betrachtung wird uns zeigen, daß die Stellung des Menschen auf der Erde je nach der Lage dieses Ortes zur Sonne eine andere ist; an jedem Orte der Erde fallen die Sonnenstrahlen unter einem anderen Winkel ein. Wer umfassender die Dinge betrachtet, der wird schon sehen, was im Menschen alles nach der gekennzeichneten Richtung hin abhängt von dem Orte der Erde, wo der Mensch lebt. So kann man es verfolgen, daß ganz gewisse Instinkte, instinktive Handlungen, die dann zu Kultur­elementen wurden, auch davon abhingen, wo diese betref­fenden Menschen auf der Erde wohnten.

Nehmen wir zwei Dinge in der Kulturentwicklung: den Gebrauch des Eisens - und jene Gewohnheit, sich Nahrung zu verschaffen durch das Melken gewisser Tiere. Da finden wir, daß nur auf denjenigen Gebieten, die zu Europa, Asien und Afrika gehören, sich diese zwei Dinge entwickelten:

Eisen zu verarbeiten und gewisse Tiere zu melken, um sich Nahrung zu verschaffen. In den anderen Gebieten der Erde war früher nichts davon vorhanden. Erst europäische Ein­wanderer haben diese zwei Kulturelemente dahin gebracht. Man kann ganz genau verfolgen: Während durch ganz Sibirien hindurch das Melken von Tieren uralt ist, schließt es sich ganz scharf gegen das Beringsmeer zu ab, und nichts davon ist bei den Ureinwohnern Amerikas zu finden. Und ebenso ist es mit dem Eisen.

Hier sieht man, wie bestimmte Instinkte - Instinkte

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liegen im Empfindungsleib - an den Ort der Erde gebunden sind, von dem der Mensch abhängig ist, und damit in erster Linie abhängen von der Stellung der Erde zur Sonne.

Eine zweite Abhängigkeit können wir dadurch bezeich­nen, daß der Ätherleib des Menschen - als Träger der Ver­standesseele - in der Tat sich abhängig zeigt in seiner Tätigkeit von dem Wechsel der Jahreszeiten; daß er be­stimmt ist von dem in dem Wechsel der Jahreszeiten sich ausdrückenden Verhältnis der Erde zur Sonne. Direkt kann man das natürlich nur geisteswissenschaftlich beweisen; aber es gibt eine Möglichkeit, sich durch die äußeren Tatsachen der Erdentwicklung wieder zu überzeugen, daß diese geistes-wissenschaftliche Behauptung richtig ist. Denken Sie einmal daran, daß auf der Erde nur dort, wo wirklich ein sich aus­gleichender Wechsel in den Jahreszeiten vorhanden ist, eine innere Regsamkeit der Seele als Verstandesseele oder Ge­mütsseele sich entwickeln kann; das heißt nur in solchen Gegenden, wo wirklich ein regelmäßiger Wechsel zwischen den einzelnen Jahreszeiten vorhanden ist, kann sich ein Träger und ein Instrument für die Verstandes- und Ge­mütsseele entwickeln in dem Lebens- oder Ätherleib des Menschen. Gehen Sie hinauf nach dem hohen Norden. Da werden Sie finden, wie schwer es der Seele wird, wenn sie Kulturmittel aus anderen Gebieten aufnimmt, gegen den Ätherleib anzukämpfen, der dort unter solchen Verhält­nissen steht, welche wir bezeichnen als einen übermäßig langen Winter und einen kurzen Sommer. Da ist es der Verstandesseele nicht möglich, aus dem Ätherleib sich ein solches Instrument zu schaffen, das für sie leicht zu hand­haben ist. Und gehen Sie zur heißen Zone, so werden Sie finden, daß durch die nicht geregelte Abwechselung der Jahreszeiten

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wiederum Apathie hervorgerufen wird. In dersel­ben Weise wie draußen in der Natur die Kräfte im Leben der pflanzen abwechseln während des Jahres, so wechseln wirk­lich durch den Wechsel der Jahreszeiten auch im menschlichen Ätherleib jene Kräfte ab, welche sich dann ausdrücken in den Stimmungen Frühlingsfreudigkeit, Sehnsucht nach dem Sommer, Wehmut des Herbstes, Winterödigkeit. Dieser ge­regelte Wechsel ist es, der notwendig ist, wenn in dem Äther-leib des Menschen ein richtiges Instrument für die Verstan­desseele geschaffen werden soll. -Da sehen wir, wie die Sonne in ihrem Verhältnis zur Erde arbeitet an dem Menschen.

Und nun gehen wir zum physischen Leib des Menschen. Damit die Bewußtseinsseele im physischen Leibe in der regelmäßigen Weise arbeiten kann, muß sich der Mensch selber einem ähnlichen Verlauf unterwerfen in bezug auf seine Lebensverhältnisse, wie sie draußen als Tag und Nacht herrschen. Wer niemals schlafen würde, der würde bald merken, wie er nicht in einer brauchbaren Weise Gedanken über seine Umgebung fassen kann. Die regelmäßige Ab­wechselung von Schlaf und Wachen, die im Menschen selber dem entspricht, was draußen als Wechsel von Tag und Nacht vorhanden ist, das ist dasjenige, was unsern physi­schen Leib so aufbaut, daß er ein Werkzeug sein kann für die Bewußtseinsseele. So also baut die Sonne dem Menschen seine äußeren Hüllen in der entsprechenden Weise. In drei­facher Art haben wir das gesehen.

Wenn der Mensch dann aber im Zustand des Schlafes ist

- daß davon die äußere Wissenschaft nicht viel weiß, ist kein Wunder; denn die äußere Wissenschaft beschäftigt sich nur mit dem, was man sehen kann; nur Geistesforschung beschäftigt sich mit dem, was abends herausgeht und in der

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geistigen Welt vorhanden ist, nur unsichtbar natürlich für die äußere Sinnenwelt - wenn die Rede von dem ist, was jetzt außerhalb des Ätherleibes und des physischen Leibes des Menschen sich auch entwickeln soll, was hat denn da von außen her Einfluß? Was kommt da in Betracht?

Da zeigt uns die Geisteswissenschaft in der verschieden­sten Art, daß zwar beim tagwadienden Menschen jene eben beschriebenen Einflüsse, die in der Hauptsache Sonnen-einflüsse sind, die maßgebenden sind - dann aber treten beim schlafenden Menschen merkwürdige Dinge ein: Der Schlaf hat ja seine Wirkung auch auf die Tageserlebnisse; er gibt uns die durch die Tageserlebnisse verbrauchten Kräfte wieder. Während des Schlafes holen wir uns Ersatz aus einer anderen Welt heraus für dasjenige, was während des Tages verbraucht worden ist. Gibt es nun eine Möglich­keit, in ähnlicher Weise einen äußeren Einfluß nachzuwei­sen, wie wir es eben beschrieben haben für die tagwachen Verhältnisse? Audi das gibt es. Und was man da findet, das stimmt merkwürdigerweise überein mit der Länge der Mondphasen. Ich behaupte durchaus nicht, daß es zusam­menfällt mit den Mondphasen, oder daß die Mondphasen die entsprechende Wirkung haben; ich sage bloß, daß dieser Verlauf der nächtlichen Wirkungen in einem gewissen Ab­lauf steht, der sich vergleichen läßt mit dem Ablauf der Mondphasen. Und Sie können sich eine Vorstellung davon machen, wenn Sie sich das Folgende denken. Ich will an zwei Beispielen zeigen, wie die Sache ist. Äußere Belege werden Sie nur finden können für das, was ich jetzt sage, und was Ergebnis der Geistesforschung ist, wenn Sie intim in dem, was sich Ilinen manchmal in dem Lebenslauf dieser oder jener Menschen darbietet, diese Belege suchen.

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Sie werden es schon öfter gehört haben, daß Menschen, die darauf angewiesen sind, produktive Gedanken zu haben und die Phantasie spielen zu lassen, nicht immer in gleicher Weise die Phantasie spielen lassen können. Oder sollten Sie noch nicht gehört haben, daß Dichter, die ehrlich mit sich zu Werke gehen, zuweilen sagen: Es ist jetzt keine Stimmung da! und die dann schweigen? Das weiß man. Nur kann man den Verlauf, weil er zu den Intimitäten des Lebens gehört, nicht verfolgen. Die Menschen, die das bei sich selbst einmal beobachteten, würden sehen, daß jene Perioden der produktiven Gedanken, zu denen der Mensch Stimmung, Phantasie, ein gewisses warmes Gefühl braucht, merkwürdig abwechseln mit anderen, wo er mehr daran geben kann, diese Stimmungen, diese Gebilde der Phantasie wiederum zu Papier zu bringen oder in Gedanken aus­zuleben. Diesen Wechsel gibt es durchaus. Die Menschen, welche das zu beobachten verstehen, wissen, daß es eine vierzehntägige produktive Periode der Seele gibt. Wenn die vorbei ist, tritt für jeden Menschen, der mit einer gewissen Produktion der Gedanken zu tun hat, eine Erschöpfung ein, da produzieren die Gedanken weniger. Es mögen einmal Künstler oder Literaten darauf aditgeben; sie werden sehen, wie es sich bestätigt, und wie sie nichts aus sich herauspressen können, wenn diese produktive Periode um ist. Da ist die Seele wie eine ausgepreßte Zitrone. Aber sie kann dann darangehen, das Gewonnene durch den Willen zu ver­arbeiten. Dichter oder Künstler werden natürlich nicht im­mer darauf achten; aber sie werden wissen: wenn sie in eine solche Stimmung hineinkommen, dann können sie singen und sagen - oder malen -, aber zu anderen Zeiten will es nicht gehen, weil sie da gerade in einer Zeit der Unproduktivitat

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sind. Darauf haben die Tagesverhältnisse gar keinen Einfluß, sondern die Zeit, in der die menschliche Seele mit dem Ich heraus ist aus dem physischen Leib und Ätherleib. Da werden während einer vierzehntägigen Periode in den Menschen, der unabhängig ist vom physischen Leib und Ätherleib, die produktiven Kräfte gleichsam hineingegossen; während auf der andern Seite dann keine produktiven Kräfte hineingegossen werden, wenn die anderen vierzehn Tage da sind. So geht der Rhythmus. Es ist das aber eine Erscheinung, die in bezug auf die verschiedenen inneren Seelenkräfte für alle Menschen vorhanden ist; nur bei den­jenigen Menschen, von denen eben gesprochen worden ist, drückt es sich deutlicher aus.

Einen viel deutlicheren Beleg dafür können Sie aber in dem sehen, was man wahres, echtes geisteswissenschaftliches Forschen nennt. Das ist auch kein solches Forschen, das zu jeder beliebigen Zeit und Stunde vorgenommen werden kann, sondern es hängt auch von einem rhythmischen Ver­lauf ab. Damit spreche ich etwas aus, was kaum irgendwo ausgesprochen worden ist; aber es ist so. In der geistigen Forschung ist man allerdings nicht in einem Schlafzustand. Den Seinigen gibt es der Weltengeist eben durchaus nicht im Schlafzustand! Man ist da nur in einem Zustand, wo der menschliche physische Leib untätig ist gegenüber dem, was sonst von der Sinneswelt kommt. Aber der Mensch ist da nicht schlafend, obwohl er sozusagen außerhalb seines physischen Leibes und Ätherleibes ist. Denn der Mensch hat sich durch Meditation, Konzentration und so weiter die Fähigkeit errungen, daß sein Bewußtsein nicht erstirbt, wenn er herausgeht aus dem physischen Leib und Ätherleib

- nicht etwa, daß da ein Schlaf eintreten muß, sondern daß

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der Mensch dann in der geistigen Welt wahrnehmen kann. Da gibt es nun für den auf der heutigen modernen Höhe stehenden Geistesforscher wiederum zwei streng voneinan­der geschiedene Epochen: die eine - wiederum eine vier­zehntägige - ist eine solche, in welcher er seine Beobachtun­gen machen kann, wo er sich besonders stark fühlt, wo sich von allen Seiten herandrängen die Ergebnisse der geistigen Welt; dann tritt die andere Periode ein, wo er durch jene Kräfte, die er während der eben charakterisierten Periode aufgenommen hat, nun besonders befähigt ist, diese Er­leuchtungen der geistigen Welt, diese Inspirationen und Imaginationen mit seinen Gedanken zu durchdringen, mit seinen Gedanken zu durdiarbeiten, so daß sie eine strenge wissenschaftliche Form annehmen können. Gedankentech­nik und Inspiration stehen nun wiederum in einem rhyth­mischen Verlauf. Da ist nun der Geistesforscher nicht auf die Registrierung der äußeren Tatsachen angewiesen; er sieht einfach, wie diese Perioden abwechselnd sich ihm ergeben wie Vollmond- und Neumondwechsel. Aber es ist wiederum dabei zu bemerken, daß nur ihr rhythmischer Verlauf sich vergleichen läßt mit dem Vollmond und dem Neumond; es fällt nicht etwa die inspirierende Periode mit dem Vollmond und die verarbeitende Periode mit dem Neumond zusammen, sondern nur der rhythmische Verlauf läßt sich vergleichen mit Vollmond, Neumond und den dazwischenliegenden Vierteln. Woher kommt das?

Wenn wir unsere Erde betrachten, so ist sie hervorgegan­gen durch Entwickelung aus einem früheren Zustand. Wie jeder Mensch in seinem Leben hervorgeht seelisch-geistig aus einer früheren Verkörperung, so ist unsere Erde für die Geisteswissenschaft hervorgegangen aus einer früheren planetarischen

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Verkörperung. Aber es haben sich innerhalb unserer Erde selbst Reste jener Tatsachen erhalten, welche sich in früheren Verhältnissen auf der früheren planetari­schen Verkörperung unserer Erde abgespielt haben. Und diese Reste haben wir in dem zu suchen, was sich heute als Mondenumlauf um die Erde herum abspielt. Geisteswissen­schaftlich rechnet man den Mond zur Erde. Was ist es uns geisteswissenschaftlich, was den Mond an der Erde hält und ihn umkreisen läßt? Die Erde ist es selber. Und wir stehen dadurch als Geisteswissenschaftler mit der äußeren Wissen­schaft in einem vollkommenen Einklang. Denn auch für die äußere Wissenschaft ist der Mond einmal von der Erde abgespalten worden, und er hat seine Umlaufskraft da­durch erhalten, daß er einmal physisch zur Erde zugehörig war. Daher stellt uns dasjenige, was Mondenumlauf ist, ein­fach einen früheren Zustand der Erde dar. So haben wir, indem wir zum Monde hinaufsehen, das Andenken an einen früheren Erdenzustand vor uns. Die Erde selbst ist es, welche sich in ihrem Trabanten diese früheren Zustände erhalten hat, weil sie ihn braucht, weil sie hineinleuchten lassen will in ihre jetzigen Verhältnisse einen fr_üheren Zu­stand. Können wir auf der Erde Verhältnisse auffinden, deren Notwendigkeit uns dadurch klar wird?

Nehmen wir dazu den Menschen selber und betrachten wir ihn, wie er als Seele in seinem Leib lebt und dem Gang der Sonne ausgesetzt ist. Da zeigt er sich uns so, daß wir sagen: Zwischen Geburt und Tod ist für das heutige nor­male Bewußtsein dasjenige erschöpft, was heute der Sonne zugekehrt ist. - Versuchen Sie einmal, ob das, was heute das normale Bewußtsein während des Wachzustandes erlebt in der dreifachen Abhängigkeit von dem Heimatsort, von

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dem Wechsel der Jahreszeiten und dem Wechsel der Tages­zeiten, ob das sich nicht erschöpft in dem Leben zwischen Geburt und Tod? Der Mensch würde in seinem Bewußtsein nichts anderes haben können, nichts anderes würde hinein-leuchten in sein Bewußtsein, wenn es nur diese Wirkung der Sonne auf die Erde gäbe und nur dieses Verhältnis zwischen Sonne und Erde. Was im Menschen nun hinüberspielt von Inkarnation zu Inkarnation, was in einem neuen Leben im­mer wieder erscheint, das muß gesucht werden in dem, was den äußeren Leib seelisch-geistig durchdringt, was auch im Schlafe als astralischer Leib um das Ich herum ist, und im Ich selber; - was im Schlafe als astralischer Leib und Ich aus dem physischen Leib und Ätherleib herausgeht. Das geht auch im Tode aus dem physischen Leib heraus, und das er­scheint bei einer neuen Verkörperung auf eine neue Weise wiederum im Menschen. Dies hat in sich einen Rhythmus, der uns nun hinweist auf einen ähnlichen Verlauf, wie ihn der Mond hat. Wenn wir die menschliche Entwickelung be­trachten, so sagen wir uns: Was der Mensch heute erlebt auf der Erde, was gerade sein Ich ausarbeitet als Empfindungs­seele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele, das ist erst auf der Erde entwickelt worden; das entwickelt sich nur unter den Verhältnissen, unter denen die Erde zur Sonne steht. Zum Mond aber steht die Erde in einem Verhältnis, das sie früher gehabt hat, das sie behalten hat aus früheren Zu­ständen ihrer eigenen Entwickelung. Und so weist uns die Erde in ihrem Verhältnis zu dem, was sie als Mond mit sich schleppt, auf frühere Zustände hin. Der Mensch aber weist uns durch seinen heutigen Zustand, durch Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele auf jene Zeiten zu­rück, in welchen die Träger dieser Seelenglieder, der physische

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Leib, Ätherleib und astralische Leib, vorbereitet wor­den sind. Und wie heute noch immer die Sonnenwirkungen arbeiten müssen, damit diese drei Träger der Seele in ent­sprechender Weise ausgearbeitet werden können, so mußten die Mondenkräfte einstmals an dem Menschen arbeiten, damit diese Träger vorbereitet werden konnten. Wie heute die Mondenkräfte sich in ihrem Verlaufe rhythmisch ge­ordnet zeigen, und wie der innere Mensch rhythmisch ge­ordnet ist, so waren die Mondenkräfte einst zusammen­stimmend mit dem Menschen selber und bereiteten das vor, was der Mensch heute ist - so wie die Erde als Mondzustand dasjenige vorbereitete, was sie heute als Erde ist. - So kön­nen wir sagen, daß die niedere Natur des Menschen, auf der sich aufbaut die Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele, uns zurückweist auf alte Erdenzustände, welche sich die Erde bewahrt hat in dem, was sich uns als Mondenumlauf heute noch zeigt. Und wir sehen, wie also des Menschen Inneres, indem es von Verkörperung zu Ver­körperung geht, einen Rhythmus haben muß, der dem Mondenrhythmus entspricht. So war auf früheren Stufen der Erdenentwickelung nicht das, was das vorübergehende Leibliche ist, sondern dasjenige, was von innen heraus an dieser Leiblichkeit arbeitet, mit dem Monde verknüpft, wie heute das äußere Leibliche mit der Sonne verknüpft ist. Die Erde hat in dem Mond etwas zurückbehalten von ihrem früheren Zustande. Und der Mensch hat in seinem Inneren, in seinem Ewigen auch etwas zurückbehalten von früheren Zuständen. Und gerade in diesem Inneren entwickelt er das Höhere, das früher äußerlicher Einfluß war, wiederum in einer innerlich selbständigen Weise.

Das haben wir ja zu betonen, daß der Mensch hinauswächst

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über die äußeren Einflüsse. Wir sehen, wie der Mensch immer unabhängiger wird, indem er heute schon imstande ist, bei Tag zu schlafen und bei Nacht zu wachen. Aber er muß noch nach dem Rhythmus der Sonne seinen Wechsel im Schlafen und Wachen ordnen; er muß doch den Rhythmus innehalten. In früheren Zuständen war der in­nere Tag und die innere Nacht ganz entsprechend dem Sonnentag und der Sonnennacht. Da war der Mensch noch mehr gefesselt an die Scholle. Gerade dadurch wird der Mensch selbständig und frei, daß er schon den Rhythmus, in welchem er drinnen steht, innerlich befreit; daß er ihn zwar als Rhythmus beibehält, aber nicht mehr von der Außenwelt abhängig ist. - Es ist so, wie wenn Sie eine Uhr nehmen, die zwar in vierundzwanzig Stunden umläuft, die Sie aber so stellen, daß sie nicht mit der äußeren Zeit über­einstimmt, so daß es bei ihr nicht «zwölf» ist, wenn es draußen «zwölf» ist. Da ist die Uhr zwar nach dem äuße­ren Rhythmus geordnet, aber es fällt doch ihre Stunden-angabe nicht zusammen mit der äußeren Sonnenzeit.

So macht sich der Mensch innerlich frei, indem er den äußeren Rhythmus zu einem innerlichen macht. So hat sich der Mensch schon längst in bezug auf den Mondenrhyth­mus, der sich auf sein Inneres bezog, innerlich frei gemacht. Deshalb haben wir es betont, daß der Mensch zwar die Mondenphasen innerlich erlebt, daß sie aber nicht angeregt sind durch den Mond am Himmel; sondern daß der Mond am Himmel nur in einem entsprechenden Rhythmus ver­läuft, weil der Mensch wohl den inneren Rhythmus be­halten, aber sich äußerlich davon unabhängig und frei ge­macht hat.

Auf diesem Wege, den wir für den Menschen konstatieren

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konnten, ist nun die Erde selbst als ein ganz lebendiges We­sen. Aber da sie uns äußerlich nur ihren physischen Leib zeigt, sich nicht als lebendig, fühlend und wissend zeigt, steht sie sozusagen noch näher dem Mond. Jetzt können wir begreifen, warum wir gar nicht einmal nach den äußeren Tatsachen von einem unmittelbaren Einfluß des Mondes auf Ebbe und Flut sprechen können, sondern daß wir nur sagen können: Ebbe und Flut in ihrer Zeit entsprechen dem Um­lauf des Mondes; aber wir können nicht von einem un­mittelbaren äußeren Einfluß des Mondes sprechen, weil der Mond tatsächlich nicht Ebbe und Flut bewirkt; sondern weil Ebbe und Flut und der Mondenumlauf von tieferen geistigen Kräften in der lebendigen Erde bewirkt werden. Mondenumlauf und Ebbe und Flut entsprechen einander; aber sie stehen ebensowenig in einem unmittelbaren Ab­hängigkeitsverhältnis, wie der heutige Mond in einem un­mittelbaren Abhängigkeitsverhältnis steht zu dem, was ich Ihnen als Rhythmus bei dem produktiven und hellsichtigen Menschen angeführt habe.

So sehen wir, wie gerade aus den geisteswissenschaft­lichen Voraussetzungen heraus die äußeren Tatsachen wun­derbar sich uns aufklären: Ebbe und Flut entsprechen einem inneren Vorgang in unserer Erde, der nicht nur Ebbe und Flut, sondern auch den Mondenumlauf bewirkt. Sie ent­sprechen einander, wie der Gang der Uhr dem Verlauf der äußeren Sonnenzeit entspricht, obwohl keiner behaupten könnte, daß die Sonne die Zeiger der Uhr umdreht. Das sind Entsprechungen, die auf eine gemeinsame Ursache zu­rückgehen, die aber nicht einander bewirken. Und wenn Sie diese Voraussetzungen der Geisteswissenschaft nehmen und alle Bücher durchgehen, wo Sie registriert finden alle

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Erscheinungen von Mond und Erde - und Ebbe und Flut, dann werden Sie die wahren Verhältnisse zwischen Mond und Erde und auch zwischen Mond und Mensch finden.

Sie können sich leicht denken: wenn der Mensch un­selbständig wird, heruntergedrückt wird vom vollbewußten Zustande in weniger bewußte Zustände, wenn er versinkt in ein Unbewußtsein, - da geht er zurück in frühere Ent­wickelungsphasen. Der Mensch ist von der Bewußtlosigkeit fortgeschritten zu seiner heutigen Bewußtheit. Von der frü­heren Mondabhängigkeit und dem Mondeinfluß, der direkt war, ist der Mensch zu der heutigen Unabhängigkeit vom Mond - und zu der Abhängigkeit von der Sonne fort­geschritten. Daher müssen wir sagen: Weil der Mensch frü­her unmittelbar vom Monde abhängig war, so wird sich dasjenige, was sich dann abspielt, wenn sein Bewußtseins-zustand heruntergedämpft ist, nach dem Mondenlauf rich­ten. Das zeigt atavistisch, wie eine alte Erbschaft, noch einen Zusammenhang mit den Mondphasen. Bei medial ver­anlagten Menschen, bei denen das eigentliche Ich-Bewußt­sein so heruntergedrückt ist, daß sie wie eine alte Erbsdiaft dasjenige zeigen, was früher einmal in der Entwickelung vorhanden war - bei ihnen zeigt sich daher noch der frü­here Mondeinfluß. Ebenso wenn bei Menschen durch gewisse Krankheitszustände das Bewußtsein heruntergedrückt wird.

Diese Erscheinungen werden Sie aus der Geisteswissen­schaft jetzt voll begreifen können, wenn Sie diese Prinzipien kennen. Überall werden Sie im Leben die Belege für das finden, was die Geisteswissenschaft zu sagen hat. Und zum Schluß nun noch eines.

Wenn der Mensch herausgeboren wird aus der dunklen Naturgrundlage, nachdem er zwischen dem Tode und einer

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neuen Geburt durch die geistige Welt durchgegangen ist und wiedererscheint in einer neuen Körperlichkeit, da muß er, bevor er an das Licht des Tages tritt, herausgeboren werden aus Verhältnissen, die an frühere Zustände der Erde erin­nern. Und dieses entsprechende Gebiet der Wissenschaft rechnet noch immer den Keimzustand des Menschen nach zehn Mondmonaten. Da haben wir einen Rhythmus, der in zehn aufeinanderfolgenden Mondperioden abläuft. Da sehen wir, wie der Mensch in der Zeit, bevor er an das Licht der Sonne tritt, sich unter Verhältnissen entwickelt, die wir nur erklären können, wenn wir überhaupt an den Rhyth­mus des Mondes anknüpfen. So sehen wir, wie die Erde in dem Monde und ihrem Rhythmus uns bewahrt hat, was sie selbst vor ihrem Erdendasein durchlebt hat. Und wir betrachten heute die menschliche Entwickelung während der Keimeszeit und sehen, wie in dieser Zeit, in zehn Mond-monaten, jeder Woche - also jeder Mondphase - ein ganz besonderer Zustand in der Entwickelung des Embryo ent­spricht. Wiederum hat sich der Mensch darin erhalten, was wir als Mondrhythmus bezeichnen können.

Und noch eine ganze andere Anzahl von Erscheinungen gibt es, die mit dem Dasein des Menschen zusammenhängen, bevor er aus dunklen Untergründen an das Tageslicht tritt; die zwar durchaus nicht Wirkungen des Mondes sind, auch nicht mit den Mondphasen zusammenfallen, wohl aber den­selben Rhythmus widerspiegeln, weil sie zurückführen auf Ursachen, die einmal die Erde hat sehen lassen in Verhält­nissen, unter denen sie früher vorhanden war.

Damit habe ich hineingeleuchtet in ein Gebiet, das sich öffentlich nicht weiter beleuchten läßt. Diejenigen, die nach­denken wollen, werden sehen, daß sich hier eine Perspektive

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auftut hinein in die Gebiete des Lebens, wo die Geistes­wissenschaft tatsächlich eine Richtung angeben kann, die weit, weit aufklärend wirkt in bezug auf dasjenige im Menschen, was sich dem äußeren Sonnenlicht entzieht, was hinter dem äußeren Sonnenlicht liegt - was man also er­forschen muß durch ein anderes Licht als dasjenige, was am äußeren Sonnenlicht als Erkenntnislidit herangezüchtet ist:

nämlich durch jenes Erkenntnisvermögen, das nicht an­gewiesen ist auf den Dienst, den Empfindungsleib, Lebens-leib und physischer Leib unter dem Einfluß der Sonne zu tun imstande sind. Das hellseherische Vermögen macht sich wiederum unabhängig von diesen drei Leibern, kann sich wiederum in das Innere vertiefen, in die geistige Welt hineinschauen und sich ein Erkenntnisvermögen dessen er­öffnen, was hinter dem äußeren Sonnenlicht liegt, was aber darum nicht weniger lichtvoll und erhellt ist. - Auf diese Weise haben Sie gesehen, wie durch die Geisteswissenschaft in verschiedenster Art Anregungen gegeben werden können. Aber ich muß schon aufmerksam darauf machen, daß man für die Geisteswissenschaft in bezug auf die Mondfrage in­timere Lichter haben muß, wenn man in die Dinge hinein­kommen will.

Es fällt mir am Schlusse noch ein Gedicht ein von dem deutschen Dichter und Lyriker Wilhelm Müller; ein Ge­dicht, von dem uns hier nur die letzte Strophe interessieren soll. Da wird der Mond angesprochen, und allerlei Intimi­täten werden gewechselt zwischen einem Menschen und dem Mond, und dann wird gesagt, weil da die Seele ganz merk­würdige Dinge zu dem Mond gesprochen hat:

Dies Lieddien ist ein Abendreih'n,

Ein Wandrer sang's im Vollmondschein;

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Und die es lesen bei Kerzenlicht,

Die Leute verstehn das Lieddien nicht,

Und ist doch kinderleicht!

So ähnlich müssen wir das aufnehmen, was die Geistes­wissenschaft zu sagen hat, wie wir es angedeutet haben über den Mond und seine Bedeutung im Menschenleben. Wir müssen sagen: Das Lied der Geisteswissenschaft über den Mond ist tatsächlich nur zu singen bei einigem Verständnis für die intimeren Begriffe der Geisteswissenschaft. Die­jenigen Menschen, die es lesen wollen beim Kerzenlichte -ich meine in diesem Falle das Teleskop -, bei dem, was sich vom Monde zeigt durch die Mondphotographie und all das, was man heute Mondforschung nennt, diese Leute werden schwer dieses Lied der Geisteswissenschaft vom Monde ver­stehen. Aber dennoch werden diejenigen, die nur ein klein wenig eingehen wollen auf das, was sich von allen Seiten aus dem Leben ergibt, sagen müssen: Im Grunde genom­men ist es nicht gar so schwer, die Sache zu verstehen! Wer das Lied der Geisteswissenschaft vom Monde nicht nur ver­stehen will beim Kerzenlicht des Teleskops, sondern bei dem lebendigen Licht des Geistes, das auch leuchtet, wenn keine äußeren Sinneseindrücke vorhanden sind, für den ist - wenn er nur will - dieses Lied vom Monde und damit von einem wichtigen Bestandteil des Lebens doch recht leicht, wenn auch nicht kinderleicht!

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LACHEN UND WEINEN

#G058-1957-SE153 - Pfade der Seelenerlebnisse

#TI

LACHEN UND WEINEN

#TX

In einem Zyklus von Vorträgen über geisteswissensdiaft­lidie Tatsachen könnte es manchem erscheinen, als ob der Gegenstand, der heute besprochen werden soll, unbedeu­tend wäre. Das aber ist gerade oftmals als ein Fehler solcher Betrachtungen zu bezeichnen, die ihren Weg hinaufnehmen in die höheren Gebiete des Daseins, daß die Einzelheiten des Lebens, die unmittelbaren Wirklichkeiten des Tages von den Betrachtenden vernachlässigt werden. Im allgemeinen haben es die Menschen ja gern, wenn in Vorträgen dieser Art von der Unendlichkeit oder Endlichkeit des Lebens ge­sprochen wird, von den höchsten Eigenschaften der Seele, von den großen Fragen der Welt- und Menschheitsentwicke­lung - und vielleicht von noch höheren Dingen; und gern läßt man sich nicht auf sogenannte Alltäglichkeiten ein, wie diejenigen sind, wenigstens scheinbar, die uns heute be­schäftigen sollen. Wer aber auf dem Wege, der in diesen Vorträgen geschildert wird, einzudringen versucht in die Gebiete des geistigen Lebens, der wird sich immer mehr davon überzeugen, daß gerade das ruhige Vordringen Schritt für Schritt - von dem Allerbekanntesten in die unbekann­teren Gebiete - sehr vom Heile ist. Im übrigen können Sie es schon aus der Erinnerung an so manche Erscheinung ent­nehmen, daß die bedeutendsten Geister der Menschheit, daß das Bewußtsein der Menschheit überhaupt in dem, was man gewöhnlich als Lachen und Weinen bezeichnet, keines­wegs etwas nur Alltägliches sieht. Hat doch jenes Bewußt-sein, welches in den Legenden und in den großen über- lieferungen

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der Menschheit arbeitet - und so oft viel weiser als das einzelne individuelle menschliche Bewußtsein arbei­tet -, die große Persönlichkeit, die für die morgenländische Kultur von so großer Bedeutung geworden ist, den Zara­thustra, ausgestattet mit dem berühmten «Zarathustra-Lächeln»; und das Legenden-Bewußtsein sieht etwas Be­sonderes darin, daß dieser große Geist lächelnd in die Welt getreten ist. Und aus einem welthistorischen Tiefsinn her­aus knüpft es an diese Tatsache des Zarathustra-Lächelns die andere Bemerkung, daß durch dieses Lächeln auf­gejauchzt hätten alle Geschöpfe des Erdenrundes, und daß geflohen wären vor dem Zarathustra-Lächeln alle die bösen Geister und Widersacher des Erdenrundes. - Wenn wir nun von einem solchen, in Legenden-Überlieferung wirkenden Bewußtsein zu den Schöpfungen eines einzelnen großen Geistes übergehen, dürfen wir uns auch erinnern an jene Gestalt, in welche Goethe am meisten von seinem eigenen Fühlen und Vorstellen hineingelegt hat, an die « Faust»-Gestalt. Nachdem Faust in die tiefste Verzweiflung an allem Dasein gefallen ist und nahe war der Vernichtung des eigenen Daseins, da läßt Goethe diese Gestalt beim An­hören der Osterglocken ausrufen: « Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!» Als das Symbolum der Seelenver-fassung, die es Faust möglich macht, nach den Gedanken schlimmster, ärgster Verzweiflung sozusagen wieder zu­rückzukehren in die Welt: als das Symbolum des Sich­wiederfindens eines Menschen in irdische Verhältnisse stellt uns hier Goethe, der Dichter, die Träne hin.

So sehen wir, daß eigentlich, wenn man nur daran den­ken wollte, bedeutungsvoll angeknüpft werden kann an das, was durch Lachen und Weinen bezeichnet wird. Aber

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es mag schon geglaubt werden, daß es bequemer ist, gleich über das Wesen des Geistes zu spekulieren, als den Geist in solchen Offenbarungen aufzusuchen, in denen wir ihn finden, wenn wir die Welt, wie sie unmittelbar um uns herum ist, betrachten. Und wir können den Geist - und zunächst den Geist des Menschen - in seiner Wesenheit gerade in jenem Ausdrucke der menschlichen Seele finden, der sich im Lachen und Weinen kundgibt. Verstehen kann man das, was uns in dieser eigenartigen Seelenoffenbarung vor das Auge tritt, nur wenn man wirklich diese beiden Äußerungen des Menschen als Ausdruck seines inneren geistigen Lebens betrachtet. Da muß man aber ein solches geistiges Wesen nicht nur anerkennen, sondern verstehen. Dem Verständnis dieses geistigen Wesens des Menschen waren ja alle die Vorträge gewidmet, die gerade in diesem Winterzyklus hier gehalten worden sind. Nur flüchtig braucht daher heute darauf hingedeutet zu werden, wie wir geisteswissenschaftlich das Wesen des Menschen betrachten. Denn auch um Lachen und Weinen zu verstehen, müssen wir diese Wesenheit des Menschen im geisteswissenschaft­lichen Sinne zugrunde legen.

Wir haben gesehen, wie sich der Mensch uns darstellt, wenn wir ihn in seiner vollständigen Wesenheit betrachten, bestehend aus seinem physischen Leib, den er gemeinschaft­lich hat mit der ganzen mineralischen Natur - aus seinem Äther- oder Lebensleib, den er gemeinschaftlich hat mit der ganzen pflanzlichen Natur -, weiter aus dem astralischen Leib, den er mit der tierischen Natur gemeinsam hat, und der der Träger ist von Lust und Leid, Freude und Schmerz, von Entsetzen und Verwunderung und auch von all den Ideen, welche täglich vom Aufwachen bis zum Einschlafen

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in unserem Seelenleben auf- und abfluten. So besteht für uns die Wesenheit des Menschen zunächst aus diesen drei äußeren Umhüllungen; und in dieser Umhüllung lebt erst dasjenige, wodurch der Mensch die Krone der Erdenschöp­fung wird, das menschliche Ich. Dieses Ich arbeitet nun wie­der in dem Seelenleben, das aus den drei Seelengliedern auf­gebaut ist, aus der Empfindungsseele als dem untersten Glied, aus dem nächsten Glied, der Verstandes- oder Ge­mütsseele, und aus dem dritten Glied, der Bewußtseins-seele; und wir haben auch gesehen, wie das Ich an diesen Seelengliedern arbeitet, um den Menschen zu immer höherer Vollkommenheit zu bringen.

Was liegt denn diesem ganzen Arbeiten des Ich innerhalb der Seele des Menschen zugrunde?

Betrachten wir einmal dieses Ich in verschiedenen seiner Äußerungen. Es tritt vor dieses Ich des Menschen, vor das tiefste Zentrum seines geistigen Lebens irgendeine Erschei­nung, irgendein Gegenstand oder Wesen der Außenwelt. Das Ich bleibt diesem Wesen oder Gegenstand gegenüber nicht gleichgültig, sondern es äußert sich in einer gewissen Weise; es erlebt innerlich, in der Seele, dieses oder jenes. Ein Gegenstand gefällt oder mißfällt dem Ich. Das Ich kann aufjauchzen bei irgendeinem Ereignis, oder es kann in tiefste Betrübnis verfallen; es kann in Entsetzen und Furcht zurückbeben, oder es kann das Ereignis oder das Wesen liebevoll anschauen oder umfassen. Es kann inner­lich das Erlebnis haben: Ich verstehe einen Vorgang, der mir gegenübertritt, oder: Ich verstehe ihn nicht.

Wenn wir das Ich in seiner Tätigkeit belauschen vom Aufwachen bis zum Einschlafen, dann sehen wir, wie es sich in Einklang zu bringen versucht mit der Außenwelt. Wenn

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ihm irgendein Gegenstand gefällt, wenn jenes Gefühl in uns aufsteigt: Das ist ein uns erwärmendes Wesen! dann ist ein Band geflochten zwischen uns und dem Gegenstand; dann schlingt sich etwas hinüber von uns zu dem Gegen­stand. Das tun wir im Grunde genommen mit der ganzen um uns herum liegenden Welt. Unser ganzes Tagesleben erscheint uns in bezug auf die inneren Seelenvorgänge als die Schöpfung eines Einklanges zwischen unserem Ich und der übrigen Welt. Was wir erleben an den Gegenständen und Wesenheiten der Außenwelt, und was sich in den Vor­gängen unseres Seelenlebens spiegelt, das wirkt nicht bloß auf unsere drei Seelenglieder, weil in ihnen gerade das Ich wohnt, sondern das wirkt auch auf den astralischen Leib, auf den Ätherleib und den physischen Leib. Wir haben schon öfter beispielsweise angeführt, wie jenes Verhältnis, das das Ich herstellt zwischen sich und irgendeiner Wesen­heit oder einem Gegenstand, nicht nur die Emotionen des astralischen Leibes aufrüttelt, nicht nur die Strömungen und Bewegungen des Ätherleibes in einen Umschwung bringt, sondern auch bis in den physischen Leib hineinwirkt. Oder sollte nicht der Mensch Gelegenheit haben, zu be­obachten, wie zum Beispiel eine menschliche Persönlichkeit erbleichen kann, wenn irgend etwas Furchtbares in ihre Nähe tritt? Was ist da anderes geschehen, als daß das Ver­hältnis, welches das Ich hergestellt hat zwischen sich und dem Furchtbaren, das Band, das es geschlungen hat zwi­schen sich und dem Gegenstand, hineingewirkt hat bis in den physischen Leib und das Blut in andere Bewegung ge­bracht hat, als es sonst der Fall ist? Es hat sich gleichsam das Blut zurückgezogen von der äußeren Leiblichkeit und hat dadurch das Erbleichen bewirkt. Auch das andere, besonders

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charakteristische Beispiel ist schon angeführt wor­den: die Schamröte. Wenn wir irgendein derartiges Ver­hältnis glauben herstellen zu müssen zwischen uns und der betreffenden Wesenheit der Umgebung, daß wir am lieb­sten uns für einen Augenblick selbst auslöschen möchten, daß man uns nicht sieht, da steigt das Blut ins Gesicht. Da wird in diesen beiden Fällen eine bestimmte Wirkung auf das Blut hervorgebracht durch dasjenige, was sich als das Verhältnis des Ich zur Außenwelt darstellt. - So könnten wir viele Beispiele anführen, wie dasjenige, was das Ich an der Außenwelt erlebt, sich ausdrückt im astralischen Leib, im Ätherleib und im physischen Leib.

Indem nun das Ich den Einklang oder ein bestimmtes Verhältnis sucht zwischen sich und der Umgebung, sind wieder ganz besondere Fälle möglich in bezug auf solche Verhältnisse. So könnten wir von gewissen Verhältnissen zu unserer Umgebung sagen: Wir finden die richtige Stel­lung des Ich gegenüber diesem oder jenem Gegenstand oder Wesen. Selbst wenn wir Furcht vor einem Wesen haben, vor dem es begründet ist, Furcht zu haben, können wir sagen: Unser Ich fühlt, wenn es nur hinterher Gelegenheit hat, in der richtigen Weise dieses Verhältnis zu beachten, daß es in einem Einklang gestanden hat auch im Furcht-gefühl mit seiner Umgebung. Insbesondere aber fühlt unser Ich seinen Einklang mit seiner Umgebung, wenn es zum Beispiel danach trachtet, diese oder jene Dinge der Außen­welt zu verstehen, und imstande ist, durch seine Begriffe, Gefühle, Empfindungen und so weiter über diejenigen Ge­genstände, über die es Verständnis sucht, wirklich sich auf­zuklären. Da fühlt sich das Ich wie vereint mit den Gegen­ständen, über die es sich aufklärt. Da fühlt es sich wie über

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sich hinausgehend, wie wenn es untergetaucht ist in die Gegenstände, und fühlt, daß das Band ein richtiges ist. Oder aber das Ich lebt mit anderen Menschen zusammen, zu denen es in ganz bestimmte Verhältnisse tritt, die es lieb hat. Das Ich fühlt sich jedem dieser anderen Menschen gegenüber in dem Verhältnis, das es angesponnen hat, be­friedigt, beseligt; fühlt, daß ein harmorisches Verhältnis zwischen sich und der Außenwelt besteht. Dieses Verhält­nis prägt sich zunächst in dem Ich darin aus, daß sich das Ich behaglich fühlt und diese Behaglichkeit auf seine Hül­len, astralischen Leib oder Ätherleib überträgt.

Es kann aber auch eintreten, daß das Ich einmal nicht imstande ist, diesen Einklang, das heißt, das Verhältnis, das man in einem gewissen Sinne ein normales nennen könnte, zu schaffen. Kann es dieses normale Verhältnis nicht so­gleich finden, dann kann das Ich dadurch in eine besondere Lage kommen. Nehmen wir an, das Ich findet etwas in der Außenwelt, irgendeinen Gegenstand oder eine Wesenheit, dem gegenüber es nicht in ein solches Verhältnis treten kann, daß es zum Beispiel die Sache versteht, daß es mit seinen Begriffen und Vorstellungen das Dasein dieser We­senheit oder Tatsache als ein berechtigtes anerkennt. Neh­men wir an, das Ich ist auf der Suche, ein Verhältnis zur Außenwelt zu finden; aber es kommt nicht in die Lage, wirklich ein solches Verhältnis, das ein normales Band bil­det zwischen Ich und Außenwelt, zu finden. In einer solchen Lage wird unser Ich nötig haben, dennoch in sich selber eine gewisse Stellung gegenüber diesem Ding der Außenwelt zu gewinnen. Nehmen wir einen konkreten Fall an: Wir treten irgendeinem Wesen der Außenwelt gegenüber, wel­ches wir aus dem Grunde nicht verstehen wollen, weil ,in

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sein Wesen einzudringen unserem Ich nicht der Mühe wert erscheint, weil wir sozusagen fühlen, wir würden, wenn wir in sein Wesen eindringen wollten, zu viel hingeben von un­serer eigenen Erkenntnis- und unserer eigenen Verständnis­kraft. Während wir einem anderen Wesen so gegenüber-treten, daß wir sagen: Ich will meine Kraft aufwenden, um dich zu verstehen, will in dich untertauchen, was in mir ist, mit dir vereinigen! halten wir es bei dieser Wesenheit so, daß es uns nicht der Mühe wert ist, unterzutauchen. Wir würden die Kräfte unseres Verständnisses verschwenden, wenn wir darin untertauchen wollten. Dann haben wir nötig, eine ganz besondere Stellung zu gewinnen, haben nötig, eine Art Scheidewand aufzurichten. Einem solchen Wesen wie dem geschilderten gegenüber wollen wir jene Hingabe nicht üben; wir wollen nicht in dasselbe untertauchen; das heißt, wir wollen uns von diesem vor uns stehenden Wesen be­freien, uns frei halten; wir wollen uns in uns selber finden, nicht durch Untertauchen, sondern dadurch, daß wir unsere Kraft von diesem Wesen ablenken und, in unserem eigenen Selbstbewußtsein uns über das Wesen erhebend, sie gewahr werden. Wenn wir in einem solchen Verhältnis zu einem Wesen stehen, dann ist das Gefühl, das uns beschleichen muß, dasjenige einer Befreiung von einem Wesen. Bei einem Wesen, das wir verstehen, und in das wir untertauchen -entweder durch Erkenntniskraft oder durch Liebe oder Mit­leid -, da fühlen wir nicht das Zurückziehen des Ich; im Gegenteil, da fühlen wir uns zu diesem Wesen hingezogen. Bei einem solchen Wesen aber, wie es eben geschildert wor­den ist, fühlen wir: Unser Ich würde etwas verlieren, wenn es in das andere Wesen untertauchte; da müssen wir unsere Kräfte zusammenhalten.

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Bei einem solchen Bewußtsein kann die hellseherische Be­obachtung bemerken, wie das Ich gleichsam den astralischen Leib zurückzieht vor den Eindrücken, die auf ihn gemacht werden könnten aus der Umgebung oder von diesem an­deren Wesen. Dieses Wesen wird natürlich einen Eindruck auf unseren physischen Leib machen, wenn wir nicht die Augen verschließen oder die Ohren verstopfen. Aber weil wir unseren physischen Leib weniger in der Hand haben als unseren astralischen Leib, ziehen wir unseren astralischen Leib für einen Augenblick zurück aus dem physisdien Leib, ja auch aus dem Ätherleib heraus und bewahren ihn da­durch davor, daß er sich berühren läßt von dem anderen Wesen. Dieses Zurückziehen des astralischen Leibes, der sonst seine Kraft im physischen Leibe verbraucht, uni desseii Kräfte zusammenzuhalten, stellt sich für das hellseherische Bewußtsein so dar, daß der astralische Leib sich ausdehnt; er geht gleichsam auseinander bei einer solchen Befreiung. Wo wir uns über ein Wesen erheben, lassen wir unseren astralischen Leib wie eine elastische Substanz sich erweitern, schlaff werden, während wir ihn sonst angespannt haben. Indem sich der astralische Leib erweitert, befreien wir uns von irgendeinem Bande mit der betreffenden Wesenheit; wir ziehen uns gleichsam in uns selber zurück, erheben uns über die ganze Situation. Und weil alles, was im astralischen Leibe geschieht, sich im physischen Leibe ausdrückt, so drückt sich auch dieses Zurückziehen des astralischen Leibes im physischen Leibe aus; und der Ausdruck der Erweite­rung des astralischen Leibes im physischen Leibe ist das Lachen oder das Lächeln; so daß mit jedem Lachen oder Lächeln, das aus keiner anderen Stimmung als aus der ge­schilderten hervorgehen kann, verbunden ist ein elastisches

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Ausdehnen des astralischen Leibes.-Wir dürfen also sagen:

Was durch das Ausdehnen des astralischen Leibes und sei­nen physiognomischen Ausdruck als Lachen oder Lächeln an der menschlichen Wesenheit auftritt, ist ein Sicherheben über das, was in der Umgebung geschieht, weil wir nicht Verständnis aufwenden wollen, und nach der ganzen Art, wie wir zu der betreffenden Sache stehen, dafür auch nicht Verständnis aufwenden sollen. Im Extrem muß daher alles, was uns kein Verständnis abringen soll, eine solche Erwei­terung des astralischen Leibes nach sich ziehen und damit das Lachen hervorrufen. - Witzblätter haben die Gewohn­heit gehabt, daß sie gewisse Personen des öffentlichen Le­bens abbildeten mit riesigen Köpfen und sehr kleinen Kör­pern, wodurch grotesk ausgedrückt werden sollte, was der Betreffende für seine Zeit bedeutet. Dies zu verstehen, würde ein Unding sein, denn es gibt kein Gesetz, was einen so großen Kopf und einen so kleinen Körper verbinden würde. Wenn wir in diesen Gegenstand mit unserer Er­kenntniskraft untertauchten, so wäre das eine verlorene Kraft, denn wir würden unsere Verständniskraft dabei ver­schwenden. Die einzige Befriedigung dabei soll eben die sein, sich zu erheben über das Objekt, beziehungsweise von dem Eindruck, der auf unseren physischen Leib gemacht wird, frei zu werden in dem Ich, und den astralischen Leib auszudehnen. Denn was das Ich erlebt, setzt es zunächst fort auf die intimste Hülle, auf den astralischen Leib; und der physiognomische Ausdruck dafür ist das Lachen.

Es kann aber auch der Fall eintreten, daß wir ein Ver­hältnis, das wir zu unserer Umgebung suchen und nach unserer ganzen Seelenverfassung berechtigt sind zu suchen, nicht finden können. Nehmen wir an, wir haben eine Zeit­lang eine Persönlichkeit geliebt; dieselbe steht nicht nur zu

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unseren Handlungen in Beziehung, sondern ganz bestimmte Seelenerlebnisse knüpfen sich an das Dasein dieser Persön­lichkeit an und an das Verbundensein unserer Persönlich­keit mit ihr. Nehmen wir an, diese Persönlichkeit wird uns eine Zeitlang entrissen. Mit dem Entreißen dieser Persön­lichkeit fällt ein Teil unserer eigenen Seelenerlebnisse fort; etwas, was ein Band bedeutet zwischen uns und einer We­senheit der Außenwelt, fällt fort. Unsere Seele ist durch jene Seelenverfassung, die sich durch die Beziehung zu die­ser Persönlichkeit herangebildet hat, berechtigt, dieses Band zu suchen, weil sie sich erzogen hat, dieses Band zu haben. Jetzt kann sie es nicht mehr haben. Es ist etwas heraus­gerissen aus diesem Ich, und was da herausgerissen ist, be­wirkt in dem letzteren etwas, was sich wiederum überträgt auf den astralischen Leib. Und weil jetzt dem astralischen Leib etwas entzogen ist, weil er ein Verhältnis zur Außen­welt sucht, das er nicht finden kann, so zieht er sich jetzt in sich selber zusammen; oder besser gesagt, das Ich preßt diesen astralischen Leib zusammen.

Das können wir mit dem hellseherischen Bewußtsein im­mer beobachten, wenn im Menschen Trauer oder Schmerz eintritt über einen Verlust, wie das Ich, dem etwas entzogen ist, den astralischen Leib zusammenpreßt. Gerade so wie der auseinandergetriebene astralische Leib schlaff wird und sich dadurch den physiognomischen Ausdruck im physischen Leibe verschafft, der eben als Lachen oder Lächeln bezeich­net werden muß, so wird ein astralischer Leib, der sich zu­sammenpreßt, gleichsam tiefer eindringen in alle Kräfte des physischen Leibes. Das ist auch der Fall. Wenn der astralische Leib sich zusammenpreßt, so preßt er den phy­sischen Leib mit zusammen. Und der physische Ausdruck des Zusammenpressens des Ich in sich selber, damit des

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astralischen Leibes in sich selber, und damit des physischen Leibes in sich selber, das ist das Hervorquellen der Tränen. Der astralische Leib, der gleichsam in sich Lücken erhalten hat, und diese Lücken durch sein Zusammenpressen aus­füllen will, indem er die Substanzen aus der Umgebung heranzieht, er preßt dadurch den physischen Leib mit zu­sammen und treibt die Substanzen des physischen Leibes in der Träne nach außen. Was ist die Träne dadurch zu­gleich? - Das Ich hat etwas verloren in der Trauer, in dem Verlust. Es preßt sich zusammen, weil es ärmer geworden ist, weil es seine Selbstheit weniger stark fühlen kann als früher; denn es fühlt seine Eigenheit um so stärker, je reicher es ist an Erlebnissen mit der umgebenden Welt. Wir geben nicht nur etwas den Dingen, die wir lieben, sondern wir bereichern unsere Seele selber durch unsere Liebe. Und indem uns die Erlebnisse unserer Liebe entrissen werden, und der astralische Leib Lücken erhält und sich zusammen-preßt, sucht er durch diesen gleichsam in sich selber aus­geübten Druck die Kräfte wiederzugewinnen, die er ver­loren hat durch den Verlust. Er sucht sich durch ein Zusam­mennehmen in sich selber reicher zu machen, weil er ärmer geworden ist durch das, was er verloren hat. Was in der Träne zum Vorschein kommt, ist nicht nur ein Abfließen-lassen der Tränen, nicht nur eine Öffnung nach außen, son­dern etwas, was man einen Ersatz nennen könnte für das ärmer gewordene Ich. Während sich früher das Ich be­reichert fühlte an der Außenwelt, fühlt es sich jetzt in der Produktion, die es selber hervorbringt, stärker, fühlt sich als etwas, indem es die Tränen hervorpreßt. Was die Per­sönlichkeit an Selbstbewußtsein geistig verloren hat, sucht sie sich zu ersetzen, indem sie sich zu einer innerlichen

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Schöpfung, zu dem Hervorbringen der Tränen anspornt. Daher ist die Träne in gewisser Beziehung ein Ausgleich, ein Ersatz für das Ärmerwerden des Ich. Deshalb können wir sagen: Wenn das Ich, das einen Verlust erlebt hat, vor­dringen kann bis zur Träne, wenn es sein Bewußtsein hebt durch das Gewahrwerden seines Verlustes in der Träne, dann gibt diese Träne dem Ich ein gewisses unterbewußtes Wohl­gefühl. Man könnte sogar sagen: Die Träne ist in gewisser Beziehung ein Anlaß zu einer Art innerer Wollust. Ein Aus­gleich wird durch die Träne geschaffen. Es wird Ihnen ja be­kannt sein, wie der Mensch, wenn er sich so recht in der Trauer elend fühlt, in der Träne eine Art von Trost hat, weil die Träne etwas ist, was ihm einen gewissen Ersatz bie­ten kann. Und Sie werden auch wissen, wie es für gewisse Menschen, von denen man sagt, sie können nicht weinen, viel schwieriger ist, die Trauer und den Schmerz zu ertragen als für diejenigen, welche sich das innere Wohlbehagen durch die Träne bei jeder Gelegenheit verschaffen können.

So sehen wir, daß das Ich es ist, das ein gesuchtes Ver­hältnis zur Außenwelt nicht finden kann, und sich entweder erheben muß zu einer inneren Freiheit, - oder in sich unter-tauchen muß, um sich zu stärken über einen inneren Ver­lust. Wir sehen, wie das Ich es ist, das Mittelpunktswesen des Menschen, das sich ausdrückt in Lachen und Weinen. Daher können wir es auch begreiflich finden, daß das Ich, das den Menschen zum Menschen macht, in gewisser Weise Voraussetzung ist des wahren Lachens und des wahren Weinens.

Wenn wir das Kind beobachten, wie es geboren wird, so finden wir, daß es in den ersten Tagen weder lachen noch weinen kann. Wahres Lachen und wahres Weinen tritt erst

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auf vom 36. oder 40. Lebenstage an. Vorher kann das Kind nicht lachen und nicht weinen; und der Grund dafür ist der: Obwohl es entschieden ist, was für ein Ich aus einer vorher­gehenden Verkörperung gerade in diesem Kinde lebt, so wirkt dieses Ich doch nicht gleich in den ersten Lebenstagen in dem Menschen gestaltend; es wirkt nicht gleich so, daß es Beziehungen zur Außenwelt sucht. Der Mensch ist ja in das Leben so hineingestellt, daß dasjenige, was in ihm und an ihm ist, von zwei Seiten herstammt. Die eine Seite ist die, welche alle Eigenschaften und Betä tigungen des Men­schen enthält, die er von Vater, Mutter, Großvater und so weiter erbt, kurz, die Eigenschaften und Betätigungen aus der Vererbungslinie. Aber darinnen arbeitet die Individua­lität, das Ich des Menschen, das von Leben zu Leben geht, von Verkörperung zu Verkörperung, seine seelischen Eigen­schaften hinein. Wenn wir einen Menschen mit der Geburt ins Dasein treten sehen, zeigt sich uns zunächst das Un­bestimmte der Physiognomie des Menschen, und wie un­bestimmt dasjenige ist, was der Mensch einmal als Talente, Anlagen und besondere Eigenschaften darleben wird. Aber wir sehen auch, wie das schaffende, wirkende Ich, das sich Entwickelungskräfte aus den vorhergehenden Leben herein­gebracht hat, die unbestimmten Züge immer bestimmter und bestimmter herausarbeitet und dasjenige modifiziert, was durch die Vererbung gegeben worden ist. So sehen wir zusammenfließend die vererbten Eigenschaften mit denen, die von Verkörperung zu Verkörperung gehen. - Ein Ge­naueres über den Werdegang des Menschen können Sie jetzt mit einer gewissen Deutlichkeit in meinem eben erschiene­nen Buche « Die Geheimwissenschaft im Umriß» finden, wo in den ersten Partien diese Dinge gerade so besprochen sind,

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wie es dem heutigen Verständnisse der Menschen angemes­sen ist. -So sehen wir, wie in dem Kind das Ich sich herausarbei­tet. Aber es dauert eine Zeit, bis das Ich aus dem Kinde heraus umgestaltet an dem Körperlichen und an dem See­lischen. Daher tritt der Mensch so ins Dasein hinein, daß er in den ersten Tagen einzig und allein die vererbten Merk­male zeigt. Das Ich sitzt in den ersten Tagen noch tief ver­borgen darinnen und wartet, bis es in die unbestimmte Physiognomie dasjenige hineinarbeiten kann, was es aus den früheren Leben herübergetragen hat, was es von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr herausarbeiten kann.

Bevor nun das Kind den individuellen, nur für diesen Menschen geltenden Charakter annimmt, ist es nicht mög­lich, daß das Ich irgendeine Beziehung zur Außenwelt aus­drücken kann durch Lachen und Weinen. Denn auf das Ich kommt es an, auf das Individuellste, das ein Band sucht, das sich in Harmonie, in Einklang bringen will mit der Umgebung. Das Ich muß es sein, was im Lachen oder Lä­cheln sich zu befreien sucht von den Gegenständen; das Ich muß es sein, das bei einem gesuchten Verhältnis, das es nicht finden kann, in dem Verlust zusammenpreßt das Innere der menschlichen Wesenheit. Das Ich nur kann sich ausdrücken im Lachen oder Weinen. Wir sehen daraus, daß wir es mit der tiefinnersten Geistigkeit des Menschen zu tun haben, wenn wir die Offenbarungen des Menschen im Lachen oder Weinen vor uns haben.

Diejenigen, die gern alles mit allem zusammenwerfen und deshalb keine wirklichen realen Unterschiede zugeben wollen zwischen Mensch und Tier, werden natürlich auch noch Analogien für Lachen und Weinen im Tierreich finden.

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Wer aber die Dinge richtig versteht, wird dem deut­schen Dichter recht geben, der sagt, daß es das Tier nicht bis zum Weinen bringt, sondern höchstens bis zum Heulen, und nicht bis zum Lachen, sondern nur bis zum Grinsen. Darinnen liegt eine tiefe Wahrheit, die sich, wenn sie in Worte gebracht wird, dadurch ausdrückt, daß das Tier sich nicht erhebt zu jener individuellen Ichheit, die in dem We­sen selber sitzt, sondern daß das Tier von Gesetzen be­herrscht wird, die zwar dem Ich-Menschen ähnlich sehen, die aber dem Tier so eingepflanzt sind, daß sie ihm zeit­lebens als äußere verbleiben. Das Tier bringt es nicht zur Individualität. Es ist hier schon dieser bedeutsame Unter­schied des Menschen von der tierischen Wesenheit erwähnt worden. Es ist gesagt worden, was uns am Tier interessiert, läßt sich zusammenfassen in dem Gattungs- oder Art-charakter. Versuchen Sie sich klar zu machen, ob das, was uns am Tier hauptsächlich interessiert, auch so große Unter­schiede aufweist - zum Beispiel zwischen Löwensöhnchen, Löwenvater, Löwengroßvater und so weiter, wie wir es beim Menschen finden. Was sich uns beim Tier zeigt, das geht im Artcharakter auf. Im Menschenreiche ist aber jeder Mensch für sich eine eigene Gattung, und was uns am Tier in der Art oder Gattung erscheint, das muß uns beim Men­schen in jedem einzelnen Menschen interessieren. Das heißt:

Bei den Menschen hat jeder Mensch seine einzelne Biogra­phie. Die interessiert uns so stark wie die Art- oder Gat­tungsbiographie beim Tier. Gewiß, es hat auch manchen Hundevater und manche Katzenmutter gegeben, die be­haupteten, sie könnten auch eine Hunde- oder Katzenbio­graphie schreiben. Aber ich habe auch einen Schullehrer ge­kannt, der seinen Schülern regelmäßig die Aufgabe gegeben

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hat, die Biographie ihrer Stahlfeder zu schreiben. Nicht darauf kommt es an, daß sich ein Gedanke auf alles anwen­den läßt, sondern darauf, daß sich unser Verständnis dazu hindurchringt, was an einer Sache oder Wesenheit das Wesentliche ist. Bis zum Tier herauf ist das biographisch Individuelle das Unwesentliche; beim Menschen aber wird es das Wesentliche, weil beim Menschen ja die Hauptsache dasjenige ist, was sich als Individualität von Leben zu Leben weiter entwickelt, was beim Tier nur von Gattung zu Gattung geht. Wenn eine solche Wichtigkeit des biogra­phischen Elementes nicht zugegeben wird, so liegt es nicht daran, daß diese Wichtigkeit nicht eine ebenso bedeutungs­volle ist wie die, welche wir naturwissenschaftlichen Geset­zen der Außenwelt beilegen, sondern daran, daß derjenige, der sie nicht zugibt, nicht das Gewicht von irgendwelchen Erscheinungen empfinden kann.

In der Geisteswissenschaft nennen wir das, was beim Tier von Art zu Art geht, was sich von Gattung zu Gattung fortlebt, des Tieres Gruppen-Seele oder Gruppen-Ich, das wir aber als etwas Reales ansehen. Und wir sprechen davon, daß das Tier sein Ich nicht in sich hat, sondern außer sich. Wir verneinen auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft nicht etwa das tierische Ich, sondern wir sprechen von einem Gruppen-Ich, welches das Tier von außen her dirigiert. Beim Menschen dagegen sprechen wir von einem indivi­duellen Ich, das in das Innerste der menschlichen Wesenheit hineingeht und von innen heraus jede einzelne menschliche Wesenheit als die ihm zugrunde liegende Individualität so dirigiert, daß der Mensch in ein persönliches Verhältnis zu den Wesen seiner Umgebung tritt. Dasjenige allgemeine Verhältnis, welches sich die Tierheit herstellen kann nach

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ihrer Lenkung durch das äußere Gruppen-Ich, hat auch einen typischen, allgemeinen Charakter. Was dieses oder jenes Tier liebt oder haßt, wovor dieses oder jenes Tier sich fürchtet, hat einen allgemeinen, einen typischen Charakter und modifiziert sich nur für gewisse Kleinigkeiten, zum Beispiel bei unsern Haustieren oder bei den Tieren, die mit dem Menschen zusammenleben. Was aber beim Menschen Liebe und Haß in bezug auf seine Umgebung, was Furcht und Schrecken für die Seele bedeuten, was Sympathie und Antipathie ist, das erzieht sich der Mensch in seiner In­dividualität, in der Ichheit, die von Verkörperung zu Ver­körperung geht, auf individuelle Art. Daher ist das beson­dere Verhältnis, durch das der Mensch sich von irgendeinem Wesen der Umgebung befreit, das dann physiognomisch im Lachen zum Ausdruck kommt, oder das andere Verhält­nis, wo wir etwas suchen und nicht mehr finden können, und was sich im Weinen seinen physiognomischen Ausdruck sucht, immer etwas, was das menschliche Ich allein entfalten kann. Daher können wir auch sagen: Je mehr das Kind sich herauswindet aus dem bloß Animalischen, aus dem bloß Tierischen, je mehr sich seine Individualität zeigt, desto mehr zeigt sich seine Menschlichkeit im Lachen oder in den aus den Augen quillenden Tränen. Wenn wir das Leben in seiner Wahrheit betrachten, müssen wir nicht in den groben Tatsachen des Lebens, nicht in der Ähnlichkeit der Knochen und Muskeln zwischen Mensch und Tier, oder in der bis zu einem gewissen Grade vorhandenen Ähnlichkeit der an­deren Organe das Wichtigste suchen, wenn wir die Ent­scheidung treffen wollen für die höhere Stellung des Men­schen über die Erdenwesen; sondern wir müssen da, wo wir die feineren Tatsachen erblicken, das Wesentliche zur Cha- rakteristik

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der Menschennatur suchen. Wem solche Tat­sachen wie Lachen und Weinen zu unbedeutend erscheinen, um sie für die eigentliche Charakteristik der Menschheit und der Tierheit anzuwenden, dem muß man sagen: Nicht zu helfen ist dem, der nicht vermag sich aufzuschwingen zu den Tatsachen, auf die es ankommt, wenn wir den Men­schen in seiner Geistigkeit verstehen wollen.

Diese Tatsachen, die uns hier geisteswissenschaftlich ent­gegentreten, können uns nun allerdings auch hineinleuchten in gewisse naturwissenschaftliche Errungenschaften, aber nur dann, wenn diese Tatsachen wieder hineingestellt wer­den in ein großes und geisteswissenschaftliches Ganzes. Mit Lachen und Weinen ist beim Menschen noch etwas anderes verbunden. Wer Lachen und Weinen beim Menschen beob­achtet, der wird finden, daß bei diesen Äußerungen der menschlichen Wesenheit nicht nur der physiognomische Aus­druck des Lachens oder der Trauer vorhanden ist, sondern daß dabei auch eine Änderung, eine Modifikation des Atmungsprozesses auftritt. Wenn der Mensch traurig ist bis zum Vergießen von Tränen, und wenn seine Traurigkeit zu einem solchen Zusammenpressen des astralischen Leibes führt, daß der physische Leib mit zusammengepreßt wird, dann kann man beobachten, daß das Einatmen immer kür­zer und kürzer wird, und daß das Ausatmen in langen Atemzügen geschieht. Und beim Lachen ist das Umgekehrte der Fall; da bemerken wir ein langes Einatmen und ein kurzes Ausatmen. In dieser Weise wird der Atmungsprozeß modifiziert. Und es ist nicht bloß ein Bild, sondern es ent­spricht einer tieferen Wirklichkeit, wenn wir sagen: Wenn beim lachenden Menschen der astralische Leib schlaff wird, und wenn der physische Leib in seiner feineren Gliederung

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auch erschlafft, dann tritt so etwas ähnliches ein, wie wenn wir einen leeren Raum erzeugen, indem wir die Luft aus ihm auspumpen und diesen leergemachten Raum dann der äußeren Luft aussetzen: dann pfeift die Luft da hinein. Eine Art Freimachen der äußeren Leiblichkeit tritt also im Lachen ein, und dann dringt in einem langen Atemzuge die Luft nach innen. Beim Weinen ist das umgekehrt der Fall: Wir pressen den astralischen Leib zusammen - und auch den physischen Leib, und die Folge ist, daß das lange Ausatmen durch das Zusammenpressen wie in einem Zuge bewirkt wird.

So sehen wir, wie wiederum mit den physischen Lebens-äußerungen und bis in das äußere Physische hinein das­jenige zusammenhängt, was seelisch im Menschen erlebt wird durch die Anwesenheit des Ich.

Wenn wir diese physiologischen Tatsachen nehmen, so wird uns in merkwürdiger Weise eine geisteswissenschaft­liche Tatsache beleuchtet, welche bildlich ihren Ausdruck gefunden hat - wie in derRegel geisteswissenschaftliche Tat-sachen bildlich ihren Ausdruck finden - in den religiösen Urkunden der Menschheit. Erinnern wir uns an jene be­deutungsvolle Stelle des Alten Testamentes, wo dargestellt wird, daß der Mensch zu seiner gegenwärtigen Menschlich­keit heraufgehoben wird, indem ihm Jahve oder Jehova einströmen läßt den lebendigen Odem und ihn dadurch zu einer in sich lebendigen Seele macht. Das ist der Moment, wo auf das Werden der Ichheit im großen hingedeutet wird. Es wird im Alten Testament die Art und Weise des Atmungsprozesses hingestellt als der Ausdruck der eigent­lichen Ichheit des Menschen; das Atmen wird in Zusam­menhang gebracht mit der inneren Seelenhaftigkeit des Menschen. Wenn wir nun sehen, wie das menschliche Ich

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sich im Lachen und Weinen einen besonderen Ausdruck verschafft, dann zeigt sich uns schon der intime Zusammen­hang zwischen dem menschlichen Atmungsprozeß und der inneren Beseelung des Menschen, und wir blicken dann von einer solchen Erkenntnis aus auf die religiösen Urkunden mit jener Demut, die uns ein solches tieferes, wahres Ver­ständnis gibt.

In der Geisteswissenschaft gehen uns zunächst alle diese Urkunden nichts an. Denn selbst wenn auch durch eine große Katastrophe alle diese Urkunden zugrunde gehen würden, die Geistesforschung hat die Mittel, daß sie das­jenige, was ihnen zugrunde liegt, durch die Geistesforschung selbst finden kann. Nie ist die Geistesforschung auf Urkun­den angewiesen. Wenn aber die Tatsachen gefunden sind, und man nachher in den Urkunden den unzweifelhaften bildlichen Ausdruck dessen wiedererkennt, was man vorher mit der Geisteswissenschaft unabhängig von den Urkunden gefunden hat, dann wächst unser Verständnis für diese Ur­kunden. Dann sagt man sich: Es kann dasjenige, was da besprochen ist, nicht anders hineingekommen sein als durch Wesenheiten, die das gewußt haben, was der Geistesforscher in ihnen wiederfinden kann; und es spricht durch die Jahr­tausende Geistesforscher zu Geistesforscher, Geistesblick zu Geistesblick! Dadurch gewinnt man gerade aus der Er­kenntnis heraus die richtige Stellung zu diesen Urkunden. Und wenn erzählt wird, wie der Gott einprägte dem Men­schen seinen lebendigen Odem, wodurch der Mensch eine sich innerlich findende Ichheit wurde, so finden wir gerade aus einer solchen Betrachtung, wie diese über « Lachen und Weinen», wie wahr eine solche bildlich dargestellte Tat­sache in bezug auf die Menschennatur ist.

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Nur auf einzelnes soll jetzt noch hingewiesen werden, weil es uns sonst zu weit führen würde. Es könnte zum Bei­spiel jetzt jemand sagen: Du hast die ganze Betrachtung an einem falschen Ende angefaßt! denn du hättest dort an­fangen müssen, wo die äußeren Tatsachen sprechen. Das geistige Element mußt du dort suchen, wo es nur als eine reine Naturwirkung auftritt, zum Beispiel wenn der Mensch gekitzelt wird. Da haben wir die elementarste Tatsache des Lachens. Wie kommst du da zurecht mit all deinen Phanta­stereien über das Ausdehnen des astralischen Leibes - und so weiter?

0, dann vollzieht sich gerade erst recht das Ausdehnen des astralischen Leibes. Denn alle die Dinge, die als Charak­teristik angeführt sind, sind dann vorhanden, wenn auch auf untergeordneter Stufe. Wenn der Mensch gekitzelt wird an der Fußsohle, so ist das eine Tatsache, auf die er sich nicht einlassen kann mit seinem Verstande. Er will es nicht, lehnt es ab. Er wird sie nur dann mit seinem Verständnis umfassen, wenn er sich selber kitzelt. Aber dann lacht er nicht; denn dann kennt er den Urheber. Wenn ihn aber ein anderer kitzelt, hat es für ihn etwas Unverständliches. Dar­über erhebt sich das Ich, sucht davon frei zu werden und sucht den astralischen Leib davon loszubekommen. Und gerade das Loskommen des astralischen Leibes von einer unpassenden Berührung drückt sich aus durch das nicht motivierte Lachen. Das ist gerade eine Befreiung, eine Ret­tung des Ich auf elementarer Stufe von jener Attacke, die auf uns ausgeübt wird, wenn wir an der Fußsohle gekitzelt werden, wo wir mit unserm Verständnis der Sache doch nicht beikommen können.

Jedes Lachen über einen Witz oder über etwas, was

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komisch ist, steht auf derselben Stufe. Wir lachen über den Witz, weil wir durch das Lachen in das richtige Verhältnis zu ihm kommen. Im Witz werden Dinge zusammenge­bracht, die im ernsten Leben nicht zusammengebracht wer­den können; denn wenn sie logisch zu begreifen wären, würden sie nicht witzig sein. Im Witz werden Verhältnisse zusammengebracht, die, wenn man nicht gerade auf den Kopf gefallen ist, nicht unser Verständnis unbedingt her­ausfordern, sondern nur von uns gerade das herausfordern, daß wir mit einem gewissen Spiegel des geistigen Lebens die Dinge zusammenbringen, die da zusammengebracht sind. In dem Augenblick, wo wir uns als im Besitz dieses Spieles fühlen, machen wir uns frei und erheben uns über den Inhalt, der im Witz liegt. Die Tatsache des Sichfrei­machens, des Sicherhebens über irgendeine Erscheinung wer­den Sie überall finden, wo Lachen zutage tritt. Und ebenso werden Sie die Tatsache, daß der Mensch etwas sucht, was er nicht finden kann, und sich daher in sich selber zusam­menpreßt, beim Weinen zugrunde liegen sehen.

Es kann aber diese Art des Verhältnisses zur Außenwelt, wie sie jetzt geschildert worden ist, berechtigt oder unbe­rechtigt sein. Wir können uns aus einer gewissen Berech­tigung frei machen wollen im Lachen; oder aber durch unsere Eigentümlichkeit den betreffenden Vorgang auch nicht verstehen wollen oder nicht verstehen können. Dann liegt das Lachen nicht in der Natur der Tatsachen, sondern in unserer Unvollkommenheit. Das tritt überall dort zu­tage, wo irgendein unentwickelter Mensch über einen an­dern lacht, weil er ihn nicht verstehen kann. Wenn ein un-entwickelter Mensch bei einem andern das Alltägliche und Philiströse, das er für das richtige hält, nicht findet, dann

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denkt er, es sei nicht nötig, da mit dem Verständnis heran­zukommen; er sucht sich davon frei zu machen - vielleicht gerade deshalb, weil er es nicht verstehen will. Daher über­tragt es sich leicht bei uns in die Gewohnheit, sich durch Lachen von allem frei zu machen. Das ist auch oft die Natur gewisser Menschen: sie lachen und meckern über alles; sie wollen gar nichts verstehen; sie plustern sich auf in ihrem Astralleib und kommen dadurch immerfort zum Lachen. Das ist durchaus dieselbe Grundtatsache. Nur kann es auf der einen Seite berechtigt erscheinen, nicht eindringen zu wollen in das Verständnis einer Sache, und auf der andern Seite kann es unberechtigt sein. Es kann auch an den Un­vollkommenheiten der Mode liegen, daß etwas dem ge­wöhnlichen Betragen nicht ganz geeignet erscheint, um da­für Verständnis zu haben. Da hat man dann ein Lächeln, indem man sich erhaben dünkt über das eine oder andere. Es braucht also das Lachen nicht ein berechtigtes Gefühl des Sichzurückziehens auszudrücken, sondern es kann auch ein unberechtigtes Zurückziehen ausdrücken. Damit wird aber die Grundtatsache nicht geändert, wodurch das Lachen charakterisiert worden ist.

Es kann aber auch vorkommen, daß jemand auf das­jenige, was menschliche Lebensäußerung ist, rechnet. Neh­men wir an, irgend jemand rechnet als Redner mit dem, was durch seine Rede aufgehen soll, als Zustimmung oder dergleichen. Da rechnet er selbstverständlich mit dem, was die menschliche Seele erleben kann. Nun wird es in einzel­nen Fällen vielleicht berechtigt sein, auf Dinge hinzuweisen, die so minderwertig sind oder so unter dem Kreise des Ver­ständnisses von gewissen Zuhörern, daß man sie charak­terisieren darf, ohne daß ein besonders intimes Band von

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der Seele der Zuhörer zu diesen Gegenständen geschlungen wird; sondern man wird gerade den Zuhörern helfen, sich zu befreien von dem, was unter dem Kreise dessen liegt, worüber der Redner Verständnis ausgießen soll. Da wird der Redner damit rechnen dürfen, daß die Zuhörer seine Stellung der Ablehnung der betreffenden Gegenstände tei­len. Es gibt aber auch Redner, die immer die Lacher auf ihrer Seite haben wollen. Ich habe schon gehört, daß Redner sagten: Ich werde da, wo ich siegen will, die Lachmuskeln antreiben, so daß ich die Lacher auf meiner Seite habe, -und wer die Lacher auf seiner Seite hat, der hat eben ge­siegt! Das kann aber auch aus einer inneren Unehrlichkeit kommen. Denn appelliert man an das Lachen, so appelliert man an etwas, wodurch sich der Mensch über eine Sache er­heben soll. Man rechnet aber auch mit der Eitelkeit der Menschen - wenn sie sich dessen auch nicht bewußt sind -, wenn man die Sache so darstellt, daß sie nicht angewiesen sind, in ihr unterzutauchen und bloß deswegen darüber lachen dürfen, weil sie auf ein Niveau gerückt wird, wo sie zu minderwertig erscheint. Es kann also das Rechnen auf das Lachen einem Prinzip der Unehrlichkeit entspringen. Und man wird in einer gewissen Weise zuweilen auch da­durch den Menschen gewinnen können, daß man in ihm jenes Wohlbehagen und Wohlgefühl erregt, das in dem heutigen Vortrage geschildert worden ist als mit der Träne verbunden. Der Mensch fühlt dann, wenn ihm sozusagen ein Verlust nur für die Phantasie vorgeführt wird, daß er sich sagen könnte: Du darfst jetzt etwas suchen, was du eigentlich nicht findest! Er fühlt sich durch das Zusammen­pressen des Ich in seiner Egoität, in seiner Selbstsucht be­stärkt; und manches Rechnen auf die Rührung ist oft im

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großen nichts anderes als ein Rechnen auf die Selbstsucht des Menschen. Alle diese Dinge können daher arg miß­braucht werden, weil Rührung und Schmerz, Trauer, Hohn und Spott, die von Lachen oder Weinen begleitet sind, mit dem zusammenhängen, was das Ich stärkt und befreit, also mit der menschlichen Ichheit, der Egoität. Es kann daher auch, wenn diese Dinge sich geltend machen, die Selbstsucht angesprochen werden, an die Selbstsucht appelliert werden; und dann ist es die Selbstsucht, die ebenso zerstören kann, was Mensch an Mensch bindet.

Da sehen wir also, daß das menschliche Ich im Lachen und dem, was dem Lachen zugrunde liegt, frei sich hinauf-gehoben fühlt, und daß die Selbstheit sich zusammenge­drängt fühlt in der Träne und dem, was damit verbunden ist. Wir haben aber in andern Vorträgen auch gesehen, wie das Ich nicht nur an der Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele arbeitet, sondern wie es durch diese Arbeit selbst immer vollkommener und stärker werden soll. Wir werden daher leicht begreifen, daß Lachen und Weinen in gewisser Weise Erziehungsmittel sein können. Indem das Ich sich zum Lachen erhebt, wird es die Kräfte aufrufen seiner Selbstbefreiung, seines Erhabenseins und Insichge­schlossenseins in der Welt. In der Träne kann es sich dazu erziehen, sich zu verbinden mit dem, wozu es gehört; und indem es den Mangel fühlt gegenüber dem, wozu es gehört, bereichert es sich doch in anderer Weise mit seiner eigenen Ichheit, indem es sich zusammenpreßt. 0, im Lachen und Weinen liegen damit zu gleicher Zeit Erziehungsmittel des Ich und der Kräfte des Ich. Das Ich steigt sozusagen herauf in seiner Freiheit und Zusammengeschlossenheit mit der Welt, indem es sich äußert im Lachen und Weinen. Daher

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ist es kein Wunder, daß zu den großen Erziehungsmitteln der menschlichen Entwickelung diejenigen Produktionen und menschlichen Schöpfungen gehören, die gerade auf die Erregung derjenigen Seelenkräfte hinarbeiten, die dem La­chen und Weinen zugrunde liegen.

Wir sehen im Trauerspiel, in der Tragödie etwas hinge­stellt, was tatsächlich den astralischen Leib zusammenpreßt, um in unser Ich Festigkeit, innere Geschlossenheit hineinzu­bringen, während im Lustspiel das hingestellt wird, was den astralischen Leib weitet, indem sich der Mensch erhebt über das Törichte, über das in sich selbst Zusammenfallende und dadurch das Ich zur Befreiung bringen will. Wir sehen, wie es mit der Entwickelung des Menschen zusammenhängt, daß durch das Trauerspiel, das Lustspiel künstliche Schöp­fungen vor seine Seele hingestellt werden.

Wer die menschliche Natur und Wesenheit auch in den kleinsten Dingen beobachten kann, der wird sehen, daß ihn die alltäglichen Erlebnisse auch zum Verständnis der großen Tatsachen führen können. Solche Dinge, die uns zum Beispiel in der Kunst vor Augen treten, zeigen uns, daß wir in der menschlichen Natur etwas haben, was wie ein Pendel hin und her zu schlagen hat zwischen dem, was in der Träne und was im Lachen sich äußert. Nur dadurch, daß das Ich in der Bewegung ist, entwickelt es sich weiter. In der ruhigen Pendellage würde es sich nicht vergrößern und weiter entwickeln, würde dem inneren Tode verfallen müssen. Recht ist es für die menschliche Entwickelung, daß das Ich sich auf der einen Seite befreien kann durch das Lachen und auf der andern Seite sich selber sucht noch in seinem Verlust, in der Träne. Allerdings, wenn zwischen zwei Polen der Ausgleich gesucht werden soll, so muß er

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auch gefunden werden. Daher wird das Ich sich voll finden können nur im Ausgleich, - niemals in dem Hin- und Her­pendeln zwischen « himmelhoch jauchzend» und « zu Tode betrübt»; es wird sich nur finden können in der Ruhelage, die sowohl zu dem einen wie zu dem andern hingehen kann.

Lenker und Leiter seines Daseins muß der Mensch all­mählich im Laufe seiner Entwickelung werden. Wenn wir Lachen und Weinen verstehen, begreifen wir sie gerade als Geist-Offenbarungen und werden sagen: Der Mensch wird uns so recht durchsichtig, wenn wir sehen, wie er sich im Lachen einen äußeren Ausdruck fur ein inneres Befreiungs-gefühl sucht, und wie sich in der Träne ein inneres Befesti­gungsgefühl ausdrückt, wenn das Ich in der Außenwelt etwas verloren hat. - So haben wir im Lachen und Weinen zwei Pole, an denen sich uns die Geheimnisse der Welt zum Ausdruck bringen.

Und fragen wir uns: Was ist im letzten Grunde das La­chen auf dem Menschenantlitz? So wissen wir, es ist die geistige Offenbarung dafür, daß der Mensch heranstrebt zur Befreiung, daß er sich nicht umschlingen läßt von den Dingen, die seiner nicht würdig sind, sondern sich mit Lä­cheln im Antlitz erhebt über das, dessen Sklave er nie wer­den darf. Und die Träne auf dem Antlitz des Menschen ist uns der geistige Ausdruck für die geistige Tatsache, daß der Mensch selbst dann, wenn er den Faden zerrissen fühlt zwischen sich und irgendeinem Wesen der Außenwelt, die­sen Faden noch sucht im Verlust; daß er dann, wenn er sein Ich verfestigen will in der Träne, gerade darin zum Aus­druck bringen will: Ich gehöre der Welt, und die Welt ge­hört zu mir! denn ich kann nicht ertragen das Losgerissen­sein von der Welt.

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Nun verstehen wir, wie die Befreiung, die sich über alles Niedere und Böse erhebt, ausgedrückt werden durfte durch das « Zarathustra-Lächeln», und wie man sagen konnte:

bei diesem Lächeln jauchzten alle Geschöpfe der Erde, und es flohen die Geister des Bösen! Denn dieses Lächeln ist das weltgeschichtliche Symbolum der geistigen Erhebung der freien Ich-Wesenheit über das, worinnen sie nicht verstrickt werden soll. Und alles, was auf der Erde ist, darf auf­jauchzen, wenn das, was seine Wesenheit ist, sich mit dem Lächeln der Zarathustra-Wesenheit erheben kann. Dann aber, wenn das Ich einen Augenblick hat, wo es sagt: Das Dasein ist nichts wert; ich will nichts mehr gemein haben mit der Welt! Und wenn dann in seiner Seele aufzucken soll die Kraft, welche die Worte zum Bewußtsein bringen soll: Die Welt gehört zu mir, ich gehöre der Welt! dann darf ein solcher Ausdruck gefunden werden in den Worten Goethes: «Die Träne quillt! Die Erde hat mich wieder!» Darin wird gefühlt, daß wir nicht ausgeschlossen sein dür­fen von allem, was die Erde ist, daß wir die Zusammen­gehörigkeit mit der Welt fühlen dürfen, die sich in der Träne einen Ausdruck verschafft, wenn sie uns genommen wird. Das ist berechtigt in den tiefen Geheimnissen der Welt.

Die Zusammengehörigkeit des Menschen mit der Welt kann uns die Träne auf seinem Antlitz verkündigen, und des Menschen Befreiung von allem Niedrigen, das seiner habhaft werden will, kann uns das Lachen auf seinem Ant­litz verkünden.

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WAS IST MYSTIK?

Über den Begriff, durch welchen die Betrachtung des heu­tigen Vortrags zusammengefaßt wird, herrscht in den wei­testen Kreisen vollständige Verwirrung. Es ist noch nicht lange her, da konnte ich von jemand mit einer gewissen gelehrten Bildung hören: « Nun ja, man kann Goethe ja auch zu den Mystikern rechnen, denn Goethe hat doch zu­gegeben, daß es etwas Dunkles und Unerforschliches gebe.» Und man darf sagen, daß das Urteil weiter Kreise im Grunde genommen mit einem solchen Ausdrucke getroffen ist. Was alles wird in der Welt nicht « Mystik», was alles insbesondere nicht « mystisch» genannt! Wenn man von irgendeiner Sache nicht klar Bescheid weiß, wenn man so etwas hat von ihr, was da schwebt zwischen Nichtwissen und einer recht unklaren, dunklen Ahnung, sagt man: diese Sache sei mystisch oder mysteriös; wenn man versucht ist, aus einer gewissen Bequemlichkeit des Denkens und der seelischen Forschung heraus festzustellen, daß man über irgendeine Sache nichts Rechtes weiß, und dann, wie es für viele Menschen selbstverständlich ist, auch aller Welt ver­bietet, darüber etwas zu wissen, dann sagt man: das ist eben eine mystische Sache. Kurz, eigentlich wird dasjenige, worüber man höchstens erlaubt, eine Gefühlsahnung zu haben, sehr häufig als der Gegenstand der Mystik bezeichnet.

Allerdings wird man, wenn der Ausdruck « Mystik »auch nur in bezug auf seine historische Herkunft in Betracht gezogen wird, eine ganz andere Anschauung gewinnen müs­sen über dasjenige, was bedeutsame Geister der Menschheit

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unter Mystik verstanden haben, und was sie vor allen Din­gen an der Mystik glauben besessen zu haben. Man wird dann insbesondere auch bemerken können, daß es schon menschliche Persönlichkeiten gibt, welche den Gegenstand der Mystik nicht etwas Unerforschliches und Uriklares nen­nen, sondern welche als Gegenstand der Mystik gerade dasjenige bezeichnen, was durch eine gewisse höhere Klar­heit, durch ein gewisses helleres Licht unserer Seele zu er­ringen ist, und daß da gerade jene Klarheit aufhört, welche die anderen Wissenschaften geben können, wo die Klarheit der Mystik beginnt. Das ist die Überzeugung derjenigen, welche vermeinen, wirklich Mystik besessen zu haben. Nun treffen wir Mystik in uralten Zeiten der Menschheitsentwik­kelung. Jedoch dasjenige, was zum Beispiel innerhalb der hier auch schon öfter erwähnten Mysterien, sagen wir Myste­rien der Ägypter, Mysterien der asiatischen Völker und der Griechen, was da Mystik genannt wurde, liegt dem heu­tigen Vorstellungsvermögen und der ganzen heutigen Vor­stellungsart so fern, daß es etwas schwierig ist, von vorn­herein einen Begriff der Mystik zu geben, wenn man auf diese alten Formen des mystischen Erlebens der Menschen hinweist. Am nächsten wird man dem gegenwärtigen Vor­stellen noch kommen, wenn man zunächst hinweist auf die der Gegenwart sozusagen noch nahe liegenden Formen der Mystik, wie sie bei den deutschen Mystikern auftritt, bei Meister Eckhart angefangen - etwa im dreizehnten, vier­zehnten Jahrhundert -, und dann einen gewissen Höhe­punkt erreicht in dem unvergleichlichen Mystiker Angelus Silesius. Wenn wir die Mystik da aufsuchen, werden wir finden, daß diese Mystik ein wirklichen Erkennen der tief­sten Weltengründe sucht; und zwar ist das Suchen dieser

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Mystiker, die heute noch am besten verstanden werden kön­nen, auf eine besondere Art zu denken. Es ist ein Suchen nach den Gründen des Daseins durch ein rein inneres Seelen-erleben, eine Erkenntnis, welche gesucht wird vor allen Dingen dadurch, daß sich die Seele frei macht von allen Eindrücken der Außenwelt und äußeren Wahrnehmungen, daß sie sich sozusagen zurückzieht von dem Leben der Außenwelt und versucht, hinunterzusteigen in die tiefen Untergründe des Seelenlebens. Wenn gleichsam ein solcher Mystiker alles dasjenige vergessen kann auf lange oder kurze Zeit, was ihm seine Sinne überliefern, was ihm der Verstand sagen kann über dasjenige, was ihm die Sinne überliefern, wenn er sozusagen ganz ablenkt die Aufmerk­samkeit von aller Außenwelt und ganz und gar in der eige­nen Seele lebt und dann dasjenige sucht, was da noch erhalten bleibt und sich noch erleben läßt, wenn die Seele mit sich ganz allein ist: dann fühlt sich ein solcher Mystiker auf dem Wege zu der von ihm gesuchten Erkenntnis, und er vermeint, durch ein solches Innenleben dessen, was die Seele in sich selber erschafft und in sich selber in Tätigkeit zu setzen vermag, nicht nur auf das zu blicken, was man im gewöhnlichen Leben denken, fühlen und wollen kann, sondern er glaubt hinter all dem, was das gewöhnliche Den­ken, Fühlen und Wollen ist, den Grund zu erschauen, aus dem die Seele heraus entsprossen ist: nämlich den göttlich-geistigen Urgrund der Dinge. Und weil ein solcher Mysti­ker in der Seele die wertvollste Form des Daseins sieht, weil er in der Seele dasjenige sieht, was zunächst im wahren Sinne des Wortes sich ein Kind der göttlichen Geistigkeit nennen darf, so glaubt er einen sicheren Weg zu haben, wenn er durch das gewöhnliche Seelenleben hindurchblickt

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auf den Quell, aus dem diese Seele entsprungen ist, und von dem er glaubt, daß sie zu ihm auch zurückkehren muß. Mit anderen Worten: der Mystiker ist der Meinung, daß er durch das Versenken ins innere Seelenleben den göttlichen Weltengrund findet, den er nicht finden kann, wenn er - die äußeren Erscheinungen der Natur noch so sehr zergliedert und mit dem Verstande zu begreifen sucht. Ein solcher Mystiker vermeint, daß dasjenige, was sich den äußeren Sin­nen darbietet, einen Schleier bildet, durch den das mensch­liche Erkennen nicht unmittelbar durchdringen kann bis zu den göttlichen Urgründen; daß aber dasjenige, was man in der Seele erlebt, ein viel dünneres Gewebe, ein viel dünneres Schleiergewebe darstellt, und daß man auf dem Wege nach innen vordringen kann zu dem, was der göttliche Welten­grund ist, der ja auch den äußeren Erscheinungen zugrunde liegen muß. Das ist die Mystik, die in der Form des Er­lebens zunächst sich uns charakterisiert als der mystische Weg des Meisters Eckhart, der Weg des Johannes Tauler und der Weg des Suso; und dann weiter durch die Mystik dieses Zeitalters, bis zu dem oben genannten Angelus Silesius.

Man muß sich allerdings klar darüber sein, daß diese Geister und Persönlichkeiten auf solchem Wege des Er­kenntnisstrebens nicht allein glaubten, nur dasjenige bloß zu finden, was man von vornherein unmittelbar betrachten könnte als das Ergebnis innerer Seelenforschung. Wir haben uns ja in den Vorträgen dieses Winters in der mannig­faltigsten Art und von den verschiedensten Seiten her mit dieser inneren Seelenforschung beschäftigt; wir haben dar­auf hinweisen können, daß, wenn man hineinblickt in das, was man berechtigt ist, das menschliche Innere zu nennen,

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man da zunächst findet die dunkelsten Untergründe der Seele, da wo die Seele noch hingegeben ist den Affekten wie Schrecken, Furcht, Angst und Hoffnung, was wir die Skala von Lust und Leid, Freude und Schmerz nennen können. Wir haben gesagt, daß wir diesen Teil des Seelenlebens zu­sammenfassen in dem, was man Empfindungsseele nennt. Wir haben weiter gesagt, wie nun ferner unterschieden wer­den muß in dem dunklen Grunde des menschlichen Seelen­lebens das, was man Verstandes- oder Gemütsseele nennt, in das man gelangt, wenn das Ich, der Mittelpunkt des Seelenlebens, die äußeren Eindrücke verarbeitet, wenn es in stiller Hingabe wirken und ausgleichen läßt, was in der Empfindungsseele aufleben kann. Wir haben gesagt, daß das, was man innere Wahrheit nennt, in der Verstandes-seele aufgeht. Wenn dann das Ich weiter arbeitet in innerer Tätigkeit an dem, was es gewonnen hat auf diesem Wege zur Verstandesseele, dann arbeitet das Ich sich hinauf zur Bewußtseinsseele, wo erst eine klare Ich-Erkenntnis möglich ist, wo das möglich ist, was aus einem bloßen Innenleben wiederum hinaufführt zu einem Wissen, zu einem wirk­lichen Wissen über die Welt. So haben wir gleichsam, wenn wir diese drei Glieder des Seelenlebens uns vor Augen stel­len, das Gewebe dessen, was wir finden, wenn wir uns zu­nächst unmittelbar in unser Inneres versenken. Wir finden, wie das Ich an diesen drei Seelengliedern arbeitet.

Diejenigen, die als Mystiker Erkenntnis gesucht haben in der angegebenen Art, die glaubten allerdings noch etwas anderes zu finden durch das Untertauchen in die Tiefe des Seelenlebens. Für sie war das, was eben genannt wurde, nur eine Art Schleiergewebe, durch das man hindurch muß, um zu dem Quell des Daseins zu gelangen. Und vor allen Dingen

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glaubten diejenigen, die genannt worden sind, wenn sie zu dem Quell des Seelendaseins gelangen, dann würden sie als inneres Erlebnis dasjenige durchmachen, was in der äußeren Geschichte dargestellt wird als das Ereignis des Christus-Lebens und Christus-Sterbens.

Nun liegt ja allerdings folgendes vor, wenn diese mysti­sche Vertiefung auch nur im mittelalterlichen Sinne in der Seele stattfindet: Der Gang eines solchen Mystikers ist der, daß er zunächst der Außenwelt gegenübersteht mit den mannigfaltigsten Eindrücken auf das Gesicht, Gehör und andere Sinne. Er sagt sich: Ich habe die Licht-, Farben-, Ton- und Wärmewelt und alles das vor mir, was mir meine Sinne überliefern; und ich bearbeite zunächst dasjenige, was mir meine Sinne überliefern durch meinen Verstand. Da bin ich aber immer an die Außenwelt hingegeben, da kann ich nicht durch das dichte Gewebe durchdringen bis zu dem Quell, aus dem das -stammt, was sich mir als Töne, Farben und Empfindungen darlegt. Meine Seele aber behält in ihren Vorstellungen dasjenige zurück, was Bilder dieser Außenwelt sind, meine Seele behält vor allen Dingen auch dasjenige in sich, was sie während der Eindrücke empfun­den und gefühlt hat. Die Eindrücke der Außenwelt bleiben ja für unsere Seelenwelt das, was wir kalte, nüchterne Vor­stellungen nennen können. Denn das eine berührt uns so, daß wir mit Lust, das andere so, daß wir mit Schmerz er­füllt werden; das eine berührt uns mit Sympathie und das andere mit Antipathie. Mit unseren Interessen und mit unserem ganzen Innenleben weist uns sozusagen unser Ich auf die Welt, die auf uns Eindrücke macht, welche uns bald erheben und bald erdrücken, so daß, wenn wir uns als Mystiker zunächst abwenden von dieser Außenwelt, wir

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zurück behalten die Vorstellungen und Erinnerungen, die uns innere Bilder geben von der Außenwelt, aber auch das, was wir in unseren Empfindungen und Gefühlen als den subjektiven Eindruck von der Außenwelt empfangen ha­ben. Da stehen wir nun mit all dem - so würde der Mysti­ker sagen - was die Außenwelt in uns hineingewirkt hat. So leben wir zunächst mit dem, was die Außenwelt in der Seele vom Morgen bis zum Abend erzeugt, und dem, was als Lust und Leid in unserer Seele auflebt. So erscheint uns das innere Leben zunächst als eine Wiederholung und Ab-spiegelung des äußeren Lebens.

Bleibt unsere Seele nun leer, wenn sie sich bemüht, alles das zu vergessen, was von der Außenwelt in ihr gespiegelt wird, wenn sie alleEindrücke undVorstellungen derAußen­welt tilgt? Das eben ist das Erleben des Mystikers, daß es für die Seele eine andere Möglichkeit gibt: daß diese Seele, wenn sie sozusagen vergißt nicht nur alle Erinnerungen, sondern auch alles, was sie als Sympathie und Antipathie fühlt, dann noch eine Möglichkeit hat, - daß in ihr noch etwas da ist. So fühlt der Mystiker, daß die Eindrücke der Außenwelt mit den bunten Bildern und ihren Wirkungen auf die Seele; daß diese zunächst das Lebendige sind, was uns hinnimmt in unserem Innenleben; daß die etwas er­drückt haben, was in den geheimen Untergründen der Seele vorhanden ist. Das fühlt der Mystiker. Er sagt sich: Wenn wir dem Außenleben hingegeben sind, dann wirkt dieses Leben in der Außenwelt wie ein starkes, mächtiges Licht, das die feineren, inneren Seelenerlebnisse überleuchtet und auslöscht, wie ein starkes Licht ein geringeres Licht aus-löscht. Und dann, wenn wir alle die Eindrücke der Außen­welt tilgen, dann leuchtet auf das sonst überleuchtete innere

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Fünklein, wie Eckhart sich ausdrückt - dann erfahren wir in unserer Seele nicht ein Nichts, sondern wir erfahren dann in der Seele etwas, was vorher scheinbar nicht vorhanden war, was unwahrnehmbar gewesen ist durch das laute Ge­töse der Außenwelt.

Aber das, was wir in unserem Inneren erleben, läßt sich das, so fragt sich der Mystiker, wenn er sich selber klar­werden will, vergleichen mit dem, was wir in der Außen­welt erleben? Nein. Das läßt sich damit nicht vergleichen. Das unterscheidet sich radikal von dem, was wir in der Außenwelt erleben. Allen Dingen der Außenwelt stehen wir ja so gegenüber, daß wir zunächst in ihr Inneres nicht hineindringen können, daß sie uns wirklich nur ihreAußen­seite darbieten. So daß wir denken können: wenn wir auch bloß die Farben und Töne wahrnehmen, hinter ihnen steckt etwas, was zunächst als das Verborgene der Dinge ange­sehen werden muß; bei dem aber, was wir in der Seele erleben, wenn wir die Eindrücke und Vorstellungen der Außenwelt tilgen, bei dem liegt es so, daß wir selber dar­innen stecken, daß wir es selber sind, daß wir nicht sagen können, es zeigt uns nur seine Außenseite. Denn gerade das, was sonst macht, daß wir ein verborgenes Innere vermuten können, das fällt weg beim wirklichen inneren Erleben. Und wenn wir nun die Gabe haben, daß wir uns dem hin­geben, was da im Innern aufleuchtet, dann zeigt es sich in seiner wahren Wesenheit so, daß es sich wiederum unter­scheidet gegenüber all dem, was uns in der Außenwelt ent­gegentritt. Das Letztere zeigt sich uns so, daß es entsteht und vergeht, daß es aufblüht und verwelkt, daß es geboren wird und stirbt. Wenn wir aber dieses beobachten, was in der Seele sich zeigt, wenn jenes kleine Fünklein anfängt zu

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leuchten, so merken wir in der Sache selber, daß alle die Begriffe von Entstehen und Vergehen, Geburt und Tod darauf nicht anwendbar sind; daß uns etwas Selbständiges entgegentritt, dem gegenüber alle Begriffe von Entstehen und Vergehen, von Blühen und Welken, von Außen und Innen, die uns in der Außenwelt begegnen, keinen Sinn mehr haben. So ergreifen wir nicht eine Oberfläche, eine Außenseite der Offenbarung des Dinges in der Seele, son­dern wir ergreifen das Ding selber in seiner wahren Wesen­heit, und gerade dadurch können wir durch diese innere Er­kenntnis dazu kommen, Bürgschaft zu erlangen von dem, was in uns selber unvergänglich ist, was in uns selber gleich ist dem, was wir uns als den Begriff des Geistes bilden müs­sen, in dem alle Materie ihren Urgrund hat. Dieses Erlebnis empfindet nun der Mystiker so, daß er sagt: Also muß ich in mir ertöten, in mir überwinden alle die Erlebnisse, die ich sonst habe; sterben muß in mir das gewöhnliche Seelen-leben und Tod muß sich ausbreiten; dann steigt herauf die wahre Seele, die Siegerin über Geburt und Tod. Und diese Erweckung des inneren Seelenkernes nach dem Tode des gewöhnlichen Seelenlebens, das empfindet der Mystiker wie eine innere Auferweckung, wie ein Nachleben dessen, was ihm vorgestellt wird in dem Bilde, das die Geschichte über­liefert im Leben, Sterben und Auferstehen des Christus. So sieht der Mystiker in sich selber seelisch-geistig ablaufen das Christusereignis als inneres mystisches Erlebnis.

Nun mü-ssen wir uns, wenn wir den Mystikern folgen auf diesem Pfade, klar sein darüber, daß Mystik, so be­trieben, überall hinführen muß zu dem, was man nennen kann eine gewisse Einheit in allem Erleben. Das liegt eben in der Natur unseres Seelenlebens, daß wir aus der Mannigfaltigkeit

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der Sinnesimpulse, aus der Mannigfaltigkeit der auf- und abwogenden Wahrnehmungen und Gefühle, aus der Mannigfaltigkeit und Fülle der Gedanken heraus zur Vereinfachung vorschreiten, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil in der Seele das Ich lebt, das Zentrum des Lebens, das immer daran arbeitet, Einheit zu schaffen in unserem ganzen Seelenleben. So daß wir uns sagen müssen:

es ist uns ganz erklärlich, daß, wenn der Mystiker die Pfade der Seelenerlebnisse beschreitet, sich ihm diese so darstellen, daß alles Mannigfaltige und alles Viele nach der Einheit hinstrebt, die einfach durch das in unserem Innern leben­dige Ich gegeben ist. Daher werden wir bei allen Mystikern eine Weltanschauung ausgeprägt finden, welche man geisti­gen Monismus nennen könnte, ein Streben nach der Einheit. Und da der Mystiker sich bis zu der Erkenntnis erhebt, daß das innere Seelenwesen Eigenschaften hat, die radikal ver­schieden sind von den Eigenschaften der äußerlich sich offenbarenden Welt, so erlebt er sozusagen auch in seinem Innern die Gleichartigkeit dessen, was in der Seele als ihr Kern ist, mit dem göttlich-geistigen Weltengrund, den er daher als einen einheitlichen darstellt.

Was jetzt erzählt worden ist, soll nur als eine Erzählung hingenommen werden. Es ist unmöglich, die Aussagen eines Mystikers anders im neuzeitlichen Sinne wiederzugeben, als etwa von einem mystischen Erlebnis aus, von den mysti­schen Erlebnissen aus, die eben die eigene Seele als ur­eigenste Erfahrung durchmacht. Da kann man dann das Fremde, was der Mystiker uns erzählt, vergleichen mit den eigenen Erlebnissen. Aber eine äußere Kritik ist unmöglich, weil man sich nur erzählen lassen kann, was erlebt wird, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Aber es stellt sich uns,

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wenn wir von dem Gesichtspunkte ausgehen, der immer unseren Vorträgen zugrunde gelegen hat, ein klarer Weg hin, den der Mystiker beschreitet. Es stellt sich für unsere Seele der Weg nach dem Innenleben dar; und das ist zu­nächst, wenn wir die Dinge auch nur geschichtlich betrach­ten, wie sie sich in der Menschheitsgeschichte ergeben haben, eben einer der Wege. Wenn man auch diesen oder jenen für richtig hält, es ist einer der Wege, den der menschliche Geist zur Erforschung der Dinge ergriffen hat, und man wird sich über die eigentliche Antwort auf die Frage: Was ist Mystik? nur Klarheit verschaffen können, wenn auch ein wenig hineingeleuchtet wird auf den anderen Weg, der eingeschlagen werden kann. Den Mystiker führt sein Weg zur Einheit, zu einem göttlich-geistigen Wesen. Das hat sich ihm ergeben dadurch, daß er den Weg nach innen einschlug, wo das Ich die Einheit der Seelenerlebnisse ist. Der andere Weg, an dem sozusagen das mystische Erforschen des Da­seins oder der Daseinsgründe beleuchtet werden muß, das ist der Weg, den der Menschengeist doch immer versucht hat - durch den Schleier der Außenwelt zu dringen nach den Gründen des Daseins. Da ist es vor allen Dingen neben vielem anderen die menschliche Gedankenarbeit gewesen, welche versucht hat, durch das, was die Sinne sehen können, und durch das, was der Alltagsverstand begreifen kann, im tieferen Denken doch dasjenige zu begreifen, was so unter der Oberfläche der Dinge liegt. Wohin kommt naturgemäß im Gegensatz zur Mystik zuletzt ein solcher Weg? Ein solcher Weg kann eigentlich, wenn man alle Verhältnisse, die dabei in Betracht kommen, berücksichtigt, im Grunde genommen zu nichts anderem führen, als aus der Vielheit und der Mannigfaltigkeit der äußeren Erscheinungen zurückzuschließen

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auch auf eine Vielheit der geistigen Unter­gründe des Daseins. Darum finden in den neueren Zeiten die Menschen, welche, wie etwa Leibniz oder später Her-bart, durch das Denken diesen Weg betreten haben, daß es nicht angeht, aus irgendeiner Einheit heraus die Fülle der äußeren Erscheinungen zu erklären. Sie fanden kurz dasjenige, was man als den wahren Gegensatz aller Mystik bezeichnen muß: sie fanden die Monadologie, sie kamen dazu, die Welt anzusehen, oder sagen wir, das Reich der Urgründe der Welt anzusehen als eine Vielheit von Mona­den, von geistigen Wesenheiten.

So sagt sich Leibniz, der große Denker des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts: Wenn wir da hinblicken auf das, was uns im Raum und in der Zeit entgegentritt, so kommen wir nicht mehr zurecht, wenn wir glauben, daß das aus einer Einheit stammt; da müssen viele Einheiten zusammenwirken.

Und durch die gegenseitige Tätigkeit einer Monade, die er sich geistig vorstellt, durch die Tätigkeit einer Mo­nadenwelt kommt das zustande, was dem Auge, dem Ohr und den äußeren Sinnen sich darbietet. Es kann heute nicht ausgeführt werden, aber einer tieferen Betrachtung der Entwickelung des Geistes würde sich ergeben, daß alle die­jenigen, welche Einheit auf dem Wege nach außen suchten, zunächst im Grunde genommen sich einer Täuschung hin-gaben, der Täuschung, daß sie das, was nur im Innern mystisch erlebt wird, die Einheit, nach außen warfen wie eine Projektion oder eine Art Schattenbild und glaubten, die Einheit, die sie durch den Weg nach innen fanden, die liege auch durch das Denken erreichbar der Außenwelt zu­grunde und wäre dort auch zu finden. Ein gesundes Denken

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findet aber keine Möglichkeit, in der Außenwelt durch das Denken zur Einheit zu kommen, sondern findet, daß das, was uns da in bunter Mannigfaltigkeit entgegentritt, durch das Zusammenwirken und Einfließen von verschiedenen We­senheiten, die sich gegenseitig beeinflussen, zustande kom­men muß durch Monaden. So führt Mystik zur Einheit, weil das Ich in unserem Inneren arbeitet als ein Einheit­liches; weil es als Zentrum der Seele arbeitet. So führt der Weg durch die Außenwelt notwendigerweise zur Vielheit, zur Monadologie, sozusagen zur Anschauung, daß viele Geistwesen zusammenwirken müssen, um unser Weltbild zustande zu bringen, weil wir von vornherein als mensch­liche Beobachter der Welt, wenn wir nach außen blicken, durch eine Vielheit von Organen und eine Vielheit von ein­zelnen Beobachtungen uns die Erkenntnis der Außenwelt verschaffen.

Hier kommen wir an einen Punkt, der einmal ausgespro­chen werden darf, der von einer grenzenlosen Wichtigkeit und Bedeutung ist, der aber sozusagen in der Geschichte des Geisteslebens nur allzuwenig berücksichtigt worden ist:-Mystik führt zur Einheit; aber die Tatsache, daß sie das göttliche Grundwesen als Einheit erkennt, rührt von der inneren Seelenverfassung, von dem Ich her. Das Ich drückt seinen Stempel der Einheit auf, wenn man den göttlichen Geist ansieht als Mystiker. Das Schauen nach der Außen­welt führt zur Vielheit der Monaden. Aber nur unser An­schauen und die Art und Weise, wie die Außenwelt uns entgegentritt, führt zur Vielheit, und daher schauen Leibniz und Herbart die Untergründe der Welt in einer Vielheit. Das, was sich durch ein tieferes Forschen aus dieser Tat-sache ergibt, ist, daß Einheit und Vielheit Begriffe sind, die

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gar nicht angewendet werden dürfen da, wo man eigent­lich den göttlich-geistigen Weltengrund vermutet; daß Ein­heit und Vielheit etwas sind, was uns gar nicht dienen soll zur Charakteristik des göttlich-geistigen Weltengrundes; daß dieser göttlich-geistige Weltengrund nicht dadurch charakterisiert werden kann, wenn er in seiner Wesenheit charakterisiert werden soll, daß wir sagen, er sei ein ein-heitlicher, oder daß wir sagen, er sei ein monadologischer, ein vielheitlicher. Sondern wir müssen sagen, er ist erhaben über das, was Einheit und Vielheit zunächst sind; Vielheit und Einheit sind Begriffe, die gar nicht dahin reichen, wo das Göttlich-Geistige zu fassen ist.

Damit wird allerdings ein Gesetz ausgesprochen, welches Licht werfen kann auf vieles, was man Streit nennt in der Weltanschauung, den Streit zwischen Monismus und Mo­nadologismus. Sie treten so oft als Gegensatz in den Welt­anschauungen auf. Würden diejenigen, die da streiten und diskutieren, sich bewußt sein, daß sie mit unzulänglichen Begriffen gegenüber dem Weltengrund arbeiten, dann erst würden sie das richtige Licht werfen auf den Gegenstand ihrer Diskussion.

Wir haben nun sozusagen gefunden, worin das Wesen der eigentlichen Mystik besteht. Wir können sagen: es ist ein inneres Erleben, aber ein so geartetes inneres Erleben, daß es den Mystiker zu einer wirklichen Erkenntnis führen soll. Darf er auch nicht sagen, daß es Wahrheit ist, wenn er den Gegenstand seines Erlebens als Einheit bezeichnet, weil die Form der Einheit nur aus dem eigenen Ich kommt, so darf er doch immerhin sagen, daß er als ein Darinnen-stehender die geistige Substantialität in sich erlebt.

Wenn wir nun von dieser allgemeinen Darstellung und

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Charakteristik der Mystik zu den einzelnen Mystikern übergehen, dann finden wir gar häufig dasselbe, worauf sich ja die Gegner aller Mystik berufen. Da finden wir, daß jenes innere Erleben in der einzelnen Individualität, in der einzelnen Persönlichkeit eben auch individuelle Formen annimmt; das heißt, daß die Erlebnisse, die inneren Seelen-erfahrungen des einen Mystikers nicht völlig zusammen-stimmen mit den Seelenerfahrungen des anderen Mystikers. Nun braucht man sich über diese Tatsache bei einem klaren Denken nicht sonderlich zu verwundern, denn dadurch, daß zwei Menschen etwas Verschiedenes erleben, folgt noch gar nicht, daß die Sache falsch sei, über die sie sprechen. Wenn einer einen Baum von rechts, ein anderer denselben Baum von links ansieht und sie beschreiben ihn, so wird es derselbe Baum sein, aber jeder wird ihn anders beschreiben, und doch kann jede Beschreibung wahr sein. Aus diesem einfachen Bilde kann man auch verstehen, warum die Seelenerfahrungen der einzelnen Mystiker verschieden sind:

der Mystiker tritt ja nicht als eine sozusagen absolut leere Tafel vor sein Innenerleben. Wenn es auch sein Ideal ist, die äußeren Erlebnisse abzutöten und auszutilgen und die Auf­merksamkeit von ihnen völlig abzuziehen, so ist es doch so, daß die äußeren Erlebnisse in ihm einen Seelenrest lassen, und daß es nicht gleichgültig ist, ob einer, der Mystiker wird, dieses oder jenes erlebt hat. Es bleibt schon von Ein­fluß, ob der Mystiker aus diesem oder jenem Volkscharak­ter herausgewachsen ist, ob er dieses oder jenes im Leben erfahren hat. Wenn er jetzt auch alles das, was er erfahren hat, aus der Seele herauswirft, so wird dennoch, was er innerlich erlebt, einen Ausdruck erhalten von dem, was er vorher erlebt hat. Er muß es auch beschreiben mit Begriffen

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und Ideen und Worten, die er hereinbringt, aus seinem bis­herigen Leben. Es kann bei verschiedenen Mystikern durch­aus dasselbe sein, was sie erleben, auch wenn sie es mit ver­schiedenen Mitteln der vorherigen Erlebnisse beschreiben. Und erst für den, der imstande ist, durch selbsteigenes inne­res Erleben abzusehen von dem, was Individuelles an der Beschreibung und Darstellung ist, für den wird es möglich sein, doch zu erkennen, daß, wenn sich die verschiedenen Mystiker noch so verschieden ausdrücken, das was sie er­leben, das Reale der Erfahrung im Grunde genommen doch das gleiche ist; gerade so, wie wenn man einen Baum von verschiedenen Seiten photographiert, diese Photographien verschieden aussehen und doch derselbe Baum zugrunde liegt.

Ein anderes aber gibt es, was allerdings in einer gewissen Weise ein Einwand ist gegen mystisches Erleben; und da hier nicht aus einer Sympathie oder Antipathie geschildert werden soll, sondern in objektiver Darstellung, so darf nicht verschwiegen werden, daß dieser Einwand berechtigt ist gegen alle Mystik. Dadurch, daß das mystische Erleben ein intimes inneres Seelenerleben sein muß, und der Mystiker den Rest mit hineinnimmt, der von seinen individuellen Erlebnissen und Erfahrungen, bevor er Mystiker geworden ist, herrührt, so wird es in der Regel außerordentlich schwie­rig sein, daß dasjenige, was ein Mystiker sagt, weil es so sehr an die eigene Seele gebunden ist, richtig verstanden und überhaupt von einer anderen Seele voll aufgenommen werden kann. Das Intimste wird immer bis zu einem Grade intim bleiben müssen in aller Mystik und wird sich außer­ordentlich schwer mitteilen lassen; selbst dann, wenn man einen noch so hohen Grad des Verständnisses und Entgegenkommens

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dem Mystiker entgegenbringt, wird es schwierig sein. Warum? Das wird aus dem Grunde der Fall sein, weil zwar das, was verschiedene Mystiker während ihres mystischen Erlebens erfahren, dasselbe ist, wenn nur beide Mystiker weit genug vorgeschritten sind - und der­jenige, der den guten Willen hat, sich eine Überzeugung davon zu verschaffen, der wird schon erkennen, daß beide Mystiker auf dasselbe hinweisen -, daß es aber ein anderes ist, was der eine Mystiker und der andere vor seinem mysti­schen Erlebnis erlebt hat. Daher - weil das mystische Erleb­nis gefärbt wird durch das vorhergehende Erleben - daher werden die Ausdrücke, das Gepräge der Darstellung, die gerade nicht aus dem mystischen Erleben, sondern aus dem vormystischen Leben des Mystikers stammen, uns im­mer etwas unverständlich bleiben, wenn wir uns nicht auch bemühen, den Mystiker so aufzufassen, daß wir eingehen auf sein vormystisches Erleben; daß wir uns eine Anschau­ung verschaffen, warum er seine mystischen Erlebnisse ge­rade so darstellt. Dadurch wird aber der Blick abgelenkt von dem allgemeinen Gültigen zu einem persönlichen In­teresse an dem Mystiker. Das ist nun eine Tatsache, die wir auch in gewisser Beziehung in der Entwickelungsgeschichte der Mystik beobachten. Wir können sagen, daß wir gerade bei den intimsten Mystikern absehen müssen davon, daß sozusagen das, was sie hinstellen als ihre Erkenntnis, so wie es ist, auch auf einen anderen übertragen und von ihm an­genommen werden kann. Es kann schwer verallgemeinert werden, es kann sozusagen die mystische Erkenntnis nicht leicht allgemeine Welterkenntnis werden.

Um so stärker kann aber gerade das Interesse an der In­dividualität, an der Persönlichkeit des Mystikers werden,

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und wir können unendlich reizvoll finden, die mystische persönlichkeit zu betrachten, insofern sich in ihr das all­gemeine Weltbild spiegelt. So wird gewissermaßen das, was der Mystiker darstellt, und was doch von ihm nur deshalb geschätzt wird, weil es ihn zu den Untergründen und Quel­len des Daseins führt, uns von einem geringeren Interesse sein in bezug auf das Objektive, was es uns über die Welt sagt; und es wird uns gerade interessant mit Bezug auf den einzelnen Menschen, mit Bezug auf das Subjektive, das heißt auf die mystische Individualität. Für den also, der den Mystiker mit seiner Mystik betrachtet, ist eigentlich gerade das wertvoll, was der Mystiker selber überwinden will, das Persönliche, das Unmittelbare, wie er der Welt gegenübersteht. So können wir allerdings unendlich viel über die Tiefe der menschlichen Natur erfahren, wenn wir sozusagen die Menschheitsgeschichte betrachten, von Mysti­ker zu Mystiker schreitend; aber es wird uns schwerfallen

- das kann nie genug betont werden - zu sagen: dieser oder jener Mystiker liefert uns dieses oder jenes, was für uns, so wie er es sagt, unmittelbare Gültigkeit haben kann.

Da stellt sich vielleicht doch objektiv der Mystik gegen­über die Monadologie, welche darauf ausgeht, die allen Menschen gemeinsame Außenwelt denkend zu betrachten. Daher hat man auch das Gefühl gegenüber diesen mona­dologischen Systemen, daß zwar in ihnen Irrtum über Irr­tum vorkommen kann, daß man aber über sie diskutieren und nach seinem subjektiven Entwicklungsstandpunkt etwas darüber ausmachen kann. Ein Irrtum des Monadologen wäre in diesem Sinne wenigstens nur nach seiner Entwick­lungsstufe denkbar.

So kann also die Mystik, die zunächst hier geschildert

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worden ist, unendlich reizvoll sein, aber wir werden doch ihre Grenze ganz objektiv ins Auge fassen, wenn wir das auf die Seele wirken lassen, was zu ihrer Charakteristik eben jetzt gesagt worden ist.

Eine andere Beleuchtung erfährt dasjenige, was das We­sen der Mystik ist, dann, wenn wir es messen an dem, was wir sozusagen aus dem tieferen Geistesleben unserer Gegen­wart heraus gewinnen als die eigentliche geisteswissenschaft­liche Methode, zu den Urgründen des Daseins vorzudrin­gen. Man versteht ja in der Regel eine Sache, die gewisse Schwierigkeiten durch die Feinheit ihrer Begriffe macht, dann erst richtig, wenn man sie abmessen kann an etwas anderem, das ihr verwandt ist.

Es ist hier oft in den Vorträgen gesagt worden, daß es einen Aufstieg zu den höheren Welten gibt. Wir haben hier in gewisser Beziehung einen dreifachen Weg. Wir haben hingedeutet auf den Weg nach außen und dann auf den Weg nach innen, den nicht die Mystiker der alten My­sterien, wohl aber die mittelalterlichen Mystiker eingeschla­gen haben, und hierbei haben wir beim letzteren klarstellen können, wo seine Grenzen liegen. Wir wollen nun von den beiden den Blick abwenden zu dem, was hier als der eigent­lich geisteswissenschaftliche oder geistig-forscherische Weg bezeichnet werden kann.

Es ist schon gesagt worden, daß diese geisteswissenschaft­liche Erkenntnis darin besteht, daß der Mensch nun nicht einfach einen Weg einschlägt, entweder nach außen zu den Untergründen dessen, was sich für die Sinne offenbart, also zu den Monaden; oder nach innen zu dem, was sich als die Untergründe des eigenen Seelenlebens darlebt, zur mysti­schen Einheit der Welt; sondern es wurde betont, daß die

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geisteswissenschaftliche Methode darin besteht, daß gesagt wird, der Mensch kann nicht nur Wege gehen, welche ihm seine unmittelbar vorhandene Erkenntnis möglich macht, sondern er hat in sich verborgene schlummernde Erkennt­niskräfte; und er findet von diesen ausgehend dann andere Wege als die beiden angegebenen. Was tut derjenige, der einen der beiden gekennzeichneten Wege geht? Er sagt:

Nun, ich bleibe als Mensch wie ich bin; so bin ich geworden. Ich kann hinausgehen und versuchen, den Schleier der Sinneswelt zu durchdringen und vordringen bis zu den Untergründen des Daseins; ich kann austilgen die Außen-erlebnisse und dann auferstehen lassen das Fünklein, das von der Außenwelt nur übertönt und überleuchtet wird, das sich sonst der Aufmerksamkeit entzieht. Aber was der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis zugrunde liegt, ist das, daß der Mensch nicht mit seinen Erkenntniskräften bleiben will, was er ist, sondern daß er sagt: So wahr ich mich ent­wickelt habe zu dem, was ich heute bin, so wahr kann ich mich zunächst selber, wenn ich nur die entsprechende Methode anwende, in meiner Seele entwickeln, kann höhere Er­kenntniskräfte entwickeln, als ich sie schon habe. Würde man etwa das, was jetzt gesagt worden ist, mit der mysti­schen Art des Erkennens zusammenstellen, würde man sagen müssen: Gewiß, man kann, wenn man das äußere Seelenleben austilgt, dazu kommen, daß man das innere Fünkchen finden kann und beobachtet, wie es dann leuchtet und wie es auflebt, wenn man das andere vertilgt hat; aber eben doch nur beobachtet, was schon da ist. Geisteswissen­schaftliche Forschung aber würde dem Mystiker sagen:

Nein, nicht bloß das tun wir; wir kommen schon zu dem Fünkchen, aber bleiben nicht dabei stehen, sondern suchen

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die Methoden herbeizuschaffen, die dieses Fünkchen zu einem viel stärkeren Licht entfalten können. Wir nehmen den Weg nach außen und nach innen; wir entwickeln neue Erkenntniskräfte, gehen also nicht sogleich den Weg nach außen oder nach innen. Die neuere geisteswissenschaftliche Forschung charakterisiert sich im Gegensatz zu der Mystik des Mittelalters wie auch zur Monadologie und den alten Mysterienlehren dadurch, daß sie so die inneren Erkennt­niskräfte entwickelt, daß die beiden Wege, der Weg nach außen und der Weg nach innen zu dem Fünkchen des My­stikers, miteinander vereinigt werden, daß ein Weg gegan­gen wird, auf welchem man zu dem einen und anderen Ziele auf gleiche Weise kommt.

Wieso das?

Das kommt dadurch zustande, daß die Entwickelung der höheren Erkenntniskräfte durch eine Methode der neueren Geisteswissenschaft den Menschen führt über drei Erkenntnisstufen. Die erste Erkenntnisstufe, die über das gewöhnliche Erkennen hinausgeht, nennt man imaginatives Erkennen. Die zweite Stufe ist das inspirierte Erkennen, und die dritte Stufe ist das, was man im wahren Sinne intuitives Erkennen nennt. Wie kommt nun die erste Er­kenntnisstufe zustande? - was macht man da in der Seele, um höhere Erkenntniskräfte zu entwickeln? An der Art, wie sie zustande kommt, können Sie ersehen, wie sich Monado­logie und Mystik durch diesen Erkenntnisweg der neue­ren geisteswissenschaftlichen Forschung überwindet. Das Beispiel, welches besonders leicht hineinführt in das Be­greifen der imaginativen Erkenntnis, ist hier schon öfters erwähnt worden. Es ist eben ein Beispiel aus den Methoden, die der Geisteswissenschafter auf sich anwendet; es ist ein

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Beispiel unter vielen, das man am besten darstellt, wenn man das, was geschieht zwischen Lehrer und Schüler, in einen Dialog faßt.

Der Lehrer, welcher in einem Schüler jene höheren Er­kenntuiskräfte erziehen wollte, welche zur Imagination führen, der würde so zu dem Schüler sagen: Sieh dir die Pflanze an, sie wächst aus dem Boden heraus und entfaltet Blatt nach Blatt bis zur Blüte. Diese Pflanze vergleiche mit dem Menschen, wenn er vor dir steht. Dieser Mensch hat etwas voraus vor der Pflanze; er hat das voraus, daß sich die Welt in ihm in seinen Vorstellungen, Gefühlen und Empfindungen spiegelt; er hat das voraus, was man mensch­liches Bewußtsein zu nennen hat. Aber er hat sich dieses menschliche Bewußtsein mit etwas erkaufen müssen; näm­lich damit, daß er aufnehmen mußte auf seinem Wege zum Menschen herauf Leidenschaften, Triebe und Begierden, die ihn in Irrtum, Unrecht und in das Böse hineinführen kön­nen. Die Pflanze wächst sozusagen nach den ihr eingebore­nen Gesetzen, sie entfaltet ihr Wesen nach diesen ein­geborenen Gesetzen, und sie steht vor uns in ihrer grünen Saftigkeit keusch, ohne daß wir ihr zuschreiben können, wenn wir nicht Phantasten sind, Leidenschaften, Triebe und Begierden, die sie ablenken können von dem richtigen Wege. Betrachten wir nun aber das, was der äußere Aus­druck ist des menschlichen Bewußtseinslebens, des mensch­lichen Ich - wenn wir das Blut betrachten, wie es den Menschen durchkreist wie der grüne Chlorophyllsaft die Pflanze, dann müssen wir sagen: Das Blut durchpulst und durchkreist den Menschen, indem es ein Ausdruck ist ebenso für seine Erhebung zu höheren Bewußtseinsstufen wie auch seiner Leidenschaften und Begierden, die ihn herunterziehen.

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Und jetzt könnte der geisteswissenschaftliche Lehrer zu sei-nein Schüler sagen: Stelle dir vor, daß der Mensch sich weiter entwickelt, daß der Mensch durch sein Ich Herr wird über Irrtum, Böses und Häßliches, über alles das, was ihn herunterziehen will in das Böse, daß er läutert und reinigt seine Affekte und Leidenschaften. Stelle dir ein reales Ideal vor, dem der Mensch zustrebt, und wo dann sein Blut nicht mehr der Ausdruck sein wird irgendwelcher Leidenschaften, sondern dessen, was in ihm selber Herr ist über alles das, was ihn herunterziehen kann; dann läßt sich sein rotes Blut vergleichen mit dein, was aus dem grünen Pflanzensaft selbst bei der roten Rose geworden ist. Wie die rote Rose uns darstellt den Pflanzensaft in keuscher Reinheit, uns auf einer vollkommeneren Stufe vor Augen bringt, was die Pflanze auf einer unvollkommeneren darstellt, so würde uns das rote Blut beim geläuterten und gereinigten Men­schen dasjenige darstellen, was es ist, wenn der Mensch Herr über alles Herabziehende geworden ist.

Diese Empfindungen und Vorstellungen kann der Gei­steslehrer in dem Gemüt, in der Seele des Geistesschülers erwecken. Wenn nun der Geistesschüler kein trockener, nüchterner Schüler, kein Stock ist, wenn er empfinden und fühlen kann das ganze Geheimnis, das in einem solchen Vergleiche sich uns bildlich darstellt, dann wird es wirken auf seine Seele, dann wird für ihn ein Erlebnis sein, was ihm ein Symbolum für das Erleben in geistiger Anschauung vor die Seele tritt. Dieses Symbolum kann sein das Rosen-kreuz: das schwarze Kreuz, das ausdrücken soll, was in der niederen Natur des Menschen ertötet ist; und die Rosen wie das rote Blut, das hinaufgeläutert und gereinigt ist bis zu einem keuschen Ausdruck seiner höheren Seele in ihm

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selber. Das schwarze Kreuz, von roten Rosen umrankt, wird damit eine symbolische Zusammenfassung dessen, was die Seele erlebt in jenem Zwiegespräch zwischen Geistes­schüler und Lehrer. Wenn der Geistesschüler ein solches Symbolum sich mit dem Blut seiner Seele erkauft hat, in­dem er alle die Vorstellungen und Gefühle und Empfindun­gen auf die Seele hat wirken lassen, die ihn innerlich be­rechtigen, etwas zusammenzufassen in dem Rosenkreuz, wenn er nicht nur glaubt: ich stelle einfach ein Rosenkreuz vor mich hin, sondern werin er in ihm die Essenz hat eines ganz in blutender Seele errungenen inneren höheren Stim­mungsgehaltes, dann wird er sehen, daß ein solches Bild

- und andere ähnliche Bilder - in seiner Seele etwas herauf-holt. Das ist etwas, was nicht mehr bloß das geistige Fünk­chen ist, sondern eine neue Erkenntniskraft, die ihn fähig macht, in neuer Art die Welt anzusehen. Da ist er nicht stehen geblieben bei dem, was er war in seinem bisherigen Leben, sondern er hat seine Seele hinaufentwickelt. Und wenn er das immer wieder tut, kommt er endlich zur ima­ginativen Erkenntnis, die ihm zeigt, daß es draußen in der Welt noch etwas anderes gibt. Da entwickelt sich also eine neue Art von Erkenntnis gegenüber dem Erkennen, das er schon hat, wenn er bei dem stehen bleibt, was er bisher war.

Und jetzt führen wir uns vor die Seele, wie der Weg zu­stande gekommen ist. Hat da der Mensch gesagt: Ich gehe den Weg nach außen und suche nach den Untergründen der Dinge? Das hat er nur zum Teil gesagt. Er sagt sich so: Ich gehe nun in die Außenwelt und suche nicht die Untergründe der Dinge, suche nicht nach Molekülen und Atomen, ich nehme nicht einmal das von der Außenwelt, was sie mir darbietet, aber ich behalte etwas bei mir von dem, was diese

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Außenwelt mir darbietet. Das schwarze Kreuz ist nicht etwas, was in der Seele entstehen würde, wenn man nicht das Holz draußen hätte; die rote Rose ist etwas, was sich die Seele nie konstruieren könnte, wenn sie nicht einen äußeren Eindruck von der roten Rose hätte. So ist aller­dings dasjenige, was der Inhalt in der Seele ist, aus der Außenwelt entnommen.

Wir können nicht sagen, wie der Mystiker, daß wir alles Äußere getilgt haben, daß wir die Aufmerksamkeit ganz abgelenkt haben von der Außenwelt; wir können sagen, wir haben von der Außenwelt das hereingenommen, was sie uns selber geben kann - wir haben nicht das Tor vor der Außenwelt zugeschlossen, haben uns ihr hingegeben -aber wir haben es nicht so genommen, wie sie es uns gibt; denn nirgends ist in der Wirklichkeit ein Rosenkreuz. Das, woraus wir das Rosenkreuz als Sinnbild gebildet haben, ist in der Außenwelt vorhanden; das Rosenkreuz selber ist nicht in der Außenwelt. Wo ist denn die Veranlassung da­zu, daß wir diese beiden, daß wir Rose und Holz zu einem Sinnbild zusammengefaßt haben? Diese Veranlassung ist in der Bearbeitung unserer eigenen Seele. Wir haben das, was wir in der eigenen Seele erleben können, wenn wir die Seele hingeben an die Außenwelt, und das, was wir erleben können in der Außenwelt, wenn wir sie nicht bloß anstar-ren, wie sie ist, sondern wenn wir uns in die Außenwelt vertiefen - so erleben wir mystisch innerlich das, was sich uns ergibt aus dem Vergleich der Pflanze mit dem sich ent­wickelnden Menschen. Wir haben darauf verzichtet, dieses Seelenerlebnis unmittelbar wie der Mystiker aufzunehmen, sondern hingeopfert die Seelenerlebnisse dem, was die Außenwelt zu geben hat, und mit Hilfe dessen, was die

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Seele innerlich geben kann, ein Sinnbild uns geformt. In dem Sinnbild ist zusammengeflossen mystisches Innenleben und Außenleben. Wir dürfen niemals sagen, das Rosen-kreuz sei eine Wahrheit gegenüber der sinnlichen Welt und auch nicht gegenüber der Innenwelt; denn niemand könnte in der Innenwelt, wenn er nicht die Eindrücke der Außen­welt empfinge, ein Rosenkreuz konstruieren. Es ist zusam­mengeflossen in dem Sinnbild dasjenige, was die Seele von sich aus in ihrem Inneren erleben und erfahren kann mit dem, was sie von außen empfangen kann. Dafür steht dieses Sinnbild jetzt auch wieder so vor uns, daß es zunächst un­mittelbar nicht in die Außenwelt und nicht unmittelbar in die Innenwelt führt, sondern daß es wirkt wie eine Kraft. Stellen wir es in der Meditation vor unsere Seele hin, dann bringt diese Kraft ein neues geistiges Auge hervor, und wir sehen jetzt hinein in die geistige Welt, die wir früher weder im Inneren noch im Äußeren finden konnten; und wir be­kommen zunächst eine Ahnung davon, daß das, was der Außenwelt zugrunde liegt, und was wir jetzt durch ima­ginative Erkenntnis erfahren können, daß das dasselbe ist, identisch mit dem, was wir auch im Innern haben.

Wenn wir nun aufrücken zur inspirierten Erkenntnis, dann müssen wir etwas abstreifen von unserem Bilde. Wir müssen etwas machen, was unmittelbar ähnlich ist dem ganzen Verfahren des Mystikers, der nach innen geht. Da müssen wir die Rose und das Kreuzesholz vergessen. Es ist das eine schwierige Prozedur, aber sie kann ausgeführt wer-den. Wir müssen das ganze Sinnbild dem Inhalte nach aus unserer Vorstellung entfernen. Aber was schwer gelingen wird, das muß gelingen.

Es war seelische Tätigkeit, die nötig war, um den oben

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gegebenen Vergleich in einem Sinnbild vor die Seele zu rücken. Wir müssen die Seele selber beobachten, das, was sie getan hat, um das schwarze Kreuz als den zu überwin denden Menschen vor die Seele zu rücken; ihre inneren Er­lebnisse an der Bildung von Symbolen muß man sich vor Augen stellen. Wenn also der Mensch sich in seine Seelen-erlebnisse mystisch vertieft, dann kommt er zur inspirierten Erkenntnis. Und dann erlebt er in einer neuen Fähigkeit, in der Fähigkeit der Inspiration, daß ihm nicht nur das Fünkchen im Inneren erscheint, sondern daß es sich ihm erhellt zu einer mächtig flammenden Erkenntniskraft, durch die er etwas erlebt, was sich zeigt als völlig verwandt und doch völlig unabhängig von seinem Inneren. Denn er hat ja seine Tätigkeit nicht so belauscht, wie sie nur als eine innerliche ist, sondern als eine solche, die er an einem Äuße­ren geübt hat. So ist selbst hier in diesem mystischen Rest dasjenige vorhanden, was bloß eine Erkenntnis des Inneren ist und doch eine Erkenntnis von dem, was mit der Außen­welt zusammenhängt.

Jetzt kommt eine Arbeit, die entgegengesetzt ist der Ar­beit des Mystikers. Da müssen wir etwas tun, was der ge­wöhnlichen Naturwissenschaft ähnlich ist, wir müssen hin­ausgehen in die Außenwelt. Das Letztere ist das Schwierige dabei, ist aber erforderlich, wenn die intuitive Erkenntnis zustande kommen soll. Hier muß der Mensch die Aufmerk­samkeit von seiner eigenen Tätigkeit abwenden, er muß vergessen, was er getan hat, um das Rosenkreuz zustande zu bringen. Wenn er aber Geduld hat, wenn er seine Übun­gen lange genug und richtig ausführt, so wird er sehen, daß ihm etwas zurückbleibt, von dem er ganz gewiß weiß, daß es von seinem eigenen inneren Erlebnis absolut unabhängig

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ist, nicht subjektiv gefärbt ist, sondern ihn hinaufführt zu etwas, was von seiner subjektiven Persönlichkeit unabhän­gig ist, was aber durch seine objektive Wesenheit zeigt, daß es gleich ist dem, was das Zentrum des menschlichen Wesens, des menschlichen Ichs ist. In der intuitiven Erkenntnis gehen wir, um sie zu erreichen, aus uns heraus und kommen doch zu etwas, was unserem eigenen inneren Wesen gleich ist. So steigen wir auf von dem, was wir im Innern erleben, zu dem Geistigen, das wir jetzt nicht im Inneren, sondern in der Außenwelt erleben.

Im Ersten, in der imaginativen Erkenntnis, macht der Mensch etwas, was sowohl Mystik ist wie Monadologie, was ihn erhebt über die Mystik wie über die Monadologie. In der inspirierten Erkenntnis tut er einen Schritt auf einer höheren Stufe, den der Mystiker, der sich als Mensch läßt, so wie er ist, unten macht. In der intuitiven Erkenntnis tut der Geistesschüler einen Schritt, der ihn auf einer richtigen Stufe, nicht unmittelbar so wie er ist, in die Außenwelt hin­ausführt. So werden wir gerade dasjenige, was die Schatten­seiten sowohl der Monadologie wie der gewöhnlichen My­stik sind, bei der geisteswissenschaftlichen Forschung, beim Aufsteigen in Imagination, Inspiration und Intuition über­winden.

Und jetzt können wir uns auf die Frage: Was ist Mystik? eine Antwort geben. Es ist ein Unternehmen der mensch­lichen Seele, durch Vertiefung in das eigene Innere den gött­lich-geistigen Quell des Daseins zu finden. Im Grunde ge­nommen muß auch geisteswissenschaftliche Erkenntnis die­sen mystischen Weg machen. Klar ist sie sich aber, daß sie ihn nicht zu früh machen darf, daß sie erst die Vorbereitun­gen treffen muß, um ihn in der Seele machen zu dürfen. So

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können wir sagen: Mystik ist ein solches Unternehmen, das einem berechtigten Impuls und Drang der menschlichen Seele entspringt, etwas formal durchaus Richtiges; das nur dann von der menschlichen Seele zu früh unternommen wird, wenn diese menschliche Seele nicht zuerst Fortschritte zu machen versucht hat in der imaginativen Erkenntnis. Wenn man das gewöhnliche menschliche Leben vertiefen will in der Mystik, so liegt die Gefahr vor, daß man sich nicht tief genug von sich frei und unabhängig gemacht hat, um etwas anderes als ein individuell gefärbtes Bild der Welt zu liefern. Wenn man aber zur imaginativen Erkennt­nis aufgestiegen ist, dann hat man sein Inneres ausgegossen in etwas, was man der Außenwelt entnommen hat; da hat man sich das Recht erworben, auch ein Mystiker sein zu dürfen. Alle Mystik sollte daher auf der richtigen Ent­wickelungsstufe des Menschen unternommen werden. Die Schäden der Mystik treten dann hervor, wenn der Mensch zu früh dasjenige tun will, was der mystischen Erkenntnis zugrunde liegt.

So dürfen wir sagen: In dem, was als berechtigte Mystik vorliegt, haben wir für die Geisteswissenschaft eine Etappe, um gerade dasjenige genau verstehen zu lernen, was das wirkliche Ziel und die Intention der geisteswissenschaft­lichen Forschung ist. Kaum durch irgend etwas kann man so viel lernen über das Ziel und die Intentionen der geisti­gen Forschung als durch die hingebende Betrachtung der Mystiker. Man kann sich hinaufringen an den Mystikern zu den Erkenntnissen der geistigen Forschung. Man darf nur nicht glauben, daß der wahre Geistesforscher, wenn er etwas als berechtigt mit Mystik bezeichnet zu werden an­erkennt, dann alle Entwickelung leugnet. Gerade so ersdieint

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Mystik dem Geistesforscher als etwas Berechtigtes; es muß jedoch hinaufgestiegen werden bis zu einem gewis­sen Grade der Entwickelung, wenn ihre Methoden nicht zu subjektiven Ergebnissen, sondern zu solchen führen sollen, die nun als wirkliche Wahrheit über die geistige Welt gelten können. So kann man schließlich sagen, daß die Frage: Was ist Mystik? damit beantwortet werden kann, daß Mystik ein Unternehmen der menschlichen Seele ist, das innerhalb der Entwickelung der menschlichen Seele oftmals zu früh voll­führt wird. Dann braucht nicht viel gesagt zu werden über Gefahren, die eine verfrühte mystische Vertiefung im Men­schen hervorrufen kann. Die verfrühte mystische Ver­tiefung ist ein Gang in die Tiefe der menschlichen Seele, be­vor der Mensch Anstalt dazu gemacht hat, daß sein Inneres verwächst mit der Außenwelt. Damit schließt er sich oft unberechtigterweise von der Außenwelt ab. Das kann aber im Grunde genommen nur ein raffinierter und verfeinerter Egoismus sein. Das ist auch bei vielen Mystikern so, wenn sie die Aufmerksamkeit abwenden von der Außenwelt und sich ergehen in inneren Entzückungen und Beseligungen, Erhebungen und Befreiungen, die sie in ihrem Innenleben haben in jener goldenen Stimmung, welche sich über die Seele ausgießen kann, wenn sie so recht in ihrem Inneren schwelgt. Dieser Egoismus aber kann überwunden werden, wenn das Ich gezwungen ist, zunächst aus sich herauszu-gehen, und seine Tätigkeit an der Bildung der Symbole in die Außenwelt fließen läßt. Daher wird eine Symbolik der imaginativen Erkenntnis zu einer Wahrheit führen, welche den egoistischen Charakter von sich abstreift. Daß der Mensch ein Sonderling oder ein verfeinerter Egoist auf einer höheren Stufe werden kann, das ist die Gefahr, die zuletzt

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den Mystiker treffen kann, die vorhanden sein kann, wenn auf einer zu wenig entwickelten Stufe ein mystisches Er­kenntnisstreben unternommen wird. Mystik ist berechtigt, und wahr ist es, was Angelus Silesius gesagt hat:

«Wann du dich über dich erhebst und Gott läßt walten,

Dann wird in deinem Geist die Himmelfahrt gehalten.»

Wahr ist es, durch die Entwickelung der Seele gelangt der Mensch nicht nur in sein Inneres, sondern auch in die geistigen Reiche, die der Außenwelt zugrunde liegen. In vollkommenem Ernste aber muß er das Erheben über sich selbst nehmen, und er darf das Hinausgehen über sich selbst nicht verwechseln mit einem bloßen Hineinbrüten in das Selbst, wie es schon im Menschen ist. Wir müssen voll ernst-nehmen den ersten Teil des Satzes: «Wenn du dich über dich erhebst», und auch vollen Ernst machen mit dem zwei­ten Teil des Satzes: «und Gott läßt walten». Den lassen wir aber nicht walten, wenn wir uns zurückziehen von irgend einer Seite der göttlichen Offenbarung, sondern wenn wir vereinigen Inneres und Äußeres als zwei Seiten der göttlich-geistigen Offenbarungen. Wir lassen nicht den Gott wahrhaft walten, wenn wir uns nur zurückziehen von der Außenwelt, sondern wir lassen ihn walten, wenn wir unser Inneres opfern können dem, was uns als Offenbarung der Außenwelt entgegenfließen kann. Wenn wir diese Ge­sinnung hegen in bezug auf unsere geisteswissenschaftliche Erkenntnis, dann nehmen wir auch in der richtigen Weise den zweiten Satz des Angelus Silesius: Wir lassen den geistig-göttlichen Grund der Außen- und Innenwelt in uns walten; und dann erst können wir hoffen, daß auch der dritte Teil uns sich erfüllt, daß wir erhoben werden durch eine Himmelfahrt, das heißt zu einem geistigen Reiche kommen,

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das weder von unserer Innen-, noch von der Außen­welt gefärbt ist, sondern das gleichen Grundes ist mit all dem, was uns die unendliche Sternenwelt leuchtend von außen entgegenstrahlt, was als Luffkreis unsere Erde um­gibt, was als Pflanze grünt, was als Wesen die Flüsse durch-lebt und die Meere ausfüllt; was aber zu gleicher Zeit als Göttlich-Geistiges lebt, wenn wir denken und sinnen, füh­len und wollen über die Welt, was im Äußeren und im Inneren Göttlich-Geistiges ist. So sehen wir insbesondere an einem solchen Beispiele, daß es nicht genügend ist, daß wir einen Satz wie den des Angelus Silesius hinnehmen, sondern daß wir diesen Satz auf der richtigen Stufe, wo er einzig und allein allseitig und wahr von uns verstanden wird, in uns aufnehmen. Dann werden wir sehen, daß My­stik uns, weil sie den richtigen Kern enthält, wirklich dahin führt, wo wir reif sind, die geistigen Reiche allmählich zu schauen, und daß Mystik im höchsten und wahrsten Sinne dasjenige in uns verwirklichen kann, was in diesem schönen Satze des Angelus Silesius gesucht und entdeckt werden kann:

Wenn du dich über dich selbst erhebst und wahrhaftig den göttlich-geistigenWeltengrund in dir läßt walten: dann wird in dir die Himmelfahrt zu den göttlich-geistigen Ur­gründen des Daseins gehalten.

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DAS WESEN DES GEBETES

In dem Vortrage «Was ist Mystik?» wurde hier vor acht Tagen von jener besonderen Art mystischer Versenkung gesprochen, die im Mittelalter in der Zeit von Meister Eck-hart angefangen bis zu Angelus Silesius hervorgetreten ist. Diese besondere Art mystischer Versenkung wurde dadurch charakterisiert, daß der Mystiker versucht, frei und unab­hängig zu werden von all jenen Erlebnissen, die durch die äußere Welt in unserer Seele angeregt werden, und daß er versucht vorzudringen zu jener Erfahrung, zu jenem Er­lebnis, das ihm zeigt: wenn auch alles aus unserer Seele, was den gewöhnlichen Ereignissen des Tages entstammt, aus-gelöscht wird, und sozusagen die Seele sich in sich selbst zu­rückzieht, so bleibt innerhalb dieser menschlichen Seele eine Welt für sich, eine Welt, die ja immer da ist, die nur überleuchtet wird von den sonst so mächtig und gewaltig auf den Menschen wirkenden äußeren Erlebnissen, und die des­halb zunächst nur als ein schwaches Licht erscheint; als ein so schwaches Licht, daß sie wohl von vielen Menschen gar nicht beachtet wird. Darum nennt der Mystiker diese innere Seelenwelt zunächst das «Fünklein ». Aber er ist sich klar, daß dieses unscheinbare Fünklein seiner Seelenerlebnisse an­gefacht werden kann zu einer mächtigen Flamme, die dann erleuchtet die Quellen und Untergründe des Daseins; mit anderen Worten: die den Menschen auf dem Wege in die eigene Seele hinführt zu der Erkenntnis seines eigenen Ur­sprunges, was man ja wohl «Gott-Erkenntnis» nennen kann.

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Weiter ist in jenem Vortrag darauf hingewiesen worden, wie die Mystiker des Mittelalters zunächst davon aus­gingen, daß dieses Fünklein sozusagen durch sich selbst, so wie es ist, wachsen müsse. Im Gegensatz dazu wurde her­vorgehoben, wie dasjenige, was man heute « Geistesfor­schung» nennt, auf Entwickelung, auf bewußte und in den menschlichen Willen gestellte Entwickelung dieser inneren Seelenkräfte ausgeht und zu höheren Arten der Erkenntnis hinaufsteigt, wie wir sie bezeichnet haben als imaginative, als inspirierte und als intuitive Erkenntnis. So erschien uns jene mittelalterliche mystische Versenkung wie der Aus­gangspunkt der wahren höheren Geistesforschung, welche den Geist zwar zunächst durch Entwickelung des Innern sucht, welche aber gerade durch die Art und Weise, wie sie ihre eigenen Wege einschlägt, über dieses Innere hinaus-geführt wird; und hinausgeführt wird zu dem, was als Quellen und Untergründe des Daseins allen Erscheinungen und Tatsachen zugrunde liegt, und zu denen wir ja mit unserer Seele selbst gehören. So erschien uns jene Mystik des Mittelalters wie eine Art Vorstufe zur wahren Geistes-forschung. Und wer den Sinn hat, sich in die Innigkeit eines Meisters Eckhart zu vertiefen, wer den Sinn hat, zu erken­nen, welche unermeßliche Kraft der spirituellen Erkenntnis jene mystische Versenkung dem Johannes Tauler gebracht hat; wer einen Sinn hat zu sehen, wie tief in die Geheim­nisse des Daseins später Valentin Weigel oder Jakob Böhme hineingeführt wurden durch alles, was sie aus solcher my­stischen Versenkung gewinnen konnten (indem sie aller­dings darüber hinausgehen); wer einen Sinn hat zu ver­stehen, was ein Angelus Silesius geworden ist gerade durch solche mystische Versenkung, wie er imstande war, nicht nur

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in leuchtender Einsicht in die großen Gesetze der geistigen Weltordnung hinein zu schauen, sondern was dieser Angelus Silesius auch an hinreißender, erwärmender Schönheit ge­leistet hat in bezug auf die Aussprüche, die er tun durfte über die Weltengeheimnisse: wer das alles erkennt, wird ermessen, welche Kraft der Innerlichkeit der Menschennatur in dieser mittelalterlichen Mystik liegt, und welche unend­liche Hilfe aus dieser Mystik demjenigen werden kann, der die Wege der Geistesforschung selber gehen will. So er­scheint uns - gerade mit Rücksicht auf jenen Vortrag vor acht Tagen - die mittelalterliche Mystik wie die große, wunderbare Vorschule der Geistesforschung. Und wie sollte das auch anders sein? Will denn der Geistesforscher etwa anderes, als jenes Fünklein, von dem die Mystiker gespro­chen, durch seine eigenen inneren Kräfte zur Entfaltung bringen? Er unterscheidet sich ja von den Mystikern nur dadurch, daß sie glaubten, in ruhiger Seele sich hingeben zu dürfen jenem kleinen leuchtenden Fünklein, damit es von selber anfange, immer herrlicher zu brennen und zu leuch­ten; während der Geistesforscher sich klar ist, daß der Mensch seine Fähigkeiten und Kräfte, die von der Weisheit der Welt in seinen Willen gestellt sind, anwenden muß auf die Vergrößerung jenes Fünkchens.

Wenn so die mystische Stimmung eine gute Vorbereitung ist und überall hinweist auf Geistesforschung, so dürfen wir andererseits wiederum sagen: Eine Vorbereitung, eine Vorstufe zu jener mystischen Versenkung, wie sie in der Zeit des Mittelalters hervorgetreten ist, ist diejenige Seelen-tätigkeit, welche uns heute etwas genauer beschäftigen soll, und die man im wahren Sinne das Gebet nennen kann. Und man könnte sagen: Wie der Mystiker fähig wird zu seiner

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Versenkung dadurch, daß er schon in einer gewissen Weise

- vielleicht unbewußt, aber doch - gearbeitet hat an seiner Seele, daß er schon eine Stimmung mitbringt zur mystischen Versenkung, so wird derjenige, der hinarbeiten will zu dieser mystischen Versenkung, welcher Wege gehen will, die zuletzt in diese mystische Versenkung einmünden können, eine Vorstufe finden können in dem wahren Gebet.

Allerdings durch die Entwickelung der letzten Jahr­hunderte in geistiger Beziehung ist das Wesen des Gebetes in der mannigfaltigsten Weise von dieser oder jener Geistes-strömung verkannt worden. Daher wird es heute nicht leicht sein, zu dem wahren Wesen des Gebetes vorzudrin­gen. Wenn wir bedenken, daß mit aller geistigen Entwicke­lung der letzten Jahrhunderte ja verknüpft war etwas, was man nennen könnte ein Hervortreten namentlich egoisti­scher Geistesströmungen, von denen weite Kreise ergriffen worden sind, so wird es nicht verwunderlich sein, daß ge­rade das Gebet mit hineingezogen worden ist in die egoisti­schen Wünsche, in die egoistischen Begierden der Menschen. Und man darf wohl sagen: Kaum ist durch etwas anderes das Gebet mehr mißzuverstehen als durch das Durchtränkt-sein mit irgend einer Form des Egoismus. In diesem Vor­trage soll versucht werden, das Gebet ganz unabhängig von irgend einer Partei- oder sonstigen Richtung, rein aus den geisteswissenschaftlichen Voraussetzungen heraus zu unter­suchen.

Wenn man das Gebet kennenlernen will - das sei nur zu einer vorläufigen Verständigung gesagt -, so könnte man sagen: Während der Mystiker voraussetzt, daß er in seiner Seele irgend ein kleines Fünkchen finden werde, das dann weiter leuchten und weiter brennen kann durch seine mystische

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Versenkung, so will der Betende gerade jenes Fünk­chen, jenes selbsteigene Seelenleben erst erzeugen. Und das Gebet, aus welchen Voraussetzungen heraus es auch auf­trete, erweist sich dadurch gerade in seiner Wirksamkeit, daß es die Seele anregt, jenes Fünkchen des Mystikers all­mählich entweder aufzufinden, wenn es da ist und, verbor­gen zwar, in der Seele leuchtet, oder aber es selbst zum Aufleuchten zu bringen. Wenn wir das Bedürfnis nach Gebet, das Wesen des Gebetes untersuchen wollen, müssen wir aber eingehen auf eine Charakteristik der menschlichen Seele in ihren Tiefen, von denen wir ja in einem der vor­hergehenden Vorträge sagten, daß auf sie so recht anwend­bar ist der Spruch des alten griechischen Weisen Heraklit:

Der Seele Grenzen wirst du niemals finden, und wenn du auch alle Straßen durchliefest; so weit ist das, was sie mit ihren Geheimnissen umschließt. Und wenn auch der Be­tende zunächst nur auf der Suche ist nach den Geheimnissen der Seele, so darf man doch sagen: Aus jenen Stimmungen intimster Art heraus, welche durch das Gebet angeregt wer­den können, erahnt selbst der naivste Mensch etwas von den unendlichen Weiten des Seelenlebens. Wir müssen diese Seele, wie sie in uns lebt und uns lebendig vorwärts bringt, in ihrer Entwickelung einmal in folgender Weise erfassen:

Wir müssen uns klar werden, daß so etwas, was wie die Seele in lebendiger Entwickelung lebt, nicht nur von der Vergangenheit kommt und in die Zukunft weiterschreitet, sondern daß sie in jedem Augenblick ihres gegenwärtigen Lebens etwas in sich trägt von der Vergangenheit - und sogar in gewisser Weise etwas von der Zukunft. In den Augenblick, den wir die Gegenwart nennen, erstrecken sich hinein, insbesondere für das Seelenleben, die Wirkungen

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von der Vergangenheit und die Wirkungen, die wie aus der Zukunft uns entgegeneilen. Demjenigen, der tiefer hinein-blickt in das Seelenleben, wird es schon so vorkommen können, als ob in der Menschenseele zwei Strömungen sich fortwährend begegneten: eine Strömung, die aus der Ver­gangenheit sich herauflebt, aber auch eine Strömung, die aus der Zukunft uns entgegenkommt. Es mag sein, daß man es für andere Gebiete des Lebens als eine Träumerei und Phantasterei zunächst findet, wenn man von einem Heran-eilen der Ereignisse aus der Zukunft spricht. Denn es ist ja leicht, wenn auch trivial, zu sagen: Was zukünftig geschieht, ist eben noch nicht da; daher können wir nicht sagen, daß das, was morgen geschehen werde, uns « entgegeneilt », während wir sehr wohl sagen können: was in der Ver­gangenheit geschehen ist, erstreckt seine Wirkungen in die Gegenwart herein. - Für das Letztere ist es natürlich sehr leicht, Begründung über Begründung zu finden. Wer wollte denn hinwegleugnen, daß unser Leben von heute das Ergeb­nis unseres Lebens von gestern ist? Wer möchte leugnen, daß wir heute unter der Wirkung unseres Fleißes oder un­serer Lässigkeit von gestern oder vorgestern stehen? Das Hereinragen der Vergangenheit in unser Seelenleben wird niemand leugnen. Aber ebensowenig sollte die Realität des Zukünftigen geleugnet werden, wenn wir in der Seele selber die Wirklichkeit eines solchen Hereintretens der Zukunfts­ereignisse, bevor sie da sind, sehen. Oder gibt es denn nicht so etwas wie Angst vor irgend etwas, was wir morgen er­warten, oder Furcht vor irgend etwas, was morgen gesche­hen kann? Ist denn das nicht etwas wie ein Fühlen, ein Empfinden, das wir einer, wenn auch für uns unbekannten Zukunft entgegensenden? In jedem Moment, wo sich die

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Seele fürchtet und ängstet, beweist sie durch die Realität ihrer Gefühle und Empfindungen, daß sie nicht nur mit den Wirkungen der Vergangenheit rechnet, sondern daß sie in sich selber lebensvoll rechnet mit dem, was aus der Zukunft in sie hineineilt. Das seien nur einzelne Andeutungen. Wer das Seelenleben ausmessen will, wird Zahlreiches finden, das vielleicht widerspricht den Abstraktionen des Verstan­des, die da sagen: das Zukünftige ist noch nicht da; es kann deshalb noch nicht wirken! das sich aber in seiner leben­digen Realität zeigt, wenn wir auf das unmittelbare Seelen-leben eben hinblicken.

In unserer Seele fließen zwei Ströme gleichsam zusam­men von der Vergangenheit und von der Zukunft und bilden dort - wer wollte das leugnen, wenn er sich selber beobachtet? - etwas wie einen «Wirbel», ganz ähnlich wie beim Zusammenfluß von zwei Strömen draußen. Wenn wir nun dasjenige genauer betrachten, was aus der Vergangen­heit hereinlebt in unsere Seele, da müssen wir sagen: Unter dem Eindrucke des in der Vergangenheit Erlebten ist unsere Seele geworden. Wie wir die Erlebnisse der Vergangenheit angewendet haben, so sind wir heute, und wir tragen das Vermächtnis unserer Taten, unseres Fühlens und Denkens aus der Vergangenheit in unserer Seele. Wir sind so, wie wir geworden sind. Wenn wir nun zurückblicken wollen von unserem heutigen Standpunkt auf unsere früheren Erlebnisse, namentlich auf jene Erlebnisse, an deren Zu­standekommen und Verwertung für unsere Seele wir selber beteiligt waren, wenn wir also die Erinnerung schweifen lassen in die Vergangenheit, werden wir gar oft, wenn wir Einkehr halten in uns, auch zu einem Urteil über uns selber kommen und uns sagen: Jetzt sind wir so; und so, wie wir

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sind, sind wir imstande, zu manchem, was in unserer Ver­gangenheit sich abgespielt hat, durch uns selbst nicht «Ja »zu sagen; wir sind fähig geworden, jetzt mit manchem nicht einverstanden zu sein, vielleicht mancher Tat der Ver­gangenheit uns sogar zu schämen. Wenn wir so unsere Ge­genwart an unsere Vergangenheit anreihen, dann wird uns ein Gefühl von dem überschleichen, was wir so nennen können: 0, es ist etwas in uns, was unendlich viel reicher, unendlich viel bedeutsamer ist als das, was wir durch unsern Willen, durch unser Bewußtsein, durch unsere individuellen Kräfte aus uns gemacht haben! Denn gäbe es nicht in uns etwas, was hinausragt über das, was wir aus uns gemacht haben, so könnten wir uns auch nicht selber tadeln, auch uns nicht selber erkennen. Wir müssen sagen: In uns lebt etwas, was größer ist als das, was wir bisher an uns selber ausgenützt haben! Wenn wir ein solches Urteil in ein Ge­fühl verwandeln, dann werden wir hinschauen auf das uns Bekannte, das wir in unsern vergangenen Taten und Erleb­nissen beobachten können; und das klar vor uns liegen kann - so klar als eben die Erinnerung möglich ist -, und wir werden dieses Klare, Offenliegende vergleichen können mit etwas in uns, was größer ist als das Offenliegende, mit etwas in der Seele, was sich herausarbeiten will, was uns anleitet, uns über uns selbst zu stellen und uns zu beurteilen auf dem Standpunkte der Gegenwart. Kurz, wir werden etwas in uns ahnen, was über uns selber hinausragt, wenn wir jenen Strom ansehen, der aus der Vergangenheit in die Seele fließt. Und diese Ahnung eines Größeren in uns selber ist im Grunde das erste Aufleuchten des inneren Gottes­gefühles in der Seele; ein Gefühl davon, daß in uns selber etwas lebt, was größer ist als alles, was zunächst in unsere

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Willkür gestellt ist, und das bewirkt, daß das Gottesgefühl in uns erwacht, daß wir hinschauen auf etwas, was uns über unser engbegrenztes Ich hinausführt zu einem geistig-gött­lichen Ich. So spricht eine in das Gefühl, in die Empfindung verwandelte Betrachtung der Vergangenheit.

Wie spricht nun das, was wir das Hineinfließen des Zu­kunftsstromes in die Seele nennen können, wenn wir es in ein Gefühl, in eine Empfindung verwandeln?

Das spricht noch deutlicher und noch wesentlicher zu uns. Während beim Zurückblicken in die Ereignisse der Ver­gangenheit sich unsere Empfindung und unser Gefühl wie ein abweisendes Urteil, wie Reue, wie Scham vielleicht gel­tend macht, so stehen der Zukunft gegenüber von vorn­herein die Empfindungen und Gefühle da von Angst und Furcht, von Hoffnung, von Freude. Aber diesen Gefühlen gegenüber steht zunächst für den Menschen der Strom der Ereignisse noch nicht selber da; er durchschaut ihn noch nicht. Er kann hier leichter sogar den Begriff, die Idee in ein Gefühl verwandeln, als im ersten Falle. Denn das tut die Seele selber. Weil sie uns der Zukunft gegenüber nur die Gefühle der Wirklichkeit gibt, so stehen unsere Gefühle und Empfindungen der Zukunft da wie etwas, was sich herausgebiert aus einem unbekannten Strom, von dem wir wissen: er kann so oder so auf uns wirken, er kann uns das oder jenes gewähren. Wenn wir nun dies in die rich­tige Empfindung verwandeln, was aus dem dunklen Schoß der Zukunft mit Sicherheit uns entgegenkommt, und wenn wir fühlen, wie es hereinströmt in unsere Seele, und wie sich ihm entgegenstellen unsere Empfindungswelten, dann fühlen wir, wie unsere Seele immer von neuem sich ent­zündet an den Erlebnissen, die uns aus der Zukunft ent-­gegenkommen.

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Wir fühlen hier erst recht, wie unsere Seele reicher, umfassender werden kann als sie ist; wir fülilen unsere Seele schon in der Gegenwart so, daß sie sicher in der Zukunft einen unendlich reicheren und mächtigeren In­halt umfassen wird. Wir fühlen uns schon verwandt mit dem, was uns aus der Zukunft entgegenkommt, müssen uns damit verwandt fühlen. Wir müssen unsere Seele ge­wachsen fühlen dem ganzen Inhalt, den ihr die Zukunft noch geben kann.

Betrachten wir so Vergangenheit und Zukunft in dem Hereinströmen in die Gegenwart, dann zeigt sich uns, wie das Seelenleben über sich selber ahnend hinauswächst. Wir werden es daher begreiflich finden, wenn die Seele, zurück­blickend auf die Vergangenheit, gewahr wird jenes Be­deutungsvolle, das in sie hineinspielt, und dem sie nicht gewachsen ist; daß sie entfalten kann eine Stimmung, eine Grundempfindung gegenüber dem, was sich so als Ergebnis der Vergangenheit zeigt. Wenn so die Seele - sei es im Urteil oder in Reue und Scham über sich selber - das Mäch­tige im Strom aus der Vergangenheit in sich hineinfließen fühlt, dann erzeugt sich das, was man nennen könnte die Andacht gegenüber dem Göttlichen, das uns aus der Ver­gangenheit anschaut. Und diese Andacht gegenüber dem Göttlichen, das uns aus der Vergangenheit anschaut, das wir ahnen können als etwas, was auf uns wirkt, dem wir aber mit unserm Bewußtsein nicht gewachsen sind, erzeugt die eine Gebetsstimmung - denn es gibt zwei Gebetsstim­mungen -; jene Gebetsstimmung, die wir bezeichnen kön­nen als diejenige, welche zur Gottinnigkeit führt. Denn was wird die Seele wollen können, wenn sie still und intim sich diesen Empfindungen und Gefühlen gegenüber solcher Vergangenheit

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hingibt? Sie wird wollen können, daß das Mäch­tigere, das sie unbenutzt gelassen hat, das sie mit ihrem Ich nicht durchdrungen hat, in ihr gegenwärtig werde. Die Seele wird sich sagen können: Wäre dieses Mächtigere in mir, dann wäre ich heute eine andere; es hat in mir nicht ge­lebt, es war in mir nicht gegenwärtig. Das Göttliche, was ich ahne, war nicht etwas, was zu meinem Innenleben ge­hörte; deshalb habe ich mich nicht so gemacht, daß ich zu mir selber heute ganz «Ja » sagen kann. - Wenn die Seele so empfindet, überkommt sie jene Stimmung, durch die sie sich sagt: Wie kann ich in diese Seele hereinbekommen, was in allen meinen Taten und Erlebnissen zwar gelebt hat, was aber mir unbekannt war? Wie kann ich hereinziehen dieses Unbekannte, von meinem Ich nicht Erfaßte? Wenn diese Stimmung in der Seele sich auslebt, sei es durch ein Gefühl, durch ein Wort oder eine Idee, dann haben wir das Gebet gegenüber der Vergangenheit. Dann suchen wir uns auf einem Wege dem Göttlichen andächtig zu nähern.

Demjenigen, was wir charakterisieren konnten als aus dem Strome der unbekannten Zukunft uns das Göttliche leuchten lassend, dem gegenüber gibt es nun eine andere Stimmung. Und wenn wir sie vergleichen wollen mit der eben charakterisierten, dann fragen wir uns noch einmal:

Was führt uns zur Gebetsstimmung gegenüber der Ver­gangenheit? Daß wir unvollkommen geblieben sind, trotz­dem wir ahnen können, daß ein Göttliches in uns hinein­leuchtet; daß wir nicht alle Fähigkeiten, nicht alle Kräfte entwickelt haben, die aus diesem Göttlichen fließen können; unsere Mängel, was uns geringer macht, als das Göttliche ist, das in uns hineinleuchtet: das führt uns zur Gebetsstim­mung gegenüber der Vergangenheit. Was macht uns aus der

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Zukunft herein in einer ähnlichen Weise mangelhaft? Was hemmt aus der Zukunft unsere Entwickelung, unseren Auf­stieg zum Geistigen?

Da brauchen wir nur daran zu denken, daß gerade jene Gefühle und Empfindungen, die wir schon nennen konnten, fressen an unserem Seelenleben: Angst und Furcht vor dem Unbekannten der Zukunft. Gibt es aber etwas, was in die Seele sich ergießen kann als Kraft der Sicherheit gegenüber dem Zukünftigen? - Ja, das gibt es. Richtig wird es aber in der Seele nur wirken, wenn es als Gebetsstimmung auf­tritt. Und das ist das, was man nennen kann das Ergeben­heitsgefühl gegenüber dem, was aus dem dunklen Schoß der Zukunft in unsere Seele eintritt. Mißverstehen wir uns auf diesem Gebiete nicht. Es wird hier nicht etwa dem ein Loblied gesprochen, was man von da und dorther als Er­gebenheit bezeichnen kann, sondern es wird eine ganz be­stimmte Art von Ergebenheit charakterisiert: Ergebenheit gegenüber dem, was uns die Zukunft bringen kann. Wer ängstlich und furchtsam hinblickt auf das, was ihm die Zukunft bringen kann, der hindert seine Entwickelung, hemmt die freie Entfaltung seiner Seelenkräfte. Nichts ist eigentlich dieser freien Entfaltung der Seelenkräfte so hin­derlich als die Furcht und Angst vor dem Unbekannten, das aus dem Strome der Zukunft in die Seele hereintritt. Was die Ergebenheit gegenüber der Zukunft bringen kann, dar­über kann eigentlich nur die Erfahrung urteilen. Was ist Ergebenheit gegenüber den Zukunftsereignissen?

In ihrer idealen Gestalt wäre diese Ergebenheit jene Seelenstimmung, die sich immer sagen könnte: Was auch kommt, was mir auch die nächste Stunde, der nächste Mor­gen bringen mag, ich kann es zunächst, wenn es mir ganz

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unbekannt ist, durch keine Furcht und Angst ändern. Ich erwarte es mit vollkommenster innerer Seelenruhe, mit vollkommener Meeresstille des Gemütes! Jene Erfahrung, die sich aus einem solchen Ergebenheitsgefühl gegenüber den Zukunftsereignissen ergibt, geht dahin, daß derjenige, der so gelassen, mit vollständiger Meeresstille des Gemütes der Zukunft entgegenleben kann und dennoch seine Energie, seine Tatkraft in keiner Weise darunter leiden läßt, die Kräfte seiner Seele in der intensivsten Weise, in der freiesten Art zu entfalten vermag. Es ist, wie wenn gleichsam Hemm­nis nach Hemmnis von der Seele fiele, wenn sie immer mehr und mehr jene Stimmung überkommt, die jetzt als « Er­gebenheit » charakterisiert worden ist gegenüber den aus der Zukunft uns zuströmenden Ereignissen.

Dieses Ergebenheitsgefühl kann sich die Seele nicht auf einen Machtspruch geben, nicht durch eine aus dem Nichts hervorgeholte Willkür. Dieses Ergebenheitsgefühl ist das Resultat dessen, was man die andere Gebetsstimmung nen­nen kann, jene Gebetsstimmung, welche sich richtet an die Zukunft und ihren von Weisheit durchdrungenen Lauf der Ereignisse. Hingabe an das, was man göttliche Weisheit in den Ereignissen nennt; Hervorrufen in sich selber immer wieder den Gedanken, die Empfindung, den Impuls des Gemütslebens, daß das, was da kommen werde, sein muß, und daß es nach irgendeiner Richtung seine guten Wirkun­gen haben müsse: das Hervorrufen dieser Stimmung in der Seele und das Ausleben dieser Stimmung in Worten, in Empfindungen, in Ideen, das ist die zweite Art der Gebets-stimmung, die Stimmung des Ergebenheitsgebetes.

Aus diesen Stimmungen der Seele müssen hervorgeholt werden die Impulse zu dem, was man Gebet nennt. Denn

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in der Seele selber sind die Antriebe gegeben, und im Grunde kommt Gebetsstimmung in eine jede Seele, die sich nur ein wenig erhebt über die unmittelbare Gegenwart. Ge­betsstimmung, konnte man sagen, ist das Hinaufblicken der Seele aus dem zeitlich vorübergehenden Gegenwärtigen in das Ewige, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umschließt. Aus dem Grunde, weil für den Menschen dieses Hinausblicken und Hinausleben aus dem Augenblick der Gegenwart so notwendig ist, läßt Goethe seinen Faust das große, bedeutsame Wort zu Mephistopheles sprechen:

« Werd' ich zum Augenblicke sagen:

Verweile doch! du bist so schön! »

das heißt: könnte ich mich je mit einem Leben im bloßen Augenblicke begnügen

« Dann magst du mich in Fesseln schlagen,

Dann will ich gern zu Grunde gehn!»

Man könnte also auch sagen: Es ist Gebetsstimmung, die sich Faust erfleht, um aus den Fesseln des Gesellen, des Me­phistopheles, herauszukommen.

Gebetsstimmung führt uns also auf der einen Seite zur Betrachtung unseres engbegrenzten Ich, das aus der Ver­gangenheit herauf in die Gegenwart gearbeitet hat, und das, wenn wir es ansehen, uns klar zeigt, wie unendlich mehr in uns ist, als wir benutzt haben; und auf der andern Seite führt uns diese Betrachtung in die Zukunft und zeigt uns, wie aus dem unbekannten Schoß der Zukunft unendlich viel mehr in das Ich hineinfließen kann, als dieses Ich be­reits in der Gegenwart erfaßt hat. In eine dieser zwei Stim­mungen hinein ist jede Gebetsstimmung zu bringen. Wenn

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wir so die Stimmung des Gebets erfassen und das Gebet als einen Ausdruck dieser Stimmung, dann werden wir in dem Gebete selber jene Kraft finden, die uns über uns selbst hinausführt. Denn was ist denn das Gebet anders, wenn es so in uns auftritt, als das Aufleuchten jener Kraft in uns, die hinaus will über das, was unser Ich in einem Augen­blicke war! Und wenn das Ich nur erfaßt wird von diesem seinem Hinausstreben, dann lebt schon in ihm jene Kraft, die Entwickelungskraft ist. Wenn wir aus der Vergangen­heit lernen: Wir haben mehr in uns, als wir benutzt haben! da ist unser Gebet ein Aufschreien zu dem Göttlichen: es möge da sein, es möge uns erfüllen mit seiner Gegenwart! Wenn wir zu dieser Erkenntnis gefühls- und empfindungs­mäßig gekommen sind, dann ist das Gebet Ursache der Weiterentwickelung in uns. Und wir können das Gebet dann zählen zu den Entwickelungskräften unseres eigenen Ich.

Ebenso können wir es halten mit der Gebetsstimmung gegenüber der Zukunft, wenn wir in Furcht und Angst dem gegenüber leben, was die Zukunft uns bringen kann. Denn da fehlt uns jene Ergebenheit, die aus dem Gebete strömt, das wir entgegensenden unseren Geschicken, die uns aus der Zukunft entgegeneilen, und von denen wir sagten: Sie sind aus der Weisheit der Welt über uns verhängt. Die Hingabe an diese Ergebenheitsstimmung wirkt anders, als wenn wir Furcht und Angst dem entgegensenden, was uns entgegen­kommen soll. Durch Angst und Furcht wird unsere Ent­wickelung gehemmt; wir weisen durch die Wellen der Furcht und der Angst das zurück, was in unsere Seele aus der Zu­kunft herein will. Aber wir nähern uns ihm in befruchtender Hoffnung, so daß es in uns hineinkommen kann, wenn wir ihm in Ergebenheit entgegenleben. So ist diese Ergebenheit,

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die uns scheinbar klein macht, eine starke Kraft, die uns der Zukunft entgegenträgt, so daß die Zukunft den Inhalt der Seele bereichert und unsere Entwickelung auf eine immer neue Stufe bringt.

Da haben wir das Gebet erfaßt, wie es eine wirkende Kraft in uns selber ist. Daher sehen wir in dem Gebet eine Ursache in uns, die unmittelbare Wirkungen nach sich zieht, nämlich die Vergrößerung und Entwickelung unseres Ich. Wir brauchen dann gar nicht besondere äußere Wirkungen abzuwarten; sondern wir sind uns klar: Wir haben mit dem Gebete selber etwas in unsere Seele gesenkt, das wir erleuchtende und erwärmende Kraft nennen können. Er-leuchtende Kraft, weil wir die Seele frei machen gegenüber dem, was uns aus der Zukunft entgegeneilt, und sie geeignet machen, das aufzunehmen, was uns aus dem dunklen Schoß der Zukunft werden kann; erwärmend wirken wir auf die Seele, weil wir sagen können: Zwar haben wir in der Ver­gangenheit versäumt, völlig das Göttliche in unserem Ich zur Entfaltung zu bringen; jetzt aber haben wir uns in un­seren Empfindungen und Gefühlen mit ihm durchdrungen, und es kann wirken in uns. Die Gebetsstimmung, die uns aus dem Gefühl für die Vergangenheit kommt, erzeugt jene innere Seelenwärme, von der alle diejenigen zu erzählen wissen, welche das Gebet in seiner Wahrheit zu empfinden vermögen. Und die erleuchtende Wirkung zeigt sich bei denen, die das Ergebenheitsgefühl des Gebetes kennen.

Wenn wir so das Wesen des Gebetes betrachten, werden wir uns nicht wundern, daß gerade die großen Mystiker in der Hingabe an das Gebet die beste Vorschule fanden für das, was sie in der mystischen Versenkung dann suchten. Sie leiteten sozusagen die Stimmung ihrer Seele durch das Ge­bet

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vorher hin zu jenem Punkt, wo sie dann fähig wurden, das charakterisierte « Fünklein » aufleuchten zu lassen. Ge­rade durch die Vergangenheitsbetrachtung kann uns er­klärlich erscheinen jene tiefe Innigkeit, jene wunderbare Intimität des Seelenlebens, die den Menschen beim wahren Gebet überkommen kann. Es ist doch das Erleben, das Er­fahren in der Außenwelt, was uns uns selber entfremdet, auch ganz genau das gleiche, das in der Vergangenheit das in uns Mächtigere - unser bewußtes Ich - nicht hat auf­kommen lassen. Wir waren hingegeben den äußeren Ein­drücken, wir gingen auf in dem Mannigfaltigen des äußeren Lebens, was uns zerstreut und uns nicht zur Sammlung kommen läßt. Das ist aber dasselbe, was die mächtigere, stärkere Gotteskraft in uns nicht zur Entfaltung kommen ließ. Jetzt aber, wo wir dies in einer solchen Stimmung der Gottinnigkeit in uns entfalten, fühlen wir uns in uns selber nicht hingegeben an die zerstreuenden Wirkungen der Außenwelt. Das ist es, was uns mit jener unsäglichen, wun­derbaren Wärme des In-sich-seins erfüllt wie mit einer inneren Seligkeit, was wirkliche innere Gottdurchwärmung genannt werden kann. Und wie die Wärme im Kosmos es ist, welche bei den höheren Wesen als Innenwärme physisch auftritt, und dadurch aus den niederen Wesen, welche die gleiche Wärme haben wie die Umgebung, die höheren We­sen erst gestaltet; wie diese physische Wärme das Wesen materiell in sich verinnerlicht, so ist es die durch das Gebet erzeugte Seelenwärme, die aus einem Seelenwesen, das sich in der Außenwelt verliert, ein solches macht, das sich in sich selber zusammenschließt. Wir erwarmen in dem Gott-Gefühl in uns im Gebet; wir erwarmen nicht nur, wir fin­den uns intim in uns selber.

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Wenn wir dann auf der anderen Seite an die Dinge der Außenwelt herantreten, so erscheinen sie uns im Grunde genommen immer mit dem durchmischt, was man nennen kann « dunkler Schoß des Zukünftigen ». Denn wer genauer die Dinge betrachtet, muß sich sagen: In allem, dem er ent­gegengeht in der Außenwelt, ist immer ein Zukünftiges. Überall sozusagen stößt uns etwas zurück, wenn wir Furcht und Angst vor dem haben können, was uns treffen kann. Wie ein dichter Schleier steht die Außenwelt vor uns. Wenn wir aber das Ergebenheitsgefühl, die Gebetsstimmung ent­wickeln gegenüber dem, was aus dem dunklen Schoß der Zukunft uns entgegentritt, dann können wir erfahren, wie wir allen Wesen der Außenwelt gegenübertreten können mit dem Gefühl derselben Sicherheit und Hoffnung, das uns aus dem Ergebenheitsgefühl strömt. Wir können uns dann allen Dingen gegenüber sagen: Weisheit der Welt ist es, die uns entgegenleuchten wird! Während uns sonst aus allem, dem wir gegenübertreten, Finsternis anstarrt, und die Finsternis in die Empfindung hinein tritt, werden wir jetzt sehen, wie durch das Ergebenheitsgefühl in uns die Empfindung ersteht, daß im Grunde genommen nur durch das, was wir in der Seele als das Höchste ersehnen und be­gehren können, weisheitsvoller Gehalt der Welt uns aus allem entgegenleuchten wird. - So können wir sagen: Es ist die Hoffnung auf Erleuchtung aus der ganzen Umwelt, die uns wird aus der Ergebenheitsstimmung des Gebetes. Und wie die Finsternis uns in uns selber zusammenschließt, wie die Finsternis uns Verlassenheit und Enge schon im Physischen zeigt, wenn wir in Nachtesdunkel irgendwo stehen und Schwarzes um uns herum sich ausbreitet, so fühlen wir, wenn der Morgen kommt und das Licht uns

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entgegentritt, uns aus uns selber herausversetzt; aber nicht so, daß wir uns verlieren würden, sondern so, wie wenn wir unserer Seele bestes Wollen, unserer Seele bestes Sehnen jetzt in die Außenwelt hineintragen könnten. So fühlen wir jenes Hingegebensein an die Welt, das uns uns selber entfremdet, überwunden durch die Gebetswärme, die uns mit uns selber zusammenschließt. Und wenn wir die Ge-betswärme in sich zur Entfaltung bringen bis zum Ergeben­heitsgefühl, welches das Gebet durdiströmen kann, dann entzündet sich die Gebetswärme zum Gebetslicht. Wir tre­ten jetzt neuerdings aus uns heraus und wissen: Wenn wir jetzt mit der Außenwelt uns vereinigen und die Blicke rich­ten auf alles, was in der Umwelt ist, dann fühlen wir uns nicht zerstreut und uns selber entfremdet in ihr; sondern dann fühlen wir, wie das, was unserer Seele Bestes ist, aus der Seele herausfließt, und fühlen uns vereint mit dem, was uns aus der Umwelt heraus entgegenleuchtet.

Diese beiden Gebetsströmungen lassen sich bildlich noch besser zum Ausdruck bringen als in Begriffen, so zum Bei­spiel wenn wir uns daran erinnern, was im Alten Testament von Jakob erzählt wird als jener mächtige, die Seele durch­wühlende Kampf des Jakob in der Nacht. Er erscheint uns so, wie wenn wir selber hingegeben sind der Mannigfaltig­keit der Welt, an die unsere Seele sich zunächst verliert, und die sie nicht zu sich selber kommen läßt. Wenn das Streben sich in sich zu finden dann doch erwacht, dann kommt der Kampf unseres höheren Ich gegenüber dem niederen Ich; dann wogen die Stimmungen auf und ab; dann aber arbei­ten wir uns durch gerade durch jene Gebetsstimmung, und es kommt zuletzt jener Augenblick, der uns gezeigt wird in der Erzählung bei Jakob dadurch, daß sich der innere

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nächtliche Kampf seiner Seele ausgleicht, erhellt und har­monisch wird, als ihm die Morgensonne entgegenleuchtet. So wirkt in der Tat das wahre Gebet in der menschlichen Seele.

Wenn wir so das Gebet betrachten, ist es frei von jeg­lichem Aberglauben. Denn dann ist es das, was unserer Seele allerbestes Teil zur Entfaltung, was unmittelbar in unsere Seele eine Kraft bringt. So angesehen ist das Gebet die Vorstufe der mystischen Versenkung, wie die mystische Versenkung selber die Vorstufe ist alles dessen, was wir Geistesforschung nennen können. Und es wird uns auch schon aus der Charakteristik des Gebetes erklärlich erschei­nen, was öfter hier erwähnt worden ist: daß wir im Grunde genommen eigentlich Irrtum über Irrtum auf unsere Seele laden, wenn wir glauben, wir könnten das Göttliche, so­zusagen den Gott, mystisch nur in uns selber finden. Diesen Fehler haben allerdings Mystiker und auch sonst christlich gesinnte Leute des Mittelalters vielfach gemacht. Sie haben ihn gemacht, weil die Gebetsstimmung gerade während der Zeiten des Mittelalters anfing sich zu durchtränken mit Egoismus; mit jenem Egoismus, durch den die Seele sich sagt: Ich will vollkommener und immer vollkommener wer­den und an nichts anderes denken als an dieses Immer-vollkommener-werden. Im Grunde genommen ist es nur ein Nachklang jener egoistischen Sehnsucht nach bloßer innerer Vollkommenheit, wenn eine verkehrte theosophische Strömung heute davon spricht, daß der Mensch, wenn er nur absehe von allem Außeren, den Gott in der eigenen Seele finden könne.

Wir haben ja gesehen, daß es zwei Gebetsströmungen gibt: die eine führt zur Erwärmung unseres Inneren, die

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andere führt im Ergebenheitsgefühl wiederum hinaus in die Welt und führt gerade zur Erleuchtung und zur wah­ren Erkenntnis. Wer so die Gebetsstimmung betrachtet, wird bald sehen, daß diejenige Erkenntnis, die wir uns mit den gewöhnlichen Mitteln des Verstandes erarbeiten, un­fruchtbar ist in gewisser Beziehung gegenüber einer anderen Erkenntnis. Wer Gebetsstimmung kennt, der kennt jene Zurückgezogenheit der Seele in sich selber, wo sie sich aus der Mannigfaltigkeit der Welt, die sie zerstreut, herauslöst, wo sie sich in sich selber sammelt und in sich selber das er­lebt, was man nennen kann: völliges In-sich-geschlossen-sein und Bei-sich-sein, sich erinnernd an das, was erhaben ist über den Augenblick, was aus Vergangenheit und Zu­kunft hereinragt in die Seele. Wer diese Stimmung kennt, wo windstill, sinnenstill unsere ganze Umgebung wird, wo nur die schönsten Gedanken und Empfindungen, deren wir fähig sind, die Seele im Innern zusammenhalten, wo viel­leicht auch diese zuletzt schwinden und nur eine Grund-empfindung in der Seele lebt, die nach zwei Seiten hinweist:

nach dem Gotte, der sich aus der Vergangenheit, nach dem Gotte, der sich aus der Zukunft ankündigt, - wer diese Stimmungen kennt und mit ihnen zu leben weiß, der weiß auch, daß es für die Seele solche großen Momente gibt, wo sie sich sagt: Ich habe jetzt einmal abgesehen von dem, was ich bewußt durch mein Denken zustande bringen kann an Gescheitheit, habe abgesehen von dem, was ich zustande bringen kann durch meine Empfindungen, habe abgesehen von jenen Idealen, welche ich fassen kann durch mein Wol­len, zu dem ich bisher erzogen worden bin; ich habe alles aus meiner Seele herausgefegt. Ich war hingegeben meinen höchsten Gedanken und Empfindungen; ich habe auch diese

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aus meiner Seele gefegt und nur die eben charakterisierte Grundempfindung leben lassen. Wer solche Empfindungen kennt, der weiß: Wie uns die Wunder der Natur entgegen­treten, wenn wir das reine Auge auf die Natur richten, so leuchten hinein in unsere Seele neue Empfindungen, die wir bisher nicht gewahr werden konnten. Willensimpulse und Ideale sprießen auf in der Seele, welche uns bisher fremd waren, so daß die fruchtbarsten Momente in dieser Grund-stimmung erwachen.

So kann uns das Gebet im besten Sinne des Wortes eine Weisheit geben, zu der wir im gegebenen Augenblick noch nicht fähig sind; es kann uns die Möglichkeit geben zu einem Fühlen und Empfinden, das wir uns bisher noch nicht an­erziehen konnten. Und wenn das Gebet unsere Selbst-erziehung weiter führt, kann es uns eine Stärke des Wollens geben, zu der wir uns bisher nicht haben aufschwingen kön­nen. Wenn wir allerdings eine solche Gebetsstimmung haben wollen, dann müssen es die größten Gedanken sein, die herrlichsten Empfindungen und Impulse, deren wir fähig sein können, die in der Seele aufleben, damit sie eine solche Stimmung aus ihr herausholen. Und da kann ja immer wieder nur hingewiesen werden auf diejenigen Gebete, die seit uralten Zeiten oder in den feierlichsten Momenten der Menschheit gegeben worden sind.

In meiner kleinen Schrift « Das Vaterunser » finden Sie eine Darstellung des Inhaltes, aus dem sich zeigt, daß aller­dings in die « sieben Bitten » eingeschlossen ist alle Weisheit der Welt. Mögen Sie immerhin denken: In diesem Büchlein wird von dem Vaterunser gesagt, daß nur derjenige die « sieben Bitten » dieses Gebetes verstehen kann, der die tie­feren Quellen des Weltalls kennt; der naive Mensch aber,

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der das Vaterunser betet, kann doch nicht diese Tiefen er­gründen! Das ist aber auch nicht notwendig. Damit das Vaterunser hat zustande kommen können, war notwendig, daß aus einer umfassenden Weisheit der Welt in Worte ge­prägt worden ist, was man « tiefste Welten- und Mensch­heitsgeheimnisse » nennen kann. Weil dies aber nun im Vaterunser enthalten ist, deshalb wirkt es in den Worten des Vaterunsers, auch wenn man noch lange nicht die Tie­fen dieses Gebetes versteht. Das ist aber gerade das Ge­heimnis eines wahren Gebetes, daß es hervorgeholt sein muß aus der Weltenweisheit. Und weil es daraus hervor­geholt ist, deshalb wirkt es, trotzdem wir es noch nicht ver­stehen. Wir können es verstehen, wenn wir zu den höheren Stufen hinaufsteigen, zu denen Gebet und Mystik vorberei­ten. Das Gebet bereitet uns für die Mystik, die Mystik für die Meditation, Konzentration vor, und von da werden wir hingewiesen zu dem eigentlichen Arbeiten für die Geistesforschung.

Es ist kein Einwand, wenn man sagt, man müsse doch dasjenige verstehen, was man betet, wenn das Gebet die richtige Wirkung haben soll. Das ist einfach nicht richtig. Wer versteht die Weisheit einer Blume, wenn er sich doch an einer Blume erfreuen kann? Man braucht die Weisheit der Blume nicht zu durchdringen, und dennoch kann sich Freude in die Seele ergießen, wenn man die Blume anschaut. Daß die Blume da ist, dazu war die Weisheit notwendig; daß wir uns an der Blume erfreuen, dazu ist zunächst die Weisheit nicht notwendig. Daß ein Gebet zustande kom­men kann, dazu ist die Weisheit der Welt notwendig; daß aber das Gebet, wenn es da ist, die charakterisierte Wärme und das charakterisierte Licht in die Seele gießt, dazu ist

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ebensowenig die Weisheit notwendig, wie sie notwendig ist, daß uns die Blume erfreuen kann. Aber etwas, was nicht durch die Weisheit der Welt zustande gekommen ist, könnte auch nicht jene Kraft haben. Schon an der Art, wie das Gebet wirkt, zeigt sich uns, welche Tiefe das Gebet hat.

Wenn die Seele wirklich sich entwickeln soll unter dem Einfluß eines solchen in ihr Lebenden, so kann immer wie­der darauf hingewiesen werden, wie an einem wahren Ge­bet ein jeder Mensch, auf welcher Stufe der Entwickelung und der Erziehung er auch steht, etwas haben kann. Der Naivste, der vielleicht nichts weiter weiß als das Gebet sel­ber, kann das Gebet auf die Seele wirken lassen. Das Gebet selber wird es sein, das Wirkungskräfte hervorrufen kann, welche ihn immer höher und höher bringen. Aber man ist nie fertig mit einem Gebet, wie hoch man auch steht; denn es kann immer noch die Seele um eine Stufe höher bringen, als sie schon ist. Und das Vaterunser ist ein Gebet, das nicht nur gebetet werden kann, sondern das auch mystische Stim­mung hervorrufen kann, und das auch der Gegenstand sein kann der höheren Meditation und Konzentration. Das könnte noch von manchen Gebeten gesagt werden. Aber allerdings ist aus dem Mittelalter etwas heraufgezogen, was das Gebet und die Gebetsstimmung heute etwas unrein ma­chen kann, und was man nur mit dem Worte « Egoismus »bezeichnen kann.

Wenn man durch das Gebet nur in sich selber hineinkom­men will, sich nur in seinem Innern vervollkommnen will - wie das auch mancher mittelalterliche Christ nur wollte, vielleicht auch heute noch will -, wenn man nicht auch durch die Erleuchtung den Blick wieder in die Welt, nach außen, senden will, dann stellt sich das Gebet dar als etwas,

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was zu gleicher Zeit den Menschen dazu bringt, sich von der Welt abzusondern, weltenfremd und weltenfern zu sein. Das war bei vielen Menschen der Fall, die das Gebet im Sinne von falscher Askese und Einsiedelei benutzten. Solche Menschen wollten nicht nur vollkommen sein im Sinne der Rose, die sich sdimückt, um den Garten schön zu machen, sondern sie wollten noch vollkommen sein wegen ihres eigenen Seibstes, um in der Seele die eigene Seligkeit zu finden. Wer in der Seele den Gott sucht und nicht wieder mit diesen gefundenen Kräften hinausgehen will in die Welt, der wird dann schon finden, daß sich solches Begin­nen in gewisser Weise rächt. Und Sie können finden in mancherlei Schriften, deren Verfasser nur die eine Gebets-stimmung kennen, die zur innerlichen Erwärmung führt -selbst bis zu jener Schrift des Michael de Molinos hin - ganz sonderbare Beschreibungen von allerlei Leidenschaften und Trieben, Versuchungen, Anfechtungen und wilden Gelüsten, welche die Seele gerade dann erlebt, wenn sie durch inner­liches Gebet, durch völliges Hingegebensein an das, was sie für ihren Gott hält, die Vollkommenheit sucht. Das ist nichts anderem zuzuschreiben als dem Umstande, daß der Mensch erfahren muß, wenn er einseitig den Gott sucht, einseitig sich der geistigen Welt nähern will, nur die Ge­betsstimmung entfalten will, die zur innerlichen Durch­wärmung führt, und nicht auch die andere, die zur Durch­leuchtung führt, daß dann die andere Seite sich rächt. Wenn ich nur mit Reue und Schamgefühl in die Vergangenheit blicke und sage: Es ist etwas Mächtiges in mir, das ich in meinen bisherigen Erlebnissen nicht ausgeprägt habe, von dem ich mich aber jetzt erfüllen lassen will, damit ich voll­kommen werde, dann tritt allerdings diese Stimmung nach

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dem Vollkommenen hin in gewisser Weise auf. Aber das andere, das Unvollkommene, das in der Seele sitzt, das macht sich als eine Gegenkraft geltend, stürmt um so wuch­tiger hervor und zeigt sich als Versuchung und Leidenschaft. In dem Augenblicke, wo sich die Seele ernstlich gefunden hat in innerlicher Durchwärmung und Gottinnigkeit, und den Gott wiederum in allen Werken, wo er sich offenbart, sucht, wo sie nach Erleuchtung strebt: da wird sie finden, daß sie schon herauskommt aus sich selber und sich entfernt von dem engen, egoistischen Ich, und daß Heilung, Sänfti­gung der inneren Leidenschaften und Stürme eintritt. Des­halb ist es so schlimm, wenn in der Gebetsstimmung, in der mystischen Versenkung oder Meditation sich ein Egoisti­sches beimischt. Wenn wir den Gott finden wollen und ihn dann nur in unserer Seele halten wollen, dann zeigt sich, daß unser Egoismus ungesund ist, daß er sich hinauf er­halten hat bis in die höchsten Bestrebungen unserer Seele; und dann rächt sich diese egoistische Stimmung. Nur dann können wir geheilt werden, wenn wir, nachdem wir den Gott in uns gefunden haben, dasjenige, was wir nun in uns haben, selbstlos über die Welt ausgießen in unseren Ge­danken, Empfindungen, in unserem Willen und in unseren Taten.

Man hört heute so oft - und es kann nicht genug davor gewarnt werden -, insbesondere auf dem Gebiete einer falsch verstandenen Theosophie: Du kannst das Göttliche nicht in der Außenwelt finden; der Gott lebt in dir selber! Gehe nur recht in dich selber hinein, dann wirst du den Gott in dir finden. - Ich habe sogar einmal jemanden sagen hören, der es liebte, seinen Zuhörern in der Art zu sdimei­cheln, daß er sie aufmerksam machte auf den Gott in der

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eigenen Seele: Ihr braucht gar nichts zu lernen und zu er­fahren über die großen Geheimnisse des Weltalls; ihr braucht nur in euch hineinzuschauen, da findet ihr den Gott in euch selber!

Dagegen muß gehalten werden etwas anderes, was erst zur Wahrheit führen kann. Ein mittelalterlicher Denker hat gegenüber dieser Stimmung, die richtig ist, wenn sie in ihren Grenzen gehalten wird, das richtige Wort gefunden. Wollen wir uns doch einmal darüber klar sein: Nicht jene Dinge sind die schädlichsten, die unwahr sind, denn das Unwahre wird sich der menschlichen Seele sehr bald als un­wahr zeigen. Das Schlimmste sind die Dinge, die unter ge­wissen Voraussetzungen wahr sind, und die, wenn sie unter falschen Voraussetzungen angewendet werden, etwas durch­aus Falsches darstellen. Es ist in gewisser Weise wahr, daß man den Gott in sich selber suchen muß; und weil es wahr ist, wirkt es um so schlimmer, wenn es nicht in gewissen Grenzen gehalten wird, in denen man es halten muß.

Ein mittelalterlicher Denker hat gesagt: Wer würde denn ein Werkzeug, das er benutzen will, überall draußen in der Welt suchen, wenn er ganz genau weiß, daß es in seinem Hause liegt? Er wäre ein Tor, wenn er das täte. Ein eben-solcher Tor aber ist der, der ein Werkzeug zur Gotterkennt­nis überall in der Welt draußen suchte, wenn es doch im Hause, in der eigenen Seele ist. Aber wohl gemerkt, es ist gesagt: das Werkzeug! Nicht den Gott selber suche man in der eigenen Seele. Der Gott wird mittels des Werkzeuges gesucht, und das Werkzeug wird man nirgends draußen finden. Das muß man in der Seele suchen - durch wahres Gebet, durch echte mystische Versenkung, durch Meditation und Konzentration auf den verschiedenen Stufen - und

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mit diesem Werkzeug herantreten an die Reiche der Welt:

Man wird den Gott überall finden; denn er offenbart sich, wenn man das Werkzeug hat, um ihn zu finden, in allen Reichen der Welt und auf allen Daseinsstufen. So müssen wir das Gottes-Werkzeug in uns selber suchen, dann wer­den wir überall den Gott finden.

Solche Betrachtungen wie diese über « das Wesen des Gebetes » sind heute nicht beliebt. Heute hört man etwa:

Nun, was sollte denn das Gebet an dem Lauf der Welt än­dern können, wenn wir um dieses oder jenes bitten? Der Gang der Welt geht doch nach notwendigen Gesetzen, die wir nicht ändern können! Wer wirklich eine Kraft erkennen will, muß sie da suchen, wo sie ist. Wir haben heute die Kraft des Gebetes in der menschlichen Seele gesucht und haben gefunden, daß sie etwas ist, was die Seele vorwärts bringt. Und wer da weiß, daß in der Welt der Geist es ist, der wirkt - nicht der phantastische, abstrakte, sondern der konkrete Geist -, und daß die menschliche Seele dem Reich des Geistes angehört, der wird auch wissen, daß nicht nur materielle Kräfte in der Welt nach äußerlich notwendigen Gesetzen wirken, sondern daß alles, was geistige Wesen­heiten sind, in der Welt auch dann wirkt, wenn die Wir­kungen dieser Kräfte und Wesenheiten für das äußere Auge und für die äußere Wissenschaft nicht sichtbar sind. Stärken wir also das geistige Leben durch das Gebet, dann brauchen wir die Wirkungen nur abzuwarten. Sie werden sich ein­stellen. Aber es wird erst der die Wirkungen des Gebetes in der äußeren Welt suchen, der zunächst selber die Kraft des Gebetes als Realität erkannt hat.

Wer das erkannt hat, der möge einmal folgendes Experi­ment machen. Er möge, nachdem er zehn Jahre seines Lebens

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die Kraft des Gebetes verachtet hat, auf dieses zehn-jährige, ohne Gebet verlaufene Leben zurückblicken; und möge zurückblicken auf einen zweiten Abschnitt, der auch schon vergangen ist, der wieder zehn Jahre dauerte, in wel­chem er die Kraft des Gebetes erkannt hat, und er möge beide Jahrzehnte vergleichen: er wird sehen, wie sich der Verlauf seines Lebens geändert hat unter dem Einfluß jener Kraft, die er mit dem Gebet in die Seele ergossen hat. Kräfte zeigen sich in ihren Wirkungen. Es ist leicht, Kräfte zu leugnen, wenn man ihre Wirkungen gar nicht hervorruft. Wie sollte der ein Recht haben, die Kraft des Gebetes zu leugnen, der gar nicht versucht hat, das Gebet in sich wirk­sam werden zu lassen! Oder glaubt man, daß derjenige die Lichtkraft kennt, der sie niemals entwickelte oder sich nie­mals ihr genaht hat? Eine Kraft, die in der Seele und durch die Seele wirken soll, lernt man nur erkennen in ihrem Ge­brauch.

Auf weitere Wirkungen des Gebetes einzugehen - das lassen Sie mich nur durchaus gestehen -, dazu ist die Gegen­wart, wenn man sich auch noch so vorurteilslos in sie hin-einstellt, noch gar nicht die rechte Zeit. Denn zum Begreifen dessen, daß ein Gemeindegebet, das heißt, das Zusammen-fließen jener Kräfte, die aus einer betenden Gemeinde sich ergeben, erhöhte Geisteskraft und damit erhöhte Kraft der Wirklichkeit hat, um das zu begreifen, sind die Elemente in unserem Zeitverständnis noch nicht herbeigetragen. Da­her begnügen wir uns mit dem, was heute als das innere Wesen des Gebetes vor unsere Seele getreten ist. Es genügt auch. Denn wer einiges Verständnis dafür hat, wird aller­dings hinauskommen über manches, was heute als Einwand gegen das Gebet so leicht erhoben wird.

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Wie sind doch diese Einwände? Sie gehen auf mancherlei. So wird man zum Beispiel sagen: Man vergleiche einmal einen tätigen Menschen der Gegenwart, der seine Kraft da­zu verwendet, seinen Mitmenschen in jedem Augenblick zu nützen, mit einem Menschen, der sich still in sich zurück­zieht und die Kräfte seiner Seele im Gebet verarbeitet:

müßig wird man ihn vielleicht nennen gegenüber dem Täti­gen! - Verzeihen Sie, wenn ich aus einem gewissen Gefühl für geisteswissenschaftliche Erkenntnis sage, daß es auch noch einen anderen Standpunkt gibt. Ich möchte ihn grotesk aussprechen, aber er ist nicht unbegründet. Allerdings wird der, der heute die Zusammenhänge im Leben kennt, be­haupten, daß mancher, der heute einen Leitartikel in dieser oder jener Zeitung schreibt, seinen Mitmenschen besser diente, wenn er betete und an der Vervollkommnung seiner Seele arbeitete, so grotesk das auch klingt. Man möchte her­beisehnen die Menschen, die sich heute davon überzeugen könnten, daß es gescheiter wäre, wenn sie beteten, statt daß sie Artikel schreiben. Es ließe sich das noch auf manche ge­rade moderne Beschäftigung des geistigen Lebens anwenden.

Aber auch zum Verständnis des ganzen Menschenlebens ist das Verständnis jener Kraft notwendig, die sich im Ge­bet auslebt, die sich uns insbesondere dann auch zeigen kann, wenn wir einzelne Gebiete des höheren geistigen Lebens in Betracht ziehen. Wer könnte denn verkennen, wenn er nicht nur in egoistisch einseitiger Weise das Gebet auffaßt, sondern in der weiten Art, wie wir es heute getan haben, daß das Gebet in dieser Art zum Beispiel ein Be­standteil der Kunst ist? Gewiß, es gibt in der Kunst auch eine andere Stimmung, die in der Komik, in der humo­ristischen Stimmung sich erhebt über das, was geschildert

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werden soll. Aber es gibt in der Kunst auch dasjenige, was sich gebetartig auslebt: die Ode, den Hymnus. Selbst in der Malerei gibt es so etwas, was man nennen kann ein « ge­maltes Gebet ». Und wer würde denn leugnen können, daß uns in einem gigantischen, herrlichen Dom etwas wie ein erstarrtes Gebet, das zum Himmel aufstrebt, entgegentritt?

- Man muß diese Dinge nur im Zusammenhange mit dem Leben begreifen können; dann wird man auch im ganzen Gebet, wenn wir es seinem Wesen nach betrachten, das­jenige sehen, was zu jenen Dingen gehört, die den Menschen aus der Endlichkeit und Vergänglichkeit seines Lebens hin-ausführen in das Ewige. Das haben insbesondere solche Leute gefühlt, die den Weg gefunden haben vom Gebet zur Mystik, wie der heute und bereits das vorige Mal erwähnte Angelus Silesius. Als er Mystiker geworden war, verdankte er die innige Wahrheit und die herrliche Schönheit, die warme Innigkeit und die leuchtende Klarheit seiner mysti­schen Gedanken - wie zum Beispiel die im « Cherubinischen Wandersmann » - der Vorschule des Gebetes, die auf seine Seele so mächtig gewirkt hatte. Und was ist es denn im Grunde genommen, was alle solche Mystik wie die des An­gelus Silesius durchströmt und durchleuchtet? Was ist das anders als Ewigkeitsstimmung, zu der das Gebet vorbe­reitet? Und etwas von jener Stimmung kann jeder Betende ahnen, wenn er durch das Gebet zur wahrhaften inneren Ruhe, zur Innerlichkeit, und dann wieder zur Befreiung von sich selbst gekommen ist; etwas von jener Stimmung, die den Menschen aufblicken läßt aus dem vorübergehen­den Augenblick zu der Ewigkeit, die Vergangenheit, Gegen­wart und Zukunft gerade in unserer Seele verbindet. Ob der Mensch es weiß oder nicht weiß als Beter: wenn er das

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Gebet schickt zu denjenigen Seiten des Lebens, in denen er seinen Gott sucht, wird er die Empfindungen, die Gefühle, die Gedanken, die Worte, in welchen seine Gebetsstimmung sich auslebt, von dem durchströmt haben, was an Ewig­keitsstimmung lebt in dem schönen Spruch des Angelus Silesius, der unsere heutige Betrachtung beschließen mag, und der im Grunde genommen wie ein göttliches Aroma, wie eine göttliche Süßigkeit jedes wahre Gebet durchleben kann, wenn auch oft unbewußt:

« Ich selbst bin Ewigkeit, wann ich die Zeit verlasse,

Und mich in Gott und Gott in mich zusammenfasse.»

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DER POSITIVE UND DER NEGATIVE MENSCH

In bezug auf das menschliche Seelenleben erblicken wir, wenn wir prüfend den Blick schweifen lassen von Mensch zu Mensch, die allergrößte Verschiedenheit. Wir haben auf typische Verschiedenheiten der Menschen und ihre Gründe in bezug auf das Seelenleben im Laufe dieser Vorträge hin­gewiesen; wir haben hingedeutet auf die Verschiedenheit der Menschenseelen in bezug auf Charakter, Temperament, in bezug auf andere Inhalte des Seelenlebens, Fähigkeiten, Kräfte und so weiter. Eine bedeutsame Verschiedenheit zeigen uns nun die Menschenseelen - und damit alle menschlichen Individualitäten - in bezug auf das, was in dem heu­tigen Vortrag betrachtet werden soll als der positive und der negative Mensch. Nun möchte ich mich gleich im Be­ginne des Vortrages dagegen verwahren, daß diese Dar­stellung, die ganz in dem Charakter der übrigen Vorträge gehalten sein soll, irgend etwas zu tun habe mit den dilet­tantischen, aber heute so gangbaren Darstellungen, welche diese Ausdrücke vom « positiven » und « negativen » Men­schen gebrauchen. Was im heutigen Vortrage gesagt wer­den wird, werden wir ohne jegliche Beziehung zu solchen Bezeichnungen lediglich aus sich selbst heraus begreifen müssen.

Wir könnten uns nun zunächst umsehen nach einer Art Definition, nach einer Art Begriffserklärung dessen, was ein positiver und negativer Mensch ist. Wenn wir eine solche Begriffsbezeichnung aufstellen wollten, könnten wir etwa sagen: Im Sinne einer wahrhaftigen und tiefer eindringenden

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Seelen- und Menschenlehre können wir als einen « posi­tiven » Menschen denjenigen bezeichnen, der gegenüber den auf ihn eindringenden äußeren Eindrücken die Festigkeit und Sicherheit seines Inneren bis zu einem gewissen Grade zu bewahren in der Lage ist; so daß er in diesem seinem Innern festumrissene Begriffe und Vorstellungen hat, eine gewisse Summe von Neigungen und Abneigungen, von Empfindungsimpulsen, in denen er nicht beirrt werden kann durch die Eindrücke, die im Außenleben in ihn ein fließen. Ebenso kann als ein positiver Mensch derjenige be­zeichnet werden, der für sein Handeln gewisse Triebe und Impulse hat, von denen er sich nicht durch jeden beliebigen Eindruck des Tages abbringen läßt. Und als einen « nega­tiven » Menschen könnten wir denjenigen bezeichnen, der leicht sich den wechselnden Eindrücken des Lebens hingibt, der stark ergriffen wird von diesen oder jenen Vorstellun­gen, die ihm bei diesem oder jenem Menschen, in dieser oder jener Versammlung auftauchen, und durch die er leicht ge­neigt wird, das, was er nach einer gewissen Seite hin ge­dacht, gefühlt und empfunden hat, einer Änderung zu unterwerfen und etwas anderes in seine Seele aufzunehmen. In bezug auf das Handeln könnten wir einen solchen Men­schen als einen negativen bezeichnen, der sich von seinen Trieben und Impulsen des Handelns leicht durch alle mög­lichen Einflüsterungen dieses oder jenes Menschen abbringen läßt.

Damit hätten wir so ungefähr etwas gewonnen in bezug auf den positiven und negativen Menschen, was uns eine Art Definition sein kann. Aber gerade solchen ins Leben doch tief einschneidenden Eigenartigkeiten der menschlichen Natur gegenüber können wir uns leicht überzeugen, daß

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wir mit Begriffserklärungen, mit Definitionen im Grunde genommen sehr wenig gewonnen haben, und daß das Stre­ben nach solchen möglichst bequemen Begriffsvorstellungen ein ziemlich eitles ist. Denn wenn wir von einer solchen abstrakten Begriffsdefinition heruntersteigen ins wirkliche Leben, so können wir sagen: Ein Mensch mit starken Trie­ben, mit starken Leidenschaften, die seit der Kindheit ein gewisses Gepräge angenommen haben, die gewohnheits­mäßig im Leben dieselben bleiben, ein solcher Mensch wird sozusagen an sich alles Mögliche von guten, von schlimmen Beispielen und Vorbildern haben vorübergehen lassen und wird bei dem bleiben, was seine gewohnten Triebe und Leidenschaften sind. Er wird sich eigensinnig vielleicht diese oder jene Vorstellungen und Begriffe über dieses oder jenes gemacht haben, und man wird ihm Grün und Blau an Tat­sachen und dergleichen vorbringen können: er wird bei seinen Vorstellungen bleiben, und es wird sich Hindernis über Hindernis auftürmen, um nur dieses oder jenes als eine ihn anders überzeugende Tatsache beizubringen. Ein solcher Mensch wäre ein sehr positiver Mensch, seine Posi­tivität würde ihn aber zu nichts führen, als stumpf und eindruckslos durch das Leben hindurchzugehen, nichts zu sehen und nichts zu hören, was seinen Lebensinhalt berei­chern und umfassender machen könnte. Einen anderen, der geneigt ist, in jedem Augenblicke in der hingebungsvollsten Weise neue Eindrücke aufzunehmen, der bereit ist, überall da, wo sich seinen gewohnten Vorstellungen gegenüber Tat­sachen ergeben, die ihn erschüttern, diese Vorstellungen zu korrigieren, einen solchen Menschen könnten wir - viel­leicht nach verhältnismäßig kurzer Zeit - einen ganz ande­ren werden sehen. Wir könnten sehen, wie er Epoche um

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Epoche seines Lebens durdimacht, von einem Inhalte seines Lebens zu einem andern eilt, und er könnte uns vielleicht nach einiger Zeit erscheinen als ein völlig Verwandelter gegenüber einer früheren Lebensepoche. Und wenn wir ihn vergleichen mit einem solchen, der stumpf und eindrucks-los durch das Leben geht, dann werden wir sagen können:

Er hat sein Leben besser angewendet als der andere. Aber wir müßten ihn aus den angedeuteten Charaktereigen­schaften heraus bezeichnen als einen negativen Menschen.

Wir könnten finden, daß irgend jemand mit einer robu­sten Natur, die sich gewohnheitsmäßig durch das Leben fortschleppt, durch die Mode der Zeit sich verleiten ließe, eine Reise durch ein Land zu machen, in welchem man große Kunstschätze sieht; aber er ist so positiv in all den Empfin­dungen, die er einmal in seiner Seele abgeladen hat, daß er an Kunstwerk und Kunstwerk vorbeigeht, höchstens ein­mal nachsieht im Baedeker, welches die bedeutendsten sind, und daß nach alledem - so « positiv » ist er -, wenn er nach Hause kommt, seine Seele gar nicht bereichert worden ist durch dieses Sichfortschleppen von Galerie zu Galerie, von schöner Landschaft zu schöner Landschaft. Es wäre also ein sehr positiver Mensch. Und es könnte einen Menschen geben, der ungefähr dasselbe durchmacht, aber mit einem solchen Charakter, daß er jedem einzelnen Bilde tief hingegeben ist, mit Enthusiasmus an jedes einzelne Bild sich verliert, so daß er unmittelbar, wenn er davor steht, sich selber ganz vergißt und ganz in dem lebt, was er sieht; und so bei dem nächsten Bilde, bei dem dritten und so weiter. So geht er mit einer Seele, die an jede Einzelheit hingegeben ist, durch das Ganze hindurch; aber weil er so jeder Einzelheit hin­gegeben ist, verwischt jeder nächste Eindruck den vorhergehenden,

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und wenn er zurückkommt, hat er doch nur ein Chaos in seiner Seele. Das wäre ein Mensch, entgegengesetzt in gewisser Beziehung dem ersten, dem positiven; er wäre ein sehr negativer Mensch.

So könnten wir in der mannigfaltigsten Weise Beispiele finden für positive und negative Menschen. Wir könnten als einen negativen Menschen denjenigen bezeichnen, der so viel gelernt hat, daß sein Urteil unsicher geworden ist gegenüber jeder Tatsache; daß er nicht weiß, was wahr ist und was falsch und zu einem Zweifler dem Leben und dem Wissen gegenüber wird. Er wäre ein negativer Mensch. -Ein anderer könnte dieselben und ebensoviele Eindrücke haben; aber er geht so durch das Leben, daß er die Ein­drücke verarbeitet und die Fülle der Eindrücke einzureihen weiß in die Fülle seiner von ihm aufgesammelten Weisheit. Er wäre ein positiver Mensch im besten Sinne des Wortes.

Ein Kind kann bis zur Tyrannei gegenüber den Erwach­senen positiv sein, indem es überall auf die in ihm fest-sitzende Natur fußt und alles, was dagegen spricht, abzu­weisen sucht. So kann es, indem es sich durch nichts beein­flussen läßt, sehr positiv sein. Und ein Mensch, der viel im Leben erfahren hat, durch mancherlei Irrtümer und Ent­täuschungen durchgegangen ist, er kann, trotzdem er viel erfahren hat, jedem Eindruck voll hingegeben sein, kann leicht aufzurichten und leicht niederzuschmettern sein; die­ser kann trotz großer Lebenserfahrungen ein negativer Mensch im Verhältnis zu einem Kinde sein. Kurz, erst wenn wir das Leben in seiner Mannigfaltigkeit, nicht nach Be­griffen, auf uns wirken lassen, wenn die Begriffe uns nur eine Art Leiter sind, um die Tatsachen und Ereignisse des Lebens auf den Sprossen dieser Leiter anzuhängen, nur

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wenn wir die Begriffe so betrachten, daß sie uns helfen, die Erscheinungen und Tatsachen des Lebens zu ordnen und zu regeln, können wir über so einschneidende Dinge als posi­tiver und negativer Mensch dem Leben gegenüber zurecht­kommen. Denn wir berühren damit in der Tat, indem wir auf diese Eigentümlichkeit der Menschenseele eingehen, etwas Allerwichtigstes. Die Sache wäre im Grunde genommen einfach, wenn man den Menschen nicht in der lebendigsten Weise zu denken hätte - wir haben das ja oftmals in diesen Vorträgen in seinem vollen Umfange hervorgehoben -lebendig darinnen stehend in dem, was wir « Entwickelung »nennen.

Wir sehen des Menschen Seele von Entwickelungsstufe zu Entwickelungsstufe eilen. Und wenn wir im wahren Sinne der Geisteswissenschaft sprechen, erscheint uns ja auch nicht dasjenige, was sich im Leben des einzelnen Menschen zwischen Geburt und Tod abspielt, als etwa gleichförmig verlaufend; denn wir wissen, daß dieses Leben zwischen Geburt und Tod nur die Wiederholung ist von vorher­gehenden Leben - und der Ausgangspunkt für nachfolgende Leben. Und wenn wir so das gesamte Menschenleben durch die verschiedenen Verkörperungen hindurch betrachten, kann es uns leicht einleuchtend sein, daß wenn für irgend einen Menschen in einem Leben zwischen Geburt und Tod die Entwickelung einmal langsamer verläuft, so daß er sein ganzes Leben hindurch auf denselben Charaktermerkmalen, auf demselben Vorstellungsinhalt beharrt, er dafür in einem anderen Leben um so mehr die Entwickelung nachzuholen hat, welche ihn zu anderen Stufen des menschlichen Seelen­lebens führt. Die Betrachtung des einzelnen Lebens bleibt eben überall im höchsten Grade unzulänglich.

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Wenn wir die Seele selber betrachten, wie sie sich uns in den vorhergehenden Vorträgen dargestellt hat, so kön­nen wir fragen: Wie kommen wir dieser Seele und ihrem Leben gegenüber zurecht mit den Andeutungen, die wir jetzt gewonnen haben über den positiven und negativen Menschen?

Wir haben in den früheren Vorträgen gezeigt, wie das Seelenleben des Menschen durchaus nicht ein chaotisches Auf- und Abwogen von Vorstellungen, Empfindungen und Begriffen ist, wie es dem ersten flüchtigen Blick erscheint, sondern wie wir drei Glieder dieser seelischen Wesenheit zu unterscheiden haben:

Zunächst das, was wir als das niederste Glied der mensch­lichen Seele bezeichnen müssen, und das wir genannt haben die « Empfindungsseele ». Wir finden diese Empfindungs­seele zunächst in ihrer, man möchte sagen, ureigensten Ge­stalt dann, wenn wir Menschen auf verhältnismäßig nied­riger Entwicklungsstufe betrachten; Menschen, die noch ganz hingegeben sind an das, was in ihnen an Leidenschaf­ten, Trieben, Begierden, Wünschen für das Dasein liegt, und die daher jedem aufsteigenden Wunsch, jeder aufstei­genden Begierde einfach folgen. Was wir als das Ich, als den eigentlichen selbstbewußten Kern der Menschenseele bezeichnet haben, ruht sozusagen für solche Menschen, die vorzugsweise in der Empfindungsseele leben, wie in einem wogenden Meere von Leidenschaften, Trieben, Begierden, von Sympathien und Antipathien, und wird jedem Sturm der menschlichen Seele gegenüber wie ein Sklave sich ver­halten. Ein solcher Mensch wird seinen Neigungen folgen, nicht indem er sie beherrscht, sondern indem er sich von ihnen beherrschen läßt. Er wird seinem unbestimmten inneren

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Verlangen nachgeben. Das Ich wird sich wenig heraus­heben aus dem Gewoge von Trieben, Begierden und Nei­gungen. Wenn sich die Seele weiter entwickelt, dann wird mehr und mehr deutlich, wie das Ich in einem starken Mit­telpunktsgefühl sich herausarbeitet.

Wir wissen, daß ein höheres Seelenglied, das ja bei jedem Menschen vorhanden ist, die Vorherrschaft gegenüber der Empfindungsseele antritt, wenn der Mensch eine Entwicke­lung durchmacht. Dieses zweite Seelenglied haben wir «Ver­standesseele » oder « Gemütsseele » genannt. Wenn der Mensch beginnt, nicht jeder Neigung und jedem Triebe ein­fach zu folgen, dann arbeitet sich heraus, was immer in ihm ist, was aber die Vorherrschaft antreten kann, wenn der Mensch anfängt, vom Ich aus seine Neigungen und Begier­den zu beherrschen, wenn sich in die wechselnden Eindrücke des Lebens dasjenige hineinmischt, was diese Eindrücke in ihm zu einem geschlossenen Innenleben machen kann. Da­her zeigt uns dieses zweite Glied der menschlichen Seele, die Verstandesseele, wenn sie vorherrscht, den Menschen in einem vertiefteren Zustande.

Sodann wiesen wir auf das höchste Glied der mensch­lichen Seele hin, auf die «Bewußtseinsseele », wo das Ich mit seiner ganzen Stärke hervortritt. Da kehrt sich das menschliche Innenleben wiederum nach außen, und die Vor­stellungen und Begriffe sind jetzt nicht nur dazu da, um über die Leidenschaften Herr zu werden, sondern auf dieser Stufe wird das ganze innere Seelenleben von dem Ich aus dirigiert, so daß es ein wissender Spiegel der Außenwelt wird. Wenn sich der Mensch zur Erkenntnis der Außenwelt erhebt, dann tritt die Bewußtseinsseele die Oberherrschaft in seinem Seelenleben an. Diese drei Seelenglieder finden

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wir bei jedem Menschen; nur ist das eine oder das andere in jedem Falle vorherrschend.

Nun haben uns die letzten Vorträge gezeigt, daß die Seele in ihrer Entwickelung noch weiter gehen kann. Schon im gewöhnlichen Leben muß ja die Seele weiter gehen, wenn der Mensch im wahren Sinne des Wortes ein Mensch werden will. Ein Mensch, der zu Antrieben seines Handelns nur erhalten könnte, was die äußeren Forderungen des Lebens ihm stellen, der nur das zu Impulsen seines Handelns hätte, wozu er getrieben wird durch Sympathie und Antipathie, der würde nicht das Bestreben haben, die reine Menschen­natur in sich zur Darstellung zu bringen. Erst wer sich er­hebt über die gewöhnlichen Forderungen, die ihm Sym­pathie und Antipathie einimpfen, zu sittlichen Idealen und Ideen, erst der sucht die reine Menschennatur darzustellen. Sittliche Ideen, ethische Vorstellungen müssen aufsteigen in der Menschennatur aus dem, was wir die geistige Welt nennen; denn durch unsere sittlichen Forderungen und ethi­schen Begriffe bereichern wir das Seelenleben mit neuen Elementen. Denn nur dadurch hat der Mensch eine « Ge­schichte », daß er in das Leben etwas hineintragen kann, was sein Inneres aus unbekannten dunklen Tiefen heraus-zieht und dem äußeren Leben einprägt. Ebenso würden wir niemals zu einem wirklichen Wissen über die Welten-geheimnisse kommen, wenn wir nicht die äußeren Erlebnisse gleichsam auffädeln könnten an den Ideen, die wir nicht in der äußeren Welt sehen können, sondern die wir aus unserem Geiste der Außenwelt entgegenbringen, und wo­durch wir erst die äußere Welt in der wahren Gestalt er­klären und begreifen können. Dadurch bringt der Mensch schon ein geistiges Element in sein Inneres hinein, bereichert

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die Seele mit jenen Elementen, die sie niemals aus dem bloßen äußeren Leben gewinnen könnte.

Wie wir in dem Vortrage «Was ist Mystik?» geschildert haben, kann der Mensch zu einem höheren Seelenleben da­durch aufsteigen, daß er sich für eine Weile willkürlich den Eindrücken und Anregungen der Außenwelt verschließt, seine Seele leer macht und dann sich dem hingibt, was in seiner Seele auffiammen kann, was - nach einem Ausdruck des Meisters Eckhart - nur überleuchtet wird als ein kleines Fünklein von den wechselnden Tageserlebnissen, was aber auffiammen kann, wenn der Mensch sich ihm in innerer Versenkung hingibt. Ein solcher Mystiker steigt auf zu einem Leben über das gewöhnliche Seelenleben hinaus; er vertieft sich in die Weltengeheimnisse dadurch, daß er das an Geheimnissen in sich selber zur Offenbarung bringt, was in seine Seele hineingelegt ist von diesen Weltengeheim­nissen. Und in einem folgenden Vortrage haben wir ge­sehen: Wenn der Mensch in Ergebenheit das Zukünftige erwartet, wenn er der Vergangenheit gegenüber sich so ver­hält, daß er ein Größeres in sich wohnen fühlt, als sich schon in ihm ausgebildet hat in seinem heutigen Dasein, dann wird er dazu gestimmt, das Größere, das über ihn hinaus-ragt, anzubeten. Wir haben gesehen, daß der Mensch im Gebet über sich selbst hinauswächst in seinem Innern, daß er sich erhebt zu etwas, was er außen nicht sehen kann, was aber über sein gewöhnliches Leben hinausgeht. Und endlich haben wir gesehen, daß durch die eigentliche geistesforsche­rische Schulung, welche die drei Stufen der Imagination, der Inspiration und der Intuition erreicht, der Mensch hin­einwächst in eine Welt, die dem gewöhnlichen Menschen so unbekannt ist, wie die Welt des Lichtes und der Farben

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dem blinden Auge unbekannt ist. - So haben wir ein Seelen-Wachstum gesehen, das über das normale hinausgeht, und wir blicken damit hinein in eine Entwickelung der mensch­lichen Seele durch die mannigfaltigsten Stadien hindurch.

Wenn wir den Menschen zwischen Geburt und Tod be­trachten, werden wir sagen: Die Menschen um uns herum sind in bezug auf ihre Entwickelung auf den verschieden­sten Stufen. Der eine Mensch zeigt uns, wenn er ins Dasein tritt, daß er die Anlage hat zu dieser oder jener Stufe; und wir sehen, daß ihm ein gewisses Maß zugewiesen ist, inner­halb dessen er die Seele zu einem gewissen Grade führen kann, um das, was er sich errungen hat, dann mitzunehmen, wenn er durch die Pforte des Todes geht, und in einem neuen Leben weiterzuführen. So können wir Menschen ihren Charakteren nach auf den mannigfaltigsten Stufen finden. Wenn wir diese Menschen dann betrachten, wie sie von Stufe zu Stufe schreiten, werden uns die beiden Vorstel­lungen vom positiven und negativen Menschen nicht nur so begegnen, daß wir sagen: der eine ist positiv, der andere ist negativ; sondern sie begegnen uns dann so, daß wir sie bei einem einzelnen Menschen in den aufeinanderfolgenden Entwickelungsstufen finden. Wir sehen einen Menschen, der im Beginne seiner Entwickelung stark hervortretende, eigen­sinnige Impulse in seiner Empfindungsseele hat, der sich uns zeigt mit bestimmten Trieben, Begierden und Leidenschaf­ten bei einem verhältnismäßig noch dunklen, kaum gefühl­ten Ich-Mittelpunkt. Ein solcher Mensch ist zunächst ganz positiv. Er geht als ein positiver Mensch durch das Leben. Wenn er in dieser Form ein positiver Mensch bleiben müßte, würde er überhaupt nicht vorwärts kommen. Der Mensch muß im Laufe seiner Entwickelung von einem positiven

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Menschen, der er in bezug auf gewisse Eigenschaften auf einer untergeordneten Entwickelungsstufe ist, zu einem negativen werden; denn das, was der Mensch in seine Ent­wickelung aufnehmen soll, muß an ihn herankommen kön­nen. Wer nicht sozusagen durch Unterdrückung gewisser positiver Eigenschaften, die in seiner Empfindungsseele ge­geben sind, sich bereit machen wollte, daß neue Eindrücke, die er noch nicht in seiner Seele hat, in ihn einfließen kön­nen und sich mit seiner Seele vereinigen, daß sie ein Inhalt der Seele werden; ein Mensch, der also nicht imstande wäre, über einen gewissen Grad von Positivität, den ihm die Natur ohne sein Zutun verliehen hat, sich hinauszuheben zu einer gewissen Negativität, um neue Eindrücke aufzu­nehmen, der könnte nicht weiter kommen.

Da liegt die Notwendigkeit ausgesprochen, daß in der Tat der Mensch im Verlaufe seiner Entwickelung positive Eigenschaften überwinden muß, sich sozusagen selber nega­tiv machen muß, damit er einen neuen Seeleninhalt aufneh­men kann. Damit aber berühren wir etwas, was gleichzeitig für das Seelenleben notwendig ist, und was in gewisser Weise auch eine Gefahr bedeuten kann. Wir berühren ein Kapitel unseres Seelenlebens, das uns so recht veranschau­licht, wie nur intime Seelenkunde uns sicher durch das Leben leiten kann. Denn es kann sich zeigen, wie der Mensch gar nicht vorwärts kommen kann, wenn er gewisse Gefahren des Seelenlebens scheuen würde. Und gewisse Gefahren sind beim negativen Seelenleben immer vorhanden; denn ein Mensch mit einem negativen Seelenleben ist den äußeren Eindrücken hingegeben. Der negative Mensch ist eben ein solcher, in welchen die Eindrücke einfließen, der eins wird mit den äußeren Eindrücken, sich mit ihnen vereinigt. Damit

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ist es aber schon gegeben, daß der negative Mensch nicht nur gute äußere Eindrücke aufnehmen kann, sondern auch schlimme und gefährliche. Was sich uns darstellt bei der Be­trachtung eines Menschen mit negativen Seeleneigentüm­lichkeiten, ist namentlich das Folgende:

Wer einen negativen Zug hat in seiner ganzen Seele, der wird, wenn er anderen Menschen gegenübertritt, leicht durch allerlei Dinge, die nichts zu tun haben zum Beispiel mit Vernunft und Urteil, hingerissen werden, dasjenige aufzu­nehmen, was von dem anderen Menschen ausgeht - nicht nur das, was sie ihm sagen, sondern auch das, was sie tun -, und nachzuahmen ihre Beispiele, ihre Handlungen; er wird leicht werden können wie die andern Menschen. Damit ist ein solcher negativer Mensch in die Möglichkeit versetzt zwar, den guten Eindrücken sich leicht hinzugeben, aber auch der Gefahr, daß jede mögliche schlechte Anregung von außen sich in seiner Seele so ablagern kann, daß er sich mit ihr identifiziert, und daß sie ein Glied seines Seelenlebens wird. Wenn wir von dem normalen Verlauf des Lebens aufsteigen zu dem, was der Kenner des geistigen Lebens weiß, was an geistigen Tatsachen und geistigen Wesenheiten in unserer Umgebung wirkt, dann muß gesagt werden, daß allerdings der Mensch mit negativen Seeleneigenschaften ge­rade für die ungreifbaren, unbestimmbaren, sich im äuße­ren Leben wenig offen zeigenden Eindrücke eine Hingabe hat und durch sie leicht beeinflußbar ist. Ein Beispiel: Es ist durchaus den Tatsachen des Lebens entsprechend, daß der Mensch ein ganz anderes Wesen wird, wenn er in größerer Gesellschaft ist, als wenn er allein ist; er wird in bezug auf sein ganzes Seelenleben für den genaueren Betrachter ein anderer in einer Gemeinschaft - und namentlich in einer

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tätigen Gemeinschaft, als wenn er allein ist. Wenn der Mensch allein ist, folgt er seinen eigenen Impulsen; dann wird auch ein schwaches Ich die Gründe für sein Handeln aus sich heraus suchen. In der Gemeinschaft gibt es aber immer eine Art « Massenseele »; da fließen die Triebe, Be­gierden, die Urteile und so weiter zusammen. Ein positiver Mensch wird sich nun nicht leicht dem hingeben, was da zusammenfließt; der negative Mensch wird aber jederzeit leicht beeinflußbar sein von dem, was jetzt als Massenseele bezeichnet worden ist. Daher kann man immer wieder er­leben, daß es zutrifft, was ein Dialektdichter mit ein paar Worten gesagt hat: es ist zwar grob gesagt, aber dem Leben gegenüber steckt doch ein Körnchen Wahrheit darinnen, wenn Rosegger sagt:

Oaner is a Mensch,

Zwoa san Leit',

San's mehra, san's Viecher.

Die Erfahrung kann man überall machen: Oft ist der Mensch wirklich klüger allein, als wenn er in Gemeinschaft ist; da ist er der Durchschnittsstimmung fast ganz ausgeliefert. Daher sehen wir ja so leicht, daß jemand in eine Versamm­lung geht mit ganz unbestimmten Empfindungen und Trie­ben; dann tritt ein Redner auf, der mit Begeisterung für etwas eintritt, was zunächst dem betreffenden Zuhörer viel­leicht ganz fern gelegen hat; der Redner selbst überzeugt ihn vielleicht nicht so stark als der allgemeine Jubel der übrigen Zuhörer. Er wird auch davon ergriffen und geht überzeugt hinaus.

Dieses Suggestive in der Massenstimmung spielt eine un­geheure Rolle im Leben. Das kann uns aber auch verdeutlichen,

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wo die Gefahren liegen gegenüber dem, was wir die negative Seelenstimmung nennen. Darauf beruht auch das Gefahrvolle aller Sektenbildung. Wozu man oft einen ein­zelnen Menschen nicht leicht bringen könnte, wenn man versuchte, ihn zu diesem oder jenem zu überzeugen, das ist verhältnismäßig leicht, wenn man eine Art von Sekte zu­sammen hat. Da ist immer eine Massenstimmung vorhan­den; da wirkt Seele auf Seele. Und da sind es besonders die sogenannten negativen Naturen, die ausgeliefert sind dem, was Massenstimmung, Sektenstimmung ist. Da liegen ganz gewaltige Gefahren für die negative Seele.

Wir können noch weiter gehen. Wir haben in den vor­herigen Vorträgen geschildert, wie sich die Seele durch die Entwickelung hinaufleben kann in höhere Regionen des geistigen Lebens. Und Sie finden in meiner Schrift « Die Ge­heimwissenschaft im Umriß » dargestellt, wie die Seele es machen muß, um eine gewisse Stufe in ihrer Entwickelung zu überschreiten und in höhere Gebiete hinaufzukommen. Da muß die Seele immer etwas unterdrücken, muß zunächst etwas Positives unterdrücken und muß sich offen machen für neue Eindrücke, muß sich gleichsam künstlich in eine negative Stimmung versetzen. Ohne dieses « künstlich sich in eine neue Stimmung versetzen», geht es gar nicht. Wir haben ja oft hervorgehoben, was der Geistesforscher tun muß, wenn er zu höheren Stufen des Daseins hinaufkom­men will. Was im gewöhnlichen Leben des Menschen beim Einschlafen eintritt, daß die Seele leer wird von äußeren Anregungen, dieses Versinken in den Schlaf muß der Gei-stesforscher willkürlich, bewußt herstellen. Er muß sich be­wußt in die Stimmung versetzen, wodurch alle äußeren Eindrücke des Tages aufhören, so daß die Seele ganz leer

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wird. Dann muß sich die Seele hingeben können den Ein-drücken, die zunächst, wenn der Betreffende im Beginne seiner Übungen steht, ganz neu sind; das heißt, er muß sich so negativ wie möglich machen. Und alles, was wir im mystischen Leben, im Erkennen der höheren Welten nen­nen « innere Beschaulichkeit », « innere Versenkung», das bringt im Grunde genommen negative Seelenstimmungen hervor. Das ist gar nicht zu umgehen. Wenn der Mensch die Anregungen der Außenwelt unterdrückt und bewußt einen Zustand herstellt, durch den er ganz in sich versenkt ist und nichts hineinläßt von dem, was ihn bisher als posi­tiver Mensch ausgefüllt hat, dann ist er in einem negativen, selbstbeschaulichen Zustand.

Ja, auch dann schon tritt etwas Ähnliches ein, wenn der Mensch die etwas bequemeren äußeren Mittel anwendet, die zwar ein höheres Leben nicht herbeiführen können, die aber dem, der in die höheren Welten hinaufsteigen will, eine gewisse Unterstützung gewähren: wenn er von dem, was sonst die positiven Triebe im Menschen auch animalisch fördert, übergeht zu einer besonderen Diät, zum Beispiel zur vegetarischen oder einer ähnlichen. Nicht dadurch, daß man Vegetarier wird oder dieses oder jenes nicht ißt, kann man sich in die höheren Welten hinaufbefördern; das wäre allerdings zu bequem, wenn der Mensch sich in die hohere Welt « hinaufessen » könnte; denn was in die höheren Welten hinaufführt, ist das Arbeiten an der eigenen Seele. Diese Arbeit wird aber erleichtert, wenn wir die äußere Leiblichkeit entlasten von den schwächenden Einflüssen, die eine gewisse Ernährung auf den Menschen haben kann. Wer ein höheres, geistiges Leben führen will, der wird sich über­zeugen, wie seine Kräfte wachsen, wenn er eine bestimmte

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Diät befolgt. Aber wenn man gewisse Nahrungsmittel fort-läßt, die dem Menschen das Positive, das robust Festlegende geben, so kommt man durch dieses Weglassen auch in eine Negativität hinein. Wer auf dem Boden wahrer, echter, nicht scharlatanhafter Geisteswissenschaft steht, der wird niemals leugnen, was einfach den Tatsachen gemäß mit einem wirklichen geistigen Leben in Verbindung stehen muß - auch schon durch äußere Dinge, welche mit einem geistigen Leben verbunden sind. Damit wird der Mensch in gewisser Weise in Gefahr kommen, auch den schlechten geistigen Einflüssen zugänglich zu werden. Wie wir, wenn wir uns geistesforscherisch bilden und uns leer machen von den Eindrücken des Tages, zugänglich werden den geistigen Tatsachen und Wesenheiten, die immer in unserer Um­gebung sind, und zwar den guten geistigen Mächten und Kräften zugänglich werden, die wir erst wahrnehmen ler­nen, wenn das Organ dafür offen ist, so werden wir auch den schlimmen geistigen Mächten und Kräften zugänglich; denn die sind damit verbunden. Genau so, wie wir auch mißklingende Töne hören, wenn wir wohllautende Töne hören wollen. Wenn wir in die geistige Welt eindringen wollen, müssen wir uns auch klar sein, daß wir nach der schlimmen Seite geistige Erfahrungen machen können. Wenn wir nur nach der negativen Seite hingegeben wären der geistigen Welt, könnte Gefahr über Gefahr unser geistiges Leben bedrohen.

Wenn wir zunächst noch absehen von der geistigen Welt und einer geistigen Entwickelung selber und uns auf den Horizont des gewöhnlichen Lebens stellen, so können wir schon fragen: Wie wirkt das auf den Menschen, was ihn zunächst negativ macht, zum Beispiel eine vegetarische

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Diät? - Wenn der Mensch einfach aus einem agitatorischen Eigensinn heraus Vegetarier wird, ohne ein sachgemäßes Urteil einzuholen, oder aus einem Prinzip heraus, ohne daß er in seiner seelischen Lebens- und Handlungsweise etwas ändert, dann wird dieses Übergehen zur vegetarischen Diät ihn unter Umständen recht sehr schwach machen gegenüber diesen oder jenen Lebenseinflüssen, und er wird vielleicht besonders in bezug auf gewisse leibliche Eigenschaften her-unterkommen können. Wenn aber jemand überzugehen hat zu einem Leben der Initiative, wenn er sich neue Aufgaben des Lebens zu setzen hat, die sich ihm stellen nicht aus dem äußeren Leben, sondern aus einem reichen, in sich ent­wickelten Seelenleben heraus, wenn er neuen Inhalt in sein Leben hineinbringt, dann kann es ihm ungeheuer nützen, wenn er auch in bezug auf die Diät in eine neue Lebens­weise eintritt und sich die Hindernisse, die aus der alten Diät kommen können, aus dem Wege schafft. Die Dinge sind in ganz verschiedener Weise wirksam; das zeigt sich aber nur für den, der das Leben intim betrachtet. Weil diese Dinge dem wahren Geistesforscher bekannt sind, darum betont er so stark, was hier schon oft betont worden ist: daß der wahre Geistesforscher niemand die Mittel geben wird, sich in die höheren Welten hinaufzuerheben, ohne ihn zu­gleich darauf aufmerksam zu machen, daß man nicht bloß die negativen Eigenschaften der Seele, die notwendig sind zum Empfangen neuer Eindrücke, nicht bloß Beschaulich­keit und Versenktsein in sein Inneres entwickelt, sondern zu gleicher Zeit dem Leben, das eine neue Stufe erklimmen soll, einen mächtigen, es haltenden und es ausfüllenden In­halt gibt. Wem man die Mittel an die Hand gibt, Kraft zu entwickeln, um in die geistige Welt hineinzuschauen, den

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würde man durch die damit verbundene Negativität auch in die Lage versetzen, allen möglichen schlimmen geistigen Kräften ausgesetzt zu sein. Wenn man aber bei jemand, der in die geistige Welt eindringen will, zugleich den guten Willen findet, sich aus den Mitteilungen der Geistesforscher heraus damit bekannt zu machen, was es in den höheren Welten gibt, dann wird ein solcher in keinem Augenblicke bloß der Negativität hingegeben sein; sondern er wird etwas haben, was die Seele auf einer höheren Stufe mit einem positiven Inhalt ausfüllen kann. Deshalb wird so oft betont, man solle nicht nur nach höheren Stufen der Seele suchen, sondern parallel gehen lassen ein sorgfältiges Stu­dieren dessen, was aus der Geisteswissenschaft heraus als Mitteilung gegeben werden kann. Daher wird gerade in der Geistesforschung berücksichtigt, daß der Mensch, wenn er neue Welten erleben soll, notwendig in eine Negativität hineinkommt.

Aber was wir so hervorrufen müssen, wenn wir die Seele bewußt entwickeln, das tritt uns an verschiedenen Menschen draußen im Dasein entgegen, weil ja nicht nur im gegen­wärtigen Leben die Seele eine Entwickelung durdirnacht, sondern schon in früheren Leben Entwickelungen durch­gemacht hat und bereits auf einer bestimmten Stufe ins Da­sein tritt. Wie wir im gegenwärtigen Leben von Stufe zu Stufe eilen und, wenn wir zu einer positiven Stufe kommen wollen, dazwischen negative Seeleneigenschaften ausbilden müssen, so können wir auch einen solchen Abschluß gehabt haben, als wir das letzte Mal durch die Pforte des Todes gingen und in ein nächstes Leben mit vorwiegend negativen oder auch positiven Eigenschaften eintraten. Was dazu an­getan ist, uns in das Leben mit positiven Eigenschaften hereintreten

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zu lassen, das wird uns so lassen, wie wir sind und wird ein Hemmschuh höherer Entwickelung sein; denn was uns an Anlagen zu positiven Eigenschaften gegeben ist, gibt einen scharf ausgeprägten Seelencharakter. Die Anlage zu einer negativen Seelenstimmung gibt uns zwar die Mög­lichkeit, daß wir zwischen Tod und Geburt viel in unser Seelenleben hineinführen; aber sie liefert uns auch all den Wechselfällen des Lebens aus, vor allem aber den wechseln­den Eindrücken, die wir von den anderen Menschen emp­fangen. Daher können wir besonders sehen, wenn ein Mensch mit negativer Seelenstimmung anderen Menschen gegenübertritt, wie die Eigenschaften dieser anderen Men­schen auf ihn abfärben. So kann ein negativer Mensch, wenn er einem Freunde oder jemandem, mit dem er sonst im Verhältnis einer Neigung steht, nahe tritt, wirklich er­fahren, wie er immer ähnlicher und ähnlicher dem anderen wird. Menschen mit negativer Eigenschaft in Ehe oder Freundschaft werden sogar die Schriftzüge des anderen an­nehmen. Wer das Leben so betrachtet, der wird sehen, wie die Schriftzüge des einen Ehegatten mit negativer Seelen-anlage immer ähnlicher werden den Schriftzügen des anderen.

So sind wir als negative Menschen den wechselnden Ein­flüssen anderer Menschen, namentlich derer, welchen wir nahe treten, hingegeben. Dadurch sind wir als negative Seelen sogar in gewisser Weise der Gefahr der Entselbstung ausgesetzt, so daß unser eigenes Seelenleben, unser eigenes Ich ausgelöscht werden kann. Das ist die Gefahr des nega­tiven Menschen.

Die Gefahr des positiven Menschen ist die, daß er Ein­drücke von den anderen Menschen nicht leicht aufnimmt,

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daß Eigenschaften des anderen nicht leicht in seine Seele hin-eingehen, daß er an allen anderen Menschen vorübergeht, sich nicht anschließen kann, nicht Freundschaften, nicht Nei­gungen im Leben finden kann. Es ist die Gefahr des posi­tiven Menschen, daß er verhärtet und verödet bleiben kann in bezug auf seine Seele. Aber auch sonst dem Leben gegen­über zeigt sich, wie die positiven Eigenschaften und nega­tiven Eigenschaften in der Seele wirksam sind. Und es ist tatsächlich tief hineinführend in das Leben, wenn wir die Menschen unter diesem Gesichtspunkte des positiven und des negativen Menschen betrachten; auch da, wo der Mensch der Natur gegenübersteht. Wer das Leben wirklich intim zu betrachten vermag, wird sogar an den Einflüssen der Natur auf den Menschen positive und negative Wirkungen unterscheiden können. Was wirkt denn vorzugsweise von einem Menschen auf den anderen? Was wirkt denn vor­zugsweise dann, wenn der Mensch äußere Eindrücke emp­fängt?

Es gibt eines, was in gewisser Weise die Seele immer positiver macht. Das ist für den gegenwartigen Menschen in seiner heutigen normalen Entwickelung - gleichgültig, welche Stufe des Lebens er erreicht hat -, das Urteil, die vernünftige Erwägung, das Sich-klar-werden über irgend­eine Situation, über irgendein Lebensverhältnis. Das macht immer in gewisser Weise positiv. Dagegen ist das Verlieren des gesunden, selbstbewußten Urteils immer etwas, was die Seele negativ macht, was Eindrücke in die Seele hinein-sendet, ohne daß sie sich durch positive Eigenschaften da­gegen wehren kann. Ja, selbst das können wir sehen, daß menschliche Eigenschaften, wenn sie heruntertreten in die Sphäre des Unbewußten, stärker auf den anderen Menschen

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wirken, als wenn sie von der Sphäre des gesunden Urteils ausgehen, von der Sphäre der ordentlichen, selbst­bewußten Urteilskraft. Man muß es ja leider im Leben vielfach erfahren - und gerade in einer geisteswissenschaft­lichen Bewegung: Wenn Mitteilungen aus der geistigen Welt gegeben werden, die durchaus gekleidet sind in eine festgeschürzte Logik, Mitteilungen, welche gerade in die­selben Formen des Urteils sich kleiden, die man auch sonst im Leben anerkennt, dann gehen die Menschen solchen Mit­teilungen sogar gern aus dem Wege; das lassen sich die Menschen leider durchaus nicht gefallen, daß in vernunft­gemäßer Weise, schön die Tatsachen nach Ursache und Wir­kung fortführend, Mitteilungen aus den geistigen Welten gegeben werden. Wenn diese Mitteilungen aber so gegeben werden, daß man sich in gewisser Weise des Urteils ent-schlagen kann, daß man das Urteil übersehen kann, dann sind die Menschen leicht zu gewinnen für Mitteilungen aus der geistigen Welt. Es gibt sogar Menschen, die im höchsten Grade argwöhnisch sind denen gegenüber, welche mit ge­sunder Vernunft Mitteilungen aus der geistigen Welt geben, dagegen sehr gläubig gegenüber solchen, welche im media­len Zustande, wie inspiriert von einer unbewußten Macht, derartige Mitteilungen in die Welt setzen. Diese Menschen, die nicht wissen, was sie sagen, die mehr sagen, als sie selbst wissen, sie finden sogar mehr Gläubige als die, welche genau wissen, was sie sagen. Es wird vielfach gesagt: Wie kann jemand über die geistige Welt etwas sagen, der nicht wenig­stens in einem halb außer-bewußten Zustande ist, so daß man sieht, daß er von einer fremden Macht besessen ist! Das gilt vielfach als Grund gegen die Mitteilung von Tat­sachen aus der geistigen Welt, die bewußt gegeben werden.

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Daher ist das Laufen zu Medien viel beliebter als dasjenige, was in den Formen und Begründungen einer gesunden Ver­nunft aus der geistigen Welt den Menschen geboten wird.

Wenn aber das, was aus der geistigen Welt kommt, her-untergetaucht wird in eine Region, wo die Bewußtheit aus­geschlossen ist, ausgeschlossen wird, ist immer die Gefahr vorhanden, daß es auf die negativen Seeleneigenschaften wirkt; denn da treten immer die negativen Eigenschaften in Kraft, wo etwas aus dunklen, unterbewußten Gründen an den Menschen herantritt. Wenn wir das Leben genauer betrachten, können wir immer wieder sehen, daß der Düm­mere durch seine positiven Eigenschaften eine stärkere Wir­kung selbst auf den Weiseren hat, wenn dieser sehr leicht demjenigen verfällt, was aus einer nicht so gesunden Ver­nunft, wie er selbst sie hat, aus irgend welchen dunklen Tiefen zutage gebracht wird. Daher können wir es begrei­fen, wie im Leben feinere Naturen mit einer fein ausge­arbeiteten Vernunft, ausgeliefert sind Leuten mit einem robusten Vorstellungsvermögen, die alles aus ihren Trieben und Neigungen heraus behaupten. Man würde das Leben durchaus verstehen, wenn man noch weiter ginge. Man würde dann auch sehen, wie sich die merkwürdige Tatsache darstellt, daß einem Menschen jemand gegenübertreten kann, der nicht nur seine gesunde Vernunft zuweilen ver­leugnet, sondern der in bezug auf seine Vernunft angekrän­kelt ist und aus einem angekränkelten Bewußtsein heraus dieses oder jenes behauptet. Solange das Krankhafte nicht bemerkt wird, sind feinere Naturen solchen Menschen, welche aus einer krankhaften Seelenverfassung etwas be­haupten, ungemein stark ausgeliefert. Alle diese Dinge ge­hören zu einer wirklichen Lebensweisheit: und wir können

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sie nur richtig ins Auge fassen, wenn wir uns klar sind, daß der Mensch, der nach der einen Seite hin positive Seelen­eigenschaften hat, auch namentlich für die gesunde Ver­nunft gar nicht zugänglich zu sein braucht, daß dagegen ein Mensch mit negativen Eigenschaften dem zugänglich ist, wofür er nichts kann, und worin die Vernunft gar nicht hineinleuchten kann. Diese Dinge müssen für eine feinere Seelenkunde durchaus berücksichtigt werden.

Aber auch wenn wir nicht Eindrücke von Menschen in Betracht ziehen, sondern jene Eindrücke, die von der son­stigen Umgebung des Menschen in die Seele kommen, ins Auge fassen, können wir Wichtiges und Bedeutungsvolles gewinnen, wenn wir von dem Gesichtspunkt des positiven und des negativen Menschen ausgehen. Denken wir uns zum Beispiel, irgendein Forscher bearbeitet ein ganz be­stimmtes Gebiet, und nehmen wir an, er ist ein sehr frucht­barer Forscher, der viele einzelne Tatsachen der äußeren Welt verarbeitet, rein tatsachenmäßig. Dadurch wirkt er zum Heile der Menschheit. Nun aber verbindet er diese Tatsachen nach den Vorurteilen seiner Seele, nach alle dem, was er aus Erziehung und aus seinem vorhergehenden Leben gewonnen hat, durch eine bestimmte Theorie und Welt­anschauung, die vielleicht gar nichts anderes darstellt als eine ganz einseitige Auslegung der Tatsachen. Dieser Mensch wird mit den Begriffen und Ideen, die er aus den Tatsachen gewonnen hat - wenn er sie nur selbst durch sein eigenes Nachdenken gewonnen hat -, durchaus etwas haben, was in gesundender Weise auf seine Seele wirken kann; denn es ist dadurch, daß er es sich selbst als seine Weltanschauung erarbeitet hat, etwas, was seine Seele mit positiver Stim­mung erfüllt. Nehmen wir aber an, es kommen jetzt Bekenner

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und Anhänger, die nicht an den Tatsachen selbst sich die Ideen erarbeiten, sondern sie hören oder lesen; die nicht jene Gefühle haben, welche sich der betreffende Forscher im Laboratorium und Kabinett erarbeitet hat: bei einem ganzen Heere von Anhängern kann das alles negativen Seeleneigenschaften entsprechen. Dasselbe Glaubensbekennt­nis können wir bei einem Schulhaupt, das einer einseitigen Richtung sich hingibt, als die Seele positiv machend an­schauen; und bei einem ganzen Heere von Anhängern, die nur nachbeten, womit der andere seine Seele erfüllt hat, kann dasselbe durchaus negativen Eigenschaften entspre­chen und ungesund wirken, kann sie immer schwächer und negativer machen.

Das ist etwas, was uns durch die ganze Geschichte des menschlichen Geisteslebens auffallen muß. Wir können auch heute sehen, wie Menschen mit einer ganz materialistisch-mechanistischen Weltanschauung, die sie sich selbst mit Fleiß aus ihren Tatsachen erarbeitet haben, durchaus frische, erfreuliche, positive Naturen sind, die uns als entzückende Charaktere entgegentreten. Bei ihren Anhängern aber, die im Grunde genommen in ihren Köpfen dieselben Vorstel­lungen tragen, die sie aber nicht selbst gewonnen haben, da zeigen sich diese Vorstellungen entsprechend einer unge­sunden, negativen, schwächenden Seelenverfassung. Deshalb können wir die Tatsache verzeichnen, daß es ein Unter­schied ist, ob man sich eine Weltanschauung selber erwirbt oder sie bloß annimmt: das eine Mal entspricht sie posi­tiven, das andere Mal negativen Seeleneigenschaften. Diese Dinge kreuzen sich durchaus überall im Leben.

So können wir sehen, wie uns unsere Stellung zur Welt sowohl positiv wie auch negativ machen kann. Negativ

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machen kann uns zum Beispiel eine rein theoretische Natur-betrachtung; überhaupt das, was wir nicht sehen können. Aber um eine gewisse Stufe zu erreichen, müssen wir auch Negatives in uns hineinbringen. Es muß auch theoretische Naturerkenntnis geben. Man darf sich aber deshalb nicht der Einsicht verschließen, daß theoretische Naturerkenntnis

- das Systematisieren der Tiere, Pflanzen, Mineralien, und was daraus folgt als Naturgesetze in Begriffen und Ideen -, auf unsere Seele so wirkt, daß wir mit unserem negativen Charakter dem hingegeben sind. Dagegen wirkt alles, was wir charakterisieren können, als Aufnehmen der Natur im Ganzen und Großen, mit lebendigem Gefühl, so auf unsere Seele, daß es die positive Seelenstimmung wachruft; zum Beispiel das Entzücktsein über die Pflanzenblüte, die wir nicht zergliedern, sondern in ihrer Schönheit auf uns wirken lassen, das Hingegebensein an die Morgenröte, die wir nicht astronomisch prüfen, sondern in ihrer glanzvollen Herr­lichkeit betrachten. Denn bei allem, was wir aus irgendeiner Weltanschauung aufnehmen, sind wir nicht mit der Seele dabei; wir lassen es uns diktieren von anderen. Aber wir sind mit unserer ganzen Seele dabei, wenn wir entzückt oder abgestoßen sein können von den Naturerscheinungen. Was wahr ist an der Natur, das kümmert sich nicht um unser Ich; aber was uns entzücken oder abstoßen kann, das muß sich um unser Ich kümmern; denn je nachdem unser Ich ist, gehen wir entzückt oder abgestoßen an der Natur vorbei.

So können wir sagen: Das lebendige Sicheinfügen in die Natur kultiviert in uns die positive Stimmung; das Theo­retisieren über die Natur kultiviert negative Seelenstim­mung. Das aber wieder verschränkt sich mit dem, was vorher

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gesagt worden ist: daß derjenige, der zuerst eine Reihe von Naturerscheinungen zergliedert, viel mehr positiv wirkt als der, der die Erkenntnisse des anderen aufnimmt und lernt. Das sollte man in aller wahren Pädagogik berück­sichtigen. Und damit hängt zusammen, daß überall da, wo man ein Bewußtsein gehabt hat von den Dingen, die jetzt dargestellt worden sind, darauf gesehen wurde, daß der Mensch niemals nur die negativen Eigenschaften kultiviert in der Seele. Warum hat Plato vor die Pforte seines philo­sophischen Tempels die Worte geschrieben: Nur wer mit der Geometrie bekannt ist, solle eintreten? Das geschah aus dem Grunde, weil Geometrie, Mathematik zu denjeni­gen Betätigungen des menschlichen Seelenlebens gehören, die man gar nicht in Wahrheit auf Autorität hin annehmen kann. Geometrie ist etwas, was man wirklich mit der inne­ren Seele durchdringen muß, was man sich erarbeiten muß und was man immer nur durch eine positive Seelentätigkeit erringen kann. Würde man das heute berücksichtigen, so würde es einen großen Teil der Weltanschauungssysteme, die die Welt heute durchschwirren, gar nicht geben. Denn wer da weiß, wie man sich ein solches Begriffssystem wie das geometrische positiv erarbeitet, der hat Respekt vor der inneren Tätigkeit des Menschen. Wer zum Beispiel Haeckels « Welträtsel » liest und keinen Begriff hat, wie man sich so etwas erarbeitet, der wird leicht ein neues Weltanschau­ungssystem produzieren können. Er braucht dazu nur die Begriffe ein wenig zu ändern; dabei arbeitet er aber aus lauter negativer Seelenstimmung heraus.

So liegt für einen Menschen etwas das Positive unbedingt Kultivierendes in der Geisteswissenschaft oder Anthropo­sophie. Wenn der Mensch nach den heute beliebten Methoden,

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zum Beispiel in Lichtbildern oder anderen Demonstra­tionen, diese oder jene Errungenschaften der Gegenwart vorgeführt erhält, diese oder jene Tiere oder Naturerschei­nungen in Lichtbildern sehen kann, dann ist er ganz passiv dem hingegeben, und seine Seelenstimmung ist negativ; er braucht gar keine positiven Eigenschaften zu entwickeln, er braucht gar nicht nachzudenken. Man kann dabei dem Menschen zum Beispiel die verschiedenen Phasen eines über das Gebirge herabgleitenden Gletschers vorführen und an­deres. Das ist ein Beweis dafür, wie man heute die negativen Eigenschaften der Menschen liebt. So einfach hat es die Anthroposophie nicht. Sie kann höchstens ihre Dinge sym­bolisch in Lichtbildern vorführen. Für die Dinge, welche in die geistige Welt hinaufführen, gibt es kein anderes Ein­gangstor als das menschliche Seelenleben. Wer wirklich fruchtbar in die Geisteswissenschaft eindringen will, muß es daher schon hinnehmen, daß ihm über die wichtigsten Sachen gar nichts demonstrativ vorgeführt wird. Er ist dar­auf angewiesen, daß er in seiner Seele selber mitarbeitet, so daß er die positivsten Stimmungen aus der Seele heraus-lösen muß. Deshalb ist aber die Geisteswissenschaft im emi­nentesten Sinne dazu geeignet, die positiven Eigenschaften der Menschenseele zu kultivieren. Darin liegt auch das Ge­sunde einer solchen Weltanschauung, die gar keinen anderen Anspruch macht, als das Wachrufen der in der menschlichen Seele liegenden Kräfte. Indem Anthroposophie appelliert an ein in jeder Seele Selbsttätiges, ruft sie das heraus, was in der Seele selbst verborgen liegt, um zu durchdringen alle Säfte und Kräfte des Leibes, und was im vollsten Sinne ge­sundend wirkt auf den ganzen Menschen. Und da die An­throposophie nicht an etwas anderes appelliert als an die

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gesunde Vernunft, die nicht durch Massensuggestion her­vorgerufen werden kann, sondern nur durch das Verständ­nis des einzelnen, und da sie auf alles verzichtet, was durch Massensuggestion hervorgerufen werden kann, so rechnet sie gerade mit den positivsten Seeleneigenschaften des Men­schen.

Damit haben wir ungeschminkt zusammengetragen, was uns zeigt, wie der Mensch unter den beiden Strömungen des Lebens, dem Positiven und Negativen, steht. Der Mensch kann sich zu höheren Stufen nicht anders entwickeln, als daß er eine untere positive Stufe verläßt, sich in eine negative Stimmung versetzt und in dieser Stimmung einen neuen Inhalt aufnimmt und sich so damit durchsetzt, daß er wieder auf einer höheren Stufe positiv wirksam werden kann. Wer die Natur richtig zu beachten versteht, der weiß, wie es die Weisheit der Welt macht, um den Menschen von einem Positiven zu einem Negativen und von einem Nega­tiven wieder zu einem neuen Positiven zu führen.

Es ist schön, von diesem Gesichtspunkt aus eine Einzel­heit zu betrachten, zum Beispiel die berühmte Definition des Aristoteles über das Tragische. Eine Tragödie, sagt er, führt uns vor eine abgeschlossene Handlung in der Weise, daß bei dem Zuschauer ausgelöst werden Furcht und Mit­leid, aber so, daß Furcht und Mitleid eine Katharsis, eine Läuterung durchmachen. Der Mensch, der mit allem ge­wöhnlichen Egoismus ins Dasein tritt, ist in seinem Egois­mus zunächst sehr positiv; er schließt sich in sich ab, er ver­härtet sich. Man wird zunächst in gewissem Sinne sehr negativ, wenn man mit den anderen Menschen ihr Leiden mitfühlt, ihre Freude empfindet wie die eigene. Man wird in gewissem Sinne dadurch negativ, daß man aus seinem

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Ich herausgeht und Mitleiden, Mitfühlen entwickelt. Und man wird auch negativ dadurch, daß man sich vertieft in das, was wie ein unbestimmtes Schicksal über einem Men­schen waltet; daß man sich vertieft in das, was aus den Handlungen eines Menschen, mit dem wir sympathisieren, morgen werden kann. Oder wer kennt nicht jenes Beben, das wir einem Menschen gegenüber haben, der irgendeiner Verrichtung zueilt, so daß ihn vielleicht morgen ein Un­glück treffen kann, das wir voraussehen, während er aus seinen Impulsen heraus nicht anders kann, als diese Hand­lung vollziehen. Wir fürchten uns vor dem, was eintreten mag. Dadurch werden wir aber in eine negative Seelen-stimmung versetzt; denn Furcht ist eine negative Seelen-stimmung. Aber wir würden teilnahmslos werden gegen­über dem Leben, wenn wir nicht mehr fürchten könnten mit dem, was einer unbestimmten Zukunft entgegengeht. So werden wir negativ durch Mitfühlen und Furcht. Damit wir aber 2positiv werden können, führt uns die Tragödie das Bild eines Helden vor, an dessen Handlungen wir Mitgefühl empfinden sollen, und dessen Schicksal uns zunächst so ent­gegentritt, daß unsere Furcht erregt wird; aber zu gleicher Zeit wird uns durch die ganze Abgeschlossenheit der Hand­lung das Bild des Helden so vorgeführt, daß Furcht und Mitleid sich läutern, daß sie aus negativen Eigenschaften sich umwandeln in harmonische Befriedigung, die wir an dem Kunstwerk haben und wiederum in das Positive sich herauferheben.

So stellt uns die Definition des alten griechischen Philo­sophen an dem Kunstwerk dar, wie die Kunst ein Element im Leben ist, das einer notwendigen negativen Seelen-stimmung entgegenkommt, um sie umzuwandeln ins Positive.

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Der künstlerisie Schein führt uns auf eine höhere Stufe hinauf in allen seinen Gebieten, wo wir zunächst negativ werden müssen, um aus einem unentwiekelten Seelenleben herauszukommen. In der Schönheit müssen wir zunächst dasjenige anschauen, was sich uns entgegenstellen soll, weil wir sonst nicht über unsere gegenwärtige Stufe hinauskommen würden. Dann aber überzieht sich auch das andere Leben durchaus mit dem Glanz einer höheren Seelen­stimmung, wenn wir zuerst durch die Kunst auf eine höhere Seelenstufe heraufgehoben worden sind.

So sehen wir, wie nicht nur im Leben des einzelnen, son­dern wie auch im Gesamtleben der Menschheit das Positive und Negative abwechselt, wie es immerzu beiträgt zur Er­höhung des einzelnen Menschen von Inkarnation zu Inkar-nation, aber auch des Lebens der ganzen Menschheit. Wir könnten leicht, wenn wir dazu Zeit hätten, zeigen, wie es positive Zeitalter und Epochen gegeben hat; wir könnten ganze Zeitalter als positiv geschichtliche Menschheitszeit-alter beschreiben, andere als negative und so weiter. In alle einzelnen Sphären des Seelenlebens, und damit des Men­schenlebens überhaupt, leuchtet die Idee des Positiven und Negativen hinein. Sie tritt nicht so auf, daß nun der eine Mensch ein positiver und der andere ein negativer ist; son­dern es geht jeden Menschen an. Jeder muß auf den ver­schiedenen Stufen des Daseins durch positive und negative Zustände hindurchgehen. Erst wenn wir die Sache so er­blicken, wird sie uns eine Lebenswahrheit und dadurch die Grundlage zu einer Lebenspraxis. Daher kann sich uns auch bei dieser Betrachtung ein Wort bestätigen, das wir an die Spitze und an den Schluß eines dieser Vorträge gestellt haben, das Wort des alten griechischen Philosophen Heraklit,

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den man, weil er so tief in das menschliche Leben hinein-zuschauen vermochte, den «Dunklen » genannt hat: « Der Seele Grenzen magst du nimmer finden, und wenn du auch alle Straßen durchliefest; so weit sind ihre Horizonte!»

Nun könnte jemand kommen und sagen: Dann ist alle Seelenforschung vergeblich! Denn werin die Seele so weit ist, daß ihre Grenzen nirgends zu finden sind, dann kann sie keine Forschung ermessen, und man könnte verzweifeln an ihrer Erkenntnis! Das wird aber nur ein negativer Mensch sagen. Ein positiver Mensch würde hinzufügen:

Gott sei Dank, daß dieses Seelenleben so weit ist, daß man es mit keiner Erkenntnis umspannen kann; denn da­durch ist es geeignet, daß wir alles, was wir heute in un­serer Seele mit der Erkenntnis umspannen, morgen über­schreiten können und so zu höheren Stufen hinaufeilen können! Seien wir froh, daß das Seelenleben in jedem Augenblicke unserer Erkenntnis spottet. Wir brauchen ein unbegrenztes Seelenleben; denn die Perspektive ins Un­begrenzte hinein gibt uns die Hoffnung, daß wir das Posi­tive jeden Augenblick überschreiten können, daß das Seelen-leben von Stufe zu Stufe eilen kann. Gerade die Grenzen-losigkeit und Unerkennbarkeit des Seelenlebens gibt uns deshalb die bedeutsamste Perspektive für unsere Zukunfts­hoffnung und Zukunftszuversicht. Weil wir niemals die Grenzen der Seele selbst finden können, ist die Seele fähig, die Grenzen zu überschreiten und immer höhere und höhere Stufen zu ersteigen.

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HINWEISE

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17 Goethe: Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns. 1805, «Antikes» und «Schönheit»

32 Eliphas Levi: Dogme et Rituel dc la haute Magie. 1861.

108 Arthur Schopenhauer (17881 860) s. Rudolf Steiner: Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt. 1914, 7. Auflage Stuttgart ,95$, Seite 265 ff.

109 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Montag, den 6. Juni 1831.

115 Matthias Jakob Schleiden (18041881).

116 Gustav Theodor Fechner (18011887) s. «Die Rätsel der Philosophie» Stuttgart 1955, Seite 503 ff.

151 Wilhelm Müller (17941827), vor allem bekannt durch die Schubertschen Liedkompositionen.

155 in dem Winterzyklus: Rudolf Steiner hielt im Architekten-haus in Berlin zwischen dem 14. Oktober und dem 12. Mai öffentliche Vorträge, die mit wenigen Ausnahmen in den Bänden «Metamorphosen des Seelenlebens» (Dornach 1928) und «Pfade der Seelenerlebnisse» (Dornach 1929) gedruckt erschienen sind.

166 Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriß. 1910,

26. Auflage Stuttgart 1955.

2 14/15 Meister Eckhard (12601327)

Johannes Tauler (um 1300-1361)

Valentin Weigel (15331588)

Jakob Böhme (15751624)

Angelus Silesius (16241677)

s. Rudolf Steiner: Die Mystik im Aufgänge des neuzeitlichen

Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschau­ung. 1901, 2. Auflage Dornach 1924.

235 Rudolf Steiner: Das Vaterunser. Eine esoterische Betrachtung. Abgedruckt nach der Nachschrift eines Vortrages. 1907. 30. bis 32. Tausend Freiburg i. B. 1954.

238 Miguel de Molinos (16401697), spanischer Mystiker.

Jene Schrift des Michael de Molinos: «Guida Spirituale» 1675 (deutsch von Gottfried Arnold «Geistlicher Führer»), Miguel

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de Molinos wurde wegen dieser Schrift 1686 vom Papst zu

lebenslänglicher Haft in Rom verurteilt.

246 Wir haben hingedeutet auf typische Verschiedenheiten der

Menschenseelen. siehe «Metamorphosen des Seelenlebens»

Die Mission des Zornes, der Wahrheit, der Andacht; Der

menschliche Charakter; Das Wesen des Egoismus; Das mensch­liche Gewissen; Die Mission der Kunst Dornach 1957.

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Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.