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= ERSTER VORTRAG Dornach, 1. Januar 1922 =
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Aktuelle Version vom 9. August 2023, 19:40 Uhr

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ERSTER VORTRAG Dornach, 1. Januar 1922

#G210-1967-SE009 Neue und alte Einweihungsmethoden

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ERSTER VORTRAG

Dornach, 1. Januar 1922

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Gestern habe ich von der Initiationswissenschaft nach verschiedenen Richtungen hin gesprochen. Heute will ich einiges charakterisieren, was in einem gewissen Sinne zu den gegenwärtigen Ausdrucksformen der Initiationswissenschaft gehört. Wenn wir in der Gegenwart in bezug auf alles Zivilisationsleben einen tiefen Riß wahrnehmen müssen und als Menschen der Gegenwart, wenn wir ein volles Bewußtsein ent­wickeln, mit einem gewissen tragischen Gefühl diesen tiefen Riß mit seinen chaotischen Wirkungen in der Welt empfinden müssen, so drückt sich nach einer gewissen Seite hin dieser Riß wohl dadurch ganz besonders aus, daß der heutige Mensch keine Vermittelung erkennen kann zu derjenigen Welt, zu der er aufschauen muß, wenn er seinen eigentlichen Menschenwert und seine eigentliche menschliche Würde ins Auge faßt: zu der moralischen Welt, zu der Welt auch, welche die religiösen Empfindungen und die religiösen Versenkungen und Er­hebungen der Menschenseele bringt.

Auf der andern Seite schaut der Mensch zu dem, was das Natur-dasein ausmacht, zu dem er ja auch gehört. Das Naturdasein stellte sich im Laufe der letzten Jahrhunderte so vor die menschliche Seele hin, daß es gewissermaßen alle Realität, alles wirkliche Sein verschlungen hat. Das Naturdasein mit seinen gegenüber dem Moralischen gleich­gültigen Gesetzen läuft ab in äußerlicher Notwendigkeit, und der Mensch ist seinem alltäglichen Dasein nach in diese Notwendigkeit eingespannt. Wie man auch Anfang und Ende dieser Notwendigkeit begrenzt, es ist unmöglich, daß der Mensch, wenn er sich selbst inner­halb dieser Notwendigkeit empfindet, zu seinem eigentlichen Mensch­lichen kommt. Er muß vom Naturdasein aufblicken zu dem mora­lischen Welteninhalte. Er muß die moralischen Welteninhalte auffas­sen als dasjenige, was sein soll, was von ihm als Ideal betrachtet wer­den soll. Aber keine Erkenntnis von der heutigen Art zeigt ihm, wie die moralischen Ideale etwa einlaufen können in die Naturgesetze und das Notwendige in den Dienst des Moralischen gestellt werden kann.

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Für den heutigen Menschen zerfällt einmal die Welt in diese zwei für das Gegenwartsbewußtsein unvereinbaren Glieder: die moralische Welt und die materielle Welt. Der Mensch schaut hin auf Geburt und Tod, findet von ihnen eingesäumt dasjenige Dasein, von dem ihm allein die heute anerkannte Erkenntnis sprechen will. Der Mensch muß andererseits aufblicken zu einer Welt, die sich über Geburt und Tod erhebt, die gegenüber der stetig wandelbaren, eigentlichen materiellen Welt, eine ewige Bedeutung hat, und er muß verbunden denken sein seelisches Sein mit dieser ewigen Bedeutung der moralischen Welt. Aber die platonische Weltanschauung, welche noch den letzten Rest des Orientalismus enthalten hat, dahingehend, daß die äußere Sinneswelt ein Schein, eine Illusion ist, und die Ideenwelt die wahre, die wirk­liche Welt ist, diese platonische Weltanschauung findet für den heu­tigen Menschen, wenn er im Gegenwartsbewußtsein stehenbleibt, keine Antwort.

Hinstellen will sich die Initiationswissenschaft wiederum in die menschliche Zivilisation, will die Menschen wiederum darauf hinwei­sen, daß hinter derjenigen Welt, welche die Sinne wahrnehmen, eine geistige Welt steht, daß in dieser geistigen Welt, zu der der Mensch aufschaut als zu der moralischen, eine mächtige, eine kraftvolle, eine reale Welt steht. Die Initiationswissenschaft muß gewissermaßen dem Naturdasein die angemaßte absolute Realität wegnehmen und der moralischen Welt wiederum Realität geben. Das kann sie nur, wenn sie zu andern Ausdrucksmitteln greift, als diejenigen sind, die aus dem Umfange der heutigen Sprachen, aus dem Umfange der heutigen Ideen­und Begriffswelt gegeben sind.

Es erscheint die Sprache der Initiationswissenschaft dem Menschen der Gegenwart noch als etwas Fremdes, als etwas Illusorisches, weil er nicht ahnt, daß hinter den Ausdrucksformen reale Kräfte stehen, und daß der Mensch, ob er sich nun der äußeren Lautsprache oder einer gestalteten Sprache bedient, eben immer genötigt ist, in der Sprache nicht einen vollständig adäquaten Ausdruck zu haben von dem, was er schaut, was er wahrnimmt. Was ist denn schließlich das Wort «Mensch», wenn wir seinen Lautinhalt nehmen, gegenüber dem reichen Inhalte, der sich uns darbietet an Geistigem, Seelischem und

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Leiblichem, wenn wir einem wirklichen Menschen gegenüberstehen! So auch stürmt, flutet und wirkt in mannigfaltiger Weise eine hinter der Sinneswelt und in der moralischen Welt lebende übersinnliche Welt in der Initiationswissenschaft. Und diese Initiationswissenschaft muß mannigfaltige Ausdrucksformen wählen, um dasjenige auszudrücken, was allerdings viel reicher erscheint, als es die Ausdrucksmittel geben können.

Für den Menschen selbst in seinem unmittelbaren Dasein möchte ich von einigen solchen Ausdrucksmitteln heute sprechen, Ausdrucks-mitteln, die ja schon in diesen Tagen hier von der einen oder der an­dern Seite genannt worden sind, und die denjenigen von Ihnen gut be­kannt sind, die sich längere Zeit mit der anthroposophischen Geistes­wissenschaft befaßt haben.

Man sagt mit Recht und auch mit Unrecht, das eigentliche wahre Wesen des Menschen entziehe sich der Erkenntnis. Man kann das auch in einem gewissen Sinne sagen, aber nicht in dem Sinne, wie es in der Gegenwart sehr häufig gesagt wird. Das eigentliche Wesen des Men­schen enthüllt sich für die Initiationswissenschaft allerdings so, daß man es in unmittelbarer Weise nicht in Definitionen, in Beschreibun­gen, in Erklärungen fassen kann. Wenn ich mich eines Vergleiches be­dienen darf, so ist es für das Erfassen des menschlichen Wesens so, wie wenn man bei einem Waagebalken den Punkt, um den er sich dreht, zeichnen wollte. Man kann ihn nicht zeichnen. Ich kann das linke und das rechte Stück der Waagebalken zeichnen, ich kann aber nicht den Punkt zeichnen, um den sich der Waagebalken drehen wird. Der ist etwas, was bestimmt ist dadurch, daß eben der linke Waagebalken nach links, der rechte Waagebalken nach rechts bis zu diesem Punkte geht beziehungsweise bei diesem Punkt der rechte Waagebalken be­ginnt und von ihm weitergeht. In einer ähnlichen Weise läßt sich nicht in adäquaten Begriffen und Ideen das menschliche tiefste We­sen fassen. Aber es läßt sich fassen, wenn man zu schauen versucht die Abirrungen von diesem Wesen. Das menschliche Wesen stellt gewissermaßen einen Gleichgewichtszustand dar zwischen einer Ab­weichung, die nach der einen Seite fortwährend gehen will und einer solchen, die nach der andern Seite fortwährend gehen will. Der

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Mensch ist, so wie er im Leben dasteht, im irdischen Dasein fortwäh­rend zwei Gefahren ausgesetzt: dem Abirren nach der einen oder nach der andern Seite - wie wir es mit technischen Ausdrücken nennen können -, nach der luziferischen und der ahrimanischen Seite.

Jm gewöhnlichen Dasein ist zunächst für den Menschen sein Gleich­gewichtszustand dadurch hervorgebracht, daß sein ganzes, volles We­sen nur zu einem Teil in die Leibesgestalt eingespannt ist, und daß diese Leibesgestalt im ganzen Weltenzusammenhange nicht er im Gleichgewichtszustande zu erhalten braucht, sondern daß geistige Wesenheiten, die hinter ihm stehen, diesen Gleichgewichtszustand be­wirken. So nimmt der Mensch im gewöhnlichen Erdendasein heute für das gewöhnliche Bewußtsein die beiden Gefahren nicht wahr, durch die er nach der einen oder nach der andern Seite, nach der luziferischen oder nach der ahrimanischen Seite, von seinem Gleichgewichtszustande abweichen kann. Das ist gerade das Eigentümliche der Initiations­wissenschaft, daß man sich wie auf einem hohen Felsen fühlt als Mensch, wenn man beginnt, die Welt in ihrer Wesenheit zu durch­schauen, auf einem hohen Felsen, links und rechts Abgrund. Der Ab­grund ist immer da, aber für das gewöhnliche Leben sieht der Mensch den Abgrund beziehungsweise die beiden Abgründe nicht. Will er sich vollständig kennenlernen, so muß er die Abgründe wahrnehmen, muß er wenigstens von den Abgründen wissen lernen. Nach der einen Seite wird der Mensch nach dem Luziferischen, nach der andern Seite von dem Ahrimanischen gezogen. Und man kann das Ahrimanische und das Luziferische charakterisieren, indem man den Menschen nach Leib, Seele und Geist betrachtet.

Nehmen wir zunächst eine Betrachtung, die vom Gesichtspunkte des leiblichen Wesens des Menschen ausgeht. Dieses leibliche Wesen des Menschen ist nur äußerlich scheinbar für die Sinneswahrnehmung ein Einheitliches. In Wahrheit ist der Mensch fortwährend eingespannt zwischen den Kräften, die ihn verjüngen, und den Kräften, die ihn greisenhaft machen, zwischen den Kräften der Geburt und den Kräf­ten des Todes. In keinem einzigen Augenblicke des Lebens ist in un­serem Leib bloß die eine Art von Kräften vorhanden; immer sind sie beide da.

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Wenn wir Kind sind, meinetwillen ganz kleines Kind, so überwie­gen in uns die jungmachenden, die luziferischen Kräfte; aber tief zu­rückgezogen sind in der menschlichen Natur auch schon die greisen­haften Kräfte, diejenigen Kräfte, die zuletzt das Verkalken, das Skle­rotisieren des Leibes hervorrufen, diejenigen Kräfte, die uns dann zum Tode führen. Und beide Arten von Kräften müssen im mensch­lichen Leibe sein. Durch die luziferischen Kräfte, die in ihm sind, hat er eine fortwährende Möglichkeit, ich möchte sagen, nach dem Phos­phorischen hin, nach der Wärme hin sich zu entwickeln. Im extremen Fall, im Krankheitsfall, wirken diese Kräfte so, daß der Mensch in das Fieber, in die Pleuritis hineinkommt, in entzündliche Zustände. Aber diese Neigung für Fieber, für entzündliche Zustände ist immer in ihm. Sie wird nur in Schach gehalten, im Gleichgewichte gehalten durch die andern Kräfte, die ihn verfestigen wollen, die ihn verkal­ken, die ihn mineralisieren. Und darinnen besteht das Wesen des Menschen, daß ein Gleichgewichtszustand da ist zwischen diesen bei­den polarisch einander entgegengesetzten Kräftearten.

Man wird eine gültige Physiologie, eine gültige Biologie erst dann haben, wenn man jedes einzelne Organ des Menschen und den ganzen

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Menschen so betrachtet, daß Herz, Lunge, Leber und so weiter pola­rische Gegensätze in sich enthalten, daß sie hintendieren auf der einen Seite zur Auflösung in die Wärme, auf der andern Seite zur Verfestigung im Mineralischen. Man wird auch das Funktionieren der Organe erst richtig verstehen, wenn man den ganzen Menschen und wiederum jedes einzelne Organ von diesem Gesichtspunkte aus zu betrachten vermag. Die Gesundheits- und Krankheitslehre des Menschen wird erst auf einen gesunden Boden gestellt werden können, wenn diese Polaritäten im physischen Menschen überall werden gesehen werden können. Man wird dann zum Beispiel wissen, daß im Menschen, wenn er dem Zahnwechsel unterliegt um das siebente Jahr herum, nach der Kopfseite hin die ahrimanischen Kräfte wirksam werden, daß, wenn der Mensch bei der Geschlechtsreife seine physische Natur nach der Wärmeseite hin entwickelt, daß dann die luziferischen Kräfte tätig sind, und daß der Mensch eigentlich in seinem rhythmischen Wesen fortwährend hin und her Pendelschläge ausführt, auch in physischer Beziehung, zwischen dem luziferischen und dem ahrimanischen Wesen. Erst wenn man lernen wird, ohne Aberglauben, so mit wissen­schaftlicher Exaktheit von dem Luziferischen und Ahrimanischen in der menschlichen Natur zu sprechen, wie man heute ohne Aberglauben, ohne Mystik von positivem und negativem Magnetismus spricht, von positiver und negativer Elektrizität, von Licht und Finsternis spricht, erst dann wird man in der Lage sein, eine solche Erkenntnis vom Menschen zu gewinnen, welche gewachsen ist der abstrakten Erkennt­nis von der unorganischen Natur, die wir uns errungen haben im Laufe der letzten Jahrhunderte.

In abstrakter Art sprechen auch heute schon viele von allerlei Po­laritäten im Menschen. Es gibt mystisch-nebulose Veröffentlichungen, Publikationen, die allerlei Positives und Negatives in den Menschen hineinbringen. Sie scheuen sich davor, den Aufstieg zu vollführen zu einem viel Konkreteren, Geistigeren, aber geistig wirklich Konkreten, und reden daher ebenso abstrakt von dem Menschlichen in seiner Polarität, von Positivem und Negativem, wie sie in der anorganischen Natur von der Polarität sprechen. Erst dann kann Wissenschaft vom Menschen sein, wenn wir aufsteigen von den armen Begriffen des

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Positiven und Negativen, von den armen Begriffen der Polarität, wie wir sie in der anorganischen Natur finden, zu dem erfüllten Begriff des Luziferischen und Ahrimanischen im Menschen.

Wenn wir zu dem Seelischen gehen, das sich als das zweite Glied im höheren Sinne der menschlichen Wesenheit entfaltet, dann sehen wir das Ahrimanische wirksam in allem, was die Menschenseele nach dem rein verstandesmäßig-intellektuell Gesetzmäßigen hintreibt. Un­sere Naturwissenschaft ist heute fast ganz ahrimanisch. Der Mensch streift, indem er nach dem ahrimanisch Seelischen sich hinentwickelt, alles ab, was die Begriffe, die Ideen mit Wärme durchglüht; er gibt sich nur dem hin, was die Begriffe, die Ideen eiskalt und trocken macht, und er fühlt sich dann ganz besonders im heutigen wissen­schaftlichen Denken befriedigt, wenn er also ahrimanisch ist, wenn er sich in trockenen und kalten Begriffen bewegt, wenn er alles, was Welterklärung ist, so machen kann, daß es nach dem Muster gestaltet ist, wie man die anorganische, die leblose Natur erkennt. Und indem die Seele mit dem Moralischen sich durchdringt, erscheint in ihr das Ahrimanische in alledem, was hinneigt zu dem Pedantischen, zu dem Steifen, zu dem Philiströsen auf der einen Seite; dann aber auch wie­derum zu dem Freien, zu dem Unabhängigen, zu dem, was die vollen Früchte des materiellen Daseins aus diesem materiellen Dasein heraus­ziehen will, was sich ganz dadurch vollkommen machen will, daß es das materielle Dasein durchdringt.

Es erscheint eigentlich sowohl das Ahrimanische wie das Luzife­rische immer von zwei Seiten. Auf der einen Seite stellt es etwas dar, was ein Abweg ist. Das Ahrimanische stellt als einen Abweg das Pe­dantische dar, das Philiströse, das einseitig Verstandesmäßige. Es stellt auf der andern Seite eben dasjenige dar, was durchaus in einer not­wendigen Entwickelungslinie des Menschen nach vorwärts liegt, was den Willen zur Befreiung, den Willen zum Benützen des materiellen Daseins, zur Menschenbefreiung und so weiter entwickelt.

Das Luziferische in der menschlichen Seele stellt alles dasjenige dar, wodurch der Mensch nach oben gewissermaßen aus sich hinaus will. Er kann dadurch ins nebulos Mystische geraten. Er kann da­durch in Regionen geraten, in denen ihm alles Denken über das Ma­terielle

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unvornehm, niedrig erscheint, so daß er verleitet, verführt wird dazu, dieses materielle Dasein ganz zu verachten und sich nur zu ergehen in dem, was über dem Materiellen liegt, in alledem, was den Menschen dazu verführt, Flügel haben zu wollen, um über sein Erden-dasein wenigstens mit der Seele hinauszukommen. Das stellt ihm see­lisch das Luziferische dar. Neben dem Ahrimanischen, der nüchter­nen, trockenen, kalten Wissenschaft, tritt die schwüle Mystik auf, tritt auf dasjenige, was in religiösen Bekenntnissen asketische Erden-verachtung und so weiter wird.

Indem man das Ahrimanische und das Luziferische der Seele cha­rakterisiert, sieht man, wie auch das menschliche Seelische in einem Gleichgewichtszustande sein muß zwischen zwei polarischen Gegen­sätzen. Man kann sagen, auch das Luziferische zeigt die Möglichkeit eines Irrweges, aber auch die Möglichkeit einer notwendigen Fort­entwickelung des richtigen menschlichen Wesens. Der Abweg ist die verschwommene, verschwimmelnde, nebulos werdende Mystik, welche alle klaren Begriffe in ein unbestimmtes, nebelhaftes Helldunkel zer­flattert und dadurch den Menschen über sich selber hinausführen will. Dasjenige aber, was nicht nur ein berechtigtes, sondern geradezu im notwendigen Fortschritt der Menschheit liegendes luziferisches Wir­ken ist, das zeigt sich dann, wenn der Mensch so schafft, daß er nicht das materielle Dasein mit den heute realen Lebensprinzipien durch­dringt, um die Impulse dieses materiellen Daseins voll auszunützen, wie das im Ahrimanischen der Fall ist, sondern wenn er das materielle Dasein bis zur Scheinhaftigkeit ablähmt und es in dieser Scheinhaftig­keit benützt, um ein Übersinnliches darzustellen, um etwas darzustel­len, was geistig wirklich ist, aber in dieser geistigen Wirklichkeit nicht auch sinnlich wirklich sein kann durch das bloße Naturdasein.

Die luziferischen Kräfte geben so dem Menschen die Möglichkeit, im sinnlichen Scheinesdasein das Geistige auszudrücken. Und das ist das Bestreben aller Kunst, aller Schönheit. Luzifer wird damit auch der Protektor der Schönheit, des Künstlerischen. Und wenn der Mensch nun sucht das richtige Gleichgewicht zwischen dem Luzife­rischen und Ahrimanischen, dann darf er in dieses Gleichgewicht hin-einwirken lassen in der Form der Schönheit das Künstlerische, das

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Luziferische. Es kommt nicht darauf an, daß man in einseitiger Weise sagt, der Mensch müsse sich vor dem Ahrimanischen, vor dem Luzife­rischen hüten. Es handelt sich darum, daß der Mensch die richtige Stellung zu dem Ahrimanischen, zu dem Luziferischen finde, daß er zwischen beiden immer seinen Gleichgewichtszustand behält. Behält er diesen Gleichgewichtszustand, dann darf das Luziferische ins Leben hereinscheinen in Form der Schönheit, in Form des Künstlerischen, in­dem dadurch in das Leben ein Unwirkliches hereingezaubert wird, das aber durch des Menschen Kraft selber in eine Scheinwirklichkeit umgewandelt wird.

Die luziferischen Kräfte streben, in das gegenwärtige Dasein das­jenige hereinzutragen, was im Weltendasein längst vergangen ist, was daher im gegenwärtigen Dasein nach den Daseinsgesetzen nicht wirk­lich sein kann. Wenn der Mensch das kosmisch Konservative verfolgt, wenn er das, was für Vorzeiten richtige Daseinsgestaltungen waren, in die Gegenwart hereinstellen will, dann verfällt er in falscher Weise dem Luziferischen. Wenn er also zum Beispiel jene Anschauung der Welt, welche in verschwommenen Bildern lebt, die nur in alten kos­mischen Zeitaltern voll berechtigt waren, wenn er alles ineinander verschwimmen läßt, was in seiner Seele lebt, dann ergibt er sich in falscher Weise dem luziferischen Dasein. Wenn er dem äußerlichen materiellen Dasein eine solche Gestalt gibt, daß es etwas ausdrückt, was es durch seine eigenen Naturgesetze nicht ausdrücken kann - der Marmor kann nur die mineralogischen Gesetze ausdrücken -, wenn der Mensch dem Marmor aufzwingt dasjenige, was dieser durch die eigene Naturkraft des Marmors niemals ausdrücken kann, dann ent­steht die plastische Kunst. Dann wird dasjenige, was in einem solchen Sinnlichen keine Wirklichkeit sein kann, dann wird Unwirklichkeit in das Dasein hereingezaubert. Und das ist ja gerade das Bestreben Luzifers, daß er den Menschen von der Wirklichkeit, in der er sich nun einmal befindet zwischen Geburt und Tod, hinwegführen will zu einer Wirklichkeit, die allerdings für andere Zeitalter direkte Wirk­lichkeit war, die aber für dieses Zeitalter nicht die rechte Wirklichkeit sein kann.

Wenn man den Menschen nun geistig ins Auge faßt, dann kann

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auch für das Geistige das Luziferische und das Ahrimanische in An­spruch genommen werden. Es äußert sich hier für das Erdendasein zunächst das menschliche Wesen in geistiger Beziehung durch die Wechselzustände zwischen Wachen und Schlafen. Im Wachzustande sind wir mit unserem geistigen Teil ganz dem Materiellen hingegeben. Man muß in dieser Beziehung folgendes sagen: Wenn der Mensch ein­schläft, so ist er vom Einschlafen bis zum Aufwachen in einem Zu­stande, den man als geistig-seelisches Dasein bezeichnen kann. Der Mensch geht mit seinem geistig-seelischen Dasein beim Einschlafen aus dem physischen und ätherischen Leibe heraus und taucht wie­derum unter in den physischen und ätherischen Leib mit seinem Gei­stig-Seelischen beim Aufwachen. So trägt der Mensch gewissermaßen im Schlafzustande seinen geistig-seelischen Zustand in sich; aber den seelischen Zustand, den behält er beim Aufwachen fast ganz als see­lisches Leben zurück. Nur mit dem Geiste taucht er vollständig auch in den Leib unter. So daß wir im Wachen mit unserem Geiste in der Periode der heutigen Menschheitsentwickelung eben ganz Leib werden, in das Leibliche untertauchen, wenigstens bis zu einem hohen Grade. Da verfallen wir dann aus einem Dasein, wie wir es eben im Schlafe haben, in das Dasein des wachen Zustandes. Wir werden herüber-getragen aus dem einen Zustand in den andern. Und diesen Übergang den bewirken Kräfte, die wir zu den ahrimanischen zu zählen haben.

Wenn wir den Menschen in bezug auf sein Geistiges betrachten, das heißt in bezug auf jenen Wechselzustand zwischen Wachen und Schlafen, der ja für das physische Erdendasein das Geistige des Men­schen offenbart, so müssen wir sagen, beim Aufwachen wirkt am mei­sten das Ahrimanische; umgekehrt beim Einschlafen wirkt am meisten das Luziferische. Der Mensch wird aus dem Untergetauchtsein in das Physisch-Leibliche in den freien geistig-seelischen Zustand hinüber-getragen. Er wird in einen Zustand hinübergetragen, in dem er nicht mehr in ahrimanischen Begriffen denkt, sondern nur in den Bildern, welche die scharfen, ahrimanischen Begriffskonturen auflösen, welche alles verweben und verschwimmen lassen. Er wird in einen Zustand versetzt, wo dieses In-Bildern-Verschwimmen das Normale ist. Kurz, wir können sagen: Es trägt uns von dem Schlafzustande in den Wachzustand

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hinein in berechtigter Weise das Ahrimanische, es trägt uns aus dem Wachzustand in den Schlafzustand hinein in berechtigter Weise das Luziferische.

Abwege entstehen erst dann, wenn in den Wachzustand zu wenig hineingetragen wird von dem luziferischen Impuls, so daß während des Wachzustandes zu stark der ahrimanische Impuls wirkt. Dann wird der ahrimanische Impuls den Menschen zu stark in das Leibliche hinunterdrücken, wird ihn nicht stehenlassen bei den seelischen Emp­findungen von Gut und Böse, bei den moralischen Impulsen. Er wird ihn hinuntertauchen in das Emotionelle, in das Leidenschaftliche. Er wird ihn hinuntertauchen in das Instinktleben, in das Animalische. Er wird den Menschen seinem Ich nach zu gründlich mit dem Leiblichen vereinigen.

Und wiederum: wenn das Luziferische in unberechtigter Weise im Menschen wirkt, so wird der Mensch zu viel von seinem Wachleben in das Schlafleben hineintragen. Es werden im Schlafesleben Träume auftauchen, die zu viel Reminiszenzen an das Tagesleben sind. Diese werden wiederum zurückwirken auf das Wachleben und dieses in eine ungesunde Mystik hineintreiben. Man sieht, überall ist es im Le­ben so, daß der Gleichgewichtszustand des Menschen durch die bei­den Polaritäten, durch das Luziferische und das Ahrimanische, her­vorgebracht werden muß, daß aber Abirrungen stattfinden können. Man wird erst eine Leibeslehre - wie ich schon angedeutet habe - mit einer richtigen Gesundheits- und Krankheitslehre haben, wenn man überall diese Polarität im Leibesleben finden kann. Man wird erst eine Psychologie haben, wenn man in der Lage sein wird, im See­lischen diese Polarität zu sehen.

Man redet heute in denjenigen Wissenschaften, die man als Psycho­logie, als Seelenkunde ansieht, in chaotischer Weise herum von Den­ken, Fühlen und Wollen. Im Seelenleben fließen auch Denken, Fühlen und Wollen ineinander über. Wir können noch so reine Gedanken fassen -, indem wir die Gedanken verbinden und trennen, wirkt der Wille in den Gedanken. Und selbst, wenn wir nur instinktive Be­wegungen ausführen, so wirken unsere Gedankenimpulse doch in die Willensbetätigung hinein. Nirgends sind im Seelenleben getrennt Denken,

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Fühlen und Wollen, überall wirken sie ineinander. Und wenn man sie in der heute gewohnten Weise trennt, so ist die Trennung eine abstrakte Trennung, so ist da das Sprechen von Denken, Fühlen und Wollen nur in drei Abstraktionen bestehend. Was wir da Denken, Fühlen und Wollen nennen, wir können es unterscheiden, wir können es als abstrakte Begriffe hinstellen, aber als solche abstrakte Begriffe mag es uns dienen für unsere unterscheidende Erkenntnis; ein richtiges Bild der Wirklichkeit gibt es uns nicht.

Ein richtiges Bild der Wirklichkeit bekommen wir nur, wenn wir in jedes Denken das Fühlen und Wollen auch hineinschauen, in jedes Fühlen das Denken und Wollen, in jedes Wollen das Denken und Fühlen. Damit wir aber dann doch statt dieses abstrakten Denkens, Fühlens und Wollens das konkrete Leben und Wogen des Seelischen durchschauen, müssen wir uns vergegenwärtigen, wie das Seelenleben nach der einen Polarität hin ausschlägt und nach der andern Polarität, wie es hinschlägt nach der ahrimanischen Polarität und da in Gedan­ken sich auslebt. In diesen Gedanken mögen nun Willensimpulse so viel als möglich sein. Lernen wir erkennen auf einer höheren Stufe des Erkennens die besondere Eigenart des Ahrimanischen, dann fühlen wir die Polarität des Denkens in der Seele; sehen wir nach der andern Seite die Seele ausschlagen, nach dem Wollen, dann mögen noch so viele Denkinhalte in den Willensbetätigungen sein -, wenn wir den luziferischen Charakter des Wollens erfassen, dann haben wir die lebendige Natur des Wollens in der Seele begriffen. Es muß sich in uns verwandeln dasjenige, was Abstraktionen sind, Begriffe sind, Ideen sind, in lebendige Anschauung. Diese gewinnen wir aber nicht, wenn wir uns nicht entschließen, aufzusteigen zu so etwas, wie es die Anschauungen des Luziferischen und Ahrimanischen sind.

Auch gegenüber dem geschichtlichen Leben der Menschheit bringen wir nur Wirklichkeit in unser Vorstellen hinein, wenn wir in den ein­zelnen Geschichtsperioden das Walten und Wogen des Luziferischen und Ahrimanischen wahrzunehmen in der Lage sind. Betrachten wir die Geschichtsperiode, sagen wir, von Augustinus bis in die Zeit des endenden Mittelalters, der aufsteigenden Neuzeit, bis zum 15. Jahr­hundert hin, betrachten wir sie, wie der Mensch vorzugsweise im

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äußeren Leben jene Impulse wirksam sein läßt, die aus seinem tiefsten Inneren, aus dem emotionellen Leben herkommen, betrachten wir, wie der Mensch in dieser Zeit selbst das äußere staatlich-soziale Leben so gestalten will, wie er den im Inneren erkannten göttlichen Impuls glaubt wahrnehmen zu können: wir fühlen deutlich das luziferische Walten in diesem Geschichtsabschnitt.

Und wenn wir heraufgehen in die neuere Zeit, wenn wir sehen, wie der Mensch den Blick nach außen richtet auf das Mechanisch-Physi­kalische der Welt, das adäquat nur in der richtigen Weise erfaßt wer­den kann durch das Denken, durch den Umgang mit der äußeren Welt, so sehen wir deutlich walten das Ahrimanische in diesem Zeit-raume. Das darf uns aber nicht bloß zu der Aussage nötigen, die Zeit von Augustinus bis zu Galilei wäre luziferisch, die Zeit von Galilei bis zu uns wäre ahrimanisch. Das wäre wiederum selber ein ahrima­nisches Urteil, das wäre ein intellektualistisches Auslegen. Will man von einem solchen intellektualistischen Auslegen in ein Lebendiges hineinkommen, in ein miterlebendes Erkennen des Daseins, in das der Mensch hineingestellt ist, dann muß man das Ausdrucksmittel anders wenden. Dann muß man sagen: In der Zeit von Augustinus bis zu Galilei hatte der Mensch, um seinen Gleichgewichtszustand anzustre­ben, sich gegen das Luziferische zu wehren. In der neueren Zeit hat der Mensch, um seinen Gleichgewichtszustand anzustreben, sich gegen das Ahrimanische zu wehren.

Es kommt nicht nur darauf an - das muß immer klarer und klarer eingesehen werden -, daß wir in unserer fortschreitenden Zivilisation das oder jenes sagen, sondern es kommt darauf an, daß wir entschei­den können, ob gegenüber einer Situation das oder jenes gesagt wer­den kann. Es mag noch so wahr sein im abstrakten Sinne, daß das Mittelalter luziferisch, die neuere Zeit ahrimanisch ist; diese abstrakte Wahrheit hat keine wirkliche Impulsivität. Die wirkliche Impulsivi­tät tritt auf, wenn wir sagen: Der Mensch konnte sich aufrechterhal­ten im Mittelalter durch den Kampf gegen das Luziferische, der Mensch kann sich aufrechterhalten in der Neuzeit durch den Kampf gegen das Ahrimanische. Wahr sein kann auch im äußeren abstrakten Sinne das, was gegenüber der Wirklichkeit lediglich Phrase ist: Richtig

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wirklich im Vorstellungsleben ist nur dasjenige, was in bezug auf die Situation des Menschendaseins, auf die es ankommt, wirklich innerlich vorhanden ist. Wovor sich der moderne Mensch am meisten zu hüten hat, das ist das Fallen in die Phrase. Man erlebt es immer wieder und wiederum, daß Menschen, die dann schon glauben, im anthroposophischen Leben drinnenzustehen, sagen: Dieser oder jener habe etwas gesagt, was ganz mit dem Anthroposophischen überein­stimme. - Auf das äußere Zustimmen in Worten kommt es nicht an, sondern auf den Geist, auf den lebendigen Geist, auf den lebendigen, wirklichen Zusammenhang, in dem etwas drinnen steht. Wenn wir heute bloß auf den äußerlich logischen Inhalt der menschlichen Aus­sage sehen, so entgehen wir der Gefahr der Phrase nicht.

Ich habe in der letzten Zeit ein paarmal vor diesem oder jenem Kreise meiner Zuhörer ein eklatantes Beispiel angeführt, wie an sich ganz richtige Sachen, die gesagt werden, sich merkwürdig ausneh­men vor dem Wirklichkeitssinn. Ich habe das Beispiel angeführt, daß 1884 der Fürst Bismarck im deutschen Reichstag, als er die sozial­demokratische Gefahr herannahen fühlte, einen merkwürdigen Aus­spruch tat. Er wollte die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung da­von ablenken, den sozialdemokratischen radikalen Führern zu folgen, und aus diesem Impuls heraus sagte Bismarck: Es stehe jedem Men­schen das Recht auf Arbeit zu. Gestehen Sie jedem Menschen das Recht auf Arbeit zu, verschaffen Sie ihm von Staats wegen Arbeit, solange er arbeiten kann, versorgen Sie ihn - so sprach er, der deutsche Reichskanzler -, versorgen Sie ihn, wenn er alt geworden ist und nicht mehr arbeiten kann und in Krankheitsfällen mit dem, was er zum Leben nötig hat, und Sie werden sehen, daß die breiten Scharen der Arbeitermassen fortstürmen von den Versprechungen der Arbeiterführer. - 1884 hat der Fürst Bismarck diesen Satz im Deutschen Reichstag gesagt.

Kurioserweise kann man etwas zurückgehen, fast ein Jahrhundert zurückgehen, und ein anderer hat, man kann fast sagen wörtlich, den­selben Satz ausgesprochen, hat ausgesprochen den Satz: Es ist Men­schenpflicht, jedem das Recht auf Arbeit zuzugestehen, ihm von Staats wegen Arbeit zu verschaffen, solange er arbeiten kann, ihn von

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Staats wegen zu versorgen, wenn er krank oder invalide ist und nicht mehr arbeiten kann. - Und dieser andere, das war Robespierre. 1792 hat er diesen Satz seinem Menschenrechte einverleibt. Merkwürdig, wörtlich genau dasselbe sagten der radikale Robespierre 1792 und der Fürst Bismarck, der ganz gewiß kein Robespierre sein wollte, 1884 im Deutschen Reichstag. Sie sehen, zwei Leute können genau dasselbe sagen und es ist nicht dasselbe. Und kurioserweise berief sich dazumal 1884 der Fürst Bismarck darauf, daß das Recht auf Arbeit jedem im preußischen Lande befindlichen Arbeiter garantiert sei, denn das sei 1794 im Preußischen Landrechte enthalten. Kurioserweise also sagt der Fürst Bismarck nicht nur dasselbe, sondern er sagt, was Robespierre forderte, stehe im Preußischen Landrecht. Aber die Wirklichkeit verläuft so, daß dazumal diese Worte von Bismarck nur ausgesprochen wurden, weil er herannahen fühlte eine Gefahr, welche gerade dadurch entsteht, daß das eben nicht da ist, was da wortwörtlich im Preußischen Landrecht steht.

Ich führe dieses Beispiel an, nicht weil es ein politisches ist, sondern aus dem Grunde, weil es gerade eklatant zeigt: Zwei Menschen kön­nen ganz genau wörtlich dasselbe sagen, und doch entspricht es einer entgegengesetzten Wirklichkeit. Ich möchte dadurch darauf aufmerk­sam machen, daß wir in eine Zeit eintreten müssen, wo es uns weniger auf den Wortlaut ankommt und mehr auf das Erleben der Wirklich­keit. Sonst verfallen wir gerade in dem Gebiete des geistigen Lebens in die Phrase, die eine so große Rolle spielt in unserem gegenwärtigen geistigen Dasein. Gerade dieser Übergang von dem bloß inhaltlich Richtigen zu dem lebendig erlebten Wahren, dieser Übergang soll be­wirkt werden durch das Eintreten der Initiationswissenschaft, die vom bloß logischen Inhalt zu dem Erleben der geistigen Welt geht, in die Zivilisation der Menschheit. Und derjenige, der richtig die äuße­ren Symptome des geschichtlichen Werdens in der Gegenwart für die nächste Zukunft hinein betrachtet, der wird sich aus diesen Sym­ptomen heraus ein Gefühl und eine Empfindung für den berechtigten, für den notwendigen Eintritt der Initiationswissenschaft in die Welt-zivilisation erringen können. Das wollte ich heute noch als eine Art Neujahrsbetrachtung vor Ihre Seele hinstellen.

ZWEITER VORTRAG Dornach, 7. Januar 1922

#G210-1967-SE024 Neue und alte Einweihungsmethoden

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ZWEITER VORTRAG

Dornach, 7. Januar 1922

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Zu den Betrachtungen, die in diesen Tagen über die Christus-Wesen­heit angestellt worden sind, vor und nach Weihnachten, sei heute noch einiges hinzugefügt. Es sei diejenige Seite des Christus-Problems heute mit einigen Strichen gezeichnet, welche vorzugsweise eine Be­deutung für das Welt-Sozialproblem hat. Die Menschen haben gerade in dem gegenwärtigen Zeitalter die größte Notwendigkeit, über den Erdkreis hin zu einer Verständigung zu kommen. Und auf welche An­gelegenheiten des Lebens wir heute auch hinblicken, von einer solchen Verständigung kann kaum irgend etwas bemerkt werden. Die Not­wendigkeit zur Verständigung ist da. Nicht aber ist da, man möchte sagen, die Begabung der Menschen, eine solche Verständigungsmög­lichkeit zu finden. Wir sehen, wie über wichtige Angelegenheiten des Lebens heute versucht wird, zu beraten. Wir sehen, wie überall sich Kongresse abspielen. In den Tiefen der Menschenseelen sieht es gegen­über den Angelegenheiten, die auf solchen Kongressen zur Bespre­chung kommen sollen, anders aus als in den Worten, die da gewech­selt werden. In den Worten, die da gewechselt werden, lebt viel Schein, und dieser Schein will den Eindruck erwecken, als ob überall der einzelne Mensch mit dem andern irgendwie einen Ausgleich oder ähnliches finden wolle. Aber nirgends kann ein solcher Ausgleich eintreten, denn im Grunde genommen sprechen heute nicht Menschen miteinander, sondern es sprechen die Angehörigen verschiedener Na­tionen miteinander. Es sprechen Menschen dem äußeren Scheine nach. Aus ihnen aber spricht das, was als ganz differenziertes Wesen der einzelnen Nationen lebt. Und da die Menschen nun eben einmal im gegenwärtigen Zeitalter so sind, daß sie bei den Worten nur auf den wörtlichen Inhalt sehen, nicht auf das, woraus die Worte kommen, worin die Worte wurzeln, weil sie nicht sehen auf die durchgreifenden Lebensverhältnisse, so wird eben gar nicht bemerkt, wie im Grunde genommen die Verschiedenheit der einzelnen Volksdämonen miteinan­der spricht, nicht aber der Mensch zum Menschen.

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Kaum könnte man durch etwas anderes einen klareren Beweis er­langen, daß das Christentum heute nicht in der Welt realisiert ist, als durch das eben Angeführte. Das Christentum ist nicht realisiert, denn den Christus voll verstehen, heißt: den Menschen als Menschen in sich finden. Der Christus ist kein Volksgott, ist kein Rassengott, der Chri­stus ist überhaupt nicht der Gott irgendeiner Menschengruppe, son­dern der Christus ist der Gott des einzelnen Menschen, insofern dieser einzelne Mensch nur ein Angehöriger der gesamten Menschheit ist. Und erst, wenn man die Christus-Wesenheit aus allen Vorausset­zungen heraus, denen der Mensch zugänglich ist, wird so verstehen können, daß man sie als den Menschheitsgott versteht, erst dann wird der Christus, aber dann auch gewiß die größte soziale Bedeutung über das ganze Erdenrund haben.

Man muß sich nur einmal klarmachen, daß gerade in den Tiefen der Seele heute Dinge walten, die nicht übergehen in die Worte, die fest­gehalten werden in ihren äußeren Phraseninhalten durch die Dif­ferenzierung der Volksdämonen. Man kann nicht mit dem, worin die Menschheit heute auf bequeme Weise stehenbleiben will, dasjenige herbeiführen, was heute nur aus den Tiefen des Menschenwesens her­aus wirklich zustande gebracht werden kann. Heute bedarf es der Tiefe, des Eingehens auf die Tiefe des Menschenwesens, wenn wie­derum Aufgangs-, wenn wiederum Fruchtkräfte in die Entwickelung der Erde hineinkommen sollen. Was heute hörbar wird über die ver­schiedenen Teile der Erde hin, berührt nicht einmal wesentlich an der Oberfläche das, was im Menschenwesen wurzelt. Und das Suchen nach diesem im tiefsten Menschenwesen Wurzelnden, das müßte in die Menschheit einziehen.

Wollen wir uns doch heute einmal mit ein paar Strichen hinstellen, wie verschieden, wenigstens nach Hauptpunkten, die Auffassung der Menschen ist in bezug auf das, was zum Erkennen, zum Durchschauen des Christus-Problems führen könnte. Ich habe oftmals vor Ihnen an­geführt die Differenzierung der Menschen nach westlichen Menschen, östlichen Menschen und Menschen der Mitte zwischen dem Westen und Osten. Man kann von den verschiedensten Gesichtspunkten aus diese Differenzierung betrachten. Man wird ihr nur gerecht, wenn

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man sie ohne jedes Vorurteil in voller Unbefangenheit ins Auge faßt, wenn man nicht von vornherein dem einen oder dem andern Gliede in dieser Differenzierung Sympathie und Antipathie entgegenbringt, etwa dadurch, daß man gerade selber in dem einen oder in dem an­dern Gliede darinnensteht. Es ist heute schon einmal notwendig, daß alle Menschen der Erde zusammenwirken, um die rechte Christus-Einheit hervorzubringen. Denn man kann sagen, über die verschie­densten Teile der Erde hin sind gerade in den Tiefen der Mensch­heit die Impulse vorhanden, die Einheit zu finden. Aber es muß eben in den Tiefen gesucht werden.

Wenn wir zunächst unsere Blicke auf dasjenige werfen, was ins­besondere aus den Zivilisationen des Westens heute zutage tritt, so fin­den wir, daß das, was in den westlichen Zivilisationen das Wesent­liche ist, sich ausdrücken läßt gerade durch die besondere Geistigkeit von heute. Diese besondere Geistigkeit von heute hat ja die Eigen­tümlichkeit, daß sie sich in Abstraktionen ergeht, daß sie gewisser­maßen im Abstrakt-Ideellen ihre größten Triumphe feiert. Dieses Ideelle, dieses Abstrakte ist am besten geeignet, gerade die Natur so, wie sie sich den Sinnen darbietet, und diejenige Seite des sozialen Lebens, die sich abspielen muß durch die Kräfte dieser Sinneswelt, kennenzulernen. Man kann mit diesen Kräften, die ich die westlichen Kräfte nennen will, durchaus in die Tiefen des Menschheitswesens und des Weltenalls eindringen. Vor allen Dingen haben diese Kräfte des Westens die Grundkonstitution des naturwissenschaftlichen Denkens begründet und jene Impulse des sozialen Lebens in Anleh­nung an dieses naturwissenschaftliche Denken gesucht, welche die Menschheit der Zukunft brauchen wird, um das Erdenleben in einer möglichen Weise zu gestalten. Das wird aus den folgenden Betrach­tungen schon hervorgehen. Es ist lange nicht alles an die Oberfläche gehoben, was in den Schätzen des westlichen Geisteslebens liegt.

Es ist zunächst durchaus eine Wahrheit, daß die Naturwissenschaft der Gegenwart nur hat begründet werden können aus Grundkräften des menschlichen Wesens heraus, welche man am adäquatesten, am treffendsten gerade durch die heutige Geistigkeit, durch die abstrakt-ideelle Geistigkeit ausdrücken kann. Aber es ist auch wahr, daß in

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alldem, was da zutage getreten ist, noch ein Wesentliches mehr vor­handen ist. Was in den naturwissenschaftlichen und in der zu ihr gehörigen sozialen Denkweise an den Tag getreten ist, das kann bis zum Geistigen gebracht werden. Es kann fortgeschritten werden von der Gesetzmäßigkeit der Natur bis zur Erkenntnis des Wesenhaften in der Natur. Dieses Wesenhafte in der Natur ist aber das Göttlich-Geistige. Und wird man in einer den neuesten Menschheitsbedürfnis­sen angemessenen Weise das Christentum verstehen wollen, so wird man es durchdringen müssen mit demjenigen Geiste, der bisher sich eben nur über die Naturwissenschaft mit ihrer sozialen Konsequenz durch die Kräfte des Westens ergossen hat. Man ist nicht befriedigt, wenn man aus diesen Kräften des Westens heraus irgend etwas Welt­anschauungsgemäßes faßt, ohne es in klar umrissene, scharf kon­turierte ideelle Begriffe gebracht zu haben. Der Mensch wird für die Erdenzukunft solche klare, scharf umrissene Begriffe brauchen. Er wird dazu kommen müssen, das höchste Geistige in ebenso klar um­rissenen Begriffen vor die Menschheit hinzustellen, wie es gelungen ist, aus den Kräften des Westens das Naturalistische und Naturali­stisch-Soziale hinzustellen.

Und sehen wir nach den Kräften des Ostens, so tritt uns als Klar­stes das zutage, daß, wenn wir den Versuch machen wollen, aus den Kräften des Ostens heraus mit solch klaren, scharfen Begriffen das Christliche oder überhaupt das Göttlich-Geistige zu charakterisieren, dies ein vergebliches Unternehmen sein wird. Schon von Rußland an genommen und durch Asien dann weiter hindurch bringt der ganze Osten solche Volkskräfte hervor, welche nicht in der Lage sind, in scharf konturierten Begriffen sich zu dem Göttlich-Geistigen zu er­heben, welche aber dazu veranlagt sind, aus den Gefühlstiefen heraus diese Erhebung zu den geistigen Kräften zu vollziehen.

Will man im Sinn des Westens das Christentum charakterisieren, so braucht man Philosophie, braucht man eine in moderne Gedanken-formen gekleidete Weltanschauung. Will man das Christentum mit den Kräften des Ostens charakterisieren, so findet man solche Gedan­kenformen nicht, wenn man beim Volkstümlichen stehenbleibt. Man muß da, wenn man im äußeren sinnlichen Leben bleibt, zu anderem

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greifen. Man muß etwa die Empfindungen charakterisieren, die man sogleich findet, wenn man von dem Westen nach dem Osten immer weiter und weiter kommt, und die man schon in den Gegenden Mittel­europas, die an den Osten angrenzen, finden kann. Man muß sich die Stuben der einfachen Leute ansehen, welche in einer Ecke einen Altar mit dem Muttergottesbilde haben; man muß sich ansehen, wie dieses Muttergottesbild behandelt wird von den Besuchern, die da ankom­men. Der erste Gruß, der da überall gegeben wird, ist der an das Muttergottesbild; dann werden erst die Menschen, die etwa in der Stube sind, begrüßt. Es ist etwas, das aus allen andern Kräften der menschlichen Wesenheit hervorgeht, als etwa aus den abstrakt-ideel­len Kräften. Es ist ein radikaler Gegensatz vorhanden zwischen dem innersten Empfinden gegenüber dem Göttlich-Geistigen, wie es im Westen auf der einen Seite, im Osten auf der andern Seite ist. Aber alle diese Kräfte sind Wurzelkräfte, die sich weiter entwickeln kön­nen, die Blätter und Triebe und zuletzt Früchte treiben können, wenn sie sich nur gründlich selber verstehen.

Der Westen ist in der Lage, in einer dem neueren Menschengeiste angemessenen Form wiederum eine solche Vorstellung, eine solche Empfindung vom Vatergotte zu erlangen, neben welcher die andern göttlich-geistigen Wesenhaftigkeiten des Sohnes und des Geistes ste­hen können. Aber vor allen Dingen ist es die Aufgabe des Westens, jenen Beitrag zu liefern, der die Vorstellungen, die Empfindungen über den Vatergott in anderer Weise hinzufügt, als das frühere Zeiten gekonnt haben, die nur Ahnungen in dieser Beziehung erweckt haben. Und wenn diejenigen Kräfte sich ausbilden, welche im Osten vorzugsweise vorhanden sind, und die man nur in jener, man möchte sagen unverstandesmäßigen Art charakterisieren kann, daß man eine äußere Gebärde anführen muß, wenn man sie treffen will, diese Empfindungen, diese Gefühle, und die Willensimpulse, die sie im Gefolge haben, die werden, wenn sie sich weiter entwickeln, wenn sie aufnehmen die Kräfte, die ihnen vom Westen her zustrahlen, einen angemessenen Begriff, eine angemessene Empfindung von dem Sohnesgott entwickeln können. So daß man die Entwickelung in die Zukunft hinein nur richtig verstehen kann, wenn man das, was auf

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einzelnen Erdengebieten geleistet werden kann, als Beiträge auffaßt zu einem Gesamtergebnis.

Wenn wir heute gerade die hervorragendsten westlichen Geister be­trachten, so sehen wir sie, wenn sie sich auch oftmals oder meistens dessen selbst nicht bewußt sind, in einem Ringen nach dem Begriff des Vatergottes, der sich aus den naturwissenschaftlichen Untergründen heraus ergibt. Wenn wir nach dem Osten hinüberschauen, sehen wir, man möchte sagen aus den äußeren Gebärden der Menschen heraus, aus dem was aus Gemüt und Wille kommt, ein Ringen nach einem Erfassen des Sohnesgottes, des Christus. Die Mitte ist hineingestellt zwischen diese beiden Extreme. Und gerade das, was im Laufe der neueren Zeit in der Kultur der Mitte sich entwickelt hat, zeigt uns dieses Hineingestelltsein. Das Charakteristische gerade der modern­sten Theologie der europäischen Mitte ist dieses, daß sie überall schwankt sowohl in bezug auf eine Vater-Auffassung wie in bezug auf eine Sohnes- oder Christus-Auffassung. Es wird das Streben nach einer solchen Auffassung ungeheuer ernst genommen. Aber gerade der Ernst dieses Strebens hat dieses Streben selber in zwei gesonderte Glie­der auseinander getrieben. Wir sehen auf der einen Seite das Wissen sich entwickeln, und auf der andern Seite sehen wir den Glauben. Wir sehen, wie dem Wissen nur zugeteilt werden soll, was sich auf die Sinneswelt und alles, was zur Sinneswelt gehört, erstreckt; und wir sehen, wie einem Glauben, der nicht Wissen werden soll, zugeteilt wird alles, was des Menschen Verhältnis zum Göttlich-Geistigen aus­macht. In diesem zwiespältigen Streben drückt sich das aus, was auf der Suche ist, was aber ohne die Vereinigung mit den andern Gebieten der Erde, mit Ost und West, weder die ihnen adäquate Vorstellung und Empfindung des Vatergottes noch des Sohnesgottes bekommen kann.

Wie auf dem geistigen Gebiete ein solches Zusammenarbeiten über den Erdkreis stattfinden soll, zeigt sich ganz besonders in den Anfän­gen, die damit gemacht worden sind bei dem russischen Philosophen Wiadimir Solowjew. Dieser russische Philosoph hat aufgenommen in sein Denken die Gedankenformen des Westens. Wer sich eingelebt hat in die Gedankenformen des Westens. der findet bei Solowjew überall

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diese Form; aber er findet sie anders gehandhabt, als sie im Westen gehandhabt wird. Er muß, wenn er mit den Vorbereitungen des We­stens an Solowjew herankommt, zunächst nicht in bezug auf den Ge­dankeninhalt, wohl aber auf die Stellung des Menschen zu diesem Gedankeninhalt, umlernen. Er muß eine vollständige innere Metamor­phose durchmachen.

Man nehme einmal einen, ich möchte sagen, Kardinalsatz Solowjews, in den er hineingelegt hat vieles vom menschlichen Streben nach einer Erkenntnis des Menschenwesens selber und seines Verhältnisses zur Welt. Er sagt: Der Mensch muß streben nach Vollkommenheit. Und dieses Streben drückt sich in seinem Wahrheitsstreben aus. Indem der Mensch die Wahrheit immer mehr und mehr mit seiner Seele vereini­gen wird, wird er immer vollkommener und vollkommener werden. Und ohne dieses Vollkommenerwerden wäre das Leben des Menschen wertlos. Der Mensch muß die Aussicht haben, zu den höchsten Spit­zen der Vollkommenheit durch die Wahrheit vordringen zu können, sonst wäre das Leben eine Nichtigkeit, eine Wertlosigkeit. Aber der Mensch muß zugleich teilhaftig werden der Unsterblichkeit, denn ein Sich-Vervollkommnen, das dem Tode verfallen würde, wäre ein gro­ßer Weltbetrug.

So etwas ist ausgedrückt durchaus in Wort- und Gedankenformen, die dem Westen nachgebildet sind, die Gedankenform entlehnt, die Wortform nachgebildet. Aber so, wie es ausgesprochen wird, und so, wie der Impuls da ist, um es auszusprechen, so ist es im Westen un­möglich. Man kann das nicht bei irgendeinem Philosophen des We­stens in derselben Weise ausgesprochen finden. Man stelle sich nur einmal vor, daß Mill oder Bergson so etwas aussprechen sollten! Man kann es sich nicht vorstellen. Und für solche Dinge muß man heute eine Empfindung haben. Man muß eine Empfindung dafür haben, aus welchen Lebensquellen irgendwelche Worte hervorkommen. Der Wort-inhalt wird immer bedeutungsloser gegenüber einer Weltanschauung. Die Empfindung, aus welchen Lebensquellen die Dinge herauskom­men, das ist es, was eine Bedeutung hat.

Heute kann man sich ein Sprechen, wie es Solowjew tut, nur bei einem Menschen vorstellen, der noch leibhaftig gewußt hat, was im

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Grunde genommen jeder seiner Volksgenossen der Ikona, dem Mutter­gottesbilde gegenüber übt, der drinnensteht in diesem Volkstum, aus dem heraus man ohne abstrakt-logische Gründe beweisen darf; in je­nem Volkstum, dem die Beweise aus bloßer abstrakter Logik heraus ein Geringeres gelten als solche Beweise aus dem ganzen Menschen heraus.

Bis in diese Zeilen des Solowjew hinein fühlt man, daß es vom Osten herüber aus dem ganzen Menschen herausklingt, nicht nur aus dem bloßen intellektuellen menschlichen Verstande. Weil Solowjew aus sei­nem Volkstum heraus spricht und denkt und empfindet, trägt seine ganze Weltanschauung den Zug hin zu dem Christus. Weil er, ich möchte sagen, wie ein Außerliches aufgenommen hat die Gedanken-formen des Westens, trägt seine Weltanschauung zu gleicher Zeit ne­ben dem Christus-Zug den Zug hin zum Vatergotte. Daher finden wir bei ihm, was wir sonst in der Gegenwart fast nirgends mehr finden, eine ursprüngliche, klare Scheidung im menschlichen Empfinden zwi­schen dem Wege zum Vatergott und dem Wege zum Christus, zum Sohnesgott. Man kann schon in einem solchen Geiste wie Wladimir Solowjew eine Andeutung finden zu dem, was für die Zukunft kom­men muß. Denn kommen muß ein Zusammenarbeiten der verschie­densten Lebensgebiete über die Erde hin. Das kann aber nicht kom­men, wenn irgendein Lebensgebiet glaubt, das Ganze zu haben.

Die Menschheit ist ausgegangen von einer Einheit. Und gehen wir zurück in die dunklen grauen Urzeiten der Menschheitsentwickelung, finden wir eine Urweltweisheit, die allerdings noch instinktiv war, die aber gerade als solche instinktive Weisheit den ganzen Menschen erfüllte. Über die ganze Erde hin verständigte man sich noch nicht durch den logischen Gehalt der Sprache, sondern man verständigte sich in der Urweltweisheit äußerlich, weil man noch die innere Fähig­keit hatte, sich, ich möchte sagen, in Gebärden zu verstehen, von de­nen der heutige Mensch keine Ahnung mehr hat. Man verständigte sich durch etwas, was heute höchstens erhalten geblieben ist in jenen Resten unserer Sprachschätze, die wir als Interjektionen, als Emp­findungswörter bezeichnen. Natürlich, wenn der Mensch seufzt: Ach!, wenn der Mensch äußert: Oh!, dann versteht man ihn überall! Solch

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einem Verstehen war das Verstehen zur Zeit der instinktiven Urweis­heit ähnlich. Heute haben wir verlernt, in der ganzen Sprache so zu empfinden, wie die Urweltweisheit empfunden hat, und geblieben ist ein solches Empfinden nur gegenüber den Interjektionen, den Emp­findungswörtern, welche wir ja nur ausnahmsweise gebrauchen.

Nur in Parenthese soll gesagt werden, daß es jetzt gerade charak­teristisch ist, daß aus der Unbefriedigtheit der Menschen, die aus dem ganzen Chaotischen unseres Geisteslebens heraus erwächst, die Roman­schriftsteller anfangen, in Interjektionen zu schreiben. Man kann es heute schon antreffen, und ich zitiere dabei nicht, sondern ich charak­terisiere nur, wie es sein könnte. Man kann heute schon in irgend­einem Prosawerke etwa finden: Ah! Oh! Au! Jeh! Und dann beginnt es: Wer - dann kommen wieder einige Interjektionen. Wenigstens manche neuere Romanprodukte zeigen, daß wir auf diesem Wege sind. Sie sind symptomatisch nicht ohne Bedeutung. Das, wie gesagt, sei nur in Parenthese gesagt.

Aber wir haben verlernt, in die Sprache hineinzutragen dasjenige, was wir heute nur in die Empfindungswörter hineintragen. Denken Sie nur einmal, wenn wir «Anthropos» sagen - es bedeutet «Mensch». Ich will jetzt die Untergründe nicht hervorheben, warum es «Mensch» bedeutet. Wenn wir «Anthropoiden» sagen, so sind das die höheren, menschenähnlichen Tiere. Es hängt das zusammen mit demjenigen Worte, welches «ähnlich sein» bedeutet, ein Dem-Menschen-ähnlich-Sein. In der Endsilbe «oiden» drückt sich das Ahnlichsein aus. Nun besteht ein merkwürdiger Zusammenhang zwischen dem Griechischen und zum Beispiel dem Deutschen. Nur ist im Deutschen dieses, was sich hier in dem Ahnlichsein ausdrückt, in der Nachsilbe «ig» oder «ich» enthalten. Wenn wir also zum Beispiel «Wicht» haben, was zu­sammenhängt mit «Gewicht», mit demjenigen, was schwer ist: wenn wir es spöttisch sagen, sagen wir es auch durch die Kontrastwirkung für das besonders «Leichte»; wenn wir es aber anwenden wollen in Eigenschaftsform, so daß die Eigenschaft ähnlich ist demjenigen, was im «Gewicht» liegt, dann sagen wir «wichtig». Wir drücken also in diesem «wichtig» etwas aus wie: ähnlich dem Gewichte.

Aber denken Sie, wenn wir das «ig», das wir ja so aussprechen wie

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«ich», wenn wir dieses «ich» für sich aussprechen, so haben wir die deutsche Bezeichnung für das Ego, für das eigene Wesen, wenn wir es bezeichnen wollen. Und das ist durchaus auch eine etymologische Wahrheit. In dem Ich liegt das Hinstreben nach demjenigen Wesen in dem Menschen, das durch seine Totalität weltähnlich werden kann. Ich ist allem ähnlich, Mikrokosmos gegenüber dem Makrokosmos. Man darf allerdings, wenn man solche Dinge einsehen will, nicht bloß auf jene Oberflächenbetrachtung eingehen, die heute als Etymologie oder Sprachwissenschaft getrieben wird, sondern man muß um eine Schichte, um eine Stufe tiefer gehen und sich für die Lautzusammen­hänge einen gewissen Sinn erwerben können.

Das führte ich nur an, um einen der Züge zu charakterisieren, die uns dahin bringen müssen, in die Sprache wiederum unterzutauchen nach einem viel lebendigeren Inhalte, als wir ihn heute in den Spra­chen der Welt haben. Wir müssen eben dahin kommen, die Worte nicht als Worte zu nehmen, sondern sie aufzusuchen in ihren Lebens-wurzeln. Wir müssen verstehenlernen, daß zwei das vollständig gleiche sagen können, und daß es dennoch verschieden ist, je nachdem es aus der einen oder der andern Lebensweise stammt. Eine solche Vertiefung der Empfindungen werden wir aber brauchen, wenn wir in jenes Zusammenarbeiten der Menschheit über den Erdball hin ein­gehen wollen, das notwendig sein wird, wenn die Menschheit wie­derum einen Aufstieg erleben soll.

Es genügt nicht, daß man den Christus nur anspricht als: Herr, Herr! - Der Christus muß etwas werden, was den ganzen Menschen ausfüllt. Das kann nur geschehen, wenn man sich eben mit seinem Verstande an etwas anlehnt, das uns etwa dann entgegentritt, wenn wir hinblicken zu der Urweltweisheit und uns sagen: Sie machte die Menschheit zu einer Einheit. - Das war aber eine Einheit, innerhalb welcher die Individualität des einzelnen verlorenging. Dann ging die Evolution weiter. Immer mehr und mehr trat die Individualisierung der Menschheit ein. Immer mehr fühlten sich die Menschen jenem Punkte entgegengehend, wo jeder sich als einzelner fühlen mußte, denn das ist allein die Gewähr für das Erfühlen der Freiheit. Da mußte in die Menschenentwickelung sich etwas ergießen, was nun

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wiederum über die ganze Erde hin Einheit bringen kann, und das, was sich da ergossen hat, das ist die Christus-Wesenheit. Erst dann wird man die Christus-Wesenheit richtig verstehen, wenn man im Hin-blicke auf sie fühlen wird den Impuls zu einer sozialen Menschheits­Vereinigung über die ganze Erde hin. Und auch umgekehrt kann man sagen: Zu einem richtigen sozialen Impuls über die ganze Erde hin führt nur die richtig verstandene Christus-Wesenheit.

Wir blicken hin auf die Urweltweisheit, die sich aus instinktiven Untergründen heraus zu gewissen Höhen des Schauens - nicht unseres heutigen, sondern des alten Schauens - entwickelt hat. Wir finden dieses Schauen in seinem letzten Ausbildungsstadium wie durch ein Weltsymbolum ausgedrückt bei demjenigen, was die drei Weisen aus dem Morgenlande, die Magier aus dem Morgenlande zu dem Christus Jesus hin getragen haben. Was sie zu dem Christus Jesus führte, ist urälteste und damals höchste Menschenweisheit. Und wir finden zu gleicher Zeit durch einen andern Evangelisten ausgedrückt die Art, wie der einzelne Mensch einfach aus den innersten Kräften seiner Seele heraus, wie im Traume, wo der einzelne auch mit sich allein ist - auch wenn er in Gesellschaft ist, allein ist -, wir finden, wie aus der Einsamkeit ihrer Seele träumend die Hirten auf dem Felde nun auch zu dem Christus Jesus hingeführt werden: der erste Aufgang eines neuen Zeitalters. Die Menschheit hatte schon vom 4. nachchrist­lichen Jahrhundert ab nicht mehr die Weisheit der Magier aus dem Morgenlande. Und in dem Zeitpunkte des Mysteriums von Golgatha haben wir Urweltweisheit in ihrer höchsten Ausbildung, die dann verglimmt, sich begegnend, verschlungen mit demjenigen, was zu­nächst in höchster Weisheitsarmut auftritt, was aber immer weitere Ausbildung erfahren muß, so daß es zuletzt in jedem einzelnen Men­schen wurzeln kann, aber auch alle Menschen miteinander verbindet.

Diejenige Weisheit, welche die Magier aus dem Morgenlande hin­geführt hat zu dem Christus Jesus, sie hat in seiner Jugend Augustinus noch versucht, aus ihren letzten Resten zu erhalten. Aber Augustinus hat sie bereits in einer Form empfangen, in der er sich auf die Dauer nicht zu ihr bekennen konnte. Sie war eben in den vollständigen Nie­dergang gekommen. Und Augustinus mußte sich wenden zu dem,

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was im Anfange der Entwickelung da war, was immer weiter und weiter gehen muß, was gesucht werden muß, damit die Menschheit wiederum zur Vereinigung über den ganzen Erdkreis kommen kann.

Wenn wir diese Andeutungen - denn Andeutungen sollen es zu­nächst nur sein - in der richtigen Weise verfolgen, dann werden sie Kräfte abgeben, die tiefer und immer tiefer in das Verständnis der Christus-Wesenheit, in das Verständnis des Mysteriums von Golgatha hineinführen. Das ist es, was ich zu den Betrachtungen über die Christus-Wesenheit heute noch habe hinzufügen wollen.

DRITTER VORTRAG Dornach, 8. Januar 1922

#G210-1967-SE036 Neue und alte Einweihungsmethoden

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DRITTER VORTRAG

Dornach, 8. Januar 1922

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Wir wollen heute von einem andern Gesichtspunkte aus, als das ge­stern geschah, die Differenzierung innerhalb der Menschheit betrach­ten, und zwar heute von einem historischen Gesichtspunkte aus. Wir wollen einmal mit dem ausgesprochenen Ziel, das Verständnis für die Gegenwart zu fördern, die menschliche Entwickelung von dem Zeit­punkte an betrachten, unmittelbar nachdem die atlantische Kata­strophe vorüber war. Wenn wir innerhalb der menschlichen Evolution überhaupt von Zivilisationsentwickelung sprechen, haben wir dann die erste maßgebliche Entwickelungsperiode dieser Art zu suchen in der alten indischen Kulturepoche. Und da finden Sie in meiner «Ge­heimwissenschaft im Umriß» von einem gewissen Gesichtspunkte aus eine Charakteristik dieser besonderen Kulturart, welche die des ur­alten Indiens war, jener Kulturart, von der in den mit Recht bewun­derten Veden und in der mit Recht bewunderten altindischen Philo­sophie nur noch Nachklänge vorhanden sind; denn es gibt keine ge­schriebenen Urkunden aus dem, was in dieser Beziehung als indische Kultur genannt wird. Wenn wir unsere heutigen Worte gebrauchen, so müssen wir diese uralt indische Kultur bezeichnen als eine im eminentesten Sinne religiöse Kultur. Aber wir werden dann trotzdem mit dieser Bezeichnung nur das Richtige treffen, wenn wir uns über das, was eigentlich gemeint ist, mehr aussprechen.

Das religiöse Element dieser uralt indischen Kultur war ein solches, daß es zu gleicher Zeit alles umfaßt hat, was wir von unserem heu-tigen Gesichtspunkte aus in Wissenschaft und Kunst anerkennen. Das gesamte Geistesleben des vollen Menschen wurde umfaßt von dieser Kultur, die wir, weil es trotzdem die treffendste Bezeichnung ist, als eine religiöse Kultur bezeichnen müssen. Diese religiöse Kultur erzeugt in den Menschen das Gefühl, daß sie in den Tiefen ihres Wesens ver­bunden sind mit einer göttlich-geistigen Welt. Und dieses Gefühl wurde in einer so intensiven Weise ausgebildet, daß das ganze Leben eigentlich durchleuchtet war von ihm, daß die helleren Bewußtseinszustände

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des Menschen, die unsere Wachzustände vorbereiteten, und auch seine traumhaften Zustände, die sich dann in unser chaotisches Traum- oder Schlafleben in der weiteren Evolution verloren haben, daß diese beiderlei Zustände durchzogen waren von diesem intensiven Bewußtsein der Verbindung des Menschlichen mit einem Göttlich-Geistigen.

Aber wir dürfen nur diese allgemeine Charakteristik des Religiösen von unseren Begriffen hernehmen. Denn unsere Begriffe verführen uns zu stark dazu, das Religiöse als etwas Allgemeines, als etwas von dem übrigen Leben in einer gewissen Weise abstrakt Ferneliegendes zu betrachten. Bei denjenigen Menschen, von denen wir hier sprechen, war das Religiöse so, daß sie in den Inhalten, die sie mit dem Religiö­sen verbanden, zu gleicher Zeit ein bildhaftes Wissen hatten von dem Wesen des Menschen, und daß sie ein ausgebreitetes bildhaftes Wissen hatten von dem Bau des Weltenalls.

Wir müssen uns allerdings vorstellen, daß das, was in der Welt­anschauung dieser Menschen an bildhaftem Wissen von dem Bau des Weltenalls lebte, sich in keiner Weise vergleichen läßt mit dem, was wir etwa heute in unseren astronomischen oder astrophysischen Kenntnissen haben. In diesen astronomischen und astrophysischen Kenntnissen haben wir eine Art Mechanismus des Weltenalls. Die alte indische Bevölkerung hatte ein Weltenall, das in den bildhaften Vor­stellungen dieser Menschen bewohnt war von göttlich-geistigen Wesen­heiten. Von irgendwelchen in äußerlichen, bloß mechanischen For­meln auszusprechenden Beziehungen von Gestirnen und von Bewegun­gen von Gestirnen in unserem Sinne konnte eigentlich noch nicht die Rede sein. Wenn diese Menschen aufblickten zum gestirnten Himmel, dann war es ja für sie so, daß sie in den äußeren Sternkonstellationen und Sternbewegungen nur etwas sahen, was ihnen in ihrem bildhaften Bewußtsein gut bekannt war, was sie schauten. Es war etwa so, daß man die Sache in der folgenden Art charakterisieren kann.

Nehmen wir an, wir haben irgendwo eine reichbelebte Szene gese­hen, in der Menschen sich getummelt haben, in der Menschen allerlei verrichtet haben. Wir waren etwa Teilnehmer irgendeines Festes, bei dem man mancherlei vollbracht hat. Wir gehen nach Hause. Am

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nächsten Tag bekommen wir eine Zeitung mit einem Bericht über die­ses Fest, das wir selbst gesehen haben. Wir lassen unseren Blick fallen auf die toten Buchstaben, deren Bedeutung wir allerdings kennen, und die, wenn wir sie lesend verbinden, uns einen schwachen, abge­blaßten Begriff geben von dem, was wir in aller Lebendigkeit am vor­hergehenden Tage erlebt haben. So etwa war das, was in dieser ur­alten indischen Zeit von den Menschen in ihrem instiktiven Schauen erfaßt worden war, und im Verhältnis dazu dasjenige, was sie in den Sternkonstellationen und Sternbewegungen sahen. Diese Sternkonstel­lationen und Sternbewegungen waren eben nur Schriftzeichen, man könnte sagen blasse Schriftzeichen. Und wenn sie diese Schriftzeichen etwa, sagen wir, nur abgemalt hätten und auf Papier gehabt hätten, so würden sie das durchaus als eine bloße Schrift über die Wirklich­keit empfunden haben.

Was für das Schauen dieser Menschen hinter diesen Schriftzeichen war, für das entwickelten sie nicht nur eine vorstellungsgemäße Er­kenntnis, sondern zu gleicher Zeit ein liebendes Gefühl. Sie konnten das, was sie da in Bildern über das Weltenall erfaßten, nicht etwa bloß mit gleichgültigen Vorstellungen aufnehmen, sondern sie ent­wickelten dafür ein lebendiges Gefühl. Und zu gleicher Zeit entwik­kelten sie dafür etwas, was man nennen könnte ein ständiges Empfin­den, daß alles, was sie taten, auch die kompliziertesten Handlungen, ein Ausdruck des vom göttlich-geistigen Wesen erfüllten Kosmos waren. Der Mensch fühlte seine Glieder durchdrungen von diesem göttlich-geistigen kosmischen Wesen. Er fühlte seinen Verstand durch­drungen von diesem göttlich-geistigen Wesen, seinen Mut und seinen Willen. So daß der Mensch eben auch sagen konnte, wenn er von sei­nen eigenen Handlungen sprach: Göttlich-geistige Wesen tun das. -Und da in jenen alten Zeiten die Menschen sehr wohl wußten, daß unter diesen göttlich-geistigen Wesen auch Luzifer und Ahriman sind, so waren sie sich eben auch bewußt, daß, indem Göttlich-Geistiges in ihnen waltete, sie auch das Böse neben dem Guten tun konnten.

Ich möchte mit dieser Auseinandersetzung eine Vorstellung davon hervorrufen, wie den ganzen Menschen erfüllend und den ganzen Menschen in Zusammenhang bringend mit der Fülle des Kosmos diese

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kosmische Religion beschaffen war, die eine kosmische Weisheit, aber auch zu gleicher Zeit eine den Menschen offenbarende Weisheit war. Und gerade darin besteht der Fortschritt in der Entwickelung der Menschheit, daß nun vor allen Dingen zunächst das allerintensivste religiöse Gefühl abblaßte. Gewiß, Religion blieb für alle späteren Zei­ten, aber die Intensität des religiösen Lebens, wie es in diesen ersten indischen Zeiten vorhanden war, die blaßte ab. Vor allen Dingen blaßte zuerst die Empfindung ab für das Darinnenstehen mit seinen Handlungen, mit seinen Willensimpulsen, im Bereich der göttlich-geistigen Wesenheiten. Nicht etwa, als ob der Mensch in der urper­sischen Zeit, also in der zweiten nachatlantischen Kulturperiode, die­ses Gefühl des Darinnenstehens gar nicht mehr gehabt hätte. Er hat es gehabt, nur abgeblaßt war es. In der ersten Zeit der nachatlantischen Kulturentwickelung war dieses Gefühl etwas Selbstverständliches. In der zweiten nachatlantischen Kulturblüte, in der urpersischen Zeit, blaßte eben das tiefste, das intensivste Religiöse ab, und der Mensch mußte schon beginnen, aus sich heraus etwas zu entwickeln, um in einer mehr aktiven Weise, als das zunächst der Fall war, seine Verbin­dung mit dem kosmisch Göttlich-Geistigen zu erfassen. So daß man sagen könnte: In der ersten nachatlantischen Zeit hatte man die inten­sivste Religion; und man hatte in der zweiten nachatlantischen Zeit eine abgeblaßte Religion, aber der Mensch mußte innerlich aktiv etwas entwickeln, was ihn wieder verbindet mit den kosmisch-geistig-seelischen Wesenheiten.

Wenn wir heute ein Wort dafür anwenden wollen, so können wir aus dem Bereich der Worte, die uns bekannt sind, ein Wort wählen, das allerdings erst später geprägt worden ist. Aber wir nehmen es eben doch aus einer Zeit, in der man noch ein Bewußtsein von dem hatte, was eigentlich einmal in Urzeiten in der Menschheitsentwickelung vorhanden war. Wenn der Urinder hinaufschaute zum Himmel, dann empfand er überall einzelne Wesenheiten, diese oder jene göttlich-geistigen Wesenheiten nebeneinander, sozusagen eine Bevölkerung von göttlich-geistigen Wesenheiten. Das war abgeblaßt und, man möchte sagen, was individualisiert war, was als einzelne göttlich-geistige We­senheiten da war, das blaßte so ab, daß es im allgemeinen wie ein

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geistiger Kosmos war. Man könnte es sich auch unter dem folgenden Bilde vorstellen: Denken Sie sich einmal, Sie sehen meinetwillen einen Vogelschwarm ganz in der Nähe. Sie sehen einzelne Vögel; diese ent­Fernen sich immer weiter und weiter, und es wird eine schwarze Masse, es wird ein einheitliches Gebilde. So wurde der göttlich-geistige Kosmos, indem sich die Menschen von ihm geistig entfernten ein ein­heitliches, in sich verschwommenes Gebilde.

Noch die Griechen hatten gewissermaßen ein Nachgefühl davon, daß so etwas eben doch der menschlichen Betrachtung einmal zu­grunde gelegen hatte. Daher nahmen sie in ihre Sprache herein das Wort «Sophia». Was als ein göttlich-geistiger Kosmos vorhanden war, das ergoß sich einst in den Menschen selbstverständlich, nahm den Menschen selbstverständlich hin. Dem, was jetzt, man möchte sagen, unter geistiger Entfernung in dieser Vereinheitlichung gesehen wurde, dem mußte man etwas von innen entgegenbringen. Und das bezeich­neten dann die Griechen, die noch ein Gefühl davon hatten, mit dem: Ich liebe = philo. - So daß man sagen kann, in dieser zweiten nachatlantischen Periode, in der urpersischen Periode, war bei den Eingeweihten an der Stelle des alten ungeteilten Religiösen eine Zwei­heit vorhanden: Philosophie, Religion. Die Philosophie hatte man sich errungen. Die Religion war das Überlieferte, aber das in der Überlieferung abgeblaßt Gewordene.

Wenn wir weiter vorrücken zu der dritten nachatlantischen Pe­riode, so kommen wir zu einem weiteren Abblassen des Religiösen. Wir kommen aber auch zu einem Abblassen der Philosophie, und wir müssen uns den konkret-realen Vorgang in der folgenden Weise vor­stellen. Während in der urpersischen Zeit durchaus dieses Einheits­gebilde der kosmischen Wesenheiten vorhanden war und empfunden wurde als das den Weltenraum durchziehende Licht, das Urlicht, die Ur-Aura, Ahura Mazdao, kamen jetzt die Menschen, indem sie sich noch weiter entfernten von dieser Anschauung, dazu, schon in einer gewissen Weise den Gang der Sterne, die Konstellation der Sterne mehr in Betracht zu ziehen, nicht mehr in erster Linie zu empfinden das wesenhafte Göttlich-Geistige dahinter, sondern mehr zu empfin­den die Schrift. Und daraus entstand dann etwas, was wir in der chaldäischen

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Weisheit, in der ägyptischen Weisheit, in zwei verschiedenen Formen haben. Es entstand dasjenige, was in sich schloß eine Erkennt­nis über die Sternkonstellation, über die Sternbewegungen Aber die innere Aktivität des Menschen war noch bedeutsamer geworden. Der Mensch mußte jetzt seine Liebe nicht nur verbinden mit dieser gött­lichen Sophia, die als das Urlicht die Welt durchglänzte, sondern der Mensch mußte verbinden sein eigenes Schicksal, seine eigene Stellung in der Welt mit dem, was da in einer Weltenschrift durch die Stern-konstellation und durch die Sternbewegungen zu schauen war inner­halb des Kosmos. Und das, was jetzt neu errungen wurde, war daher eine Kosmo-Sophia. Diese Kosmosophie enthielt zwar noch durch­aus den Hinweis auf die göttlich-geistigen Wesenheiten, aber man sah schon mehr das, was nur der kosmische Schriftausdruck für die Taten dieser Wesenheit ist. Und dabei blieb eben wiederum abgeblaßt das, was Philosophie und was Religion war.

Wenn wir dies verstehen wollen, dann müssen wir uns eben klar sein darüber, daß das, was wir heute noch Philosophie nennen, natür­lich nur ein ganz schwaches, abgeblaßtes Schattenbild ist von dem, was etwa in den Mysterien der dritten nachatlantischen Epoche noch als etwas Lebendigeres empfunden wurde, was dann die Griechen in einer weiteren Abblassung Philosophie genannt haben. Wenn wir aber die dritte nachatlantische Epoche betrachten, so sehen wir überall in deren Kultur diese drei Glieder des menschlichen Geisteswesens aus­gesprochen: eine Kosmosophie, eine Philosophie, eine Religion. Und wir bekommen nur die rechten Vorstellungen davon, wenn wir uns zu sagen wissen, daß bis in diesen Zeitpunkt hinein die Menschen so lebten, daß sie eigentlich mit ihrer Seele mehr außer dem Irdischen als im Irdischen lebten. Wenn wir von diesem Gesichtspunkte aus zum Beispiel die ägyptische Kultur betrachten - bei der chaldäischen war es noch ausgesprochener -, so sehen wir sie nur in richtiger Weise, wenn wir uns sagen: Ja, diejenigen Menschen, die überhaupt Anteil hatten an dieser Kultur, die verfolgten mit innigem Anteil, wenn der Abend herankam, die Konstellation der Gestirne. Sie erwarteten zum Beispiel gewisse Erscheinungen des Sirius, sie sahen sich die Planeten-konstellationen an, und sie bezogen das, was sie da anschauen konnten,

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darauf, wie ihnen der Nil dasjenige gab, was sie zu ihrem irdischen Leben brauchten. Aber sie sprachen eigentlich nicht in erster Linie von dem Irdischen. Dieses Irdische war ihnen ein Feld ihrer Arbeit. Aber wenn sie über das Feld sprachen, das sie bearbeiteten, so sprachen sie eigentlich so darüber, daß sie es anschauten als in Beziehung stehend zu dem Außerirdischen. Und sie bezeichneten die verschiedenen Ge­staltungen, welche der von ihnen bewohnte Erdenfleck im Laufe der Jahreszeiten annahm, nach dem, wie die Gestirne sich in diesen auf­einanderfolgenden Jahreszeiten offenbarten. Sie beurteilten die Erde nach dem Himmel. Der Tag war ihnen etwas, das ihnen vom see­lischen Standpunkte aus eigentlich Dunkelheit entgegenbrachte. Und Helligkeit kam in diese Dunkelheit hinein, wenn sie das, was der Tag brachte, deuten konnten aus dem, was sie erschauen konnten in der Nacht am gestirnten Himmel.

Was die Leute in der damaligen Zeit empfanden, würde man etwa so aussprechen:

Oh, dunkel ist der Erde Antlitz,

Wenn die Sonne blendend dunkelt,

Doch hell wird mir mein Tagefeld,

Wenn die Seele es beleuchtet durch Sternenweisheit.

Wenn man einen solchen Satz aufschreibt, so kann man in ihm emp­finden, wie eigentlich die Gefühlswelt dieser dritten nachatlantischen Periode war. Und man bekommt vielleicht gerade von einer solchen Betrachtung aus ein Gefühl davon, wie diejenigen Menschen, die noch darinnenstanden in den Nachklängen eines solchen Empfindens, zu den späteren Griechen, zu den Angehörigen der vierten nachatlan­tischen Kulturperiode sagen konnten: Eure Anschauung der Welt, euer ganzes Leben ist kindlich, denn ihr wißt eigentlich nur noch etwas von der Erde. Eure Vorfahren in alten Zeiten haben gewußt, die Erde mit dem Licht des Himmels zu beleuchten, ihr aber lebt im Dunkel der Erde.

Allerdings empfanden die Griechen schon dieses Dunkel der Erde als hell. Die Griechen hatten schon durchaus die Tendenz, die Kos­mosophie allmählich zu überwinden und sie zu verwandeln. Und

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indem alles das, was von den Himmelsweiten hereinschaute, noch wei­ter abgeblaßt wurde, hatten sie schon die Kosmosophie in eine Geosophie verwandelt. Und die Kosmosophie war für sie eigent­lich nur eine Tradition. Sie war für sie etwas, was sie lernen konnten, wenn sie zurückblickten zu denen, die ihnen das Entsprechende über­lassen hatten.

So etwa stand Pythagoras, man möchte sagen, an der Schwelle des vierten nachatlantischen Zeitalters, indem er herumzog bei den Agyp­tern, Chaldäern und weiter hinein nach Asien, um da aufzunehmen, was diese Menschen noch ihm überliefern konnten von der Weisheit, die ihre Urväter in den Mysterien als ihre Kosmosophie, als ihre Philosophie, als ihre Religion gehabt hatten. Und dasjenige, was dann noch verstanden werden konnte, war dann eben Kosmosophie, Philo­sophie, Religion.

Nur war diese Geosophie der Griechen - das beachtet man heute viel zu wenig - doch noch in bezug auf das Irdische ein solches Wis­sen, eine solche Weisheit, daß der Mensch wirklich sich verbunden fühlte mit der Erde, und daß dieses Verbundensein mit der Erde einen durchaus seelischen Charakter hatte. Bei dem gebildeten Griechen hatte das Verbundensein mit der Erde einen seelischen Charakter. Die besondere Art, welche die Griechen hatten, Quellen zu beleben mit Nymphen, den Olymp zu beleben mit den Göttern, kurz, alles das als eine Lebensanschauung auszubilden, was hinweist, jetzt nicht auf eine Geologie, wo man nur mit Begriffen die Erde umspannt, sondern auf eine Geosophie, wo eben Wesenhaftes in der Erde erlebend erkannt und erkennend erlebt wird, das war etwas, was die heutige Mensch­heit nur noch in der Abstraktion kennt, was aber noch durchaus le­bendig war bis in das vierte nachchristliche Jahrhundert herein.

Bis in das vierte nachchristliche Jahrhundert herein hatte man noch etwas von einer solchen Geosophie. Und auch von dieser Geosophie blieb noch einiges in der Tradition erhalten. Was wir bei Seotus Erigena finden zum Beispiel, der von der irischen Insel und deren Mysterien das mitgebracht hatte, was er dann in seiner Schrift «Über die Teilung der Natur» zum Ausdrucke gebracht hat, das kann nur verstanden werden, wenn man das, was sich als das Ergebnis einer

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solchen Tradition ergibt, aus einer Geosophie heraus auffaßt. Denn in der fünften nachatlantischen Periode, die sich dann vorbereitete und die mit dem 15. Jahrhundert heraufkam, blaßte auch diese Geo­sophie ab, und was jetzt kam, das war, daß der Mensch eigentlich verloren hatte das innerliche Miterleben mit dem Weltenall. Geo­sophie verwandelte sich, möchte man sagen, in Geologie. Das ist im weitesten Sinne zu fassen, nicht nur wie die heutige Schulphilosophie das meint. Kosmosophie verwandelte sich in Kosmologie; Philosophie behielt man bei, machte aber ein abstraktes Wesen daraus, das eigent­lich in Wahrheit Philologie genannt werden müßte, wenn nicht der Name schon in Anspruch genommen wäre von etwas noch viel Greu­licherem, als man in der Philosophie haben möchte.

Es bleibt dasjenige übrig, was Religion ist, was schon ganz abseits steht von der eigentlichen Erkenntnis, was im Grunde genommen von dem Menschen nur noch aus den Traditionen angenommen wird. Denn religionsschöpferische Naturen treten in dieser fünften nach-atlantischen Periode nicht mehr im allgemeinen Zivilisationsleben auf. Betrachten Sie alles, was da kam: religionsschöpferische Naturen im eigentlichen Sinne des Wortes waren nicht mehr da. Aber das hat ja auch seine Berechtigung. Jn den Zeiträumen vorher, in der ersten, zweiten, dritten, vierten nachatlantischen Periode gab es immer reli­giös schöpferische Naturen, religionsschöpferische Persönlichkeiten; denn es konnte noch immer etwas hereingeholt werden aus dem Kos­mos, oder wenigstens konnte noch etwas heraufgeholt werden aus der Erde. Und in den griechischen Mysterien, in denjenigen Mysterien, die man im Gegensatze zu den Himmelsmysterien die chthonischen Mysterien nennt, die aus den Tiefen der Erde heraufholten ihre Inspi­ration auf die verschiedenste Weise. in diesen Mysterien kam vorzugs­weise die Geosophie zustande.

Mit dem Hineingehen in die fünfte nachatlantische Periode und dann mit dem Darinnenstehen in diesem Zeitabschnitt wurde der Mensch auf sich selbst zurückgewiesen. Er brachte die «Logie», er brachte dasjenige, was nun aus ihm selbst herauskommt, zum Vor-schein, zur Offenbarung. Und so wird die Welterkenntnis eine Welt der abstrakten, der logischen Begriffe, eine Welt der abstrakten Ideen.

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In dieser Welt der abstrakten Ideen lebt der Mensch seit dem 15.Jahr-hundert. Mit dieser Welt der abstrakten Ideen, die er dann zusammen-rechnet in die Naturgesetze, sucht er jetzt von sich aus dasjenige zu erfassen, was dem früheren Menschen sich geoffenbart hat. Daß es in dieser Periode nicht mehr religionsschöpferische Naturen gibt, hat eine gewisse Berechtigung, denn es fällt in den vierten nachatlan­tischen Zeitraum das Mysterium von Golgatha, und dieses Mysterium von Golgatha gibt die letzte Synthesis des religiösen Lebens. Das gibt diejenige Religion, die der Abschluß der irdischen Religionsströmun­gen und -strebungen sein sollte. Und in religiöser Beziehung können eigentlich alle folgenden Zeiten nur auf dieses Mysterium von Golgatha zurückweisen.

Indem also gesagt wird, daß seit der fünften nachatlantischen Kul­turzeit nicht eigentlich mehr religiös produktive Naturen auftreten können, wird damit nicht etwas Tadelndes, etwas Kritisches gegen­über der Geschichtsentwickelung gesagt, sondern es wird etwas gesagt, was gerade etwas Positives ist, weil es sich durch das Auftreten des Mysteriums von Golgatha rechtfertigen läßt.

So können wir uns den Gang der Menschheitsentwickelung in bezug auf die geistigen Strömungen und die geistigen Bestrebungen vor Au­gen stellen. So können wir sehen, wie es dazu gekommen ist, daß wir heute drinnenstehen in dem, was im Grunde genommen nicht mehr einen Zusammenhang mit der Umwelt hat, sondern was etwas aus dem Menschen Herausgesponnenes ist, aber etwas, in dem der Mensch doch produktiv ist und immer mehr produktiv werden muß. Denn indem er dieses Abstrakte weiter ausbildet, wird er eben durch Imagi­nation wiederum zu einer Art Geosophie und Kosmosophie aufrük­ken. Er wird durch die Inspiration die Kosmosophie vertiefen und zu einer wahren Philosophie aufrücken, und er wird dann durch Intui­tion die Philosophie vertiefen und zu einer wirklich religiösen Welt-auffassung, die nun auch mit der Erkenntnis wiederum eins sein kann, vorrücken können.

Man möchte sagen, daß wir eigentlich heute erst im Allerelemen­tarsten dieses Fortschrittes stecken. Selbst mit dem, was wir nun heute schon fassen können als eine Wiedergabe von geistigen Offenbarungen,

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die ja seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aus der gei­stigen Welt in die irdische hereinleuchten und in dieser Idee aufgefaßt und empfangen werden konnten, selbst damit stehen wir eigentlich im Anfange, in einem Anfange, der einem ein Bild aufdrängt, welches charakteristisch sein kann für die Auffassung, die heute von der äuße­ren, ganz abstrakten Kultur den ersten konkreten Äußerungen und Mitteilungen aus der geistigen Welt entgegengebracht wird. Wenn man heute über die geistige Welt spricht, und die anerkannte Erkennt­nis hört das in ihren Vertretern, dann wird diesen Auseinandersetzun­gen über die geistige Welt eine solche Art des Verständnisses entgegen­gebracht, die man natürlich ein Unverständnis nennen muß. Denn was da entgegengebracht wird, läßt sich vergleichen mit dem Folgen­den: Nehmen wir an, ich würde einen Satz hier aufschreiben, und der­jenige, der dann das Stückchen Papier bekommt, würde, um zu einem Verständnis dessen zu kommen, was ihm da gegeben worden ist, die Tinte analysieren. So etwa ist es, wenn unsere Zeitgenossen über Anthroposophie schreiben, wie wenn jemand, der einen Brief be­kommt, die Tinte analysiert. Diesen Eindruck hat man immer. Dieses Bild kann einem eben naheliegen, wenn man ausgegangen ist von einer Betrachtung, daß ja selbst die Sternkonstellation und die Sternbewe­gung für die erste Menschheitsentwickelung in der nachatlantischen Periode nur etwas wie ein Schriftausdruck waren für das, was sie als die geistige Bevölkerung, möchte ich sagen, des Kosmos erlebte.

Man stellt heute solche Dinge vor eine gewisse Zahl von Menschen hin, um doch ein Gefühl dafür hervorzurufen, daß dasjenige, was als Anthroposophie auftritt, nicht aus irgendwelchen phantastischen Un­tergründen geschöpft ist, sondern daß es geschöpft ist aus wirklichen Erkenntnisquellen, und daher sich als tauglich erweist, die Menschheit der Erde nach ihrer Wesenheit zu erkennen. Anthroposophie ist taug­lich, Licht zu verbreiten über die Menschheitsdifferenzierung in unse­rer Gegenwart vom Westen durch die Mitte zum Osten hin, wie wir das gestern versucht haben. Sie ist aber auch tauglich, über diejenigen Differenzierungen Licht zu verbreiten, die im Laufe der Zeiten in der Menschheitsevolution aufgetreten sind. Und eigentlich erst dadurch, daß man alles das, was man über die Differenzierung der Erdengebiete

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in der Gegenwart wissen kann, mit dem verbindet, was man darüber wissen kann, wie das alles geworden ist, erst dadurch gewinnt man ein Verständnis dessen, was an Menschen heute lebt hier auf dem Erdenrund.

Traditionen des Alten haben sich immer erhalten, auf dem einen Erdengebiete mehr, auf dem andern weniger. Auch nach diesen Tra­ditionen unterscheiden sich die Völker des Erdballs. Wenn wir nach dem Osten hinüberblicken, finden wir ja, wie in der späteren Zeit auf­gezeichnet worden ist dasjenige, was unaufgezeichnet vorhanden war in der ersten nachatlantischen Kulturepoche, wie es uns entgegen-glänzt in den Veden, in der Vedantaphilosophie, wie uns seine Innig­keit berührt in der echten Jogaphilosophie. Und wenn wir das alles auf uns wirken lassen vom Bewußtsein der Gegenwart aus, dann bekommen wir ein Gefühl: In diese Dinge muß man sich vertiefen, immer mehr und mehr vertiefen, dann fühlt man selbst in den Schrift-werken noch etwas leben von dem, was in den Urzeiten vorhanden war. Aber man möchte sagen: daß die morgenländische Welt noch innerhalb dieses lebendigen Nachklanges seiner Urweltweisheit lebt, das macht diese morgenländische Welt auch ungeeignet, neue Ansätze zu empfangen.

Die westliche Welt hat weniger Traditionen. Höchstens in den Auf­zeichnungen gewisser Geheimorden hat sie Traditionen aus der drit­ten nachatlantischen Kulturepoche, aus der Zeit der Kosmosophie, aber Traditionen, die nicht mehr verstanden werden, sondern in un­verstandenen Symbolen vor die Menschheit hingebracht werden. Aber in diesem Westen ist zu gleicher Zeit vorhanden eine elementarische Kraft, neue Entwickelungsimpulse zur Entfaltung zu bringen.

So daß man sagen könnte: Es waren einstmals die Urimpulse da. Sie entwickelten sich, indem sie immer schwächer und schwächer wur­den, bis gegen den vierten nachatlantischen Zeitraum hin, wo sie sich ge­wissermaßen in sich selbst verloren in dem eigentümlichen griechischen Kulturleben. Und heraus entwickelte sich dann, mit der Hinweisung auf ein Neues, die abstrakte, die prosaische Nüchternheit des Römer­tums (es wird gezeichnet). Das aber muß wiederum aufnehmen Gei­stigkeit, und muß wiederum, indem es mächtiger und mächtiger wird,

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von innerlicher Geistigkeit durchdrungen werden. Und wir bekom­men auf diese Weise dann, ich möchte sagen, symbolisch das, was wir als die wirbelnde Bewegung der Menschheitsimpulse durch die Zeiten-folge hindurch bezeichnen können.

Solch eine Figur war ja immer eine Art Symbolum für Wichtigstes im Weltenall; und das ist sie auch. Wenn man schon von einer atomi­stischen Welt spricht, so muß man auch diese nicht so abstrakt vor­stellen, wie das heute der Fall ist, sondern unter dem Bilde dieses Wir­bels, was auch oftmals getan worden ist. Aber auch im Größten muß man diese Wirbelbewegung sehen. Und wir haben sie heute, wie ich glaube, in einer ganz selbstverständlich elementaren Weise aus einer konkreten Betrachtung des Ganges der menschheitlichen Geistesent­wickelung heraus gewonnen.

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VIERTER VORTRAG Mannheim, 19. Januar 1922

#G210-1967-SE050 Neue und alte Einweihungsmethoden

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VIERTER VORTRAG

Mannheim, 19. Januar 1922

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Wir haben uns hier recht lange nicht gesehen und ich darf es wohl aussprechen, daß es mir eine außerordentlich tiefe Befriedigung ge­währt, heute wiederum nach so langer Zeit hier vor Ihnen einiges be­sprechen zu können. Wir haben eine außerordentlich schwere Zeit hinter uns, die ihren Schwierigkeiten nach wohl gefühlt wird, aber in weiteren Kreisen doch noch immer nicht genug begriffen wird. Es ist ja so, daß man sagen kann, der Mensch, der das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts miterlebt hat, hat dem Inhalte nach mehr erlebt, als sonst in Jahrhunderten erlebt werden kann. Und es ist eine Art see­lischer Schlaf, wenn man nicht fühlt, wie alle für die Menschheits­entwickelung in Betracht kommenden Dinge heute anders sind als sie etwa vor zehn Jahren waren. Der ganze Umschwung, der sich voll­zogen hat, wird wahrscheinlich erst nach und nach der Menschheit zum vollen Bewußtsein kommen. Man wird dann sehen, wie dasjenige, was sich in so katastrophaler Weise an der äußeren Oberfläche der Dinge abgespielt hat, doch außerordentlich tief hineinreicht in die Wurzeln der Menschenseele, wie das, was geschehen ist, im Grunde genommen hervorgegangen ist als die weiteste Kreise der Menschheit betreffenden Irrungen der Seele. Und erst, wenn man sich entschließen wird, die eigentlich wirklichen Gründe für das große Menschen­unglück in den Seelen zu suchen, erst dann wird man das richtige Ver­ständnis dieser Prüfungszeit der Menschheit entgegenbringen und es wird dann wohl auch so kommen, daß man in einer andern Art eine Geistesströmung auffassen wird wie die anthroposophische, als man sie vielfach bisher noch auffaßt.

Diese anthroposophische Geistesströmung möchte gerade der Menschheit dasjenige geben, was sie nicht hatte im Verlaufe der letz­ten drei, vier, fünf Jahrhunderte und dessen Mangel so innig zusam­menhängt mit dem, was wir als Kultur- und Zivilisationselend erlebt haben und erleben. Die Welt ist nicht nur in bezug auf die großen Zusammenhänge, sondern auch in bezug auf die Entwickelung desjenigen,

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was in kleinsten Kreisen geschieht, aus dem Geistigen, aus dem Leben im Geistigen herausgekommen. Große Weltenfragen ste­hen heute vor der Menschheit, die sich nur aus den Tiefen des gei­stigen Lebens heraus irgendwie behandeln lassen, und sie werden in der äußerlichsten Weise über das ganze Gebiet der Welt hin behan­delt. Man hat keine Möglichkeit, hineinzuschauen in dasjenige, was sich emporarbeiten will aus den Untergründen des menschlichen See­len- und Geisteslebens. Das möchte aber gerade anthroposophische Weltanschauung der Menschheit wieder bringen.

Heute möchte ich aus dem Gebiete dieser anthroposophischen Welt­anschauung einige intime Fragen des menschlichen Seelen- und Gei­steslebens besprechen. Vielleicht können wir dann von dem Gesichts­punkte, den wir durch eine solche Besprechung gewinnen, zum Schluß in Kürze auch auf einige Zeitereignisse die Blicke werfen. Anthropo­sophische Geisteswissenschaft will sprechen von denjenigen Welten, die zunächst der äußeren Sinnesanschauung und auch dem Intellekt, der an diese Sinnesanschauung sich bindet, verborgen bleiben. Anthro­posophische Geisteswissenschaft will von dem in erster Linie sprechen, womit das Ewige der Menschenseele zusammenhängt. Die Welten, in welche diese anthroposophische Weltanschauung eindringen will, von ihnen sagt man, daß sie nur erreicht werden können, indem der Mensch die Schwelle des Bewußtseins überschreitet. Man meint damit, daß diese Schwelle des Bewußtseins eben bewußt überschritten wer­den müsse, damit man Erkenntnisse dieser übersinnlichen Welten ge­winnen könne. Denn unbewußt überschreitet eigentlich der Mensch diese Bewußtseinsschwelle mit jedem Eintritt in den Schlafzustand, und wir sprechen im Zusammenhang mit dem Wechsel zwischen Wa­chen und Schlafen, im Zusammenhang mit der Schwelle, die der Mensch, indem er einschläft, überschreitet, jeden Tag überschreitet, wir sprechen da auch von dem Hüter der Schwelle als von einer gei­stigen Macht, die der Geistesforscher als eine wirklich reale geistige Macht kennt, wie man andere Menschen als reale Menschen kennen-lernt. Wir sprechen von dem Hüter der Schwelle aus dem Grunde, weil eben in der gegenwärtigen Entwickelungsphase der Mensch­heit der Mensch wirklich zunächst seinem Bewußtsein nach behütet

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werden muß vor einem unvorbereiteten Eintritt in die geistigen Welten.

Es könnte zunächst eine außerordentlich auffällige Erscheinung sein, daß dasjenige, was dem Menschen vor allen Dingen wertvoll sein muß, die geistige Welt, der er mit den tiefsten Wurzeln seines Daseins angehört, ohne deren Zugehörigkeit er nicht in wahrem Sinne des Wortes die Menschenwürde hätte, daß diese geistige Welt zunächst eine dem Menschen verborgene sein muß. Das hängt eben tief mit dem ganzen Sinn der Menschheitsentwickelung zusammen. Der Mensch würde sein wahres Wesen doch nicht im Laufe der Entwicke­lung erreichen können, wenn er sich nicht die Kraft selbst erwerben und ausbilden müßte, durch die er sich zu den geistigen Welten heran-arbeitet. Würde er nur wie ein unverdientes Gnadengeschenk das Überschreiten der Schwelle erlangen, würde er vielleicht ein hohes geistiges Wesen sein können, aber er würde nicht in echtem Sinne des Wortes Mensch sein können, ein Wesen sein können, das sich zu sei­nem eigenen Werte auch selbst bringt; denn das ist das Wesen des Menschen im Weltenzusammenhang, daß er sich doch zu dem selber machen muß, was seine eigentliche Würde ausmacht. Es würde wie eine Art Verbrennen des menschlichen Wesens sein, wie eine Art Ver­löschenmachen des menschlichen Wesens, wenn der Mensch unvorbe­reitet die Schwelle in die geistige Welt überschreitet. Dennoch kann das, was die Geistesforschung zu sagen hat über die Beziehung zu jener Welt, durchaus von dem gesunden Verstand erfaßt werden. Es kann durchschaut werden dasjenige, was aus den Untergründen der Geistesforschung in dieser Beziehung gesagt werden muß. Beachten Sie nur, wie zunächst der Mensch, indem er einschläft, in eine Art bewußtlosen Zustand versinkt. Aus diesem bewußtlosen Zustand tau­chen heraus wie aus Meeresuntergründen einzelne Wellen in die Traumeswelt.

Diese Traumeswelt hat auch für den Menschen, der frei ist von jedem Aberglauben und jeder nebulosen Mystik, etwas durchaus Ge­heimnisvolles, Rätselhaftes, von dem empfunden werden muß, wie es zusammenhängt mit dem innersten Wesen sowohl der Welt wie des Menschenseins selbst. So können wir denn verfolgen die Zeit, die der

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Mensch zubringt vom Einschlafen an bis zum Aufwachen, als einen herabgestimmten Bewußtseinszustand, aus dem heraus sich offenbart die Bilderwelt des Traumes. Und wenn wir auch nur in äußerlicher Weise das Träumen verfolgen, müssen wir uns sagen: die Träume ent­halten bildhafte Anklänge an dasjenige Leben, das wir, außer durch die Sinneswahrnehmung durch den Intellekt, durch die Empfindung gegeben haben. Aber sie enthalten diese uns sonst bekannte Welt in einer andern Art. Nicht nur, daß der Traum in der Regel keine ab­strakten Gedanken bringt, sondern alles zu Bildern formt, nicht nur, daß dies der Fall ist, sondern auch das andere: Während wir einen gewissen Weltenzusammenhang in der Sinneswelt vor uns haben, der innerlich in einer gewissen Weise geregelt ist, so daß wir durch die Welt verstandesmäßig befriedigt werden, wenn uns die Dinge geord­net im Raume und in der Zeit erscheinen, würfelt der Traum schein­bar alles durcheinander. Ereignisse, die gestern gewesen sind, durch­setzt er mit Ereignissen, die sich vor Jahrzehnten zugetragen haben. Er bringt eine andere Ordnung in das, was wir kennen, als die räum­liche Ordnung ist, als die räumlich-zeitliche Ordnung, in die wir sonst beim Tagwachen hineinschauen.

Und wenn wir so den Traum studieren, so finden wir, daß das ge­rade aus dem Traume heraus ist, was unsere Denkkraft ausmacht. Wir verspüren, wenn wir aufwachen, wie wir aus dem traumlosen Schlafe erst wieder in die Welt eintreten, in der sich die menschlichen Vorstellungen, die menschlichen Gedanken entwickeln. Wir fühlen: wir ergießen die Bilderwelt des Traumes in unsere Leiblichkeit. Und in­dem wir sie so ergießen, schickt uns der Leib entgegen die Gedanken-kraft, durch die Ordnung wiederum hineingebracht wird in das, was der Traum durcheinandergewürfelt hat. Unser Körper nimmt uns beim Aufwachen in Anspruch und unser Körper gibt uns die Kraft des Vorstellens, durch deren Handhabung wir ja eigentlich wirklich erst wach werden. Dann verglimmt die Welt des Traumes, und an ihre Stelle tritt wiederum die Welt der Vorstellungen in der regelrechten Ordnung des Raumes und der Zeit.

Wer nur ein wenig acht gibt auf diese Erscheinungen, der kann schon aus dem gewöhnlichen Leben dieses Hineinschlüpfen von etwas

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zunächst Unbestimmtem in das Körperlich-Leibliche beobachten und kann auch bis zu dem Grade des Verständnisses vordringen, das sich sagt: Die Kraft der Gedanken wird mir durch meinen Körper gege­ben, wenn ich mit dem seelisch-geistigen Wesen in diese Körperlich­keit untertauche. Und er wird durch diese alltägliche Beobachtung doch bestätigt finden können, was Anthroposophie sagen muß: daß das, was wir zunächst aus dem gewöhnlichen täglichen Leben als Vor­stellung kennen, gebunden ist an den äußeren physischen Leib, der in der Nacht im Bette liegen bleibt, wenn wir mit unserem geistig-see­lischen Wesen über die Schwelle in eine andere Welt hineingehen. In­dem unser Bewußtsein dabei auslöscht, läßt es vor der Schwelle die Kraft, die Fähigkeit, Gedankenwelten in gewohntem Sinne zu bilden, zurück und es tritt über die Schwelle von der menschlichen Seele das­jenige, was Gemüts- oder Gefühlsinhalt ist und was Willensinhalt ist. Und dieser Gemüts-, dieser Willensinhalt, sie gleichen auch schon im gewöhnlichen Tagwachen dem Schlafzustand. Wir wachen eigentlich nur in unseren Vorstellungen wirklich. Bedenken Sie nur, wie dunkel das ist, was in unseren Gefühlen lebt und wie ganz finster dasjenige ist, was in unseren Willensimpulsen lebt. Will man vorstellen, wie man den einfachsten Willensentschluß ausführen wird: es bleibt so dunkel, wie der Zustand während des Schlafes, was eigentlich vor­geht in den Muskeln und Knochen, was eigentlich vorgeht, wenn der Gedanke sich verwirklicht. Erst haben wir den Gedanken: Jch hebe den Arm -, dann sehen wir, wie er sich hebt; nur Eindrücke haben wir. Was da geheimnisvoll vorgeht, das bleibt dem Bewußtsein ver­borgen, wie der Zustand des Schlafes selbst. Wir tragen im Grunde durch die Schwelle dasjenige, was schon im Wachzustande wie schla­fend und träumend ist. Denn die Bilder sind nicht heller als die Ge­fühle, die sich anschließen an unsere Vorstellungswelt. Andere For­men sind es, in denen sich das Seelenleben im Wachzustande durch Gefühle ausspricht und im Schlafzustande durch den Traum, aber nicht heller als das Traumbild ist das Gefühlsleben. Wäre es heller, dann würden wir als Menschen ein außerordentlich abstraktes Leben führen. Denken Sie nur, mit welchem Rechte man von den kalten nüchternen Gedanken spricht im Gegensatz zu dem, was vom Gefühl

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durchglüht ist! Aber es bleibt in gewissem Sinne dunkel, wie die Traumbilder, was im Gefühle lebt.

Und wenn wir einschlafen, tragen wir unsere Gefühle über diese Schwelle, und diese sind es, die sich während des Schlafes in gewissem Sinne sogar aufhellen zu den Traumbildern. Wir tragen unseren Willen in diese Welt hinein, der aber so schlafend schon ist während des Tag­wachens, wie er während des Schlafes ist. Und so können wir sagen: Dasjenige, was der Mensch durch die Schwelle des Bewußtseins hin­durchträgt, ist das Gefühls- und Willenselement seines Seelenwesens. Gefühl und Wille gehören dem Schlafbewußtsein an. Das Vorstel­lungsleben und - allerdings, weil der Traum sich aufhellt, so auch das Gefühlsleben - ein Teil des Gefühlslebens gehören dem Tagwachen an, liegen noch diesseits der Schwelle des Bewußtseins. Nun spricht man von dem Hüter der Schwelle, weil es für den Menschen im ge­genwärtigen Bewußtseinszustand notwendig ist, daß er nicht unvor­bereitet, bewußt die Schwelle überschreitet, die er bei Herabdämpfung seines Bewußtseins jedesmal beim Einschlafen überschreitet. Wenn man erkennen lernt diejenigen Kräfte, innerhalb welcher der Mensch sich befindet jenseits der Schwelle des Bewußtseins, dann lernt man auch erfahren, warum der Mensch durch einen Hüter, durch etwas, was ihn bewacht, abgehalten werden soll, unvorbereitet über die Schwelle in die geistige Welt hineinzutreten.

Die Welt jenseits der Schwelle sieht zunächst, wenn man in sie ein­tritt, für den ersten Anblick wahrhaft anders aus, als man sie sich gerne vorstellen möchte. Allerdings, tritt man vorbereitet genug ein, so verwandelt sie sich nach und nach und man kommt zu andern Er­fahrungen als die allerersten sind, und die etwas Bestürzendes auch für den haben, der durchaus vorbereitet in die übersinnliche Welt eintritt. Denn was lebt in der übersinnlichen Welt nach der ersten Art, wie sie sich darstellt? In dieser leben zuerst Kräfte, Wesenhaftig­keiten, die sich, man muß es schon so ausdrücken, außerordentlich feindlich gegenüber der gewöhnlichen Sinneswelt verhalten. Tritt man ein in die geistige Welt über die Schwelle: sie nimmt sich aus wie ein Sengen und Brennen, wie ein verzehrendes Feuer für all dasjenige, was die Sinneswelt darbietet. Man tritt durchaus in die Welt zerstörender

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Kräfte ein. Das ist der erste Anblick, der sich jenseits zuerst darbietet. Und ich möchte Ihnen aus den Tatsachen heraus eine Vor­stellung davon geben, wie es ist mit dem, in das man da zuerst ein­tritt.

Betrachten Sie den menschlichen physischen Leib, der uns umklei­det von der Geburt bis zum Tode. Betrachten Sie den Augenblick, wo der Mensch sich dem Tode nähert, wo er durch die Pforte des Todes tritt, diesen Augenblick zunächst in bezug auf den physischen Leib. Dieser erscheint, nachdem er die Pforte durchschritt, allerdings äußerlich noch in derselben Form, wie er ist vor dem Tode, wenn wir das bloß Räumliche zunächst ins Auge fassen. Aber sehr bald erfahren Sie: Dieser physische Leib, der durch Jahrzehnte diese Form bewah­ren kann, dem diese Form das Naturgemäße ist, der wird aufgelöst, zerstört durch die Kräfte der äußeren Welt, des äußeren Kosmos. Es ist das Schicksal dieses Leibes, daß er durch diese Kräfte des Kosmos aufgelöst, zerstört wird. Einfach dadurch, daß man unbefangen dies betrachtet, daß der Leib, sobald er entseelt ist, von den Kräften der Natur zerstört, aufgelöst wird, muß man überzeugt sein davon, daß in diesem Leib zwischen Geburt und Tod etwas lebt, was den Leib fortwährend vor der Zerstörung bewahrt, was nicht dieser Welt der Sinne angehört. Denn würde es dieser selben Welt angehören, dann würde es diesen Leib zerstören, nicht erhalten. Wenn die Menschen nur diese Selbstverständlichkeit beachten wollten, würden sie es nicht so schwer finden, in die anthroposophische Geisteswissenschaft einzu­dringen. Man hat den Leichnam, die äußeren Kräfte der Natur zer­stören ihn. Wäre dasjenige, was wir in uns tragen, derselben Art wie die Naturkräfte, würde es diesen Leib ständig zerstören. Diese ein­fachen Gedanken werden ständig außer acht gelassen. Aber beachten Sie, daß eine Welt uns umgibt, die immer um uns ist, die unseren Leib zerstört.

In dem Augenblicke, wo der Leib von dieser Seele verlassen wird, wird er zerstört. Und wenn wir diesen Leib verlassen im Einschlafen, wandern wir in die Welt hinein, die unseren Leichnam zerstört. Diese müssen wir kennenlernen [Lücken in der Nachschrift.] Wir treten in die Welt der zerstörenden Kräfte hinein, wenn wir einschlafen, und

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diese Welt ist doch die geistige, denn warum? Derjenige, der erwartet, daß er jenseits der Schwelle etwas antreffen solle, was ähnlich ist dem, was hier in der physischen Sinneswelt ist, der erwartet ja nur eine andere physische Sinneswelt jenseits der Schwelle. Wenn dort Geist sein soll, dann kann nicht die physische Sinneswelt dort sein. Was wir dort erleben, werden solche Kräfte sein, die fortwährend die Neigung haben, die physische Sinneswelt zu zerstören. Und das erfahren wir gründlich, wenn wir bewußt die Schwelle überschreiten. Wir erfahren gründlich, daß wir in dieser geistigen Welt dasjenige finden, das fort­während die Neigung hat, die physische Welt zu zerstören. Würde der Mensch nun unvorbereitet, unbehütet, diese Schwelle überschrei­ten, dann würde es ihm, wenn ich mich jetzt trivial ausdrücken darf, in dieser Welt außerordentlich gefallen. Gerade niedrige Instinkte würden zunächst außerordentlich befriedigt werden, und der Mensch würde zusammenwachsen mit der Welt, in die er zunächst eintritt, mit der Welt der zerstörenden Kräfte, und er würde ein Verbündeter wer­den dieser zerstörenden Kräfte. Er würde nicht wollen ein Mitarbeiter werden an dem, was als physische Welt uns umgibt. Man muß zuerst liebgewinnen diese physische Welt als auch eine weisheitsvolle, damit man gut vorbereitet ist, in die geistige Welt eintreten zu können. Man muß gewissermaßen, bevor man an die Seite der Schöpfer treten darf, die Schöpfung liebgewonnen haben, muß gründlich verstanden haben, daß die Welt, wie sie geschaffen ist, nicht sinnlos von den göttlichen schöpferischen Mächten hervorgerufen worden ist. Man muß den Sinn des Erdenlebens ergründet haben, wenn man gut vorbereitet in die geistige Welt eintreten will. Sonst würde man jeden Morgen beim Aufwachen mit einem furchtbaren Haß auf die Sinneswelt zurück­kommen, mit dem Trieb, diese Sinneswelt zu zerstören. Einfach durch die Notwendigkeit des menschlichen Daseins würde der Mensch mit Haß und Zorn aufwachen, wenn er die Zeit vom Einschlafen bis zum Aufwachen in einem solchen Bewußtseinszustande verbringen würde.

Sie können das noch verfolgen, wenn Sie unbefangen den Traum anschauen. Der Traum hat furchtbar zerstörende Kräfte in sich. Was Sie da herauftragen als Traumbilder, es zerstört ja alle Logik. Der Traum sagt: Nichts, aus mit der Logik, die Logik will ich nicht haben!

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Die Logik ist für die äußere Sinneswelt, da ordnet die Logik rechthaberisch die Dinge. Fort mit der Logik, eine andere Weltenord­nung muß da herrschen! - Das sagt der Traum, und wenn er stark genug wäre, um nicht bloß das Gehirn zu streicheln, sondern in den ganzen Menschen hinunterzutauchen, dann würde er nicht nur die logischen Instinkte ergreifen, sondern auch die andern Instinkte und das emotionelle Leben ergreifen, und geradeso wie er die Logik zer­stört, alles Leben des physischen Menschen zerstören. Der Mensch würde nicht wieder hineinwollen in seinen Leib, sondern würde auf dem Wege hinein seinen physischen Leib langsam zerstören. Nur weil dasjenige, was im Traum lebt, überwältigt wird von dem, was aus dem Leibe ihm entgegenkommt, wird für Momente nur die Logik zerstört. Das kann man bis in die Einzelheiten verfolgen. Was im Schlafe fortdauert, das sind gerade die Kräfte, die dem rhythmischen System des Menschen angehören. Die Atmung dauert fort, Herz­schlag, Pulsschlag dauert fort, Gedanken hören auf, der Wille hört auf. Das, was dem mittleren Menschen angehört, dauert fort, nur wird es herabgestimmt. In dem Augenblick, wo noch im Gehirn etwas schwächer der Pulsschlag lebt, da waltet der Traum herein, da macht er Miene, diese Kraft des Leibes zu zerstören, die Logik, bis die Kräfte des Leibes wieder überwältigen den Traum, bis der Puls wieder stärker wird.

Wenn es sich darum handelt, die Kräfte wirklich zu verstehen, da weiß Anthroposophie schon ganz gut materialistisch zu sein. Die Ma­terialisten verstehen nicht recht, materialistisch zu sein, weil sie nicht wissen, wie das Geistige zusammenwirkt mit dem Physischen. Sie merken nirgends, wie das Geistige untertaucht und im Physischen weiter wirkt. Und es gehört zum Interessantesten, zu beobachten, wie das Geistige untertaucht, da zuerst sich geltend machen will und zer­stören will das Logische. Und da entwickeln sich die Kräfte des Phy­sischen, die Vorstellungskräfte, ihm entgegen und überwältigen es. Der Traum wird unschädlich gemacht für das physische Erdenleben. Das läßt Sie, wenn Sie es richtig betrachten, tief hineinblicken in das Verhältnis von Wachen und Schlafen, denn es zeigt, wie der Mensch sich seines geistigen Ursprunges bewußt bleiben muß, daß er in den

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Schlaf immer zurücksinken muß, aber auf der andern Seite in der gegenwärtigen Entwickelung bewahrt bleiben muß, dasjenige, was sich abspielt in dem Zustand zwischen Einschlafen und Aufwachen, mit dem vollen Bewußtsein zu verfolgen.

Wir leben auf unserer Erde. Diese Erde ist zunächst eine physische kosmische Bildung. Es wird eine Zeit kommen, wo diese Erde dem sogenannten Wärmetod verfallen wird, wo die Erde durch das wirk­liche physische Feuer gehen wird, wo die zerstörenden Kräfte die gan­zen Erdenbildungen ergreifen werden, nicht nur die Leichname. Das­jenige, was diese Erde dem Feuertod entgegenführt, sind geistige Mächte, die mit der Erde verbunden sind, die man kennenlernt im er­sten Stadium, das man betritt, wenn man an dem Hüter der Schwelle vorbeischreitet in die geistige Welt hinein.

Betrachten wir dasjenige, was wir so gewonnen haben im Hinblick auf das Durchschreiten der Todespforte. Da wird der physische Leib vollständig abgelegt. Das Geistig-Seelische tritt jetzt so in die geistige Welt ein, daß es zunächst den Wunsch entwickelt, wieder zum phy­sischen Leibe zurückzukehren. Und dieses Geistig-Seelische, nachdem es den physischen Leib abgelegt hat, das kann jetzt wieder zum Vor­stellen kommen ohne den physischen Leib. Dieses Geistig-Seelische war einfach zunächst, während es im physischen Leibe verkörpert war, zu schwach, um zu ertragen die zerstörenden Kräfte. Jetzt, mit dem Durchschreiten der Todespforte muß dieses Geistig-Seelische aber stark genug sein, um sich nicht mehr nach dem physischen Leibe zu­rückzusehnen. Da es nicht weiter bewußtlos bleibt, sondern in ein wirkliches Bewußtsein eintritt mit dem Überschreiten der Todes-pforte, muß es ein gewisses Gedankenleben aufnehmen, denn nur im Gedankenleben kann man wirklich voll bewußt werden. Und das ist auch der gewaltige Unterschied zwischen dem Überschreiten der Schwelle beim Einschlafen und beim Durchgang durch den Tod. Beim Einschlafen wird einfach die Gedankenwelt abgedämpft und kommt erst wieder zurück, wenn der Mensch wieder aufwachend den phy­sischen Leib betritt. Beim Tode nimmt er die Gedankenwelt ohne Ver­mittlung des physischen Leibes mit dem Geistig-Seelischen auf. Was ist das?

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Der Mensch würde niemals morgens in seinen physischen Leib zu­rückkehren, wenn er die geistige Welt kennen würde, mit ihr zusam­mengewachsen wäre und nicht den Wunsch hätte, der unbewußt in ihm sitzt, wieder zum physischen Leibe, das heißt aber, in die phy­sische Welt zurückzukehren. Wünsche sind aber etwas, was nicht mit dem vollen klaren Bewußtsein zusammenhängt, sondern gerade herab­dämpft und herabdämmert dieses klare Bewußtsein. Der Mensch kehrt des Morgens zurück in den Leib durch den Wunsch, und gerade diese Wünsche sind es aber, nach dem Leibe hin, die ihm diese Gedan­kenwelt abdämpfen. Und so kann er erst wieder, wenn er in dem Leibe ist, das Gedankenleben finden. Im Tode sind aber die Wünsche ertötet. Der Mensch tritt ein in die Weltgedanken. Er hat als Geistig­Seelisches nun ein Gedankenleben, aber er würde in dieselbe Welt ein­treten, in die er beim Einschlafen jeden Abend eintritt, wenn er wirk­lich unvorbereitet in den Tod eintreten würde. Man kann schon sagen, wenn man das extrem in dieser Hinsicht ausdrücken will: Wenn der Mensch unvorbereitet in den Tod eintritt, dann ist er im Grunde einer fürchterlichen Lage ausgesetzt; er ist ausgesetzt der Lage, das anzu­schauen, was eigentlich mit seinem physischen Leibe geschieht. Sein physischer Leib wird zerpulvert im kosmischen Weltenzusammen­hange, denn wenn man den Leib nicht verbrennt, dann verbrennt ihn der Kosmos. Und diesem müßte der Mensch zuschauen, wenn er nicht vorbereitet wäre.

Was hat dies zur Folge und was hat nun zu geschehen, damit der Mensch nicht bloß die Zerstörung sieht nach dem Tode, damit er nicht bloß in zerstörenden Kräften lebt? Das hat zu geschehen, daß der Mensch durch das Aufnehmen geistiger Inhalte, durch das Bewußtsein in geistgemäßer Weltanschauung durch die Pforte des Todes eine in­nere Verwandtschaft mit der göttlich-geistigen Welt trägt. Wenn der Mensch nur ein Bewußtsein hat von einer physisch-materiellen Welt, dann tritt er nach dem Tode allerdings furchtbar unvorbereitet in die Welt der zerstörenden Kräfte ein wie in eine versengende Flammen-welt. Durchdringt er sich mit den Vorstellungen einer geistigen Welt, mit dem Bewußtsein von der geistigen Welt, dann wird die Flammc zu der Geburtsstätte des Geistigen nach dem Tode, dann sieht man

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nicht auf die Zerstörung allein hin, sondern in dem Herausfallen des irdischen Staubes aus dem menschlichen Zusammenhang sieht man sich erheben das Geistige. Und niemand darf sagen, man könne es ab­warten, was geschieht, wenn der Tod eintritt, was die gewöhnliche materialistische Vorstellung so gerne sagt! Nein, man muß hindurch-tragen das Bewußtsein vom Geistigen durch die Pforte, damit man das Zerstörende der Weltenkräfte, in die der Leichnam eintritt, mit dem Geistig-Seelischen überwindet und damit sich aus dem Zerstören­den das Geistig-Seelische neu schöpferisch erhebt.

Das entwickele ich Ihnen aus anthroposophischer Geisteswissen­schaft heraus, aber Sie alle haben gewiß gehört von jener Furcht, welche in älteren Zeiten die ahnende Erkenntnis der Menschen vor dem Tode hatte, ahnende Erkenntnis der Menschen auch im Sinne der Lehre des Apostels Paulus, der ja auch davon spricht, daß der Mensch gerettet werden müsse davor, dem Tode zu verfallen mit seiner Seele. Man war sich dessen bewußt, daß man nicht nur physisch sterben kann dem Leichname nach, sondern auch der Seele nach. Von solchen Dingen redet nur der Mensch nicht gerne, daß die Seele mitsterben kann. Wenn Paulus vom Tode redet, redet er eigentlich nicht vom physischen Tode, sondern von dem, was geschehen kann, indem der physische Tod den geist-seelischen Tod nach sich ziehen möchte. Des­sen muß der Mensch sich wieder bewußt werden, daß er etwas tun muß, im physisch-sinnlichen Leben, um sein Bewußtsein mit dem See­lisch-Geistigen zu verbinden, daß er etwas durch den Tod trägt, damit sich ihm das Geistige erhebt aus der verzehrenden Flamme, die immer da ist nach dem Tode.

Das muß daraus hervorgehen aus solchen Zusammenhängen, daß es mit dem Leben im Weltenzusammenhange etwas furchtbar Ernstes ist. Keine Weltanschauung ist eine des Menschen werte, die nicht durch die innere Kraft zu einer moralischen Weltauffassung führt, die nicht den ganzen Ernst des Lebens vor die menschliche Seele hinstellt. Davon zu reden, daß physisch-chemische Kräfte die Erde aufgebaut haben, daß daraus Lebewesen und zuletzt der Mensch sich ent­wickelt haben, ist nicht nur eine einseitige Weltanschauung; das ist auch eine Weltanschauung, welche dem Leben seinen Ernst nimmt

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und im Grunde nur aus der Bequemlichkeit der Menschen folgt. Aus einer Weltanschauung, die die richtige Stellung zum Geiste gewinnt, folgt der Lebensernst, weil die Möglichkeit vor den Menschen sich hinstellt, verbunden zu werden, wenn er durch die Todespforte geht, mit den zerstörenden Kräften. Dem Menschen ist durch sein phy­sisches Leben hindurch Gelegenheit gegeben, sich in entsprechender Weise vorzubereiten, indem er behütet wird, jeden Abend beim Ein­schlafen die zerstörende Welt, mit der er doch verwandt ist, zu schauen, indem ihm Zeit gelassen ist, aufzunehmen dasjenige, was ihn dann durch die Todespforte so leitet, daß er dann in der zerstörenden Welt das Geistige erschauen kann. Das kann nicht genug betont wer­den, daß Gefühle und Empfindungen in selbstverständlicher Weise über das Leben erfolgen müssen aus einer Weltanschauung, daß eine Weltanschauung nicht eine bloß abstrakte Theorie bleiben darf, son­dern etwas Lebendiges werden muß, das Gefühl und Wille ergreift. Und zu einem solchen Anschauen von der Welt muß sich die zivili­sierte Menschheit wiederum hindurchringen. Dann wird sie in allem, was vergänglich ist, wiederum das Unvergängliche sehen, dann aber wird sie auch aus demjenigen, was nicht in einer feineren Weise egoi­stisch im Menschen sich auslebt, zu dem Ewigen, zu dem Unsterb­lichen vordringen.

Betrachten Sie von diesem Gesichtspunkte einmal die heutige Le­benspraxis. Man muß es schon nicht übelnehmen, wenn derjenige, der die Wahrheit zu sagen hat, auch so unangenehme Dinge zu sagen hat. Betrachten wir zum Beispiel religiöse Unterweisungen. Auf was wird eigentlich dabei gebaut? Auf den Egoismus! Man spricht zu dem Menschen so, daß man ihm seine Unsterblichkeit, sein bewußtes Durchgehen durch den Tod klarmachen will, weil der Mensch über den Tod hinaus leben möchte. Diesen Wunsch hat der Mensch und ihn will man ihm befriedigen, und weil es unbequem ist, an die Erkenntnis zu appellieren, läßt man die Erkenntnis weg und beschränkt sich auf den bloßen Glauben. Aber man redet da nur zu dem menschlichen Egoismus, der sich interessiert, wie es nach dem Tode ausschaut, denn das muß er abwarten. Wie es vor der Geburt ausschaut, das inter­essiert ihn nicht. Das kann man nur durch Erkenntnis erfahren.

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Durch Erkenntnis lernt man überhaupt das Ewige kennen, das sich nicht nur über den Tod, sondern auch über die Empfängnis hinaus erstreckt.

Bis in den Sprachgebrauch hinein zeigt sich, daß wir nur eine halbe Erkenntnis haben über die Ewigkeit des Menschen; wir haben nur Un­sterblichkeit. Wir müßten auch das Wort Ungeborenheit haben. Erst wenn wmr den Zusammenhang zwischen beiden erfassen, erfassen wir endgültig des Menschen Ewigkeit. Bis in die Sprache hinein hat der Mensch in unserem Zeitalter seinen Zusammenhang mit der geistigen Welt abgeschworen. Dieser Zusammenhang muß wieder gefunden werden. Ohne dieses Wiederfinden ist eine wirkliche Lebenspraxis vollständig unmöglich, und es müßte ein vollständiger Niedergang der gegenwärtigen Kultur erfolgen.

Wir haben in Stuttgart die Waldorfschule gegründet mit der Wal­dorfschul-Pädagogik. Wenn man davon redet, knüpfen die Leute allerlei Betrachtungen daran. Jüngst sagte man: Ja, warum beachtet denn die Waldorfschul-Pädagogik so wenig die Ermüdung der Kin­der. - Man muß doch heute sorgfältig die Ermüdung studieren. Es gibt heute eine sogenannte experimentelle Psychologie. Man registriert, wie das Kind unzusammenhängende Worte aufsagen kann und nach einiger Zeit konstatiert man die Ermüdung, auch durch die Folge der Lehrgegenstände, und ist sehr stolz darauf. Und nun bemerkt man:

Die Waldorfschul-Pädagogik redet nicht so viel von der Ermüdung der Kinder, sie ist also nicht modern, sie beachtet das nicht. - War­um ist das so? Die Waldorfschule redet weniger von der Ermüdung, aber sie redet davon, daß die Kinder nach dem Zahnwechsel zunächst so gepflegt und erzogen werden müssen, daß man die Erziehung vor­zugsweise auf das rhythmische System hin anlegen muß, daß man Künstlerisches pflegen muß, das den Rhythmus anregt; erst später das abstrakte Schreiben und dann noch später das abstrakte Lesen. Es wird nicht an den Kopf appelliert, sondern an das Künstlerische. Wer so unterrichtet, wie das heute gemacht wird, wer mit den Kindern immer nur solche Dinge treibt, die an den Kopf appellieren, der muß mit der Ermüdung rechnen. Wenn man aber so erzieht, daß man vor­zugsweise das Rhythmische, das Künstlerische in Anspruch nimmt,

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da frage ich Sie: Ermüdet denn das Herz das Leben hindurch? Das Herz muß schlagen, die Atmung muß fortdauern, und die Waldorf­schul-Pädagogik braucht deshalb nicht von Ermüdung zu reden, weil sie darauf hinarbeitet, die Kinder so zu erziehen, daß sie überhaupt wenig ermüden. Die experimentelle Pädagogik ist eben zu einem Sy­stem gekommen, das furchtbar ermüdet, weil sie selbst erst diese furchtbare Ermüdung heraufbeschworen hat. [Lücken in der Nach-schrift.] Bei der Waldorfschul-Pädagogik wird der Zusammenhang von Leib, Seele und Geist ins Auge gefaßt und dasjenige verfolgt, was aus der geistig-seelischen Welt sich mit der Körperlichkeit verbindet und mit dem Tode sie wieder verläßt. Wenn es darauf ankommt, das Materielle zu verstehen, dann ist es gerade Anthroposophie, welche das Materielle verstehen kann.

Was ist am Kinde am regsten? Gerade die Gehirntätigkeit! Von dieser strahlt aus die plastische Gestaltung des ganzen Leibes. Am regsten ist diese bis zum Zahnwechsel. Beim Zahnwechsel überträgt sich diese Bildungsfähigkeit auf das Atmungs-Herzsystem und bis zur Geschlechtsreife hat man es mit diesem zu tun und da kann man nur künstlerisch wirken, nicht theoretisch. Die Muskeln bilden sich so innerlich zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahre aus, daß das dem rhythmischen System angepaßt ist. Und wenn das vierzehnte Jahr herannaht, dann erst erfaßt das Seelisch-Geistige den ganzen Menschen, und es ist interessant zu verfolgen, wie vorher die Muskeln sich gerichtet haben nach dem Herzschlag, Pulsschlag und Atmen. So fangen sie dann an, sich durch die Sehnen mit den Knochen zu be­freunden, mit dem Skelett, und passen sich den äußeren Bewegungen an. Lernen Sie nur ordentlich zu beobachten, wie der junge Mensch sich ändert in diesem Lebensalter. [Lücken in der Nachschrift.J Vom Kopf geht es aus, das Seelische wächst immer weiter und weiter der Oberfläche des Menschen zu und ergreift zuletzt die Knochen, füllt dann den Menschen ganz aus und verbraucht ihn, befreundet sich im­mer mehr und mehr mit den Absterbekräften, bis diese Absterbekräfte mm Moment des Todes den Sieg davontragen.

Bis in die geringsten Einzelheiten hinein verfolgt anthroposophische Geisteswissenschaft die geistigen Prozesse. wie sie sich in das materielle

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Leben hinein versenken und wie das Geistig-Seelische vom Kopf aus den ganzen Menschen ergreift. Erst von solcher Erkenntnis aus wird man Menschen wieder erziehen können. Der Verstand ist nötig, damit wir die Freiheit finden können, aber er vertreibt die Sicherheit der Instinkte. Ich hatte einen Freund. Der war, als wir beide jung waren, ein ganz netter Mensch. Dann habe ich ihn wieder besucht, denn ich wurde von ihm eingeladen. Ich hatte niemals an einem Mit­tagsmahle teilgenommen, wo man eine Waage mit Gewichten auf­gestellt hat. Da wurde eine Waage aufgetragen und er wog sich alles dasjenige, was er aß, zuerst ab! Der Intellekt hatte herausgefunden, wieviel man braucht, um den Leib zu erhalten, und das wurde dem Leibe zugeführt. Der Intellekt vertreibt die Instinkte in Kleinigkeiten, aber auch im Großen, und man muß den Weg wieder zurückfinden. Es wird wiederum die Sicherheit des Lebens, der selbstverständliche Halt des Lebens erlangt, denn man findet das zeitliche Leben gerade dadurch in der richtigen Weise, daß man den ewigen Anteil an diesem Zeitlichen findet, daß man weiß, wie dieses Ewige im Zeitlichen drin­nen lebt; und das braucht unsere gegenwärtige Zivilisation.

Man muß diese Dinge schon auch als Weltfragen behandeln. Man beachtet heute gar nicht, welche Gegensätze zwischen den Menschen des Westens und des Ostens vorhanden sind. Man behandelt die äuße­ren Fragen in äußerlicher Weise, redet auf Kongressen über den Aus­gleich der schweren Lage, aber man beachtet nicht, daß Ost und West nur dann zu einem wirtschaftlichen Ausgleich kommen können, wenn sie Vertrauen zueinander haben. Die Asiaten werden niemals mit dem Westen in der richtigen Weise zusammenwirken können, wenn sie sich mit diesem nicht verstehen können. Verstehen aber kann man sich nur aus der Seele heraus. Zu dem Wirtschaften in der Welt gehört also seelisches Verständnis; dieses aber ist nur zu erringen durch Vertie­fung des Seelenlebens. Deshalb sind heute die intimen Fragen des menschlichen Seelenlebens zu gleicher Zeit die großen Weltfragen. Man wird nicht eindringen in dasjenige, was die Welt heute braucht auch in den äußeren öffentlichen Angelegenheiten, wenn man sich nicht bequemen wird, hinzuhören auf das, was die Wissenschaft vom Übersinnlichen zu sagen hat, denn die Welt ist anders geworden im

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Laufe der Zeitentwickelung. Besonders das Menschengeschlecht mst anders geworden.

Wir blicken zurück, wenn wir die Menschheitsentwickelung über­schauen, zu demjenigen Ereignis, das dieser Menschheits- und Erden-entwickelung überhaupt den Sinn gibt: zum Mysterium von Golgatha. Dieses Mysterium von Golgatha, es war ja das Hereinkommen eines Göttlichen durch einen irdischen Leib in die Erdenverhältnisse. Der Christus ist in den Leib des Jesus von Nazareth eingetreten, um nun überhaupt mit der Erde zu wirken. Die Erde hätte zugrunde gehen müssen, verfallen müssen im Weltenzusammenhang, wenn nicht eine neue Befruchtung durch das Hereinkommen des Christus geschehen wäre. Nun wissen Sie auch, daß es vor alten Zeiten eine instinktive Wissenschaft gegeben hat, eine Urweltweisheit, doch zur Zeit des Mysteriums von Golgatha war nur noch wenig davon da in der abend­ländischen Zivilisation. Aber so viel noch war da, daß das Mysterium von Golgatha durch vier Jahrhunderte wenigstens noch instinktiv hat begriffen werden können. Und wer wirklich kennt, wie in den ersten Jahrhunderten der christlichen Entwickelung das Mysterium von Golgatha in seiner übersinnlichen Bedeutung aufgefaßt worden ist, der weiß, daß bis in das 4. Jahrhundert hinein die maßgebenden christlichen Lehrer von dem Hereinkommen des Christus-Sonnengei­stes in den Menschen Jesus von Nazareth gewußt haben.

Wer hat denn eigentlich heute noch ein lebendiges Bewußtsein, was es heißt, ob in dem Menschen Jesus von Nazareth zwei Naturen, eine göttliche und eine menschliche sind, oder nur eine? Das war aber durchaus eine Lebensfrage in den ersten christlichen Jahrhunderten, etwas, was im Leben eine Bedeutung hatte. Man hatte ein lebendiges Bewußtsein davon, wie aus den Weltenweiten sich der Christus-Geist verbunden hat mit dem Jesus. Da haben wir zwei Naturen in der einen Persönlichkeit; den Gott und den Menschen.

Sie werden öfters gehört haben, daß der vierte nachatlantische Zeitraum gedauert hat von 747 vor dem Mysterium von Golgatha un­gefähr bis 1413 nach dem Mysterium von Golgatha. Seit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts beginnt der eigentliche Intellektualismus. Wir schauen nun hinein in physische Kräfte, rechnen und treiben

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Physik, aber wissen nichts mehr davon, daß da draußen geistige Kräfte wirksam sind und daß da draußen wirklicher Geist vorhanden ist, was man früher gewußt hat. Aber nehmen Sie diesen Zeitraum von 747 vor Christus bis 1413, es ist der Zeitraum der vierten nach-atlantischen Epoche. Wenn Sie 747 nehmen und dann bis 1413 gehen, so bekommen Sie, wenn Sie halbieren, einen Zeitabschnitt, der gerade in das vierte Jahrhundert nach Christus fällt, der auch zusammenfällt mit dem vollständigen Abklingen derjenigen Weisheit, die noch das Mysterium von Golgatha in spirituellem Sinne hat erfassen können. Nachher war es nur ein verstandesmäßiges Diskutieren. Und als dann das 15. Jahrhundert herankam, wurde der Menschenverstand für die menschliche Zivilisation Alleinherrscher. Dadurch aber wurde das, was auch eine lebendige Verbindung des Menschen mit dem Christus darstellt, immer mehr und mehr hereingezogen in das bloß materielle menschliche Denken. Und dann erlebte man im 19. Jahrhundert, wie der Christus gerade für die fortgeschrittenste Theologie ganz ver­lorengegangen ist, wie man es für aufgeklärt hielt, von einem bloßen «Menschen von Nazareth» zu sprechen. Wenn man das in der ganzen Schwere wiederum empfindet, muß man zu der Sehnsucht kommen, die Christus-Wesenheit wiederum zu finden. Und diese Sehnsucht, den Christus wieder finden zu können, möchte für die großen Welten-fragen anthroposophische Weltanschauung befriedigen, und dazu ist man wirklich gerade in Mitteleuropa ganz besonders vorbereitet, Sie können das aus verschiedenen Symptomen sehen.

Ein großer Denker Westeuropas, Herbert Spencer, hat eine Schrift über Erziehung geschrieben, die den Materialisten sehr gefällt, und darin sagt er, alle Erziehung tauge nichts, wenn der Mensch nicht dazu erzogen werde, wiederum den Menschen zu erziehen. Wie be­gründet er das? Er sagt: Das Höchste, wozu es der Mensch bringen kann im Leben, ist, wiederum Menschen zu erzeugen. Also muß auch Erziehung das Höchste sein. - Das westliche Denken ist von der einen Seite her richtig. Was sagt nun ein östlicher Denker? Bei Wiadimir Solowjew lebt aus dem Geiste des Ostens noch etwas sehr Altes. Für die westliche Kultur ist die Urweisheit ganz verschwunden. Im Osten hat sie sich noch als ein Gefühl erhalten. Solowjew hat noch etwas

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von der wirklich christlichen Weisheit. Hier in Mittel- und West­europa hat man nur ein Gottesbewußtsein; man hat kaum mehr ein Wissen von dem Sohne. Harnack zum Beispiel spricht von Gott so, als ob der Christus, der Sohn, gar nicht in die Evangelien gehöre, sondern nur der Vater. Nur noch das Vaterbewußtsein ist da, das Gottes-bewußtsein. Und was er sagt von dem Sohn, muß von dem Vater ge­sagt werden. Solowjew hat eben noch etwas von dem Christus-Bewußtsein, und wenn er redet, hat man manchmal das Gefühl, als ob die alten Kirchenväter vor dem Konzil von Nicäa redeten. Solowjew hat schon ganz andere Titel über seine Abhandlungen ge­setzt, so zum Beispiel eine Abhandlung «Von Freiheit, Notwendig­keit, Gnade und Sünde». Suchen Sie sich bei den westlichen Philo­sophen eine Abhandlung über Gnade oder Sünde, bei Spencer oder Mill oder Bergson, oder Wundt! Das gibt es im Westen nicht, ist ganz undenkbar, das taucht in diesem Zusammenhang dort gar nicht auf.

Der östliche Philosoph redet noch so, und was sagt er? Ein Leben, das den Menschen gegeben wäre auf dieser Erde, das nicht streben müßte nach Vervollkommnung in der Wahrheit, das wäre kein wirk­liches Menschenleben, das wäre wertlos, aber auch die Vervollkomm­nung in der Wahrheit wäre wertlos, wenn der Mensch nicht Anteil an der Unsterblichkeit hätte. Ein Weltbetrug wäre ein solches Leben. So redet Solowjew, der östliche Philosoph. Und dann sagt er: Die eigent­liche geistige Menschenaufgabe beginnt erst dann, wenn der Mensch in das geschlechtsreife Alter eingetreten ist. - Der vollständige Gegen­satz zu Spencer! Spencer schließt die Entwickelung ab mit der Erzeu­gung der Nachkommenschaft, und der östliche Philosoph beginnt sie erst da. So ist es in allen Fragen bis in die Fragen des wirtschaftlichen Lebens hinein. So redet heute der westliche Wirtschafter, ohne etwas zu verstehen von dem, was die Gefühle des östlichen Menschen sind beim Wirtschaftsleben. Wir brauchen auch in den großen Weltfragen eine welthistorische Besinnung heute und wir müssen uns klar sein, daß das große Unglück der Menschheit im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die große Aufforderung, die gewaltige Prüfung an die Menschheit ist zu dieser Besinnung. Es muß aus den Untergründen der Seele heraufsteigen eine ganz andere Behandlung des Lebens. Die

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großen Fragen des Lebens, die über Geburt und Tod hinausliegen, müssen in das gewöhnliche Menschenleben hineinspielen. Die Fragen der Gegenwart müssen von dem Lichte der Ewigkeit beleuchtet wer­den, sonst werden die Menschen von Kongreß zu Kongreß eilen und immer mehr und mehr ins Unglück hineinsinken.

FÜNFTER VORTRAG Breslau, 1. Februar 1922

#G210-1967-SE070 Neue und alte Einweihungsmethoden

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FÜNFTER VORTRAG

Breslau, 1. Februar 1922

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Vorerst lassen Sie mich sagen, welche tiefe Befriedigung es mir ge­währt, unter den Breslauer Freunden zu sein. Wir alle haben eine schwere Zeit durchgemacht, die aber gerade uns vor Augen bringt, daß die Menschheit in der Gegenwart für ihre Fortentwickelung etwas braucht. Denn daß wir in diese katastrophale Zeit hineingekommen sind, rührt davon her, daß die Menschen die Kraft zur Aufwärts-bewegung verloren haben. Aber gerade das, was auf unserem Boden erwachsen ist, sind Kräfte, die zum Aufbau des geistigen Lebens die­nen können. Und deshalb möchte ich heute nicht so sehr von Zeit-ereignissen sprechen als vielmehr von Dingen, die der menschlichen Erkenntnis notwendig sind, notwendig für das, was in unsere mora­lischen Impulse aufgenommen werden muß. Vieles lebt in unserer Seele, von dem man kaum ahnt, daß es da ist. Aber da es da ist in un­serer Seele, und da das Seelische mit dem Leben zusammenhängt, so ist das auch sehr wichtig für unser Leben.

Was heute auf der Menschheit besonders lastet, ist die Diskordanz von dem, was auf der einen Seite die Seele wirklich braucht, und von dem, was auf der andern Seite durch die gegenwärtige naturwissen­schaftliche Erkenntnis an die Seele herankommt. Diese naturwissen­schaftlichen Erkenntnisse sind anspruchsvoll, und man sollte sich vor die Seele stellen, was sie eigentlich von den Menschen beanspruchen. So beanspruchen sie beispielsweise, daß man in ihrem Sinne auf den Erdenanfang und auf das Erdenende hinzublicken habe. Man redet da von einem Erdenanfang nach Kant-Laplace: ganz auf den Grund­lagen der chemischen Mechanik habe sich ein glühender Gasball ge­bildet, dieser habe sich abgekühlt, und als er genügend erkaltet war, habe sich auf Grund derselben mechanischen Gesetzmäßigkeit weiter herausgeballt alles das, was später zum Pflanzenreich, Tierreich und Menschenreich geworden ist. Und in bezug auf den Weiterverlauf des Erdenlebens und Erdendaseins spricht man von einem Aufhören allen Lebens durch den allmählich eintretenden Wärmeausgleich, und so ist

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man gewohnt worden, gemäß der wissenschaftlichen Anschauung von einem Wärmetod der Erde zu sprechen, der nach physikalischer Gesetzmäßigkeit eintreten wird. Man sieht auf ein Erdenende hin wie auf einen großen Kirchhof. Zwischen chemisch-mechanischem Erdenanfang und dem Wärmetod der Erde, zwischen diese beiden Extreme ist alles eingespannt, was uns Menschen als Ideale und als Moralisches aufgegangen ist und noch aufgeht. Man muß sich aber fragen, weshalb eigentlich solche Ideale erst auf chemisch-physika­lische Weise entstehen, wenn sie doch bestimmt sein sollen, im allge­meinen Wärmetode wieder unterzugehen? Man kann freilich einwen­den, das seien theoretische Betrachtungen, die auf das gewöhnliche Le­ben nicht viel Einfluß haben. Aber wenn man auch vorzieht, an sol­chen Fragen stillschweigend vorbeizugehen, so sind sie dennoch Dis­harmonien, die tief in das unbewußte Seelenleben hineinwirken. Sie führen zu der bangen Frage: Was machen wir mit unseren moralischen Impulsen, was machen wir mit unseren religiösen Idealen, wenn die gesamte Erdenentwickelung dem Untergange geweiht ist?

Die Stellung dieser Frage zeigt, was mit diesem Hinweise gemeint ist. Denn alle unsere moralischen Impulse, alle unsere religiösen Ideale wären nichts weiter als ein ungeheurer Menschenbetrug, ein furcht­barer Wahn, wenn sie alle in dem Erdenfriedhof begraben werden sollten. Für die schlimmen Wirkungen solcher von der rein natur-wissenschaftlichen Erkenntnis herrührenden Seelenstimmungen gibt es schon deutlich sprechende Beispiele, nur kommen sie uns nicht so deutlich ins Bewußtsein. Aber die bange Frage lebt in den Menschen-herzen. Wenn man den Geist der Naturwissenschaften kennt und von ihrem Standpunkt aus diese Frage zusammenfaßt, so muß man sagen: Indem wir Menschen hervorgesprossen sind aus der Natur, sind uns Menschen die sittlichen Ideale gekommen; aber diese gehen zugrunde mit der Erde. Die sittlichen Ideale gehen in der Naturwissenschaft zu­grunde. Die Naturwissenschaft gestattet nicht, daß man den Idealen eine selbständige reale Wirklichkeit einräumt. Und wenn das auch Theorie ist, so wirkt es doch ungeheuer lastend auf die menschliche Seele.

Diese fatalistische Weltanschauung beruht letzten Endes auf dem,

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was aufgetreten ist als Glaube an die Unvergänglichkeit der materiel­len Kraft. Wer aber heute an diesem Dogma rüttelt, wird als wahn­sinnig angesehen. Wäre dieses Dogma wahr, dann gäbe es keine Ret­tung für die sittlichen Ideale, und diese wären dann nur ein bildlicher Inhalt für etwas, das sich der Mensch nur so zusammenreimt und zu­rechtlegt. Und es gäbe auch keine Rettung der Ideale, wenn wir nmcht aus der geistigen Forschung heraus die Mittel fänden, dem Menschen wieder einen übersinnlichen Inhalt seines Bewußtseins zu geben. Das ist eine Zeitfrage. In bezug auf diese Zeitfrage leben wir an einem wichtigen Wendepunkt der Entwickelung. Wer mich kennt, weiß, daß mch einen solchen Ausspruch nicht gern tue, weil man von jedem Zeit­punkt sagen kann, er sei ein Wendepunkt. Es kommt aber sehr darauf an, für was der Zeitpunkt ein Wendepunkt ist oder als Wendepunkt in Betracht kommt.

Nun wollen wir einmal schauen, wohin und bis wohin eigentlich die naturwissenschaftliche Erkenntnis führen kann. Zu diesem Zwecke betrachten wir einmal den Menschen so, wie er uns im äußern sinn­lichen Ausdruck entgegentritt, wie er als physisch-sinnlicher Mensch vor uns lebt. Man muß das aber in ganz radikaler Weise tun. Stellen wir den Menschen so vor uns hin, dann erscheint er uns letzten Endes nicht anders als ein Leichnam. Wenn wir von allem andern absehen und nur die physisch-sinnliche Wesenheit in Betracht ziehen, und wenn wmr auf diese physisch-sinnliche Wesenheit nichts anderes wir­ken lassen als die chemisch-physikalischen Gesetzmäßigkeiten, dann beginnt der Mensch in dem Augenblicke, wo er den äußeren Natur­gesetzen zu folgen beginnt, sich zu zersetzen, sich aufzulösen. Die Kräfte, die wir mit unseren gewöhnlichen Erkenntnisquellen erken­nen, die zerstören den Menschen.

Wenn man diesen Umstand in Betracht zieht, dann kann man schon allein dadurch zu einer Widerlegung der materialistischen Welt­anschauung gelangen. Denn wenn man sich sagt, daß diese äußeren Kräfte den Menschen auflösen, dann müssen die Menschen vor der Geburt in einem Zustande gewesen sein, wo sie Kräfte sammelten, die der Auflösung widerstehen. Der Leichnam geht bei seiner Auflösung auf in der Welt, die wir mit unseren Sinnen erkennen. Da vereint er

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sich mit der Sinnenwelt durch die Sterbekräfte der chemisch-physika­lischen Wirksamkeiten. Aber das, was bei dem Tode innerlich-seelisch vorgeht, kann nicht äußerlich-sinnlich wahrgenommen werden. Die­ses Innerlich-Seelische kann nur im Bereiche der höheren Erkenntnis-quellen durch Anschauung erlebt werden. Und da wird wahrgenom­men, daß sich das Innerlich-Seelische außerhalb des Leibes mit dem Geiste vereinigt, vereinigt mit dem, was als Geist die Welt durchkraf­tet und durchströmt. Die Seele, die nach dem Tode sich vereinigt mit dem Geiste, ist dann in der übersinnlichen Welt verbunden mit dem Geiste.

Das ist eine Tatsache, die sich neben die Tatsache des Leichnams hinstellt. Der stoffliche Leib war im Leben durchdrungen von der Seele; er vereinigt sich beim Tode mit den Naturkräften. Die Anthro­posophie führt aber zu einer Lebenstatsache, die dem Tode als Tat­sache unmittelbar entgegengesetzt ist. Wenn man durch bloße Theo­rien über das Ewig-Lebendige im Menschen etwas vorbringen wollte, so würde das den Menschen niemals befriedigen. Die Anthroposophie führt aber vor die Tatsache der Vereinigung der Seele mit dem Geiste. Die sinnliche Erkenntnis der Naturwissenschaften führt nur zur Tat­sache des Todes.

Wenn wir die höheren Erkenntnisquellen der Geisteswissenschaft berühren, dann treffen wir auf das, was durch den Geistesforscher mitgeteilt wird als imaginative, inspirierte und intuitive Erkenntnis. Diese Erkenntnisstufen werden beschrieben zum Beispiel in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» oder in dem Buche «Geheimwissenschaft im Umriß». Und wenn Sie diese Beschreibungen studieren, dann haben Sie zunächst Beschreibungen von Erkenntnisstufen, gewiß, aber dennoch liefern sie dem Geistes-forscher mehr, als daß sie nichts weiter wären als bloße Erkenntnis-stufen. So, wie die naturwissenschaftliche Erkenntnis nicht nur bloße Erkenntnis ist, sondern noch andere Seiten und Tatsachen aufweist, so ist es auch bei den höheren Erkenntnissen.

Unter dem, was zu Imagination, Inspiration und Intuition - außer dem, was sie als Erkenntnisstufen sind - noch anderes als Tatsachen hinzutritt, möchte ich mit Ihnen heute etwas betrachten, was ich zum

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Beispiel im Wiener Zyklus von 1914 über das Leben nach dem Tode berührt habe, aber von einem etwas andern Gesichtspunkte aus. Sehen Sie, was der Mensch hier auf Erden ist, das steht als Leichnam in Ver­bindung mit der äußeren physischen Natur. Und so, wie einerseits der Mensch in der Richtung nach unten mit den mineralischen Kräf­ten in Verbindung steht, so steht er andererseits nach oben in Verbin­dung mit den höheren Hierarchien. So wie er im Leichnam verwächst mit den mineralischen Kräften, so verwächst er nach oben und wächst langsam hinein in die Hierarchien. Man hört zuweilen sagen, daß man, um das zu wissen, abwarten könne, was nach dem Tode komme, denn dann werde sich das schon erweisen. Und so könne man auch das Hineinwachsen in die Hierarchien abwarten. Ja, aber ganz so ist das nicht. Es kommt sehr darauf an, ob der Mensch so hineinwachsen kann, wie es ihm eigentlich bestimmt ist, denn zunächst, das muß man zugeben, steht der Mensch so in der Welt, daß er im physischen Be­wußtsein keine Ahnung haben kann von den Beziehungen, die er mit den höheren Hierarchien hat. Aber von dem Bewußtwerden dieser Beziehungen hängt vieles ab.

Die erste Gruppe von Wesen, mit denen der Mensch in Beziehung steht, nennen wir die Engelwelt. Aber derjenige, welcher auf gewissen Voraussetzungen fußend das Geistige nicht anerkennt, der kann auch keine Beziehungen zur Engelwelt anknüpfen, denn das kann ebenso­wenig geschehen, wie der Mensch ohne sinnliche Organe Beziehungen zur sinnlichen Welt anknüpfen könnte. Die Engelwesen sind zwar die unmittelbar über dem Menschen stehenden Wesenheiten, sozusagen dem Menschen nahestehende Wesenheiten, und dennoch können wir unter gewissen Voraussetzungen nicht an sie herankommen. Nur da­durch, daß wir schon jetzt auf Erden uns ein Bild zu machen versu­chen von der Engelwelt, bereiten wir uns vor, daß wir mit ihr Bezie­hungen anzuknüpfen vermögen. Indem der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet, führt sie den Menschen zur Engelwelt, und dann kommt es darauf an, ob der Mensch nach dem Tode ein Bewußtsein davon haben kann, um was es sich handelt.

Die zweite Gruppe höherer Wesenheiten ist die Gruppe der Volks-geister oder Erzengel. Engelwesen sind noch keine Volksgeister. Reale

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Volksgeister stehen nicht mehr in individuellen Beziehungen zum Menschen, wie es bei den Engeln noch der Fall ist. Volksgeister stehen in Beziehung zu Gemeinschaften und Gruppen von Menschen. Auch die Naturwissenschaft spricht gelegentlich vom Volksgeist, aber wenn die Naturwissenschaft vom Volksgeist spricht, so erkennt sie einen solchen doch nicht an als reale Wesenheit, wenn auch eine solche gei­stiger Art. Aus höherer Erkenntnis weiß der Geistesforscher, daß Volksgeister reale geistige Wesenheiten sind, die eine Stufe über der Engelwelt stehen. Auch in diese Hierarchie kann der Mensch hinein­wachsen. Aber wenn unser inneres geistiges Erleben nicht intensiv ge­nug ist, dann kann uns der Engel nicht mit unserem Bewußtsein an den Volksgeist heranführen. Da wir aber doch herangeführt werden müssen, so geschieht es dann, wenn nicht bewußt, so unbewußt, durch karmische Gesetzmäßigkeit. Entweder verwachsen wir bewußt in Liebe hinein in den Volksgeist, oder aber wir werden mit Gewalt ge­führt in die Sphäre der Volksgeister. Wenn wir dann nach dem Tode an den Punkt gelangen, wo der Wiederabstieg in die sinnliche Welt ztm einer neuen Verkörperung beginnt, da tritt ein großer Unterschied ein in dem Hinabführen der Seele zur neuen Verkörperung, je nachdem, ob der Mensch sich in Liebe bewußt verbunden hat mit dem Volks­geist, oder ob er, der wahren Verhältnisse unbewußt, mit Gewalt, un­ter Zwang bewegt wird. Das drückt sich aus in einer geistig-seelischen Tatsache. Der Mensch kann in ein Volk hineingeboren werden, indem er zu seinem Volksgeist ein Verhältnis hat durch Zwang, oder ein sol­ches durch innere Liebe. Derjenige, der in solche Dinge hineinzu­schauen vermag, erlebt als ein hervorstechend charakteristisches Zei­chen unserer Zeit, daß es heute eine große Anzahl von Menschen gibt, die kein hinreichend liebevolles Verhältnis zum Volksgeist haben. Was ich hiermit angedeutet habe, ist die Ursache für das, was die Völker durcheinanderbringt. Der Streit, der heute unter den Völkern herrscht, rührt davon her, daß viele Menschen geboren sind, die wenig Liebe zum Volksgeist entwickelt haben und daher heute in einem Zwangs­verhältnis zum Volksgeist stehen. Denn das, was uns als Liebe zu einem Volksgeist geführt hat, kann eigentlich niemals zu einem Kon­flikte mit andern Völkern führen. Deshalb müssen wir heute alles tun,

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was nur möglich ist, um den Menschen wieder zu einem liebevollen Verhältnis zu den Volksgeistern zu verhelfen. Das ist eine dringende Notwendigkeit.

Stehen wir hier im Leben, dann haben wir in Imagination, Inspira­tion und Intuition Erkenntnisstufen, die zu realen geistig-seelischen Anschauungen führen. In der geistig-seelischen Welt, wenn die Seele durch Karma wieder in die physische Welt hinunter kommen soll, sind Imagination, Inspiration und Intuition Tatsachen des Ge­schehens, Tatsachen des Handelns. Da steht die Seele in einem Ver­hältnis zu dem, was aus dem Kosmos heraus von ihr erreicht werden soll. Wenn wir zurechtkommen wollen im Leben, muß uns das Leben gewähren, was uns die Annäherung an das Ziel ermöglichen kann. Und so erarbeitet der entkörperte übersinnliche Mensch durch Imagina­tion, Inspiration und Intuition seine Wiederverkörperung in die phy­smsche Welt, während der verkörperte sinnliche Mensch durch Ima­gination, Inspiration und Intuition eine Anschauung von der seelisch-geistigen Welt haben kann.

Naturwissenschaftliche Erkenntnis ist nicht in der Lage, die tief­sten Geheimnisse des Lebens zu erkennen. Naturwmssenschaftliche Er­kenntnis beginnt zum Beispiel bei der Betrachtung einer chemischen Verbindung. Dann schreitet sie weiter zur Betrachtung komplizier­terer chemischer Verbindungen, und weiter fortschreitend bis zur Be­trachtung der lebendigen Zelle, betrachtet sie diese schließlich als nichts anderes als eine besonders kunstvolle chemische Verbindung. Aber Geisteswissenschaft zeigt uns, daß die Zelle zwar äußerlich be­trachtet ein außerordentlich kunstvolles chemisches Gebilde ist; aber indem die Lebenszelle, der Keim im Mutterleibe in so kunstvoller Weise entsteht, geht die chemische Gesetzmäßigkeit ins Gegenteil und wird zum Chaos. Beim Keim im Mutterleibe, dem Keim des Lebens, ist die chemische Gesetzmäßigkeit aufgehoben, ins Gegenteil verkehrt, und das ist im Bereich der Natur: Chaos. Und weil der Keim Chaos ist, kann der Kosmos wieder auf ihn wirken.

Davon bekommt der Mensch zwischen Tod und neuer Geburt eine Ahnung. In der ersten Stufe auf dem Wege zur Wiederverkörperung wächst der Mensch durch realisierte Imagination in die Wiederverleiblichung

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hinein. Die zweite Stufe ist die realisierte Inspiration, und das ist ein viel helleres Bewußtsein als unser Hirnbewußtsein, denn Inspiration ist eine kosmische Kraft. Ein Teil dieser kosmischen Kraft wird gleichsam eingeatmet und strömt dann der Leiblichkeit zu, ohne daß sie vollständig ins Bewußtsein heraufkommt, so wie es ähnlich mit dem Willen ist. Wir wissen nicht, wie der Wille unsere Hand be­wegt, aber sie bewegt sich doch so, wie wir es wollen. Der geistige Mensch, der sich durch realisierte Inspiration der Verkörperung nä­bert, verhält sich zur kosmischen Inspiration, wie der leibliche Mensch sich zur Luft verhält. Wie wir uns unseren physischen Leib gewöhn­lich vorstellen, denken wir ihn uns bestehend aus Muskeln, Nerven, Gefäßen, Knochen, ebenso wie wenn wir einen Leichnam betrachten. Aber was als Luft Anteil an unserem Organismus hat, das denken wir uns mehr außerhalb des Leibes. Zwar wissen wir, daß wir ohne Luft nicht leben können, aber wir betrachten sie nicht so zu uns gehörend wie beispielsweise das Knochengerüst. Dennoch bildet sie einen Teil unseres Organismus. Das, was Luft da draußen ist und im nächsten Augenblick drinnen, um dann im nächsten Augenblick wieder drau­ßen zu sein, das bildet einen Teil unseres Organismus derart, daß die Luft in einem Rhythmus in uns lebt. In einem viel ausgedehnteren Rhythmus lebt der Mensch mit dem Seelisch-Geistigen. So, wie wir physisch Luft ein- und ausatmen, so atmen wir Seelisch-Geistiges ein, auch wenn es zum größten Teile unbewußt geschieht. Auch im Phy­sischen geschieht ein Teil dessen, was durch das Atmen bewirkt wird, unbewußt. Wenn der seelisch-geistige Mensch in der realisierten In­spiration das Seelisch-Geistige einatmet, dann nimmt er ein Bild auf in seine Seele. Das nimmt er in den herabgedämpften Teil seines Be­wußtseins auf, und was er aufnimmt, das ist die Welt der moralischen und religiösen Impulse. Das nimmt er auf in der Form des Gewissens.

Die dritte Etappe im Herabstieg zur neuen Verleiblichung ist es, wenn der Mensch übergeht zu dem, was ihm von den Eltern gegeben wird. Da führt er eine realisierte Intuition aus. So sehen Sie, daß das, was der Mensch in der Verleiblichung als drei höhere Erkenntnisstu­fen erreichen kann, sich im Seelisch-Geistigen auf dem Wege zur Ver­leiblichung als ein reales Geschehen vollzieht. So, wie wir uns hier auf

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Erden durch Imagination, Inspiration und Intuition hinaufschwingen in die geistige Welt, so steigen wir auf dem Rückwege aus der gei­stigen Welt in die Verkörperung auch herab durch Imagination, In­spiration und Intuition. Das ist das Gegenbild der drei höheren Er­kenntnisstufen in der geistigen Welt.

Was sehen wir daraus? Wir sehen daraus, daß Anthroposophie keine bloße Erkenntnis ist, sondern daß sie Leben hat, denn wir stre­ben durch Anthroposophie die höhere Erkenntnis an, um das höhere Leben in seiner Wirklichkeit zu erfassen und unsere Seele zu erfüllen mit dem Inhalt, der in den geistigen Welten darinnen lebt. Wer dann durch seinen gesunden Menschenverstand eingesehen hat, was der Geistesforscher zu sagen weiß, der erfährt noch etwas anderes. Er er­fährt folgendes. Er kann sich sagen, daß die Menschen in dem Zu­stand der Verleiblichung zwischen Geburt und Tod immerfort den im Leibe waltenden Sterbekräften begegnen. Die Sterbekräfte waren im­mer da im menschlichen Leibe, aber es sind in uns auch die den Sterbe-kräften entgegengerichteten Kräfte immer da. Sie sind da. Hätten wir diese Sterbekräfte nicht in uns, dann würden wir nmemals den Ver­stand für die physische Umgebung entwickelt haben.

Es ist eine der wichtigsten Erkenntnistatsachen, daß unsere Verstan­deskräfte gebunden sind an unsere Sterbekräfte. Der Tod ist eigentlich nur eine Zusammenfassung der fortwährend in uns wirkenden Sterbe-kräfte. Wenn wir uns aber fragen, wie ein sittliches Ideal, das sich zum religiösen Ideal steigern kann, in uns lebt, dann muß gesagt wer­den, daß dieses ganz anders in uns lebt. Man sagt, daß es gewisse Naturkräfte gibt, die bewirken, daß die Pflanzen nach oben getrieben werden, und diesen Kräften spricht man Realität zu. Aber wenn man in den Menschen hineinschaut und dort die Triebkräfte sittlicher und religiöser Ideale auffindet, dann will man diesen keine Realität zu­sprechen. Da sind sie aber und wirken nicht nur in jedem Menschen, sondern auch auf die Kulturen der ganzen Menschheit. Durch höhere Erkenntnis lernt man erkennen, daß die sittlichen Ideale dadurch im Menschen leben, daß Materie verbrannt wird. Materie wird vernichtet durch das Fassen sittlicher Ideale. Abbau von Materie ist die Voraus­setzung zum Aufbau sittlicher Ideale. Auf die Art und Weise, wie der

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Mensch Materie abbaut, wie er sie wieder aufbauen kann, kommt es an. Die äußere Forschung ist zwar noch befangen in dem Vorurteil von der Unvergänglichkeit der Materie, doch Geisteswissenschaft zeigt, daß die Naturkräfte draußen durch den Menschen durchbro­chen werden. Im Besitz anthroposophischer Weltanschauung lernt man sich trösten über die Vorstellung vom Wärmetod der Erde. Denn gerade durch die Vernichtung der Materie sichert sich der Mensch den Aufbau seiner moralischen Persönlichkeit.

Versuchen Sie einmal, recht besonnen in Ihre Seele hineinzuschauen, dann finden Sie etwas, das an der Seele des modernen Menschen zehrt und nagt: Was da zehrt und nagt, das ist, daß durch die moderne Naturwissenschaft eine Austilgung des Sittlichen aus dem Bereich der Realitäten festgestellt wird. Anthroposophie zeigt, wie durch den Menschen das Naturgesetz durchbrochen wird, zeigt, wie durch das Sittliche die Materialität vernichtet wird, um dann neu wieder aufzu­bauen als Materie, aber nun als solche die Träger einer sittlichen Weltordnung werden kann. Das, was in unserer Haut steckt, das hängt zusammen mit den absterbenden Kräften der Materie; aber das, was die Welt wieder aufbaut, das haben die Naturwissenschaften ver­gessen.

Wir müssen zu der Frage fortschreiten, wo Stoff aufgebaut werden kann, um zu neuen sittlichen Welten zu kommen. Wir haben zwar in uns jeden Augenblick den Tod, aber wir haben auch in uns die Auf­erstehung. Dahin müssen wir blicken; das ist die Perspektive, die wir aus anthroposophischer Weltanschauung vor die Menschenseelen hin-stellen müssen, weil die Naturwissenschaften schon allzulange und allzu einseitig den Blick auf die Sterbekräfte hin geworfen haben. Und es ist wichtig, den Mut zu entwickeln, um ins Auge zu fassen das, was getan werden muß, um neue Welten aufzubauen.

Ich setzte voraus, daß diese Andeutungen mancherlei Anregungen geben und zu Meditationen führen können, um klarer zu erkennen, was viel empfunden und beredet wird, und was stark gewollt werden soll.

SECHSTER VORTRAG Dornach, 11. Februar 1922

#G210-1967-SE080 Neue und alte Einweihungsmethoden

#TI

SECHSTER VORTRAG

Dornach, 11. Februar 1922

#TX

Heute möchte ich zu Ihnen über ein Thema sprechen, das vielleicht wiederum einige Gesichtspunkte abgeben kann für die Beurteilung des gegenwärtigen Geisteslebens im Zusammenhange mit dem, was in der Menschheitsentwickelung vorangegangen ist. In der Tat ist das Geistesleben der Menschheit, wie ich oftmals auseinandergesetzt habe, seit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts gegenüber früheren Zei­ten ein durch und durch anderes geworden, und wir stehen heute vor der Notwendigkeit, in einer gewissen Weise, aber vollbewußt und be­sonnen, wiederum zurückzukehren zu dem Durchschauen des geistigen Teiles unseres Weltzusammenhanges. Der geistige Teil unseres Welt-zusammenhanges wurde ja von alter instinktiver Geistesschau durch­drungen, und am meisten in den ältesten Zeiten der irdischen Zivili-sationsentwickelung. Es trat dann immer mehr und mehr die Fähig­keit der Menschen zurück, in dieser instinktiven Weise zum Geistigen vorzudringen, und in der Zeit, in welcher der Rückgang so stark be­merkbar war, daß die Menschheit einen neuen Einschlag brauchte, kam dann das Mysterium von Golgatha.

Nun möchte ich heute erwähnen, daß vor dem Mysterium von Gol­gatha die Menschen, insofern sie auf das geistige Leben hingesehen ha­ben, zu gleicher Zeit auch auf jene Institutionen hingesehen haben, die wir in der allgemeinen Menschheitszivilisation als die Mysterien ken­nen. Man konnte sich gewissermaßen in diesen ältesten Zeiten der Menschheit nicht denken, daß eine geistige Anschauung, daß ein gei­stiges Wissen sich anders ausbreiten könne, als indem es aus den My­sterien seinen Ursprung nahm. Und wenn wir das Bewußtsein unter­suchen, das die Menschen gehabt haben, die in dieser Zeit, wenn sie überhaupt Wissen haben wollten, zu den Mysterien hinschauten, so ergibt sich uns etwa das folgende Bild: Alles, was äußeres, nicht aus den Mysterien stammendes, sondern von den Menschen selbst errun­genes Verstandeswissen ist, das kam ja eigentlich erst in der späteren griechischen Zeit auf. Da erst geschah es, daß die Menschen aus sich

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selbst heraus, ohne Zuhilfenahme der Mysterien, zu gewissen Wahr­heiten kommen wollten. Daher rechnet man ja auch, wenn man die Sache richtig versteht, den Gang der wissenschaftlichen Entwickelung erst von der Zeit des Thales an. Ich habe das Nötige in meinen «Rät­seln der Philosophie» auseinandergesetzt. Alles, was vorher liegt, sucht Wissen durchaus mit Hilfe der Mysterien. Nun, wenn man die­ses Bewußtsein, das da zugrunde lag, untersucht, so kommt man dar­auf, daß innerhalb der Mysterien von denjenigen, die die Mysterien leiteten und von ihren Schülern ein Wichtigstes in dem gesehen wurde, was man den «Fürsten dieser Welt» nannte - damit meinte man die Erde -, im Gegensatz zu den Fürsten, das heißt zu den Geistwesen an­derer Welten.

Wenn wir heute in unserer Sprache von dem Fürsten dieser Welt, wie er im Bewußtsein der alten Welt lebte, sprechen, so würden wir etwa von der ahrimanischen Wesenheit sprechen. Wir würden also mit der ahrimanischen Wesenheit etwa diesen Fürsten des irdischen Lebens treffen. Wenn wir auf die Offenbarung im Geistigen sehen, die von der Seite des Fürsten dieser Welt hergeleitet werden kann, so müssen wir gerade auf das Intellektualistische des menschlichen Er­kennens hinweisen. Die Mysterienleiter würden das, was im grie­chischen selbständigen, außerhalb der Mysterien entstandenen Wissen lebte, durchaus bezeichnet haben als ein Wissen, eingegeben von dem Fürsten dieser Welt. Dagegen haben sie die Aufgabe der Mysterien darin gesehen, den Menschen in eine geistige Anschauung einzuführen, die von dem Fürsten dieser Welt abbringt und die menschliche Seele zu emnem Sich-Einleben in Welten führt, die nicht von dem Fürsten dieser Welt beherrscht werden. Man muß, wenn man die Dinge, um die es sich da handelt, in der richtigen Weise sehen will, sich solcher Ausdrücke bedienen, und es sollte niemand irgend etwas Abergläu­bisches oder dergleichen mit dem Gebrauche solcher Ausdrücke ver­binden.

Ich will Ihnen ein Bild entwerfen, wie etwa ein in die griechischen oder ägyptischen, in die persischen oder in andere Mysterien Einge­weihter über den Fürsten dieser Welt in älteren Zeiten gedacht hat. Da muß man sich schon klar darüber sein, daß, wenn die Betreffenden

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auch andere Namen gehabt haben, sie dennoch durchaus von dem Christus-Wesen gesprochen haben. Man spricht ja nicht nur von dem Christus-Wesen, wenn man den Christus-Namen ausspricht. Wenn wir auch selbstverständlich den Christus-Namen aussprechen müssen, indem wir von dem Christus-Wesen sprechen, bezeichnen wir doch mit dem Christus eigentlich erst die in Betracht kommende Wesenheit, nachdem sie durch das Mysterium von Golgatha durchgegangen ist und sich mit der Erdenzivilisation verbunden hat. Sie war eben vor dem Mysterium von Golgatha nicht mit der Erdenzivilisation verbun­den. Sie lebte gewissermaßen als das große Sonnenwesen außerhalb der irdischen Welt. Erst das Mysterium von Golgatha bezeichnet die Verbindung dieses außerhalb der irdischen Welt lebenden Wesens mit der Erdenwelt selber. Aber als solches außerirdisches Wesen kannten es durchaus die in die Mysterien Eingeweihten. Als solches Wesen er­kannte es auch derjenige, den man den Fürsten dieser Welt nannte, das geistige Wesen ahrimanischer Natur. Er fühlte sich gewisser­maßen - wie gesagt, ich schildere, was im Bewußtsein der Mysterien-eingeweihten lebte - als Herr der Erde. Er konnte sich sagen: Was die Menschen durch die Kräfte der Erde haben, das haben sie von mir. - Dagegen wußte er auch, daß außerhalb der Erde der Christus lebte und auf das menschliche Leben einen Einfluß hatte, und zwar auf Umwegen durch die Mysterien, deren Lehren dann popularisiert und hinausgetragen wurden unter die Völker.

Will man das, was da im Bewußtsein lebte, noch genauer beschrei­ben, so muß man sagen, die Eingeweihten der Mysterien dachten sich:

Der Fürst dieser Welt hat seinen hauptsächlichsten Einfluß auf die physische Leiblichkeit des Menschen; diese steht ganz in seiner Bot-mäßigkeit, und er fühlt sich als Herr dieser physischen Leiblichkeit des Menschen. Nicht konnte er sich als Herr dessen fühlen, was die ätherische und astralische Wesenheit des Menschen, also der Lebens-leib und das Seelische waren. Diesen Lebensleib und das Seelische sah man unter dem Einflusse einer außerirdischen Wesenheit stehen; da sah man schon immer die Kräfte der Christus -Wesenheit in den Men­schen einfließen. Nur konnte der Mensch das, was von der Christus­Wesenheit in ihn einfließen sollte, überhaupt nicht durch die Kräfte

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seiner Seele erhalten, sondern nur dadurch, daß er sich an dasjenige wandte, was der Mysterieneingeweihte bekam, nachdem er in der entsprechenden Weise vorbereitet war. Man stellte sich die Mysterien eben so vor, daß durch sie das Außerirdische gewissermaßen aufgefan­gen und zu dem Menschen geleitet wurde. So daß sich der Fürst die­ser Welt sagte: Hier auf dieser Erde bin ich Herr. Hier aus dieser Erde zieht der physische Leib des Menschen seine Kräfte, und zu die­sen Kräften des physischen Leibes gehört auch der menschliche irdische Verstand. Da bin ich Herr. Hier auf dieser Erde macht mir nichts meine Herrschaft streitig. Es fließt ein auf diese Erde das Außer-irdische auf dem Umwege durch die Mysterien. Das will ich dulden.

Aber gerade deswegen lehnte sich der Fürst dieser Welt auf gegen das Mysterium von Golgatha, weil er nun seine Erdenherrschaft teilen sollte mit dem Christus, der durch das Mysterium von Golgatha auf die Erde heruntergestiegen war. Als einen Nebenbuhler in der Erden-herrschaft empfand der Fürst dieser Welt den Christus. Er hätte sich gut gefallen lassen gewissermaßen die Mitregierung von außerhalb der Erde herein, aber er wollte sich nicht gefallen lassen die Nebenbuhler-schaft hier innerhalb dieses Erdenbereiches selbst.

Und da haben wir aus dem Geiste der alten Mysterien heraus den Hinweis auf die eigentliche Gegnerschaft des Fürsten dieser Welt gegenüber dem Christus. Diese Gegnerschaft wurde wiederum stark empfunden durch das ganze Mittelalter hindurch, bis in das 15. Jahr­hundert herein, bei denen, die in diese Dinge eingeweiht waren. Wenn man bis in das 15. Jahrhundert herein von dem Fürsten dieser Welt und von dem Christus sprach, so geschah es durchaus in diesem Sinne. Und man hatte ein gewisses Bewußtsein davon, daß sozusagen zwei Herrschaften da sind: die eine, die früher, vor dem Mysterium von Golgatha, in berechtigter Weise die menschliche Leiblichkeit be­herrscht hat, die jetzt aber mit Bezug auf die menschliche Leiblichkeit ihr Wirken teilen muß mit der andern Herrschaft, mit dem Christus. Denn der Christus strahlt nun nicht mehr bloß auf das Seelische, das heißt auf das Astralische und das Atherische, seine Wirkungen aus, sondern er will nunmehr auch seine Wirkungen ausstrahlen auf die physische Leiblichkeit des Menschen, das heißt auf das, was sich durch

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die physische Leiblichkeit des Menschen äußert, nämlich auf das In­tellektualistische, auf die eigenen Fähigkeiten des Menschen im wei­testen Sinne. Der Christus sollte leben in der ganzen menschlichen Natur. Das war es ja im Grunde genommen, was durch das Myste­rium von Golgatha in die Menschheit gekommen ist.

Vor dem Mysterium von Golgatha ist denen, die um diese Dinge wußten, gar nicht eingefallen, das Wissen von den ewigen Dingen innerhalb des Bereiches dessen zu suchen, was der menschliche Kopf ersinnen kann, oder was die andern Seelenkräfte, auch die Gemüts-kräfte, aus sich selbst heraus erlangen können. Das wurde den Myste­rien überlassen. Es war also durchaus vor dem Mysterium von Gol­gatha ein starkes Bewußtsein davon vorhanden: irdisches Wissen, irdisches Empfinden ist etwas anderes als das Empfinden der über­irdischen Mächte. Und man versteht die ersten Jahrhunderte des Mittelalters nur in ihrer besonderen geistigen Konfiguration, wenn man eben ein klares Bewußtsein von diesem Tatbestand hat.

Nun kann es vielleicht über diesen Tatbestand ganz besonders auf­klärend sein, wenn man hinsieht auf etwas, das ja als eine Art von Hauptsache innerhalb der verschiedensten Mysterienstätten angesehen worden ist. Gewiß, die Vorbereitungen und die späteren Prüfungen und so weiter, die der Mysterienschüler, der Einzuweihende, durchzu­machen hatte, waren für die verschiedenen Mysterienstätten verschie­den. Aber das Verschiedene nimmt sich auf diesen Gebieten auch nur so aus, wie etwa, wenn man von verschiedenen Seiten auf einen Berg hinaufsteigt und oben doch, trotz der verschiedenen Wege, auf dem einen Gipfel ankommt. Zuletzt führte alles doch zu dem einen Myste­rienziel. Nun kann man, wenn die Dinge auch modifiziert waren, dennoch zwei Maßnahmen dieser Mysterien, denen sich jeder zu un­terwerfen hatte, als die Hauptsache bezeichnen. Das war der soge­nannte Vergessenheitstrunk, und als zweites etwas, was innerhalb der Mysterienvorgänge so auf den Menschen wirkte wie ein starker Schreck, wie das Hineinleben in eine starke Angst. Beide Dinge dür­fen heute nicht mehr in derselben Weise durchgemacht werden zum Behufe der Erlangung höherer übersinnlicher Erkenntnisse. Es muß heute alles seelisch-geistig durchgemacht werden, während die Mysterienschüler

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der alten Zeiten die Dinge so durchgemacht haben, daß sie dabei immer Physisches in Anspruch nehmen mußten. Aber bewirkt wird doch etwas Ahnliches, nur, daß hei dem heutigen geistigen Er­streben der höheren Erkenntnis alles in die Sphäre des Bewußtseins hereinfällt, während es früher in die Sphäre des Instinktiven, des Traumhaften hineingefallen ist. Denn dadurch, daß so etwas wie der Vergessenheitstrunk in allen Mysterien gereicht worden ist und so etwas herbeigeführt wurde wie ein physischer Schreck, dadurch wurde in der Tat der Mensch abgedämpft in bezug auf seinen äußeren In­tellektualismus, der zwar dumpfer war als der heutige, ihn aber doch beherrschte in bezug auf dasjenige, was sich auf die äußere Welt bezog.

In ein dumpfes Leben wurde also der Mensch sowohl durch den Vergessenheitstrunk wie durch das andere, das einem Schreck, einem Angsterregen verglichen werden kann, hineingeführt. Was hatte der Vergessenheitstrunk denn für eine Bedeutung? Es kam dabei nicht darauf an, daß der Mensch irgend etwas vergaß. Er vergaß allerdings durch diesen Trunk. Aber die Wirkung, die dieser haben sollte, er­hielt er dadurch, daß er in ein bestimmtes Zeremonial getaucht war, daß er in einer bestimmten Weise zubereitet war, daß gewisse Vor­bereitungen gemacht wurden, bevor man den Trunk bekam. Es war aber durchaus ein physischer Trunk, der durch die Art und Weise, wie er gereicht wurde, allerdings bewirkte, was man nennen kann:

der Mensch vergaß sein Leben seit der Geburt. Es ist das etwas, was durch seelisch-geistige Entwickelung heute auch wiederum erreicht wird. Nur wird es heute dadurch erreicht, daß zuerst ein deutliches Bewußtsein von einem großen Lebenstableau hervorgerufen wird, das alles umfaßt seit der Geburt. Dann wird das unterdrückt, und da­durch wird der Mensch in die geistige Weise seines Lebens vor der Geburt oder vor der Konzeption eingeführt. Das wurde in der mehr physischen Weise erreicht im alten Vergessenheitstrunk.

Aber das ist ja nicht das Wesentliche, daß der Mensch vergißt; das Negative ist überhaupt niemals das Wesentliche. Das Positive, was dadurch erreicht wurde, das ist, daß das Denken beweglicher und intensiver wurde. Aber dumpfer wurde es auch. Es wurde träumerisch,

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weil eben an den physischen Organismus herangegangen wurde. Die Wirkung dieses Vergessenheitstrunkes auf den physischen Orga­nismus war - man kann sie ganz genau beschreiben -, daß das Gehirn, wenn ich mich so ausdrücken darf, flüssiger gemacht wurde, als es im gewöhnlichen Leben ist. Dadurch, daß das Gehirn flüssiger gemacht wurde, daß also der Mensch mehr mit dem Gehirnwasser statt mit den festen Bestandteilen dachte, dadurch wurde sein Denken beweglicher, intensiver.

Heute muß das auf dem direkten Weg erreicht werden, nämlich durch seelisch-geistige Entwickelung, wie das beschrieben ist in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und im zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft im Umriß». Dazumal wurde aber das Gehirn sozusagen durch äußere Einwirkungen flüssiger gemacht. Damit aber wurde erreicht, daß des Menschen geistig-seelische Wesen­heit, so wie sie ist, bevor der Mensch durch die Konzeption sich mit einer physischen Leiblichkeit verbindet, wie sie also in der geistigen Welt ist, als Geistig-Seelisches sich wiederum durchdrängen kann durch das Gehirn. Das ist das Wesentliche.

Graphisch aufgezeichnet, würde das sich so ausnehmen: Nehmen Sie an, das wäre die Konstitution des Gehirnes (siehe Zeichnung, grün): dann ist das so für den Menschen, der geboren ist, daß das Geistig-Seelische (rot) halt davor macht. Das Gehirn ist so konsti­tuiert, daß dieses innere Geistig-Seelische, das der Mensch hat, nicht durch das Gehirn durch kann. Der Mensch ist da drinnen nicht erfüllt von diesem Geistig-Seelischen. Dafür aber können die äußeren Wahr­nehmungen herein und können sich durch die Sinne - ich habe hier das Auge gezeichnet - im Gehirn geltend machen. Ich möchte sagen, so ge­artet ist das Gehirn in der heutigen Konstitution, daß dasjenige, was im Menschen das Ewige ist, nicht herauf kann in das Gehirn. Dadurch aber können die äußeren Eindrücke hinein. Indem der Mensch den Vergessenheitstrunk bekam, erhielt er die Möglichkeit, in das Gehirn dasjenige hineinzubekommen, was geistig-seelisch vor der Konzeption oder vor der Geburt war (rot). Das ist das eine.

Das andere ist das, was ich nannte: eine Art Schreck wurde auf den Menschen ausgeübt. Nun, nehmen Sie einmal, wie der Schreck auf den

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#Bild S. 87

Menschen wirkt: man erstarrt. Und es kann einen Schreck geben, der wirklich eine Art Erstarrung des ganzen Menschen hervorruft. Beim Menschen, so wie er im gewöhnlichen Leben ist, wo er herumlaufen kann - der erstarrte, der kataleptische Mensch kann nicht herumlaufen, bei dem sind eben die Muskeln erstarrt -, bei dem nicht erstarrten Menschen also saugt der übrige Körper dieses Ewige auf (weiß mit

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rot). Es wird in unserem Blute, in unseren Muskeln unten, das Geistig­Seelische, das Ewige aufgesogen. Dadurch kann es wiederum nicht wahrgenommen werden. Ins Gehirn kann es nicht herauf, da unten wird es aufgesogen. Es kann also nicht wahrgenommen werden, aber es tritt frei und selbständig heraus, wenn die Muskeln erstarren.

Diese Muskelstarre wurde hervorgerufen durch die Schockwirkung. Und dadurch wurde nun von dem übrigen Organismus, außer dem Gehirn, nicht aufgesogen das Geistig-Seelische, sondern es wurde frei. So daß der Mensch im Gehirn drinnen das Geistig-Seelische hatte, weil ihm sein Gehirn durch den Vergessenheitstrunk weich geworden war, und der übrige Organismus wurde gewissermaßen verhindert an dem Aufsaugen des Geistig-Seelischen. Dadurch wurde das Geistig-Seelische wahrgenommen. Der Mensch bekam also von zwei Seiten her die Möglichkeit, sein Geistig-Seelisches wahrzunehmen. Im ge­wöhnlichen Leben konnte er es nicht wahrnehmen, denn durch das Gehirn, durch das er sonst wahrnimmt, konnte er es nicht aufnehmen; da kommt es nicht hinein. Aus dem übrigen Organismus, durch das Wollen und so weiter, konnte es auch nicht wahrgenommen werden, denn der übrige Organismus sog es auf. Nun wurde ihm sein Gehirn verweicht, natürlich nur für die Momente der Erkenntnis. Dadurch schoß das Geistig-Seelische in das Gehirn hinein. Der übrige Körper wurde ihm erstarrt. Dadurch sog er das Geistig-Seelische nicht auf. Und der Mensch stand gewissermaßen in seinem verweichten Gehirn einerseits, und in seinem erstarrten Organsystem andererseits, wie in einem Gehäuse da; er stand da im Geistig-Seelischen, das ihm nach zwei Seiten gegeben war.

Sie sehen also, worauf diese Dinge, die so äußerlich beschrieben werden, eigentlich hinausmünden. Ich bemerke ausdrücklich, daß heute diese Dinge nicht nachgemacht werden können. Die Menschen würden auch nicht wissen, wie sie sie nachmachen sollen. Es würde ihnen heute auch nicht gut bekommen. Heute muß eben alles auf geistig-seelische Weise erreicht werden. Aber man kann durchaus sa­gen: Wenn so in den Mysterien die Menschen den Vergessenheitstrunk bekommen hatten, und die andere Wirkung der physischen Erstar­rung ihnen das Wahrnehmen des Geistig-Seelischen in sich ermöglichte,

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dann waren sie «Christen». In den Mysterien wurden sie Christen.

Es ist das durchaus im Bewußtsein der ersten Kirchenväter vorhan­den gewesen. Das wird nur heute den Leuten nicht gesagt, oder es wird sogar geleugnet. Bei den ersten Kirchenvätern ist ein deutliches Bewußtsein vorhanden gewesen, daß die Menschen durch die Myste­rien Christen geworden waren. Daher finden wir Stellen bei den ersten Kirchenvätern, daß Heraklit und Sokrates, trotzdem sie vor dem Mysterium von Golgatha lebten, Christen waren, wenn sie auch zu ihrer Zeit Atheisten genannt worden sind. Diese Stelle habe ich ja öfter zitiert, sie findet sich bei den ersten Kirchenvätern.

So könnte man also sagen: Um diesen Menschen, der da herauskam aus dem andern, machte sich der Fürst dieser Welt nach der Ansicht der älteren Mysterienleiter und Eingeweihten nichts zu tun; den über­ließ er dem Christus. Aber er wollte nicht, daß der Christus auf die Erde herunterkommt und vom ganzen Menschen Besitz ergreift. Das ist in den Evangelien dadurch angedeutet, daß die Dämonen, das heißt die unteren Diener des Fürsten dieser Welt, vernahmen: Der Christus ist angekommen, er ist da. - Da lehnten sie sich auf. Das ist in den Evangelien klar angedeutet. Sie erkannten ihn, und sie wurden wild.

Wir müssen uns also durchaus klar sein, daß, wenn wir über irdische Entwickelungsverhältnisse sprechen, wir ein Wesentliches des Mysteriums von Golgatha darin sehen müssen, daß diejenige gei­stige Macht, welche bis zum Mysterium von Golgatha hin den durch­aus berechtigten Einfluß auf die menschliche Leiblichkeit hatte, in der Folgezeit diesen Einfluß mit dem Christus zu teilen hatte. Daher nennt das Mittelalter den Fürsten dieser Welt den «widerrechtlichen Fürsten dieser Welt». Dieser Ausdruck ist eigentlich nicht gerechtfer­tigt innerhalb der alten heidnischen Anschauung; aber er trat als eine durchaus durch die Sache gerechtfertigte Bezeichnung dann innerhalb des Mittelalters ein.

Das ist das Wesentliche in bezug auf die geistige Entwickelung der Menschheit, daß für die älteren Zeiten gewissermaßen der Leib von dem Geistig-Seelischen zurückgezogen worden ist. Die Gehirnwirkung

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wurde aufgehoben, indem das Gehirn von dem Vergessenheitstrunk weicher gemacht wurde. Die aufsaugende Kraft des übrigen Organis­mus wurde aufgehoben, indem der übrige Organismus verhärtet wurde durch den Schock. Also der Leib wurde zurückgezogen in die­sen älteren Zeiten von dem Geistig-Seelischen.

Die neuere Bestrebung besteht darin, daß nun nicht der Leib zu­rückgezogen wird, sondern daß der Geist herausgezogen wird, indem die geistig-seelischen Kräfte verstärkt, erkraftet werden. Es muß also durchaus das Umgekehrte in unserer Zeit stattfinden, es muß der Geist herausgezogen werden. Es darf gewissermaßen keine Verände­rung eintreten innerhalb des Physisch-Leiblichen. Denn der Mensch ist, namentlich seit dem 15. Jahrhundert, so organisiert, daß eine Ver­änderung in seiner Leiblichkeit in der Weise, wie sie durchaus üblich war bei den alten Mysterienschülern, ein Krankhaftes bedeuten würde. Es würde pathologisch sein, und das darf bei einer normalen Ent­wickelung nicht eintreten.

Ich charakterisiere Ihnen das alles, um Ihnen eine Vorstellung da­von zu geben, was unter dem immer wiederkehrenden Begriff älterer Zeiten von dem Fürsten dieser Welt zu verstehen ist. Dieser Fürst dieser Welt, der dann im Mittelalter zu dem «widerrechtlichen Für­sten dieser Welt» geworden ist, ist eine ahrimanartige Wesenheit. Wir können eine solche Wesenheit überall, in der äußeren Natur und im Inneren des Menschen verfolgen. Und eigentlich erst dann, wenn wir in die Lage kommen, eine solche Wesenheit in ihren Wirkungen so­wohl in der äußeren Natur wie im Inneren des Menschen zu verfol­gen, lernen wir allmählich eine solche Wesenheit verstehen.

Wenden Sie den Blick in die äußere Natur. Sie finden in der äuße­ren Natur zwei Kontraste. Man muß diese Kontraste nur in ihrer ganzen Eigentümlichkeit empfinden. Denken Sie einmal an den blauen Himmel. Gewiß, der blaue Himmel kann, insbesondere in südlichen Gegenden, in einer ganz andern Weise beurteilt werden, als ich es hier charakterisieren muß. Das ist dann der Fall, wenn die Erde ein­gehüllt ist, gewissermaßen die Luftschichte der Erde durchdrungen ist von Sonnenwirkung. Dann hat man nicht die reine Wirkung des bloß blauen Himmels, dann ist diese durch etwas anderes gewissermaßen

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überzogen. Wenn man aber die reine Wirkung des blauen Himmels hat, dann hat man eine Kältewirkung. Der blaue Himmel als solcher wirkt kalt. Und das, was Sie empfinden können bei einem kalten blauen Himmel, der nicht gemildert ist durch Erdenschwüle, das ist im weiten Umkreise das Ahrimanische. Man möchte sagen, das Ahrimanische bewirkt, daß der Raum in die Bläue erstarrt. Beachten Sie diesen Ausdruck! Er hat allerdings etwas Ungewöhnliches, aber wenn Sie nach und nach fühlen lernen, was das heißt, der Raum er­starrt in die Bläue, dann haben Sie für die äußere Natur den ahrima-nischen Einschlag.

Die Kontrastwirkung haben Sie, wenn Sie rötlich oder gelblich die ziehenden Wolken erblicken. Es ist genau die entgegengesetzte Wir­kung. Es hat etwas Warmes. Das kann natürlich auch da wiederum durch die Kälte der Erdenumgebung kaschiert sein; aber im ganzen hat die rötlich umsäumte Wolke, die gelbliche Wolke etwas Warmes. Das ist die entgegengesetzte Wirkung; sie ist eine Luftwirkung. Zwi­schen beiden polarischen Gegensätzen spielt sich dann ab, was eigent­lich dem Erdenleben des Menschen frommt. So daß man sagen kann:

Der mittelalterliche Mensch dachte sich in dem Wirken des zur Bläue erstarrten Raumes auf die Erde die kosmische Wirkung des Fürsten dieser Welt.

Sehen wir dann in den Menschen hinein, dann haben wir in ihm einen Zustand zu verzeichnen, durch den der Mensch blaß wird. Sie wissen, das Blasse des Menschen hat immer etwas Fahles, Bläuliches. Dieses Blaßwerden des Menschen, dieses Sich-Erfühlen in der Kälte, das ist das Erfühlen der ahrimanischen Wirkung im Menschen, wäh­rend die Gerötetheit das Luziferische in der Menschennatur ausmacht. Erst wenn man aus allen diesen Einzelheiten zusammensetzt, was die ahrimanische Wesenheit, die Wesenheit des Fürsten dieser Welt eigentlich ist, bekommt man eine vollständige Vorstellung davon. Dann wiederum, wenn man die blassen, manchmal so gescheiten, aber immer linienhaften Gedanken des Menschen nimmt, wenn man das eigentlich Intellektualistische nimmt, dann hat man wiederum in be­zug auf die Kopfwirkung des Menschen das Ahrimanische, das des Fürsten dieser Welt.

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Diese Dinge müssen heute vom Geistig-Seelischen aus durchschaut werden. Man muß fühlen in der Bläue, in dem menschlichen Blaß-werden, in dem Sich-innerlich-Verzehren, Sich-kalt-Erfühlen, in dem Durchdrungensein mit blassen abstrakten Gedanken, in all dem muß man fühlen das Ahrimanische, die Herrschaft des Fürsten dieser Welt. Und man muß die wärmende Wirkung des Christus-Impulses fühlen.

Es ist für die Gegenwart dieses Erkennen der einerseits ganz anders­artigen Einweihung der alten Zeiten gegenüber unserem Einweihungs­prinzip in einem gewissen Sinne lehrreich und auch notwendig. Es ist ja einmal so, daß es durchaus schon Menschen in der Gegenwart gibt, die nur noch nicht den Mut haben, zur anthroposophischen Be­wegung heranzukommen, die aber eine tiefe Sehnsucht haben nach demjenigen, was zuletzt doch nur die anthroposophische Bewegung geben kann, nach dem Verwandeln der Seele, um erst nach der Ver­wandlung zu den maßgebenden Erkenntnissen zu kommen. Natürlich lehnt der größte Teil der heutigen Menschheit dieses Verwandeln der Seele ab und glaubt, man könne zu dem, was der Mensch überhaupt an Wissen erlangen kann, durch die gewöhnliche Seelenverfassung kommen, die man durch die gewöhnliche Erziehung und durch das gewöhnliche Leben erlangt. So sagte mir während meiner letzten Reise ein Mann, der sich viel bemüht, aus den philosophischen Möglichkei­ten der Gegenwart heraus, aber ohne Anthroposophie, zu einer Art Erkenntnis zu kommen: Ja, es wäre doch an der Anthroposophie vor allen Dingen interessant und wäre wichtig darzutun, wie diese höhe­ren Erkenntnisse erlangt werden, denn überall - dieses «überall» ist natürlich sehr relativ zu nehmen - träte in den heutigen Weltanschau­ungen die Erkenntnis auf, daß es nicht allein vom Intellekt, sondern vom Willen abhänge, ob der Mensch wirkliche Erkenntnisse erlangen könne oder nicht. Und um die Umarbeitung des Willens handelte es sich ja auch bei den alten Mysterien.

Wenn Sie nun nachsehen, was ich beschrieben habe von den alten Mysterien in meinem Buche «Das Christentum als mystische Tat­sache», dann werden Sie sehen, daß der durchgreifende, der radikale Unterschied dieses alten Erkenntnisstrebens gegenüber dem heutigen darin besteht, daß beim alten Erkenntnisstreben durchaus Vorbereitungen

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des Willens notwendig waren. Der Wille mußte eine andere Richtung einnehmen, als er sie im gewöhnlichen Leben hatte. Der Wille mußte gereinigt, geläutert werden, er mußte gewissermaßen sich umwandeln und auf eine höhere Stufe kommen. Der Mensch mußte sein weltliches Wollen, das unter der Herrschaft des Fürsten dieser Welt steht, in eine andere Richtung bringen. Er mußte also erst durch eine Willenskultur hinkommen an denjenigen Ort, wo man dann Er­kenntnisse gewinnen kann, während der heutige Mensch glaubt, man könne da stehenbleiben, wo man eben durch die gewöhnliche Erzie­hung steht. Und das intellektuelle Leben ist ja nur vorhanden durch die gewöhnliche Konfiguration des Gehirnes. Wird diese verweicht, wie ich es angedeutet habe, dann tritt vor allen Dingen im Gehirn die starke Möglichkeit auf, die Gedanken zu wollen, überall die Gedan­ken zu wollen. Und wiederum wird das Wollen bewußt, indem der Leib erstarrt; das heißt, es treten im Wollen selber Gedanken auf. Das tritt auch heute auf, wenn auf den Wegen, wie sie von mir geschildert worden sind, eben Erkenntnisse höherer Welten möglich geworden sind.

Das ist ein sehr bedeutsames Zeichen, daß es heute schon wiederum Menschen gibt, die davon durchdrungen sind, daß man mit dem bloßen Intellektualismus nicht ausreicht, daß man eine Willenskultur nötig hat, um zu den den Menschen möglichen Erkenntnissen zu kom­men. Und so sieht man, wenn man auf die im großen einem ent­gegentretenden Erscheinungen blickt, daß eben zahlreiche Menschen herankommen, um von geistigen Dingen zu hören. Auch aus den Dingen, die einem, ich möchte sagen, in den Zwischenzeiten vor das Seelenauge treten, sieht man, daß es Menschen gibt, die nun wiederum glauben, daß eine Willenskultur notwendig ist, um zur Erkenntnis zu kommen. Alles das zeigt aber, daß heute ein starkes Bedürfnis nach geistigem Leben vorhanden ist. Die Menschen glauben freilich, weil sie nicht den Mut haben, zur Anthroposophie heranzukommen, weil sie die Anthroposophie für etwas Absonderliches halten, auf allerlei andern Wegen das erreichen zu können, was sie eigentlich erstreben. Es wird sich aber die Welt überzeugen müssen, daß es eben nur auf anthroposophischem Wege erreicht werden kann. Das heißt, mißverstehen

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Sie mich nicht: Was bis heute schon als Anthroposophie her­vorgetreten ist, will ich durchaus nicht als ein allgemein Gültiges, als ein Selbstverständliches ansehen. Nur die Richtung, in der sich diese Anthroposophie bewegt, die möchte ich als das Bedeutsame hinstellen und als dasjenige, was eben zur Befriedigung der stark vorhandenen Sehnsuchten in der Gegenwart führen kann, Sehnsuchten, ohne deren Befriedigung einfach die Zivilisation der Menschheitsentwickelung nicht weitergehen kann.

SIEBENTER VORTRAG Dornach, 12. Februar 1922

#G210-1967-SE095 Neue und alte Einweihungsmethoden

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SIEBENTER VORTRAG

Dornach, 12. Februar 1922

#TX

Wenn man solche Auseinandersetzungen macht, wie sie gestern hier gepflogen worden sind, hat man natürlich nicht etwa immer im Sinne, daß darin eine Aufforderung zur Übung nach der Richtung liegen soll, auf die gedeutet wird in Hinsicht von Erlangung höherer über-sinnlicher Erkenntnisse. Selbstverständlich liegt das auch darinnen, aber indem solche Dinge mitgeteilt werden, handelt es sich auch darum, daß sich eine Erkenntnis verbreitet von dem, was durch solche Übungen zu höherer Erkenntnis erlangt werden kann. Und wer nun erklärt, dies oder jenes ist möglich in bezug auf die Entwickelung des Menschen, der erklärt ja dadurch etwas über das Wesen des Menschen selbst. Hört man, daß ein Mensch, der eine Einweihung sucht, das Seelisch-Geistige loslösen kann von dem Physisch-Leiblichen - ent­weder in der Art, wie ich es gestern dargestellt habe, wie es in den alten Mysterien geschehen ist, oder so, wie ich es, für die heutige Zeit geeignet, gleich nachher andeutungsweise darstellen will -, hört man, daß so etwas möglich ist, dann kann man eben wissen, daß das See­lisch-Geistige ein selbständiges Wesen ist, welches sein Dasein über das Leibliche hinaus hat. Man erlangt also aus den Mitteilungen, daß es höhere Erkenntnisse gibt, Erkenntnisse über die menschliche Wesen­heit selbst, und das ist es, was zunächst wesentlich ist für die Verbrei­tung anthroposophischer Weistümer.

Ich habe gestern dargestellt, wie in den alten Mysterien das Kör­perliche behandelt worden ist, damit dieses Körperliche die Seele nach den beiden verschiedenen Richtungen hin freigeben konnte. Ich habe gesagt, die beiden wesentlichen Dinge, auf die es ankam in den alten Mysterien, waren: der Vergessenheitstrunk auf der einen Seite und das Hervorrufen von angstartigen, furchtartigen, schreckartigen Zu­ständen auf der andern Seite. Der Vergessenheitstrunk bewirkte ja allerdings, daß man die Erinnerung tilgte für alles, was zunächst aus dem gewöhnlichen Erdenleben in dem Gedächtnisse darinnen war. Aber dieses Negative war nicht die Hauptsache, sagte ich, sondern

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die Hauptsache war, daß das Gehirn während des Mysterien-Erkennt­nisprozesses gewissermaßen wirklich leiblich verweicht wurde, und daß dadurch das Geistige, das sonst aufgehalten wird, nicht aufgehal­ten wurde durch das Gehirn, daß es durchgelassen wurde, und daß der Mensch dadurch gewahr wurde: Ja, ich habe ein ewiges Seelisch-Geistiges, das vor der Geburt beziehungsweise vor der Konzeption von mir vorhanden war.

Das andere ist, daß der übrige Organismus gewissermaßen erstarrte unter dem Einfluß der schreckhaften Tatsache. Wenn aber der Orga­nismus erstarrt, dann saugt er nicht, wie das sonst der Fall ist, das Seelisch-Geistige auf, insofern sich dieses durch den Willen äußert. Es zieht sich das erstarrte Körperliche sozusagen einerseits zurück von dem Seelisch-Geistigen, und es wird andererseits das Seelisch-Geistige dem Menschen wahrnehmbar. Durch die Erweichung des Gehirnes wurde die Gedankenseite des Seelischen für die alten Mysterienschüler wahrnehmbar. Durch die Erstarrung des übrigen Organismus wurde die Willensseite wahrnehmbar. Und auf diese Weise bekam der Mensch durch die Einweihung eine Vorstellung von seinem See­lisch-Geistigen. Aber diese Vorstellung hatte einen durchaus traum-haften Charakter. Denn was war es denn eigentlich, was einer­seits nach der Gedankenseite, andererseits nach der Willensseite frei wurde? Es war dasjenige, was aus geistig-seelischen Welten herunter-steigt und sich mit dem Physisch-Leiblichen des Menschen verbindet. Das wird erst durch den Besitz des Leibes fähig, sich der Sinne, sich des Verstandes zu bedienen, denn dazu ist der Leib notwendig. Ohne daß es sich des Leibes bedient, bleibt es traumhaft, bleibt es durchaus dumpf, dämmerig. So daß also der Mensch, indem er durch die ge­schilderten Vorgänge sein Seelisch-Geistiges losgelöst erhielt, dadurch eben ein Traumhaftes erhielt, allerdings ein Traumhaftes, in welchem in einer gewissen Weise durchaus ein gedankliches Element enthal­ten ist.

Ich sagte schon gestern, würde der Mensch dies heute wiederum ausführen, oder noch so ausführen wie früher, so würde das einen krankhaften Zustand herbeiführen. Denn der Mensch ist im wesent­lichen nach dem Mysterium von Golgatha in seiner Organisation so

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fortgeschritten, daß das intellektuelle Leben sich gegenüber den frü­heren, instinktiven Erkenntniszuständen verstärkt hat. Diese beson­dere Verstärkung des intellektuellen Lebens ist insbesondere seit dem 15. Jahrhundert über die Menschheit gekommen. Es ist außerordent­lich bedeutsam, daß auch noch während des ganzen Mittelalters die Menschen gewußt haben, wenn sie zu höheren Erkenntnissen kommen wollen, wenn sie überhaupt ein in gewissem Sinne höheres mensch­liches Leben führen wollen, so ist dazu ein Loslösen des Seelischen von dem Leiblichen notwendig.

Wir hätten wahrscheinlich eine Dichtung innerhalb der deutschen Literatur über dieses mittelalterliche Wissen von dem Übersinnlichen, über dieses mittelalterliche Verhältnis zu dem Übersinnlichen, wenn Schiller dazugekommen wäre, sein von ihm projektiertes großes Drama «Die Malteser» auszuführen. Es ist eine außerordentlich inter­essante Erscheinung innerhalb des deutschen Geisteslebens, daß Schiller vorhatte gerade in den Jahren, in denen der Malteserorden durch Napoleon zugrunde gerichtet worden ist, ein Malteserdrama zu schrei­ben, nämlich die Belagerung der Insel Malta durch die Türken und die Verteidigung dieser Insel durch den Großmeister des Malteser­ordens, La Valette. Schiller konnte offenbar dieses Drama nicht aus­führen. Er hat dann den «Wallenstein» geschrieben, und die «Malte­ser» liegen lassen. Wir würden, wenn die «Malteser» von Schiller aus­geführt worden wären, ein Drama haben, aus dem deutlich ersichtlich wäre, wie in einem solchen Orden - und die Malteser sind noch aus den Vorgängen während der Kreuzzüge hervorgegangen -, der nach außen hin eigentlich auf humanitäre Handlungen, auf Gemeinwirk­samkeit, auf Wohltätigkeitswirksamkeit und so weiter eingerichtet war, durchaus die Meinung herrschte, daß man so etwas nur vollfüh­ren könne, wenn man zu gleicher Zeit in einem gewissen Sinne zu einem höheren Leben aufsteigt.

Man hatte in der Zeit, in welcher der Tempelherrenorden und der Johanniterorden - aus dem dann der Malteserorden geworden ist -gestiftet worden sind, ja, auch noch während des ganzen Mittelalters durchaus das Gefühl: der Mensch muß sich verwandeln, bevor er in der richtigen Weise so etwas unternehmen kann. Es ist dieses ein Gefühl

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gegenüber dem Menschenwesen, das eigentlich in der neueren Zeit vollständig verlorengegangen ist, und das ist darauf zurück-zuführen, daß eben der Intellekt des Menschen wesentlich intensiver, stärker geworden ist, so daß der neuere Mensch ganz und gar intellek­tuell ist, daß das Intellektuelle bei ihm ganz besonders vorliegt.

In unserer Zeit ist wiederum eine starke Sehnsucht bei den Men­schen vorhanden, das Intellektualistische zu überwinden. Was heute in der Literatur, namentlich im Journalismus hervortritt, spricht aller­dings noch das Gegenteil aus, aber in den breiten Massen ist durchaus eine Sehnsucht vorhanden, das intellektualistische Element zu über­winden. Das zeigt sich insbesondere auch dadurch, daß nicht nur das Reden über Spirituelles heute in den weitesten Kreisen außerordent­lich gut einschlägt, sondern daß auch so etwas, was - wie unsere Eurythmie - nicht aus Intellektuellem, sondern aus dem, was imagina­tiv dem Menschenwesen zugrunde liegt, hervorgeholt wird, wenn es auch noch nicht völlig verstanden wird, doch auf die weitesten Kreise heute schon einen Eindruck macht. Denn das hat sich ja bei den letz­ten Reisen, insbesondere aber bei der letzten Eurythmiereise gezeigt, daß die Eurythmie einen außerordentlich starken Eindruck auch auf diejenigen Kreise macht, die sie natürlich beim ersten Sehen, auf den ersten Anhub, nicht in ihrem tiefsten Wesen durchschauen können, die aber fühlen, daß da etwas ist, was aus tieferen Untergründen der menschlichen Natur herausgeholt worden ist, was mehr ist als das bloß Intellektualistische.

Nun, worauf beruht nun dieses Inteilektualistische, das heute ganz besonders dem Menschen eigen ist? Ich möchte Ihnen das wiederum durch eine Art schematischer Zeichnung klarmachen. Ich sagte ge­stern: Wenn wir das menschliche Gehirn nehmen (weiß), so können wir uns vorstellen, daß durch dasjenige, was als der Vergessenheitstrunk aufgefaßt worden ist, eben das Geistig-Seelische, das sonst vor dem In­neren halt macht, das Gehirn durchdrang (rot), und daß durch den alten Eingeweihten von innen herauf aufstieg das Geistig-Seelische durch das präparierte Gehirn. - Der Intellektualismus von heute beruht ja dar­auf, daß gegenüber dem älteren Menschen, sagen wir vor dem Myste­rium von Golgatha, das Seelisch-Geistige beim heutigen Menschen

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innerlich stärker, intensiver geworden ist. Der ältere Mensch hat über­haupt nicht so viel Intellektualismus gehabt. Sein Seelisch-Geistiges prägte sich nicht zu solchen scharfen Gedankenlinien aus, wie das beim heutigen Menschen der Fall ist. Denn wenn man Intellektualist ist, so denkt man ja alles in geraden Linien. So dachte der ältere Mensch nicht. Der ältere Mensch dachte bildhafter, traumhafter, wei­cher, möchte ich sagen. Beim heutigen Menschen sind die Gedanken eckig, sind mit scharfen Konturen begabt. Aber dieser heutige Mensch könnte, trotzdem sein Seelisch-Geistiges stärker geworden ist, als es in älteren Zeiten war, dennoch nicht vom Seelisch-Geistigen aus diese Gedanken fassen.

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Verstehen wir uns recht, meine lieben Freunde. Der heutige Mensch hat schon gegenüber dem älteren ein gut Stück seelisch-geistiger Stärke. Er träumt nicht mehr so, wie der ältere Mensch geträumt hat, er strafft sich in seinen Gedanken. Dennoch würden diese Gedanken abgedämpft bleiben, wenn nur das Seelisch-Geistige beim modernen Menschen wirken müßte. Eigentlich kann jetzt der Mensch noch immer nicht von seiner Seele aus denken.

Was dem Menschen die Kraft des Denkens abnimmt, das ist der Leib. Wenn wir zum Beispiel eine Sinneswahrnehmung haben, so ha­ben wir sie allerdings mit dem Seelisch-Geistigen. Wenn wir sie dann aber denken wollen, diese Sinneswahrnehmung, dann muß uns der Leib helfen. Der Leib ist eigentlich der Denker. So daß also heute die Sache so ist: Die Sinneswahrnehmung wirkt auf den Menschen, das Seelisch-Geistige (rot oben) durchsetzt die Sinneswahrnehmung; aber der Leib wirkt wie ein Spiegel und wirft fortwährend die Gedanken-strahlen zurück (Pfeile). Dadurch werden sie bewußt. Also der Leib ist das, was dem Menschen die Mühe des Denkens abnimmt, nicht aber die Mühe der Sinneswahrnehmungen. Und wenn nach dieser Gedanken-seite hin der Mensch heute nach einer Einweihung streben will, dann muß er durch seine Übungen, die wir ja kennen aus «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und aus dem zweiten Teil der «Geheimwissenschaft im Umriß», das Seelisch-Geistige noch mehr ver­stärken; dann bringt er es allmählich dahin, dieses Seelisch-Geistige in sich so selbständig zu machen, daß es den Leib nicht mehr braucht.

Also verstehen wir uns richtig: Wenn heute im gewöhnlichen Leben gedacht wird, dann ist allerdings das Seelisch-Geistige tätig. Vor allen Dingen nimmt es die Sinneswahrnehmungen auf, aber es könnte nicht diejenigen Gedanken entwickeln, die heute entwickelt werden. Daher kommt der Leib und nimmt dem Menschen die Mühe des Denkens ab. Im gewöhnlichen Leben denkt man durchaus mit dem Leib, der Leib ist der Gedankenapparat. Wenn man die Übungen macht, von denen in den genannten Büchern die Rede ist, dann wird die Seele durch diese Übungen so stark, daß sie nicht mehr den Leib zum Denken braucht, daß sie selbst denkt. Und das ist im Grunde die erste Etappe der Entwickelung zum höheren Erkennen hin, daß das Seelisch-Geistige

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anfängt, den Leib für die höhere Erkenntnis als das eigentliche Denkorgan abzusetzen. Es muß nur immer wieder betont werden, daß der Mensch, indem er zur höheren Erkenntnis, also zur Imagination aufrückt, immer neben sich mit seinem gesunden Men­schenverstand bleibt als einer, der sich selber kontrolliert, sich selber kritisiert. Also man bleibt daneben derselbe, der man sonst auch im ge­wöhnlichen Leben ist. Es entwickelt sich nur der zweite Mensch aus dem ersten heraus, der dann fähig ist, nicht mehr mit Hilfe des Leibes, sondern ohne die Hilfe des Leibes zu denken.

Also das, was sich als Geistig-Seelisches dem alten Mysterienschüler offenbarte, das kam aus dem Leibe heraus, drang durch das Gehirn

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durch und im Herausquillen gewissermaßen nahm es der Mensch wahr. Das aber, was der Mensch heute wahrnimmt als ein Eingeweih­ter, das ist verstärktes Denken, das nun ganz und gar nicht das Gehirn in Anspruch nimmt. Während also der alte Mensch das, was er als Geistig-Seelisches wahrnahm, aus seiner Organisation herauszog, nimmt der Mensch heute das Seelisch-Geistige nach der Gedankenseite hin so wahr, daß es in ihn hereindringt, wie Sinneswahrnehmungen in ihn hereindringen. Der Mensch, indem er diese erste Stufe der höheren Erkenntnis erklimmt, muß sich daran gewöhnen, zu sagen: Ich be­ginne, mich selber meinem ewigen Seelisch-Geistigen nach wahrzuneh­men, denn das dringt durch mein Auge, das dringt überhaupt von außen in mich herein.

Ich habe bei einem öffentlichen Vortrag im Basler Bernoullianum gesagt: Die Geisteswissenschaft in anthroposophischem Sinne muß das Sinneswahrnehmen als ihr Ideal betrachten. Man muß vom Sinnes-wahrnehmen weiterschreiten. Man darf nicht zurück zum traumhaf­ten Erkennen gehen, sondern man muß zu einem klareren Erkennen schreiten, als es dieses Wahrnehmen ist. Daher muß unser eigenes We­sen an uns herankommen, wie die Farben und wie die Töne an die Sinne herankommen.

Nun habe ich aber eigentlich zweierlei gezeichnet in dieser schema­tischen Zeichnung. Also soll sowohl dies (siehe Zeichnung 5.101 unten), wie dies (oben), das Seelisch-Geistige, eigentlich ein und dasselbe sein. Das ist es auch, nur von zwei verschiedenen Seiten her. Wenn der Mensch aus der geistig-seelischen Welt heruntersteigt zur physischen Verleiblichung, dann ist sein Seelisch-Geistiges so, daß es gewissermaßen für die seelisch-geistige Welt stirbt; indem der Mensch konzipiert wird, sich zur Geburt anschickt, stirbt er für die geistige Welt. Wenn der Mensch hier für die physische Welt stirbt, so wird er, indem er durch die Pforte des Todes geht, für die geistige Welt geboren. Das sind nur relative Begriffe. Stirbt man für die geistige Welt, wird man physisch geboren; stirbt man für die physische Welt, wird man geistig geboren. Tod in der physischen Welt bedeutet geistige Geburt, Geburt in der physischen Welt bedeutet geistigen Tod. Das sind, wie gesagt, ja nur relative Begriffe. Was da in der Seele auftritt, wenn sie hin zur Geburt

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schreitet, das ist in der Tat etwas, was in der geistigen Welt nicht weiter fortbestehen könnte, was in der geistigen Welt zerfallen würde und was zu einem Leiblichen hinläuft, damit es sich weiter erhalten kann.

So daß man also, wenn man es nun schematisch zeichnen will, etwa so zeichnen müßte: Das Geistig-Seelische (rot von links) steigt aus der geistig-seelischen Welt herab. Es ist, man möchte sagen, in einer Sackgasse angekommen; es kann jetzt nicht weiter, es muß sich

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mit physischer Materialität ausstatten (blau). Aber die physische Ma­terialität wirkt eigentlich nur so, wie ich es jetzt eben beschrieben habe, vom Gehirn aus, nicht vom übrigen Menschen aus. Vom übrigen Menschen aus geht doch wieder das Geistig-Seelische, das sich gewis­sermaßen dadurch erholt, daß es vom Gehirn nicht durchgelassen wird, daß es im Gehirn eine Widerlage, eine Unterstützung hat. Da­durch wird es dem Geistig-Seelischen wiederum möglich, nun doch durch die übrige menschliche Organisation, also namentlich durch die Gliedmaßen-Stoffwechselorganisation, sich selber sich entgegenzustel­len (rot rechts). Man könnte also sagen: Was ich hier blau gezeichnet habe, das ist die Kopforganisation. Hier ist dann die Gliedmaßen­Stoffwechselorganisation (gelb); die saugt zwar im normalen Zustande das Seelisch-Geistige auf, aber doch nur bis zu einem gewissen Grade.

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Schon indem wir von Kindheit aufwachsen, kommt eigentlich das Gei­stig-Seelische immer wieder zum Vorschein. In dem Momente, wo der Mensch konzipiert wird, und während er ein Embryo, ein Keim im Leibe der Mutter ist, wird gewissermaßen das ganze Geistig-Seelische, das aus der geistig-seelischen Welt herunterkommt, untergetaucht in das Materielle. Aber dadurch, daß es eine Stütze bekommen hat, die­ses Geistig-Seelische, erholt es sich wiederum. Der Embryo hat die Form, die das schon äußerlich zeigt: zunächst die Kopforganisation, da findet das Geistig-Seelische eine Stütze (siehe Zeichnung). Dann setzt sich die übrige Organisation an; da quillt schon das Geistig-Seelische wiederum durch - das habe ich hier schematisch gezeichnet.

Indem wir nun als Kind heranwachsen, da wird immer wieder das

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Geistig-Seelische selbständig, beim Kinde noch nicht so stark, aber immer mehr und mehr wird das Geistig-Seelische selbständig. Ich habe ja, indem ich die Entwickelung des Kindes beschrieben habe, dies im einzelnen ausgeführt; auch wie dieses Geistig-Seelische dann bei den großen Übergangspunkten, beim Zahnwechsel und bei der Ge­schlechtsreife, immer selbständiger und selbständiger wird. So daß wir, indem wir als Mensch heranwachsen, immer mehr das Leiblich-Physische zurücktreten lassen und ein selbständiges Geistig-Seelisches bekommen. Dieses Selbständige ist beim heutigen Menschen intensiver

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als beim älteren Menschen. Aber es könnte doch nicht denken. Es braucht eben, wie ich sagte, den Leib zur Hilfe, wenn es denken will. Sonst bliebe gerade auch das, was dann an uns heranwächst, immer traumhaft.

So kann man also sagen: Der ältere Eingeweihte suchte, das Gehirn durchlässig zu machen, so daß das frühere Geistig-Seelische, das da herunterstieg, für ihn noch durchquillen konnte, daß er also gewisser­maßen das vorgeburtliche Leben noch wahrnahm durch das ver­weichte Gehirn. Der neuzeitliche Eingeweihte, der reflektiert nicht darauf, sondern der reflektiert auf das, was sich im Laufe des Lebens herausbildet. Das erweckt er zu einer höheren Intensität nach der Ge­dankenseite hin. Der ältere Eingweihte hätte das nicht gekonnt. Der hätte das, was sich beim Kinde in dumpfer Weise als das neue Geistig-Seelische entwickelt, was dann später durch die Todespforte geht, nicht so stark anfassen können. Er tötete daher gewissermaßen das Leibliche ab, er lähmte es herunter, damit das alte Geistig-Seelische herauskam, das früher war, bevor er konzipiert beziehungsweise emp­fangen worden war.

Heute fassen wir dasjenige, was wir in schwacher Weise durch die Kindheit bis zum Erwachsensein entwickeln, stärker an, so daß wir also das, was sich seit der Geburt als das neue Geistig-Seelische ent­wickelt, erkraften, verstärken. Dadurch versuchen wir ein selbstän­diges Geistig-Seelisches gegenüber dem Leibe nach der Gedankenseite hin zu bekommen. Während also der alte Eingeweihte das vorgeburt­liche Geistig-Seelische durch die Herabdämpfung des Leibes offenbar machte, versuchen wir offenbar zu machen, was sich nach der Geburt als Geistig-Seelisches immer mehr und mehr herausentwickelt; aber wir machen es nicht bis zu der Stärke offenbar, in der wir es gebrau­chen, um selbständig die geistige Welt wahrzunehmen. Das ist der Unterschied.

Nach der Willensseite hin ist es so: Der alte Eingeweihte versuchte, wie gesagt, die Willensorganisation erstarrt zu machen. Dadurch wurde das Geistig-Seelische, das sonst durch die Willensorganisation aufgesogen wird, für ihn wiederum wahrnehmbar, also dasjenige, was da war vom Vorgeburtlichen. Wenn der Körper erstarrt ist, so saugt

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er eben nicht das Geistig-Seelische auf; dadurch wird es in seiner Selbständigkeit offenbar. Das machen wir wiederum nicht als mo­derne Eingeweihte, sondern da wird anders vorgegangen. Da wird nun wiederum der Wille verstärkt, indem die Kraft des Wollens in der Weise, wie ich das in den genannten Büchern dargestellt habe, um­gewandelt wird. Es wäre ganz falsch, wenn durch Schocks, durch Angstzustände, durch Schreckzustände, wie beim alten Eingeweih­ten, kataleptische Zustände herbeigeführt würden. Das würde beim modernen Menschen mit seiner stark entwickelten Intellektualität ganz und gar ins pathologische Gebiet gehören. Das darf also nicht sein. Dagegen wird zum Beispiel durch Rückwärtsübungen - wo man gewissermaßen nicht vorwärts vorstellt, sondern, wie bei der Rück­schau, die Tageserlebnisse von rückwärts nach vorn, vom Abend zum Morgen durchnimmt - oder auch durch andere Willensübungen, der Wille umgewandelt in einer Weise, die ich etwa so charakterisieren kann: Betrachten Sie das menschliche Auge. Wie muß es denn gestal­tet sein, damit wir sehen können? Wenn wir starkrank werden, macht sich die Materie des Auges selbständig geltend. Das Auge kleidet sich aus mit Materie, die dann undurchsichtig wird. Das Auge muß selbstlos sein, selbstlos in den Organismus eingefügt sein, wenn wir es zum richtigen Sehen brauchen wollen, es muß durchsichtig sein. Un­ser Organismus ist für den Willen durchaus nicht durchsichtig. Ich habe es Ihnen ja öfter dargestellt. Wir können einen Gedanken haben, sagen wir, daß wir den Arm, die Hand erheben wollen. Wir fassen den Gedanken: Ich will den Arm, die Hand erheben. - Aber was dann geschieht in unserem Organismus, indem dieser Gedanke hin­überschießt in den Organismus und die Ausführungen macht, das ist ebenso in Dunkel gehüllt wie die Ereignisse, die zwischen dem Ein­schlafen und dem Aufwachen vor sich gehen. Wir sehen erst wie­derum den erhobenen Arm, die erhobene Hand. Also wir haben wie­derum eine Vorstellung. Anfangsvorstellung und Endvorstellung schließen sich zusammen; was in der Mitte drinnen liegt, das ist ein Schlafzustand. Der Wille entfaltet sich so im Unbewußten für den Menschen, wie sich die Ereignisse des Schlafes im Unbewußten ent­falten. Wir können ganz gut sagen: In bezug auf das Durchschauen

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des Willens ist unser Organismus undurchsichtig für das gewöhnliche Bewußtsein, wie ein starkrankes Auge undurchsichtig wäre.

Selbstverständlich will ich nicht sagen, daß der menschliche Orga­nismus deshalb krank sei. Er muß eben so undurchsichtig sein für das gewöhnliche praktische Leben. Das ist sein normaler Zustand. Aber für die höhere Erkenntnis kann er so nicht bleiben, da muß er durch­sichtig werden, seelisch-geistig durchsichtig. Das geschieht eben durch die Willensübungen. Der Organismus wird so, daß wir ihn durch­schauen können, daß wir also nicht mehr in ein Unbestimmtes hinun­terschauen, wenn der Wille sich entfaltet, sondern er wird so selbstlos, wie das Auge in seiner Substantialität selbstlos in den Organismus eingesetzt ist, damit wir die äußeren Gegenstände richtig sehen. Wie das Auge selbst durchsichtig ist, wird der Organismus geistig-seelisch durchsichtig, wird der ganze Organismus ein Sinnesorgan. Dadurch nehmen wir nach der Willensseite hin objektiv die geistigen Wesen­heiten wahr, wie wir durch das äußere Auge die äußeren physischen Gegenstände wahrnehmen. Also die Willensübungen gehen bei uns nicht darauf aus, den Körper zu erstarren, damit das Geistig-Seelische frei werde, sondern sie gehen darauf aus, das Geistig-Seelische so zu entwickeln, daß es durch das Körperliche hindurchschauen kann. Das ist das Wesentliche. Man sieht in die geistige Welt nur hinein, wenn man durch sich selber hindurchschaut. So wie man die äußeren Gegen­stände, die man sieht, durch das Auge nur sieht, indem man durch das Auge durchschaut, so sieht man in die geistige Welt nicht direkt hin­ein, sondern indem man durch sich selber durchschaut.

Das ist die andere Seite, die Entwickelung nach der Willensseite. Also die ganze Entwickelung beruht in der neueren Zeit darauf, daß man erstens das Denken erstarkt, so daß es unabhängig wird vom Gehirn, und zweitens, daß man den Willen so gestaltet, daß der ganze Mensch durchsichtig wird. Man kann nicht durch das Blitzblaue in die geistige Welt hineinschauen, ebensowenig wie man ohne das Auge in die Farbenwelt hineinschauen kann. Man muß durch sich durch­schauen. Das aber geschieht durch die Willensübungen.

Da haben Sie jetzt für den modernen Menschen, was eben durch die Initiation ausgeführt werden kann. Es kann sowohl nach der Gedankenseite

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hin das Seelisch-Geistige unabhängig gemacht werden von dem Leiblichen, wie der Leib in seiner Materialität überwunden wird, indem er geistig-seelisch durchsichtig wird. Dadurch haben Sie das durch seine eigene Kraft selbständig gewordene Geistig-Seelische ge­geben. Das ist der große Unterschied zwischen der alten und der neuen Einweihung. Die alte Einweihung veränderte den Leib, änderte ihn nach der Gehirnseite, nach der Seite des übrigen Organismus, und dadurch, daß der Leib verändert wurde, wurde das Seelisch-Geistige in einer dumpfen Weise wahrnehmbar. Die moderne Einweihung ver­ändert das Geistig-Seelische, macht es in sich stärker nach der Ge­dankenseite und nach der Willensseite hin und macht es dadurch auf der einen Seite vom Gehirn unabhängig, auf der andern Seite so stark, daß es durchschaut durch den Organismus.

Das bedingt allerdings, daß der alte Eingeweihte das, was er wahr­nehmen konnte, gewissermaßen gespensterhaft sah. Es trat, nachdem die entsprechenden Prozeduren abgelaufen waren, gespensterhaft das auf, was sich als das Wesenhafte der geistigen Welt offenbaren konnte. Man sah die geistige Welt, ich möchte sagen, in ätherischen Gebilden. Und die große Sorge der Lehrer der alten Mysterien war die, daß die Schüler, trotzdem sie die Wahrnehmungen aus der geistigen Welt her­aus gespensterartig sahen, lernten, von dem Gespensterartigen abzu­sehen. Immer wieder und wieder gingen die Ermahnungen der Lehrer der alten Mysterien dahin, den Schülern klarzumachen: Ihr seht etwas, was wie materiell aussieht, aber ihr müsset das wie Bilder an­schauen. In dem, was ihr seht, in diesem Gespensterhaften, habt ihr nur die Bilder der geistigen Welt. Ihr müßt nicht glauben, daß ihr in dem, was ihr da gespensterartig um euch herum seht, die wahre Wirk­lichkeit habt -, wie ja auch der Kreidestaub auf der Tafel, wenn ich etwas aufzeichne, nicht die Wirklichkeit ist, sondern das, was abgebil­det wird. - Natürlich sagte man das nicht mit solchen Worten, aber in modernerer Art könnte man es so ausdrücken. Das war die große Sorge der alten Mysterien, daß die Schüler nicht das für Wirklichkeit hiel­ten, was sie da traumhaft gespenstig sahen, sondern daß sie es als Bil­der hinnahmen.

In der modernen Einweihung hat man eine andere Sorge. Da

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kommt man überhaupt nur zum Erkennen der höheren Welt, in­dem man durch die imaginative Erkenntnis schreitet. Da lebt man also in einer Welt von Bildern; da sind die Bilder von vornherein in ihrem Bildcharakter da. Also der Verwechslung ist man nicht aus­gesetzt, man hat zunächst einen Bildcharakter. Aber daß man diese Bilder in der richtigen Weise beurteilen kann, daß man weiß, wie man diese Bilder auf die geistige Realität zu beziehen hat, das muß man dadurch erreichen, daß man das exakte Denken, das man sich angeeignet hat als moderner Mensch, nun auf die Bilderwelt anwen­det, daß man wirklich in dieser Bilderwelt denkt, wie man denken gelernt hat in der gewöhnlichen physischen Welt. Jedes gedankenlose Anschauen ist für die moderne Initiation von Schaden. Es muß alles das, was man an gesundem Denken als moderner Mensch entwickelt hat, in die höhere Erkenntnis hineingetragen werden. So wie man sich in der gewöhnlichen physischen Welt orientieren kann, wenn man ordentlich denken kann, so kann man sich erst recht in der Welt des Geistes, in die man durch die moderne Initiation eintritt, nur dann orientieren, wenn man alles das, was man durch imaginative, inspi­rierte, intuitive Erkenntnis erlangt, in der richtigen Weise mit dem Denken zu durchsetzen vermag, das man sich hier in der physischen Welt angeeignet hat. Ich habe ja das in meiner «Theosophie», wie in meiner «Geheimwissenschaft» und auch in «Wie erlangt man Erkennt­nisse der höheren Welten?» immer mit völliger Deutlichkeit ausge­sprochen als ein Charakteristikon der modernen Einweihung.

Deshalb ist es auch so notwendig, daß jeder, der in dem neueren Sinne in die höheren Welten eindringen will, wirklich exakt denken lernt und sich im exakten Denken übt. Das ist nämlich nicht so leicht, wie die Menschen sich es vorstellen. Ich will, um das, was ich eigent­lich meine, verständlich zu machen, folgendes sagen: Denken wir ein­mal etwas ganz Prägnantes. Sagen wir, es würde diese verehrte Gesell­schaft hier morgen dadurch überrascht werden - es ist ja selbstver­ständlich eine Hypothese -, daß hier im Goetheanum, nun, sagen wir, Lloyd George erscheint. Ich will eben einen extremen Fall anführen. Nun, wenn morgen hier Lloyd George erschiene, so würden Sie alle bestimmte Gedanken, bestimmte Empfindungen haben. Aber diese

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Gedanken, diese Empfindungen, die Sie haben würden, die würden nicht bloß dadurch entstehen, daß Sie von dem Augenblick, wo dieser Lloyd George erscheint, bis zu dem Augenblick, wo er wieder weg-geht, alles das, was Sie übersehen, verfolgen. Um das zu verfolgen, brauchten Sie ja gar nicht zu wissen, daß er Lloyd George ist. Sie wür­den dann an ihm nur wahrnehmen können, was man eben an einem Menschen, der einem ganz unbekannt ist, sehen kann. Ehe Sie nicht in die Lage kommen, von allem abzusehen, was Sie über irgend etwas, das Sie in solcher Weise wahrnehmen, von anderswoher schon wissen und empfinden, ehe Sie nicht bloß das rein verfolgen können, was Sie sehen, eher denken Sie nicht exakt. Sie denken erst dann exakt, wenn Sie imstande sind, falls morgen Lloyd George erscheint, hier nichts inderes über ihn zu denken und zu empfinden, als was der reine Ein­druck hervorruft, von dem ersten Moment, wo Ihr Auge auf ihn auf­merksam wird, bis zu dem Moment, wo er Ihrem Auge wiederum ent­schwindet. Alles das, was Sie früher gewußt haben, müssen Sie aus­schalten. Alles das, worüber Sie sich geärgert haben über ihn, oder was Sie entzückt hat an ihm, müssen Sie ausschalten, und nur, was er Ihnen in der reinen Anschauung darbietet, das müssen Sie auffassen. Nur dadurch lernt man genau der Wirklichkeit gemäß denken.

Denken Sie, wie weit die Menschheit davon entfernt ist, genau der Wirklichkeit gemäß zu denken! Lassen Sie irgend etwas in Ihrer Seele rege werden, so werden Sie sehen, wieviel Sie von den in der Seele lebenden, verborgenen, unbewußten, unterbewußten Empfindungen heraufsteigen lassen. Es ist die größte Schwierigkeit, sich auf das zu beschränken, was man bloß gesehen hat. Versuchen Sie, etwas zu lesen, wo irgend jemand etwas beschreibt, und fragen Sie sich: Be­schreibt er bloß das, was er gesehen hat, oder ruft er nicht Hunderte und Hunderte von vorgefaßten Empfindungen und Gefühlen hervor, die da drinnen mitsprechen? - Und dennoch: nur wenn man in der Lage ist, sich rein auf das zu beschränken, was man gesehen hat, dann ist man imstande, allmählich zu einem genauen Denken zu kommen.

Also es muß vor allen Dingen das durchgeführt werden, daß man alles, was einem, auch durch das Leben selbst, anerzogen ist, für ge­wisse Erscheinungen abstreifen kann und wirklich nur das verfolgt,

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was sich einem im Leben darbietet. Wenn Sie das bedenken und ein wenig meditieren über das, was ich jetzt gerade gesagt habe, dann be­kommen Sie allmählich einen Begriff von dem, was man exaktes Den­ken nennt. Im gewöhnlichen Leben hat der Mensch eigentlich kaum Gelegenheit, in den heutigen Verhältnissen sich in einem exakten Den­ken anderswo zu üben als in der Geometrie, höchstens noch im Rech­nen. Da beschränkt sich der Mensch auf das, was er sieht.

Zu einer geometrischen Figur, zu einem Dreieck, bringt man nicht viel Vorurteile mit. Da sagt man sich: Das ist das Dreieck. Ich zeichne hier eine Parallele, dieser Winkel ist gleich dem Winkel dort, jener

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gleich diesem, und der in der Mitte ist sich selbst gleich. Das ist dann ein gestreckter Winkel. Also sind die drei Winkel des Dreiecks auch gleich einem gestreckten Winkel. - Da schaue ich auf das, was ich vor mir habe. Da bringe ich nicht solche Kolosse von Vorurteilen mit, wie wenn Lloyd George morgen käme, und ich es etwa schon im voraus wüßte. Natürlich will ich mit dem, was ich jetzt eben ausgesprochen habe, nur sagen, daß ein wirkliches exaktes, genaues Denken eine gute Vorbereitung für ein richtiges Anschauen der höheren geistigen Wel­ten ist. Ein Denken, wobei man den Anfang des Gedankens genau in der Hand hat und wirklich jeden Schritt des Gedankens ganz genau überschauen kann, das ist notwendig, um in die höheren Welten hin­einzukommen, ich meine, um verständig in die höheren Welten hin­einzukommen. Vor allen Dingen ist eine ausgeprägte Gewissenhaftig­keit des Denkens notwendig, ein Sich-Rechenschaft-Geben über das, was man denkt. Und auch davon hält ja das gewöhnliche Leben zu sehr zurück. Die Menschen haben in den meisten Fällen kein Interesse

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daran, exakt zu denken, sondern sie haben vielmehr ein Interesse daran, so zu denken, daß ihnen der Gedanke gefällt, daß ihnen der Gedanke angenehm ist.

Nicht wahr, wenn man schließlich katholischer Priester ist und etwas von Anthroposophie hört, so ist einem der Gedanke, daß da etwas Richtiges sein kann in der Anthroposophie, doch furchtbar un­angenehm. Also es kann gar nicht die Rede davon sein, daß man da ein exaktes Denken entfaltet. Da tritt man ja an die Sache heran mit allen möglichen Antezedenzien, allen möglichen Vorempfindungen und Vorurteilen, und man entscheidet sich dann nach diesen Vorur­teilen. Im Leben wird ja das meiste nach diesen Vorurteilen entschie­den. Bedenken Sie doch nur einmal, welch sonderbaren Eindruck es manchmal macht, wenn man einfach den Versuch macht, in vorur­teilsloser Weise etwas zu charakterisieren. Wir leben hier im Goethe­anum. Kein Mensch wird mir zutrauen, daß ich in geringerem Sinne ein Goethe-Verehrer bin als irgendein anderer, aber wie vieles habe ich gegen Goethe vorgebracht! Wie oftmals mache ich den Versuch, Goethe aus einer begrenzten Erscheinungsreihe heraus zu charakteri­sieren, die man überschauen kann, während zumeist, wenn über Goethe geredet wird, schon im Namen Goethe eine ganze Summe von Wertungen liegt. Damit, daß nur der Name Goethe ausgesprochen wird, ist schon etwas erregt in der Seele. Man kann nicht, wenn man an eine neue Erscheinung herantritt, vorurteilslos an diese Erschei­nung herantreten, wenn man eben den ganzen Koloß von Vorurteilen mitbringt.

Diese Dinge werden gewöhnlich nicht berücksichtigt, und daher sagt man sehr häufig: Ach, man kommt ja nicht weiter in dem Herein-dringen in die geistigen Welten! - Ja, wenn die elementaren Dinge nicht berücksichtigt werden, so kann man eben natürlich nicht hin­einkommen. Und die Leute betrachten es als eine Zumutung, wenn man an sie die Anforderung stellt, die elementarsten Dinge zu berück­sichtigen.

Ich stelle ein Bild vor Sie hin. In den neunziger Jahren war ich einmal in Jena; da hat nach seiner Entlassung Bismarck eine große Rede gehalten. Er ist im Gefolge von Haeckel und Bardeleben und

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andern Jenenser Professoren unter einem Baldachin erschienen. Nun denken Sie, die ganze kolossale Menge, die dazumal auf dem Markt­platz in Jena stand, die sollte, was Bismarck sagt, nur so verfolgen, wie sie es verfolgen würde bei einem Menschen, den sie jetzt erst kennenlernt! Nicht wahr, das ist undenkbar unter gewöhnlichen Ver­hältnissen. Und dennoch, für den, der wirklich in eine Art Einwei­hung hineinkommen will, ist es durchaus notwendig, daß er sich die Unbefangenheit entwickelt, alles das, was er sieht, auch wenn sich darüber noch so viel schon in seiner Seele festgelegt hat, immer wie­derum wie etwas ganz Neues anzusehen, wie etwas sozusagen ihm vom Himmel Zugefallenes. Denn das ist ja das Eigentümliche der gei­stigen Welt, daß wir sie uns immer erst in jedem Augenblicke wieder neu erringen müssen, wenn wir sie haben wollen. Dazu müssen wir uns in der entsprechenden Weise eben vorbereiten.

Aber man kann doch sagen: Wenn man die allgemeinen Zivilisa­tionserscheinungen beachtet, bewegt sich die Menschheit in einer sol­chen Linie. Nur kommt sie zunächst noch in schlechtem Aspekt zum

Vorschein: in dem Bekämpfen jeder Autorität, in dem Bekämpfen jedes hergebrachten Urteiles und so weiter. Diese Dinge müssen nur alle veredelt werden. Aber die Menschheit bewegt sich in der Linie der Vorurteilslosigkeit, der Unvoreingenommenheit. Es kommt nur zunächst von seiner negativen, häßlichen Seite aus zum Vorschein. Man muß, wenn man die Entwickelung der Zivilisation richtig beur­teilen will, wenn man sie für die Zukunft bewerten will, sie auch von der Seite betrachten, die ich eben jetzt angedeutet habe.

ACHTER VORTRAG Dornach, 17. Februar 1922

#G210-1967-SE114 Neue und alte Einweihungsmethoden

#TI

ACHTER VORTRAG

Dornach, 17. Februar 1922

#TX

Wir wollen heute einmal den Durchgang der menschlichen Geist­Seelenwesenheit durch die physisch-sinnliche Organisation betrach­ten, und zwar so, wie sich dieses Geistig-Seelische zunächst anschickt für die physische Inkarnation, indem es herunterkommt von den gei­stigen Welten, und dann, wie es wiederum hinausgeht durch die Pforte des Todes aus der physisch-sinnlichen Inkarnation in die gei­stige Welt. Und insbesondere wollen wir heute Rücksicht nehmen auf die seelischen Eigentümlichkeiten dieses Vorganges. Wir müssen uns klar darüber sein, daß beim Eintreten in die physische Organisation, und zwar schon bei der Konzeption, eine gewaltige Veränderung vor sich geht, und daß wiederum eine gewaltige Veränderung eintritt, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes die physische Inkar­nation verläßt.

Nun haben wir das ja schon von den verschiedensten Gesichtspunk­ten aus charakterisiert; heute aber wollen wir gewissermaßen auf das innere Erlebnis der Seele als solche unseren Blick lenken. Wir wollen uns fragen: Welches sind die letzten Erlebnisse des Seelischen, bevor es heruntersteigt in das physische Erdenleben?

Wenn wir das Seelische beobachten zwischen der Geburt und dem Tode, so finden wir es in der mannigfaltigsten Weise durchwebt von Gedanken, von Gefühlen, von Willensimpulsen. All das wirkt inein­ander zu einem seelischen Gesamtbilde. Und wir haben ja auch für die einzelnen Gedankenformen, für die Formen des Gefühls, für die Formen der Willensimpulse besondere Sprachbezeichnungen und wis­sen aus dem, was im physischen Erdenleben seelisch erlebt wird, ge­wisse Arten von Gefühlen zu charakterisieren. Wir können, indem wir von mehr unterbewußten Gefühlserlebnissen und von Seelen-erlebnissen überhaupt ausgehen, wenigstens einigermaßen ein Licht werfen auf das, was in der Seele lebt, bevor sie ins irdische Leben eintritt.

Zunächst muß uns ja klar sein, daß das gedankliche Element als

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solches während des physischen Erdendaseins in der Seele wie ein Schattenhaftes lebt. Die Gedanken werden mit Recht blaß, abstrakt genannt. Das meiste, was der Mensch während des Erdenlebens an Gedanken, an Vorstellungen aufbringt, ist schließlich nichts weiter als Spiegelbild der Außenwelt. Der Mensch stellt sich vor, was er in der Außenwelt durch seine Sinne wahrgenommen hat, und Sie werden ja wissen, daß, sobald Sie alles, was durch die Sinne wahrgenommen worden ist, oder was im Laufe des physischen Erdenlebens sonst im Beisein der Sinne erlebt worden ist, von dem Gedankenleben abzie­hen, im Grunde genommen sehr wenig übrigbleibt, wenn nicht gerade ein Studium der Geisteswissenschaft dazu geführt hat, andern Ge­dankeninhalt zu bekommen als den, der aus der Sinneswelt heraus­gezogen ist. Aber diese schattenhafte Gedankenwelt ist eben aus dem Grunde schattenhaft, weil sie ihre innere Lebendigkeit verloren hat beim Herabsteigen in die physisch-sinnliche Welt. Man kann sagen, wie sich irgendeine volle irdische Gestalt zu dem Schatten verhält, den sie an die Wand wirft, so verhält sich das, was in den Gedanken eigentlich lebt, zu dem, was als Gedanken während unseres Erden-daseins auftritt. Und wenn wir von den irdischen Gedanken, wie wir sie zwischen Geburt und Tod haben, zu der wahren Gestalt des Ge­dankenlebens gehen, so sind sie doch eigentlich nur im rein geistigen Leben vor der Konzeption vorhanden. Es ist gerade so, wenn wir von einem Wandschattenbild zu dem gehen, was es darstellt. Es ist ein reges inneres, voll lebendiges Dasein gerade in dem, was später ab­geschattete Gedanken sind, vor der Geburt oder vor der Konzeption vorhanden. Wir können durchaus als das eigentliche geistige Dasein, als die eigentliche geistige Wesenhaftigkeit bezeichnen, was von der Gedankenwelt vor der Konzeption als inneres seelisches Weben und Leben vorhanden ist. Dieses innerlich-seelische Weben und Leben ist natürlich vor der Konzeption etwas, was das ganze uns bekannte Weltenall durchdringt. Wir leben eigentlich vor der Konzeption im Ganzen der Welt, die uns sonst umgibt, und was als Gedanke im Menschen dann während des Erdenlebens vorhanden ist, das ist das Schattenbild im kleinen Raum, im menschlichen physischen Organis­mus, von dem, was eigentlich kosmisches Leben hat vor der Konzeption.

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Damit bezeichnen wir das eine Element des Seelischen vor der Ge­burt oder vor der Konzeption. Was im Irdischen also Gedankenhaftes, im Außerirdischen bei der menschlichen Wesenheit eigentlich Gei­stiges ist, das finden wir, bevor der Mensch heruntersteigt in die phy­sische Welt, als Inhalt der Seele. Das andere, was Inhalt der Seele ist, das ist nicht anders zu bezeichnen, wenn wir die Begriffe von dem irdischen Leben hernehmen wollen, als indem wir sagen: es ist Furcht. In der Seele lebt in der Zeit, die dem physischen Erdenleben voran­geht, etwas, was sie ganz durchdringt als Furcht. Nur natürlich, wenn so etwas gesagt wird, müssen Sie sich klar darüber sein, daß Furcht als Erlebnis außerhalb des physischen Leibes etwas ganz anderes ist als im physischen Menschenleibe.

Der Mensch ist also, bevor er zur Erde heruntersteigt, ein Geistig­Seelisches, durchzogen von einem Gefühlselemente, das man nur mit etwas, was der Mensch im Erdenleben als Furcht erfährt, verglei­chen kann. Diese Furcht hat ihre gute Berechtigung für die Zeit des Menschenlebens, von der ich eben spreche. Der Mensch hat in dem Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt alle möglichen Erfahrungen gemacht, die sich eben in diesem kosmischen Verbunden-sein mit dem All machen lassen. Der Mensch ist gewissermaßen müde geworden dieses kosmischen Lebens am Ende seines Daseins zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, wie der Mensch durch das Ver­trocknen, durch das Abgelähmtwerden seiner Leibesorganisation am Ende seines Erdenlebens für das irdische Leben müde ist. Der Mensch ist gewissermaßen müde geworden des außerirdischen Lebens. Und dieses Müdewerden drückt sich eben nicht als Müdewerden aus, son­dern es drückt sich aus als Furcht vor dem All. Der Mensch flieht gewissermaßen das All. Er empfindet das, was die Grundeigenschaft des Alls ist, als etwas ihm nunmehr Fremdgewordenes, das ihm nichts mehr gibt; er empfindet eine Art von Scheu, die mit Furcht zu ver­gleichen ist, vor dem Elemente, in dem der Mensch darinnen ist. Er will sich herausziehen aus diesem Allgefühl, und er will sich zusam­menziehen in das, was menschliche Leiblichkeit ist.

Nun ist ja das, was sich von der Erde aus dem Menschen entgegen-bietet, etwas, was in gewissem Sinne diesem Furchtzustande gegenüber,

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in dem der Mensch sich befindet, wenn er sich wiederum dem Erdendasein nähert, eine Art Anziehungskraft ausübt. Wenn ich schematisch die Sache zeichnen soll, so müßte ich das in der folgenden Weise tun. Denken Sie sich die Schädeldecke mit dem Gehirn darin­nen. Das ist der Boden der Schädeldecke. Nun, dasjenige, was da in den Formen des Gehirnes sich ausbildet, was so merkwürdige Win­dungen darstellt, das ist beim menschlichen Organismus, wie ich ver­schiedentlich schon angedeutet habe, eine Art Nachbildung des Ster­nenhimmels, des Weltenalls. Dadrinnen in diesem zelligen Gebilde des Gehirns ist wirklich der Sternenhimmel nachgebildet (siehe Zeich­nung). Und indem der Mensch vor dem Herunterkommen ins Irdische in dem All draußen, in der Sternenwelt gelebt hat, hat er ja in seiner Geistigkeit dieses Sternenall umfaßt. Aber jetzt fürchtet er sich vor demselben. Er zieht sich zusammen nach dem, was wie ein irdisches Abbild dieses Sternenraumes im menschlichen Gehirn ist.

#Bild S. 117

Und da kommen wir zu dem, was man bezeichnen könnte als die Wahl, die das Geistig-Seelische trifft. Es geht die Seele eben zu dem­jenigen in Bildung begriffenen Gehirn hin, welches die meiste Ahn­lichkeit hat mit der Sternkonstellation, in der die Seele vor dem Herabsteigen

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in das Irdische drinnengestanden hat. Es ist ja natürlich, daß das Gehirn des einen Embryos in anderer Weise als das eines an­dern Embryos ein Abbild des Sternenhimmels ist. Nach demjenigen Gehirn hin aber fühlt sich das Seelische angezogen, das am meisten Ähnlichkeit mit der Sternkonstellation hat, in der die Seele war, bevor sie auf die Erde heruntergestiegen ist.

Es ist also im wesentlichen eine Art Furchtgefühl, was die Seele in den engen menschlichen Raum herunterführt, ein Furchtgefühl vor dem Unendlichen, könnte man sagen. Dieses Furchtgefühl ist das mehr Seelische. Die Gedankenwelt, die dann nach und nach von der Kindheit bis zur Erwachsenheit entfaltet wird, ist das Geistige. Dabei gehen dann sowohl dieses Furchtgefühl wie auch das Geistige, das dann zu den Gedankenschatten wird, eine wesentliche Metamorphose durch. Diese Metamorphose möchte ich Ihnen charakterisieren. Man kann sich da nur der Ausdrücke bedienen, welche für das gewöhn­liche Vorstellen ungewohnt sind; allein das heutige gewöhnliche Vor­stellen hat ja auch durchaus keine Anhaltspunkte, um diese Dinge zu bezeichnen. Es liegt ab von alledem, was in diese Region hineingehört, und daher müssen wir uns schon ungewohnter Ausdrücke bedienen, wenn wir diese den heutigen Vorstellungen abliegenden Dinge ad­aquat bezeichnen wollen.

Wir haben also zunächst das geistige Element, das da lebt im All, das sich gewissermaßen hineinbegibt in die enge Wohnung des mensch­lichen Leibes, sich namentlich durch das Nervensystem, durch das Gehirn entfaltet und sich dabei metamorphosieren muß. Dabei gliedert es sich in zwei Regionen. Man kann wirklich davon sprechen, daß das, was der Mensch vor der Konzeption in der geistig-seelischen Welt ist, beim Übergehen in die physische Leiblichkeit stirbt. Die Geburt in der physischen Leiblichkeit ist ein Absterben für das geistig-see­lische Leben des Menschen. Beim Absterben bleibt immer ein Leich­nam übrig. Wie, wenn der Mensch für die Erde stirbt, der Leichnam übrigbleibt, so bleibt auch ein Leichnam übrig, wenn das Geistig-Seelische, indem es durch die Konzeption zur Erde hingeht, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, für das Himmlische abstirbt. Von dem, was nun da als ein Leichnam übrigbleibt, von dem leben wir

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eigentlich gedanklich unser ganzes Erdenleben hindurch. Der Leich­nam ist nämlich die Gedankenwelt; das Tote, das ist diese Schatten-welt. So daß wir sagen können: indem das Geistige des Menschen durch die Konzeption ins Erdenleben heruntersteigt, stirbt es für die geistig-seelische Welt ab, und läßt diesen Leichnam zurück.

Geradeso wie der Leichnam des physischen Menschen in die ir­dischen Elemente sich auflöst, so löst sich für die geistige Welt das Geistig-Seelische auf und wird zu der Kraft, die in den physischen Gedanken entfaltet wird. Die Gedankenwelt ist der Leichnam unse­res Geistig-Seelischen. So, wie die Erde den Leichnam verarbeitet, wenn wir ihn in die Erde legen, oder wie ihn das Feuer verarbeitet, wenn wir ihn verbrennen, so verarbeiten wir unser ganzes Leben hin­durch den Leichnam unseres Geistig-Seelischen in unserer physischen Gedankenwelt. Also die physische Gedankenwelt ist im Grunde ge­nommen das fortgehende Tote dessen, was als Wirkliches, als geistiges Leben vorhanden ist, bevor der Mensch in die physische Irdischheit heruntersteigt.

Das andere, was in den Menschen als Lebendes einkehrt von seinem vorirdischen Dasein, das kommt im physischen Menschen nicht durch die Gedankenwelt zur Geltung, sondern im weitesten Umfange durch alles das, was wir Gefühl nennen können, sowohl Gefühl mit den Menschen, wie auch Gefühl mit der Natur. Also alles das, wodurch Sie sich fühlend, empfindend in die Außenwelt verbreiten (siehe Schema Seite 120), das ist ein Element, das die lebendige Nachwirkung des vorirdischen Daseins darstellt.

Nicht in Ihren Gedanken erleben Sie auf lebendige Art Ihr vor-irdisches Dasein, sondern in dem Gefühle mit den andern Wesen. Wenn wir eine Blume liebhaben, wenn wir einen Menschen liebhaben, so ist das im wesentlichen eine Kraft, die uns aus dem vorirdischen Dasein gegeben ist, aber in einer lebendigen Weise. So daß wir auch sagen können: Wenn wir zum Beispiel einen Menschen liebhaben, so haben wir ihn nicht bloß aus Erfahrungen im Erdenleben lieb, son­dern auch aus dem Karma heraus, aus der Verbundenheit in früheren Erdenleben. Es wird etwas Lebendiges hinübergetragen aus dem vor-irdischen Dasein, wenn die mitfühlende Sphäre des Menschen in Betracht

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kommt. Dagegen stirbt das, was lebendiges Geistelement zwi­schen dem Tod und einer neuen Geburt ist, in die Gedankenwelt hin­ein. Deshalb hat die Gedankenwelt während des irdischen Daseins dieses Blasse, Schattenhafte, dieses Tote an sich, weil es eigentlich den abgestorbenen Teil der vorirdischen Erlebnisse des Menschen dar­stellt.

Das zweite ist dann das, was man als Furcht bezeichnen muß, und auch das metamorphosiert sich so, daß es in zwei Elemente zerfällt. Das eine, also dasjenige, was wir vor dem Heruntersteigen in die ir­dische Welt als Furcht erleben, was die Seele ganz durchzieht und wobei sie die geistige Welt fliehen will, das wird etwas anderes, wenn es in den Leib einzieht, und das äußert sich zunächst im Inneren des Menschen als etwas, was ich bezeichnen möchte als das Selbstgefühl. Das Selbstgefühl ist wirklich die umgewandelte Furcht. Daß Sie sich als ein Selbst fühlen, daß Sie sich in sich selbst halten, das ist umge­wandelte Furcht aus dem vorirdischen Leben.

#Bild S. 120

Und der andere Teil, in den sich die Furcht verwandelt, das ist der Wille. Alles, was als Willensimpulse auftritt, was unserer Betätigung in der Welt zugrunde liegt, all das ist vor dem Heruntersteigen ins irdische Leben als Furcht vorhanden.

Sie sehen, hier ist wiederum dem Menschen ein Gutes für das irdische Leben erwiesen dadurch, daß er im gewöhnlichen Bewußtsein

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nicht an dem Hüter der Schwelle vorüberschreitet. Ich sagte ja oft­mals: Das, was der Wille eigentlich da unten darstellt im mensch­lichen Organismus, das verschläft der Mensch. Der Mensch hat die Intention seines Wollens, dann führt er das Wollen aus; dann hat er wiederum die Vorstellung von den Ergebnissen. Was aber zwischen diesen beiden Vorstellungswelten liegt, zwischen der Absicht, eine Handlung auszuführen und der vollendeten Handlung, also das, was eigentlich im Willen lebt, das wird von dem Menschen zunächst so verschlafen, wie er die Zustände zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen verschläft. Wenn der Mensch hinunterschauen würde in das, was seinem Willen zugrunde liegt, er würde heraufkraften fühlen aus seinem Organismus die aus dem vorirdischen Leben hereinkom­mende Furcht.

Das ist es auch, was bei der Einweihung überwunden werden muß. Wenn man in sich selbst hineinschaut, sieht man zuerst allerdings das Selbstgefühl. Das ist ja schon etwas, was durch die Erziehung nicht zu sehr gesteigert werden darf, damit der Mensch, wenn er in die gei­stige Welt eintritt, nicht eben in Größenwahn verfällt. Aber auf dem Grunde seiner Willensimpulse findet er überall die Furcht, und er muß gestärkt sein gegen diese Furcht.

Im wesentlichen werden Sie daher sehen, daß überall in den Übun­gen, die angegeben sind in meinem Buche «Wie erlangt man Erkennt­nisse höherer Welten?», darauf hingezielt ist, die Furcht, die man in der eben bezeichneten Weise gewahr wird, zu ertragen. Diese Furcht ist etwas, was unter den Entwickelungskräften da sein muß, sonst würde der Mensch gar nicht in das irdische Dasein herunterkommen aus der geistigen Welt. Er würde die geistige Welt nicht fliehen. Er würde nicht den Impuls entwickeln, in einen begrenzten physischen Menschenleib einzuziehen. Daß er es tut, hängt eben damit zusammen, daß er die Furcht vor der geistigen Welt als eine ganz natürliche Eigenschaft der Seele hat, wenn er eine Zeitlang zwischen dem Tode und einer neuen Geburt gelebt hat.

Wir haben also die Gedanken als einen Leichnam an uns, das heißt, eigentlich ist es die Kraft der Gedanken, nicht die Gedanken selbst, die wir haben. Wir können das noch genauer beschreiben. Allerdings,

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wenn Sie auf diese genauere Beschreibung eingehen wollen, werden Sie sehr exakte Vorstellungen entwickeln müssen. Diese geistige Kraft, die da in den Gedanken erstirbt und zum Leichnam wird, wenn der Mensch ins physische Erdendasein heruntersteigt, diese Kraft ist die­selbe, die aus dem Kosmos heraus unsere Organe bildet. Was wir als Lunge, Herz, Magen, also als die geformten Organe in uns tragen, das wird aus dieser Gedankenkraft des Weltenalls heraus gebildet.

Wenn wir nun ins irdische Leben eintreten, dann geht in unseren engbegrenzten Organismus diese Gedankenkraft ein. Was will nun die Erde mit ihrer Umgebung von uns? Ja, die Erde mit ihrer Umgebung will eigentlich von uns, daß wir sie in uns nachbilden. Wenn wir das Irdische nachbilden würden, dann würden allmählich im Verlaufe unseres Lebens unsere inneren Organe, wie Lunge und vor allen Din-gen die verschiedensten Windungen des Gehirns und so weiter, in kristallartige Gestalten verwandelt werden. Wir würden alle Bild-säulen werden, die aber nicht dem Menschen ähnlich wären, sondern die so wie Kristalle, die gegeneinander gruppiert sind, aussehen wür­den. Wir würden aus unorganischen, aus leblosen Gestalten allmählich zusammengesetzt sein und eine Art von Bildsäule werden.

Dagegen stemmt sich der menschliche Organismus. Er bleibt bei der Form seiner inneren Organe. Er läßt zum Beispiel seine Lunge nicht umbilden zu einer Art von, sagen wir, Gebirgszügen. Er läßt sein Herz nicht umbilden zu einer Art Kristallgruppe. Er stemmt sich dagegen. Und in diesem Sich-dagegen-Stemmen liegt der Anlaß dazu, daß wir, statt mit unseren Organen diese irdische Umgebung nachzu-formen, sie bloß in Schattenbildern in unseren Gedanken nachbilden. Also die Gedankenkraft ist eigentlich immer auf dem Wege, von uns ein Abbild unserer physischen Erde, unserer physischen Erdenform zu machen. Wir möchten fortwährend zu einem System von Kristal­len werden. Aber das läßt unsere Organisation nicht zu. So viel hat sie in dem Lebendigen, in dem Mitfühlen, in dem Selbstgefühle, in den Willensimpulsen zu entfalten, daß sie das nicht zuläßt. Sie läßt unsere Lunge nicht umbilden, so daß sie aussieht wie Kristalle, die aus der Erde herauswachsen. Sie stemmt sich gegen dieses irdische Gestaltet-werden, und so kommen die Bilder der irdischen Gestalten dann nur

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in der Geometrie, und was wir sonst uns an Gedanken bilden von unserer Erdenumgebung, zustande. Wie gesagt, es muß sehr exakt ge­dacht werden, wenn man zu dieser Vorstellung vorschreiten will.

Eigentlich ist aber immerfort die Tendenz vorhanden, daß wir un­serem Gedankensystem ähnlich werden. Wir müssen fortwährend da­gegen kämpfen, daß wir ihm nicht ähnlich werden. Wir streben eigentlich fortwährend dahin, so eine Art Kunstwerk zu werden, das allerdings bei der Art der Gedanken, wie sie die Menschen meistens haben, nicht gerade ein sehr schönes Kunstwerk zum Anschauen gäbe. Aber wir streben dahin, der äußeren Gestalt nach dasselbe zu wirken, was unsere Gedanken eben im bloßen Bilde, im bloßen Schatten sind. Wir werden es nicht, sondern wir lassen es gewissermaßen zurückspie­geln, und dadurch wird es unser Gedanke. Es ist ein Prozeß, der sich wirklich vergleichen läßt mit dem Entstehen von Spiegelbildern.

Wenn Sie hier einen Spiegel haben, davor einen Gegenstand, so wird dieser Gegenstand eben abgespiegelt. Er ist nicht da drinnen. Alles, was vor unserem Auge steht, will eigentlich in uns fortwährend ein wirkliches Gebilde veranlassen. Aber wir stemmen uns dagegen, wir behalten unser Gehirn. Dadurch wird es zurückgespiegelt und wird das Gedankenbild. Ein Tisch will in Ihnen Ihr Gehirn selber zum Tisch machen; Sie lassen das nicht zu. Dadurch entsteht das Bild des Tisches in Ihnen. Das ist das Spiegeln, dieses Zurückwerfen der Tätigkeit. Dadurch aber stehen wir eben im Denken so da, daß unsere Gedanken nur die Schattenbilder der Außenwelt sind. Aber in unse­rem Gefühl, da haben wir schon etwas anderes gegeben. Versu­chen Sie nur einmal, sich richtig vorzustellen, was Sie mit Ihrem Fühlen haben. Sie fühlen anders einen runden Tisch als einen eckigen. Sie fühlen die Ecken. Der Gedanke des eckigen Dinges macht Ihnen nichts Besonderes aus, aber das Erfühlen der Ecken, das tut schon mehr weh, als wenn man nur in aller Ruhe die Rundung eines Tisches verfolgt. Also mit dem Fühlen leben wir in unserem Inneren schon mehr die äußere Form nach als mit den Gedanken.

Damit ist hingedeutet auf die Metamorphose, die das Seelisch-Gei­stige durchmacht, wenn es vom vorirdischen Dasein ins irdische Da­sein kommt. Wie ist es nun, wenn wir durch die Pforte des Todes

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gehen? Die Gedankenwelt, die wir haben, ist ja ihrer Kraft nach bloß der Leichnam des vorirdischen Daseins. Die hat eigentlich keine Be­deutung. Geradeso wie, wenn wir uns in einem Spiegel sehen und dann den Spiegel wegnehmen, das Bild fort ist, so ist unser Gedankenleben fort, indem wir durch die Pforte des Todes gehen. Also, wenn der Mensch von Unsterblichkeit spricht, so soll er nur ja nicht auf diese irdische Gedankenkraft reflektieren. Die ist es nicht, die mit ihm durch die Pforte des Todes geht. Dagegen alles das, was er als Mit­gefühl, als Nachgefühl, als Nachempfindung des Irdischen entwickelt hat, das geht durch die Pforte des Todes. Also Mitgefühl geht durch die Pforte des Todes hindurch. Und dadurch, daß wir Mitgefühl ha­ben mit der Umwelt, entwickeln wir die Kraft (siehe Schema), jetzt in der geistigen Welt in den Wesenheiten darinnenzustehen, in dem Element, das Geistesgedankenelement ist. Das Mitfühlen, das durch unsere Körperlichkeit abgetrennt ist von der irdischen Umgebung, strömt jetzt nach dem Tode hinaus in die geistige Umgebung und ver­bindet sich mit dem Gedanklich-Geistigen der Welt, in die wir ein­treten, wenn wir durch die Pforte des Todes gehen.

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Und dadurch, daß wir gewissermaßen hinüberfließen mit unserem Mitfühlen in das Gedanklich-Geistige, entwickeln wir selber wie­derum eine Art Gedankenleib, einen lebendigen Gedankenleib, der uns dann eigen ist zwischen dem Tode und der nächsten Geburt. Denn das, was im Leben Selbstgefühl ist, das entwickelt sich zum Drinnenstehen in andern Wesenheiten. Während wir durch unser

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Selbstgefühl im irdischen Leben uns nur innerhalb unserer Leiblichkeit wissen, lernen wir uns wissen in andern Wesen, in den Wesen der höheren Hierarchien, wenn wir durch die Pforte des Todes gegangen sind. Und indem wir in geistigen Wesen drinnenstehen, empfangen wir von diesen auch die Kräfte, die uns dann wiederum weiterleiten auf unserer Lebensbahn zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. So daß wir sagen können, das eigene Kräftewesen entwickelt sich auf diese Weise. Das ist die Metamorphose des Geistig-Seelischen, indem wir durch die Pforte des Todes hindurchgehen.

Der Wille als solcher ist nicht etwa so, wie die Gedankenwelt, daß er mit dem Tode verschwände, sondern er ist ja der Quell für den Inhalt unserer Selbstgefühle. Denken Sie einmal, Sie wollen etwas, das Sie befriedigt, dann gibt dieses Wollen schon etwas, das Sie befriedigt, gibt Ihrem Selbstgefühl eine bestimmte Nuance. Wenn Sie etwas getan haben, was Sie nicht befriedigt, gibt das auch Ihrem Selbstgefühl eine bestimmte Nuance. Der Wille ist nicht nur etwas, das nach außen die Tätigkeit vollzieht, sondern er strebt auch kraftvoll in unser Inneres zurück. Wir wissen, was wir sind, aus dem heraus, was wir können. Und diese Nuance des Selbstgefühles, dieses in uns selbst wiederum Zurückstrahlen des Willenselementes, das nehmen wir mit dem Selbst-gefühl eben mit in die geistige Welt. Also der Wille, das heißt eigent­lich die Zurückstrahlung des Willens in unser Selbstgefühl ist es, was wir hineintragen, indem wir untertauchen in die Wesenheiten der höheren Hierarchien. Und dadurch, daß wir das mitnehmen, was un­ser Selbstgefühl erhöht oder geschwächt hat, findet sich die Kraft un­seres Karma, unseres Schicksals. Wenn man diese Dinge überblickt, kann man hineinschauen in das, was der Mensch eigentlich ist. Und man lernt auch auf diese Art insbesondere gewisse Begleiterscheinun­gen des irdischen Lebens kennen. Im irdischen Leben tritt die Furcht gewiß da oder dort auf; aber niemals darf sie die ganze Seele aus­füllen, und es wäre traurig, wenn es so wäre. Bevor wir dagegen ins irdische Leben heruntersteigen, ist die ganze Seele von Furcht aus­gefüllt, und diese Furcht ist die Kraft, die wir in diesem Zustande haben müssen, damit wir ins physische irdische Leben wirklich herun­tersteigen.

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Das Selbstgefühl wiederum ist etwas, das im irdischen Leben nicht über eine gewisse Höhe hinaus gesteigert werden darf, was überhaupt eigentlich im irdischen Leben gar nicht selbständig empfunden wer­den sollte. Ein Mensch, der mit zu starker Selbständigkeit das Selbst-gefühl entwickelt, der kennt eben nur sich. Das Selbstgefühl ist im irdischen Leben eigentlich nur dazu da, damit wir an unserer Leib­lichkeit bis zum Tode festhalten, damit wir an jedem Morgen, wenn wir geschlafen haben, wiederum zurückkehren in unsere Leiblichkeit. Denn würden wir dieses Selbstgefühl nicht haben während unseres irdischen Lebens, so würden wir nicht wieder zurückkehren. Aber nach dem Tode brauchen wir es, wenn wir in die Welt der geistigen Wesenheiten untertauchen, denn wir würden uns sonst jederzeit ver­lieren. Wir müssen ja dort in reale geistige Wesenheiten untertauchen.

Die Erde macht nicht diesen Anspruch an uns. Wenn Sie durch einen Wald gehen, dann bleiben Sie eben auf Ihrem Wege, und die Bäume sind links und rechts und vorne und hinten. Sie sehen die Bäume, aber die Bäume machen nicht den Anspruch, daß Sie in sie hineingehen, daß Sie fortwährend zur Baumnymphe werden und in die Bäume untertauchen. Aber die geistigen Wesenheiten der höheren Hierarchien, deren Welt Sie nach dem Tode betreten, die machen den Anspruch, daß wir in sie untertauchen. Wir mussen sie alle werden, diese Wesenheiten der geistigen Welt. Würden wir da nicht mit dem Selbstgefühl in diese geistige Welt hineingehen, wenn wir durch die Pforte des Todes treten, dann würden wir uns verlieren. Da brauchen wir das Selbstgefühl, einfach um uns zu erhalten. Und gerade auch die moralischen Dinge, die wir im Erdenleben verrichtet haben, die unser Selbstgefühl in berechtigter Weise erhöhen, die schützen uns davor, uns nach dem Tode als unser Selbst zu verlieren.

Das sind Vorstellungen, die eigentlich wiederum eintreten müßten in das menschliche Bewußtsein von der Gegenwart ab nach der näch­sten Zukunft der Erdenentwickelung hin. Diese Vorstellungen sind gewissermaßen der Menschheit in ältesten Zeiten während des instink­tiven hellseherischen Erfassens schon zugeflossen. Die Menschen hat­ten einmal ein starkes Gefühl von dem, was sie waren, bevor sie zum irdischen Leben heruntergestiegen waren. Das war besonders stark

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entwickelt in den irdischen Urzeiten. Weniger entwickelt war in irdi­schen Urzeiten die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode. Das war etwas, das wie selbstverständlich hingenommen wurde. Geradeso aber, wie jetzt die Menschen sich hauptsächlich für ihr Erleben nach dem Tode interessieren, so interessierten sich die Menschen der irdischen Urzeit, die Menschen vor Jahrtausenden, für ihr Leben, bevor sie her­untergestiegen waren auf die Erde.

Dann kam die Zeit, mit der sich dieses ursprünglich instinktive Hellsehen verlor, in der sich auch verlor das intensive Zusammenhän­gen der Seele mit ihrem vorirdischen Dasein. Und dann entsprangen die zwei Geistesströmungen, welche das vorbereitet haben, was eigent­lich sich jetzt in der Menschheitszivilisation entwickeln mußte. Wir haben zwei deutlich voneinander verschiedene Strömungen, die wir von den verschiedensten Gesichtspunkten aus charakterisiert haben, und auf die wir heute von einem bestimmten Gesichtspunkte aus, der uns morgen und übermorgen bei unseren Betrachtungen wird dienen können, wiederum eingehen wollen.

Nehmen Sie die irdische Entwickelung, bevor das Mysterium von Golgatha über die Erde hinging, dann haben Sie gewissermaßen aus­gebreitet über die Erde die heidnische Kultur, und in einer gewissen Absonderung diejenige Kultur, die man die alttestamentliche nennen könnte. Was war denn dieser heidnischen Kultur besonders eigentüm­lich? Sie hatte durchaus noch ein Bewußtsein davon, daß in allem, was physisch den Menschen umgibt, auch Geistiges enthalten ist. Die heidnische Kultur hatte ein starkes Bewußtsein von dem, was leben­dige Gedanken sind, die dann in uns zu toten Gedanken werden. Sie sah überall in den Wesen der verschiedenen Naturreiche das leben­dige Element für das, wofür die menschlichen Gedanken das tote Element sind. Die heidnische Welt nahm also die lebendigen Gedan­ken der Welt wahr, sie betrachtete den Menschen auch als angehörig diesen lebendigen Gedanken der Welt.

Nun war ein besonders lebensvoll entwickelter Teil dieser heid­nischen Welt die des alten Griechenvolkes. Sie wissen ja, daß die Welt des alten Griechenvolkes stark durchdrungen war von dem Schicksalsgedanken. Und - erinnern Sie sich an gewisse griechische

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Dramen - dieser Schicksalsgedanke durchstrahlt das menschliche Le­ben mit einer Gesetzmäßigkeit, ich möchte sagen wie die Natur­gesetze die Natur. Der Grieche fühlte sich in der Natur durchaus so drinnenstehend, daß in ihn herein das Schicksal spielte, wie in die Naturtatsachen die Naturgesetze spielen. Das Schicksal trifft den Menschen innerhalb der griechischen Anschauung mit Naturgewalt. Das war aber die Eigentümlichkeit jeder heidnischen Vorstellung; sie kam nur bei den Griechen in ganz bedeutsamer Weise zum Ausdruck. Die heidnische Welt sah den Geist in allem Naturdasein. Sie hatte keine besondere Naturwissenschaft, die so gewesen wäre wie die uns­rige, aber sie hatte eine ausgebreitete Naturwissenschaft. Sie redete überall, wo sie die Natur erblickte, von Geistigem. Das war die Na­turwissenschaft, die zu gleicher Zeit eine Geisteswissenschaft war. Der Heide sah weniger auf das menschliche Innere. Er sah den Menschen auch wie ein Naturwesen von außen an; aber er konnte das, weil er auch die übrigen Naturwesen nicht seelenlos dachte. Er dachte den Baum, die Pflanzen, die Wolken nicht seelenlos. So brauchte er auch den Menschen nur von außen anzuschauen und ihn doch nicht seelen-los zu denken. Der alte Heide konnte also, indem er die Natur be­seelte, auch den Menschen als Naturwesen betrachten, und so war das alte Heidentum ein Element, das von vorneherein ein Spirituelles in sich hatte, das zum Geiste hinneigte. Dem stand schroff entgegen als der andere Pol das Bekenntnis, das dann im Alten Testament sich aus­gelebt hat.

Das Alte Testament kannte die Natur eigentlich weder in dem Sinne, wie wir die Natur kennen - ich meine, indem wir wiederum zur Geisteswissenschaft zurückkehren -, noch in dem Sinne, wie das Heidentum die Natur gekannt hat. Das Alte Testament kannte eigent­lich nur eine moralische Weltordnung, und Jahve ist der Herrscher über diese moralische Weltordnung, und es geschieht das, was Jahve will. So daß innerhalb dieser Welt des Alten Testamentes eigentlich in ganz selbstverständlicher Weise die Anschauung entstand, man soll sich gar kein Bild machen von dem, was seelisch-geistig ist; eine An­schauung, die das Heidentum nie hätte haben können, denn das Hei­dentum hat in jedem Baume, in jeder Pflanze Bilder gesehen von dem

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Geistigen. Der Bekenner des Alten Testamentes hat nirgends Bilder gesehen, dagegen überall das Walten des unsichtbaren, bildlosen Gei­stigen.

Im Neuen Testamente sollte man eigentlich einen Zusammenschluß dieser beiden Geistesströmungen erkennen. Es ist immer so gewesen, daß in den Anschauungen der Menschen das eine oder das andere Element vorwiegend war. So ist zum Beispiel das heidnische Element immer vorwiegend gewesen da, wo mehr anschauliche religiöse Be­kenntnisse gepflogen worden sind. Da machte man sich Bilder von geistigen Wesenheiten, die Naturbildungen nachgeahmt waren. Da­gegen bildete sich das alttestamentliche Element überall da aus, wo die neuere Wissenschaftlichkeit heraufkam, wo man auf das Bildlose hinstrebte. Und in der neueren materialistischen Wissenschaft lebt in vieler Beziehung ein Nachklang gerade des Alten Testamentes, des unbildhaften Alten Testamentes. Man möchte sagen, der Materialis­mus der Wissenschaft, der will streng sondern das Materielle, dem er nun gar keinen Geist mehr läßt, und das Geistige, das nur im Mora­lischen leben soll, von dem man sich gar kein Bild machen darf, das also auch nicht gesehen werden darf in dem Irdischen.

Diese besondere Charakteristik des Wissenschaftlichen, der wir heute in der materialistischen Form der Wissenschaft begegnen, ist eigentlich noch ein in unsere Zeit hereinragender Impuls des Alten Testamentes. Die Wissenschaft ist noch gar nicht christlich geworden. Die Wissenschaft als Materialismus ist im Grunde genommen heute noch alttestamentlich. Und das wird eine der Hauptaufgaben der fortschreitenden Zivilisation sein, beides zu überwinden, aber auch beides synthetisch in eine höhere Einheit auflösen zu können. Wir müssen uns schon klar darüber sein, daß sowohl das Heidentum wie das Judentum Einseitigkeiten darstellen, und daß sie, indem sie viel­fach hereinragen in die neuere Zeit, ein zu Überwindendes darstellen.

Die Wissenschaft wird zum Geiste kommen müssen. Die Kunst, die vielfach etwas Heidnisches hat, die verschiedene Ansätze gemacht hat zum Christlichwerden, Ansätze, die aber meistens ins Luziferisch­Heidnische ausgeschlagen sind, die Kunst wird einlaufen müssen in ein christliches Element. Wir haben heute eigentlich noch immer die

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Nachwirkungen des heidnischen und des alttestamentlichen Elemen­tes, und haben noch nicht ein voll ausgebildetes christliches Bewußt­sein. Das ist es, was wir insbesondere fühlen müssen, wenn wir uns auf diese konkreten Durchgänge des Menschen durch Geburt und Tod besinnen, so wie sie uns von der Geisteswissenschaft gegeben werden.

NEUNTER VORTRAG Dornach, 18. Februar 1922

#G210-1967-SE131 Neue und alte Einweihungsmethoden

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NEUNTER VORTRAG

Dornach, 18. Februar 1922

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Wenn wir uns erinnern an das gestern Gesagte, so tritt vor unsere Seele als das Wesentliche hin, daß aus geistig-seelischen Gebieten durch Konzeption und Geburt gewissermaßen heruntersteigt in die physisch-sinnliche Welt einerseits das, was innerlich noch lebendige Geistwelt hat, die sich dann abschattet, abdämpft zu der Gedanken­welt, die der Mensch dann in sich trägt; und andererseits das, was das Seelisch-Geistige durchzieht, und was ich im wesentlichen als einen Furchtzustand charakterisiert habe. Ich habe dann auseinandergesetzt, wie das noch in sich lebendige Geistige sich eben zu Gedankenhaftem metamorphosiert, aber gewissermaßen wie einen lebendigen Rest des vorgeburtlichen Lebens etwas in dieses Erdenleben hereinschickt, was im menschlichen Mitgefühl lebt; so daß wir im menschlichen Mit­gefühl tatsächlich etwas haben, das die Lebendigkeit des Vorgeburt­lichen in unserer Seele in sich enthält.

Was dann diese Seele als Furchtgefühl durchzieht vor dem Herab­steigen in die physische Welt, das metamorphosiert sich auf der einen Seite als Selbstgefühl hier im irdischen Leben und dann als Wille. Was also in der menschlichen Seele gedankenhaft lebt, ist gegenüber dem Lebendigen in der Geistwelt vor der Geburt im Grunde genommen ein geistig-seelisch Totes. Wir erleben tatsächlich in unseren Gedan­ken oder wenigstens in der Kraft, die unser Denken durchzieht, ge­wissermaßen den Leichnam unseres geistig-seelischen Daseins, wie wir es zwischen dem Tode und einer neuen Geburt haben. Aber dieses heutige Erleben der gewissermaßen getöteten Seele während des phy­sischen Erdenlebens war nicht immer in demselben Maße vorhanden. Je weiter wir zuruckgehen in der Menschheitsentwickelung, desto mehr spielt das, was ich gestern als Mitgefühl bezeichnet habe - Mit­gefühl nicht nur mit den Menschen, sondern zum Beispiel auch mit der gesamten Natur -, noch eine gewisse Rolle hier im irdischen Leben. Solche abstrakte Erkenntnis, wie sie heute angestrebt wird, und mit Recht, wenigstens mit einem gewissen relativen Recht, war

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in der Menschheitsentwickelung nicht immer vorhanden. Eine solche abstrakte innerliche Bewußtheit kam im Grunde genommen im voll­sten extremsten Sinne erst im 15. Jahrhundert, also mit dem Beginn des fünften nachatlantischen Zeitraumes herauf. Was da der Mensch erlebt in seinen Gedanken, das ist früher durchzogen gewesen von lebendigem Fühlen. In den alten Erkenntnissen, zum Beispiel der grie­chischen Welt, gab es diese abstrakten Begriffe, die wir heute haben, überhaupt nicht. Da waren alle Begriffe durchzogen von lebendigem Fühlen. Da empfand der Mensch die Welt; er dachte sie nicht bloß. Dieses Denken der Welt und die Beschränkung des Mitgefühls auf das, was im eigentlichen Sinne schließlich nur soziales Dasein ist, das kam eben erst mit dem Beginn des fünften nachatlantischen Zeitrau­mes herauf.

Nun, wenn sich das Mitgefühl im irdischen Leben noch betätigen soll, wie es zum Beispiel im alten Indien so stark vorhanden war für die ganze Natur, wie es angestrebt wurde für alle Wesen der Natur, dann hat der Mensch eben noch ein starkes Erleben in sich von dem, was sich um ihn herum abspielt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. In dem Denken ist dieses Leben erstorben. Im Mitfühlen mit der uns umgebenden Welt ist durchaus ein Nacherleben unserer Wahr­nehmungen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt vorhanden. Es spielte in dem Leben der Menschen in älteren Zeiten, wenn sie in die Natur hinaussahen, dieses Mitgefühl eine große Rolle, und da­durch sahen diese Menschen alles, was in der Natur war, jede Wolke, jeden Baum, jede Pflanze durchgeistigt. Wenn man bloß in Gedan­ken lebt, dann entgeistigt sich die Natur, weil eben der Gedanke der Leichnam des Geistig-Seelischen ist. Da sieht man die Natur eben als ein totes Gebilde, weil sie sich nur in toten Gedanken spiegeln kann. Daher das Verschwinden aller elementarischen Wesenheiten aus der Anschauung der Natur, als die neuere Zeit heraufrückte.

Was ist es denn also, was der Mensch trotzdem in sich als eine ge­wisse Geistigkeit noch fühlt, als eine lebendige Geistigkeit, während er eigentlich in dem Denken doch nur ein totes Geistiges erleben sollte? Wenn man diese Frage beantworten will, dann muß man Rücksicht nehmen auf das, was ich mit Bezug auf die physische Menschheitsorganisation

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als den dreigliedrigen menschlichen Organismus angege­ben habe. (Zeichnung) Da haben wir den Nerven-Sinnesorganismus, der im wesentlichen im Haupte lokalisiert ist. Wir haben den rhyth­mischen Organismus im wesentlichen in den oberen Brustorganen lokalisiert, aber natürlich füllen beide Organismenglieder wiederum den ganzen Organismus aus. Und wir haben den Gliedmaßen-Stoff­wechselorganismus, der im wesentlichen in den Gliedmaßen und in den unteren Teilen des Rumpfes lokalisiert ist.

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Wenn wir auf diese physische Organisation des Menschen Rück­sicht nehmen, dann können wir zuerst den Blick lenken auf die Hauptesorganisation, die also hauptsächlich, aber nicht einzig, der Träger des Nerven-Sinneslebens ist. Diese Hauptesorganisation ist im wesentlichen nur zu verstehen, wenn man sie bildhaft erfaßt, und zwar so, daß man weiß, daß sie im wesentlichen die metamorpho­sische Umbildung ist - nicht dem Stoff, aber der Form nach - des

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übrigen Menschen, namentlich des Gliedmaßen-Stoffwechselorganis­mus, von der vorigen Inkarnation, vom vorigen Erdenleben.

Der Gliedmaßen-Stoffwechselorganismus vom vorigen Erdenleben, natürlich nicht in seinem Stoff, sondern in seiner Form, wird Kopf-Organisation in diesem, also dem folgenden Erdenleben. So daß man sagen kann: Hier im Haupte haben wir gewissermaßen ein Gehäuse zu sehen, das in seinem Bau sich herangebildet hat durch eine Umgestal­tung des Gliedmaßen-Stoffwechselorganismus von der vorigen Inkar­nation, und in diesem Haupte wohnen hauptsächlich die abstrakten Gedanken, also diejenigen Gedanken (siehe Zeichnung, rot), die der Leichnam des seelisch-geistigen Lebens vor der Geburt sind.

Wir tragen also in unserem Haupte gewissermaßen die lebendigen Erinnerungen an unser voriges Erdenleben in uns; und das macht, daß wir uns in diesem Erdenleben als ein Ich fühlen, als ein lebendiges Ich, denn dieses lebendige Ich ist gar nicht innerlich vorhanden. Innerlich sind die toten Gedanken da. Aber diese toten Gedanken wohnen in einem Gehäuse, das nur seiner Bildhaftigkeit nach zu ver­stehen ist, und in seiner Bildhaftigkeit die metamorphosische Umbil­dung des Gliedmaßen-Stoffwechselorganismus vom vorigen Erden-leben ist.

Dasjenige, was nun schon belebter herüberkommt aus dem geistig-seelischen Leben, wenn die Seele heruntersteigt ins physische Erden-leben, das schlägt sogleich seinen Wohnsitz nicht im Kopfe, sondern im rhythmischen Organismus auf. In diesem rhythmischen Organis­mus haben wir alles das in uns, was hereinspielt aus unserer Umge­bung, die wir um uns gehabt haben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Und während in seinem Kopfe der Mensch etwas hat, das nur ein Bild seines vorigen Erdenlebens ist mit dem toten Gedan­kenorganismus, hat er in seiner rhythmischen, in seiner oberen Brust-Organisation etwas viel Lebendigeres. Da spielt der Nachklang alles dessen hinein, was die Seele erlebt hat, als sie sich frei im Geistig-Seelischen zwischen dem Tode und der Geburt bewegte. Indem wir atmen, indem wir unsere Blutzirkulation haben, vibriert in dieses Atmen, in diese Blutzirkulation dasjenige hinein, was Kräfte waren zwischen dem Tode und der Geburt. Und was wir als unsere geistigseelische

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Wesenheit für diese irdische Inkarnation haben, das haben wir weder im Kopfe noch haben wir es in der Brust, sondern das ha­ben wir, so sonderbar das für den heutigen Menschen klingt, in der Gliedmaßen-Stoffwechselorganisation. Unser gegenwärtiges Erden-Ich haben wir in der Gliedmaßen-Stoffwechselorganisation (grün).

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Die toten Gedanken, die müssen Sie sich ja doch lebend denken; diese toten Gedanken leben - wenn ich mich jetzt bildlich ausdrücke, ist es natürlich nur approximativ gemeint - in den Windungen des Ge­hirns drinnen, und das Gehirn wiederum ist eine Umbildung des Orga­nismus der vorigen Inkarnation. Dieses Leben, dieses Hausen der toten Gedanken im Kopfe, das nimmt dann der Eingeweihte wahr als eine Wirklichkeitserinnerung an die vorige Inkarnation. Es ist wirklich gerade so mit dieser Erinnerung an die vorige Inkarnation, wie wenn Sie in einem finsteren Zimmer sind und haben auf Ihrem Kleider-rechen Ihre verschiedenen Kleider aufgehängt, und Sie können durch

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das Befühlen wählen, wo Sie, sagen wir, zum Beispiel Ihren Samtrock haben, und dabei geht Ihnen nun auf, wann Sie diesen Samtrock ge­kauft haben. So ist es, wenn da die toten Gedanken überall anstoßen. Erfühlen dasjenige, was in der Hauptesorganisation ist, das ist alles Erinnerung an das vorige Erdenleben.

Was im Brustorganismus erlebt wird, das ist Erinnerung an das Leben zwischen dem Tode und neuer Geburt; und dasjenige, was im Gliedmaßen-Stoffwechsel erlebt wird, das ist jetziges Erdenleben. Nur dadurch, daß der Gliedmaßen-Stoffwechselorganismus heraufwirkt in die Gedanken hinein, hat der Mensch in seinen Gedanken das Erlebnis des Ich. Aber das ist ein trügerisches Erlebnis. In den Ge­danken selbst ist das Ich gar nicht enthalten. Es ist ebensowenig in den Gedanken enthalten, wie Sie hinter dem Spiegel stehen, wenn Sie sich in ihm spiegeln. Das Ich ist gar nicht drinnen in dem Gedanken­leben. Da ist dadurch, daß sich das Gedankenleben nach dem Kopfe formt, die Erinnerung an das vorige Erdenleben enthalten. Also im Kopfe haben Sie eigentlich Ihren Menschen aus dem vorigen Erden­leben. In Ihrer Brust haben Sie den Menschen, wie er lebte zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, und in Ihrem Gliedmaßen-Stoff­wechselorganismus und namentlich in Ihren Finger- und Zehenspit­zen haben Sie im Grunde genommen den Menschen, wie er hier auf der Erde ist. Und nur weil Sie im Gehirn miterleben Ihre Finger- und Zehenspitzen, haben Sie auch durch Gedanken ein Bewußtsein von diesem Ich in Ihrem Erdenleben. So grotesk sind die Dinge in der Wirklichkeit gegenüber manchem, was sich der Mensch gewöhnlich heute vorstellt.

So mit dem Kopfe vorzustellen, wie das heute geschieht, das trat eigentlich regulär erst ein mit dem Beginn des fünften nachatlan­tischen Zeitraumes, mit dem 15. Jahrhundert. Aber alle Dinge gehen in gewissem Sinne ahrimanisch voran, sie werden vorausgenommen. Das Luziferische ist das, was später eintritt, als es in der Entwicke­lung berechtigt ist; das Ahrimanische tritt früher ein. Und so haben wir die Möglichkeit, auf eine Erscheinung in der Geschichte hinzuwei­sen, wo in ganz entschiedener Weise etwas zu früh eintritt, was eigentlich regulär erst im 15. Jahrhundert hätte eintreten sollen. Da

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ist es dann auch eingetreten, aber es wurde eben schon vorausgenom­men zur Zeit des Mysteriums von Golgatha. Und da können wir dar­auf hinweisen, wie die alttestamentlichen Vorstellungen, die ich Ihnen gestern etwas charakterisiert habe, durch den Zeitgenossen des Chri­stus-Jesus, durch Philo von Alexandrien, ganz zu Allegorien gemacht worden sind.

Philo von Alexandrien faßt das ganze Alte Testament allegorisch auf, das heißt, er will das ganze Alte Testament, das in Form von Erlebnissen dargestellt wird, zu Gedankenbildern machen. Das ist sehr geistreich, und indem es zum erstenmal in der Menschheitsent­wickelung auftritt, kann man auch von dieser Geistreichigkeit spre­chen. Heute ist es weniger geistreich, wenn zum Beispiel Theosophen den «Hamlet» so erklären, daß die eine Figur Manas, die andere Buddhi ist und so weiter, wenn also die Sache ganz ins Allegorische gezerrt wird. Das ist natürlich ein Unsinn. Aber Philo von Alexan­drien verwandelte gewissermaßen das ganze Testament in Gedanken-bilder, in Allegorien. Diese Allegorien sind eben nichts anderes als die innere Offenbarung des ertöteten Seelenlebens, des gestorbenen und in der Gedankenkraft als Leichnam vorliegenden Seelenlebens. Die alttestamentliche Anschauung sah in ihrer Art noch zurück zu dein Leben vor der Geburt oder vor der Empfängnis, und aus dieser Anschauung stellte sie das Alte Testament her.

Als man nicht mehr zurückschauen konnte, und Philo von Alexandrien konnte nicht zurückschauen, da wurde das alles zu den toten Gedankenbildern. Und so haben wir in der geschichtlichen Ent­wickelung der Menschheit diese zwei bedeutsamen Erscheinungen nebeneinander: die alttestamentliche Entwickelung gipfelte in Philo von Alexandrien zur Zeit des Mysteriums von Golgatha. Das ganze Alte Testament macht Philo von Alexandrien zu einer Welt von stro­hernen Allegorien. Und gleichzeitig damit erscheint in dem Myste­rium von Golgatha die Offenbarung, daß nicht das tote Erlebnis im Menschen zum Übersinnlichen hinführen kann, sondern der ganze Mensch, der durch das Mysterium von Golgatha geht, mit dem gött­lichen Wesen in sich.

Es sind das die zwei großen polarischen Gegensätze: die abstrakte

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Welt, die in ahrimanischer Art vorausgenommen ist in Philo, und die Welt, die mit dem Christentum in die Menschheitsentwickelung ein­ziehen soll. Man möchte sagen, von diesem Gesichtspunkte aus wird die ganze Welt zu einer Frage. Der Abstraktling - und Philo von Alexandrien ist vielleicht der genialste Abstraktling gewesen, weil er die spätere Abstraktheit ahrimanisch vorausgenommen hat -, er will die Antwort für das Weltengeheimnis finden, indem er irgendwelche Gedanken faßt, die das Weltenrätsel lösen sollen. Dagegen ist das Mysterium von Golgatha der umfassende lebendige Protest. Niemals lösen Gedanken das Weltenrätsel, sondern diese Lösung bleibt leben­dig. Der Mensch selber in seiner Totalität ist die Lösung des Welten-rätsels. Da erscheinen die Sonnen, die Sterne, die Wolken, die Flüsse, die Berge, die einzelnen Wesenheiten der verschiedenen Naturreiche, indem sie von außen sich offenbaren, als eine große Frage. Und der Mensch steht da, und in seiner ganzen Wesenheit ist er die Antwort.

Das ist auch ein Gesichtspunkt, von dem aus das Mysterium von Golgatha betrachtet werden kann. Man sucht nicht Gedanken in ihrer Totheit dem Weltenrätsel entgegenzustellen; man stellt dem ganzen Menschen entgegen das, was aus dem ganzen Menschen heraus erlebt werden kann.

Nur ganz langsam und allmählich konnte die Menschheit den Weg finden, um das zu verstehen. Und heute ist er ja noch nicht gefunden. Anthroposophie will diesen Weg eröffnen. Aber seitdem die Abstrakt­heit Platz gegriffen hat, hat man gewissermaßen sogar das Bewußt­sein verloren, daß dieser Weg gesucht werden müsse. Bis dahin war ein Ringen darnach vorhanden, und das Ringen zeigt sich gerade am deutlichsten noch an dieser Wende vom vierten in den fünften nach-atlantischen Zeitraum hinein. Indem sich das Christentum als eine äußere Erscheinung ausbreitet, ringen gerade die besten Geister dar­nach, dieses Christentum innerlich zu verstehen. Man hatte eben die beiden Strömungen von alten Zeiten her übernommen: auf der einen Seite die heidnische Strömung, die im Grunde genommen eine Natur-weisheit war, die in allen Naturwesen geistig-elementarische Wesen­heiten, dämonische Wesenheiten sah, eben jene dämonischen Wesen­heiten, von denen das Evangelium erzählt, indem es darauf hinweist,

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daß die Dämonen sich aufbäumten, als der Christus unter die Men­schen trat, weil sie jetzt wußten, ihre Herrschaft ist dahin. Die Men­schen haben den Christus nicht erkannt. Die Dämonen haben ihn er­kannt. Sie wußten, jetzt wird er Besitz ergreifen von den Herzen, von den Seelen der Menschen; sie müssen sich zurückziehen. Aber sie spiel­ten noch lange eine Rolle in den Gemütern und im Erkenntnisstreben der Menschen. Das heidnische Bewußtsein, das die dämonisch-elemen­tarisch-geistige Natur in allen Naturwesen auf alte Art suchte, das spielte noch lange eine Rolle. Es war eben ein Ringen um jene Er­kenntnisart, die überall in dem Irdischen nun auch dasjenige suchen sollte, was durch das Mysterium von Golgatha sich mit dem Erden-leben als die Substanz des Christus selber vereinigt hatte.

Das war die eine Strömung, die heidnische Strömung, die eine Na­tur-Sophia war, die überall in der Natur das Geistige sah und daher auch auf den Menschen zurücksehen konnte, den sie zwar als ein Naturwesen ansah, aber dennoch als ein Geistiges, weil sie eben in allen Naturwesen auch ein Geistiges sah. Am reinsten, schönsten kommt das heraus in Griechenland und insbesondere wiederum in der griechischen Kunst, wo wir sehen, wie das Geistige als Schicksal das Menschenleben durchwebt, so wie die Naturgesetze die Naturerschei­nungen durchweben. Und wenn wir auch manchmal schaudernd ste­hen vor dem, was sich in der griechischen Tragödie darbietet, so ha­ben wir auf der andern Seite doch das Gefühl: der Grieche empfand noch nicht bloß die abstrakten Naturgesetze, wie wir heute, sondern er empfand auch das Wirken von göttlich-geistiger Wesenheit in allen Pflanzen, in allen Steinen, in allen Tieren, und daher auch in dem Menschen selber, in dem sich die starre Notwendigkeit des Naturgeset­zes zu dem Schicksal formte, wie es zum Beispiel im Ödipus-Drama zu finden ist. Wir haben da die innige Verwandtschaft des natürlich-geistigen Daseins mit dem menschlich-geistigen Dasein. Daher waltet in diesen Dramen noch nicht die Freiheit und auch noch nicht das menschliche Gewissen. Es waltet eine innere Notwendigkeit, ein Schicksalsmäßiges in dem Menschen, in ähnlicher Art, wie draußen die Naturgesetzmäßigkeit in der Natur waltet.

Das ist die eine Strömung, die heraufkommt in die neuere Zeit.

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Die andere ist die alttestamentlich-jüdische Strömung. Sie hat keine Naturweisheit. Sie hat in bezug auf die Natur nur das Anschauen des sinnlich-physischen Daseins. Dafür ist aber diese alttestamentliche Anschauung hinaufgerichtet zu den Urquellen des Moralischen, die zwischen dem Tod und einer neuen Geburt liegen, zu jenen Urquellen, die aber jetzt nicht hinschauen auf das Naturhafte im Menschen. Für das Alte Testament gibt es keine Naturwissenschaft, sondern nur das Einhalten göttlicher Gebote. Die Dinge geschehen, im Sinne des Alten Testaments, nicht nach Naturgesetzen. Die Dinge geschehen, weil Jahve es will. Und so sehen wir, daß es aus dem Alten Testament her­aus bildlos ertönt, in einem gewissen Sinne abstrakt, aber hinter die­sen Abstraktionen steht bis auf Philo von Alexandrien, der nun alles zu Allegorien macht, der Herrscher Jahve, der diese Abstraktionen mit einer ins Übersinnliche hinauf idealisierten, allgemeinen Men­schennatur durchdringt, der wie ein menschlicher Herrscher alles das durchdringt, was als Gebote von ihm herabklingt auf die Erde. Es ist in dieser alttestamentlichen Anschauung ein bloßes Hinschauen auf die moralische Welt, geradezu ein Sich-Scheuen davor, die Welt in ihrer äußeren Sinnlichkeit anzuschauen. Während die Heiden darauf bedacht waren, überall die göttlich-geistigen Wesenheiten zu sehen, ist der Judengott bloß der Eine. Der Jude ist Monotheist. Sein Gott, sein Jahve, ist der Eine, weil er sich nur auf das beziehen kann, was im Menschen als Einheitliches ist: Du sollst allein an einen Gott glau­ben; und diesen Gott sollst du nicht ausdrücken durch etwas Irdisches, nicht durch ein plastisches Bild, nicht einmal durch das Wort, das nur der Eingeweihte bei besonders festlichen Gelegenheiten aussprechen darf: du sollst den Namen deines Gottes nicht unheilig aussprechen.

Und so ist überall der Hinweis auf das Unanschauliche, auf das, was nicht durch die Natur zum Ausdrucke kommen kann, was nur gedacht werden kann. Aber im Alten Testament denkt man hinter die­sen Gedanken noch die lebendige Jahve-Natur. Diese verschwindet in den Allegorien des Philo von Alexandrien.

Nun handelt es sich darum, in dem christlichen Ringen der ersten Jahrhunderte und bis ins 15., 16., 17. Jahrhundert herein den Zusam­menklang zu finden zwischen dem, was man sehen kann als das Geistige

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in der äußeren Natur und dem, was als das Göttliche erlebt wird, wenn wir auf die eigene Moralität, auf das Seelische im Men­schen schauen. Wenn man diese Sache theoretisch nimmt, so sieht sie einfach aus. In Wirklichkeit war das Suchen nach dem Zusammen-klang zwischen dem Anschauen des Geistigen in der äußeren Natur und dem Hinauflenken der Seele zu dem Geistigen, aus dem der Christus Jesus heruntergestiegen ist, ein ungeheures Ringen. Und in­dem das Christentum von Asien herüberzieht und die griechische, die römische Welt ergreift, sehen wir in den späteren Jahrhunderten des Mittelalters dieses Ringen noch am stärksten auf jenem Boden Euro­pas, der sich noch viel Ursprünglichkeit erhalten hatte. In Griechen­land selbst war noch das alte heidnische Element, die Anschauung des Geistigen in allen Naturdingen so groß, daß das Christentum zwar durch das Griechentum durchgegangen ist, sogar viele Sprachformen durch das Griechische erhalten hat, aber nicht innerhalb des Grie­chischen Wurzel fassen konnte. Nur die Gnosis, die geistige Anschau­ung vom Christentum, hat in Griechenland noch Wurzel fassen können.

Dann hatte das Christentum das prosaischste Element in der Welt-entwickelung zu passieren: das Römertum, das ja in seiner Ab­straktheit wiederum auch nur Abstraktes fassen konnte, gleichfalls das Spätere ahrimanisch vorausnehmend, das, was im Christentum lebendig ist. Aber ein wirklich lebendiges Ringen finden wir dann in Spanien, wo tatsächlich die Frage, aber nicht theoretisch, sondern als intensive Lebensfrage auftritt: Wie kann der Mensch, ohne daß er die Anschauung des Geistigen in den Naturdingen und Naturvorgängen verliert, den ganzen Menschen finden, der ihm durch den Christus Jesus vor die Augen der Seele gestellt ist? Wie kann der Mensch sich durchchristen? - Am lebendigsten tauchte sie gerade in Spanien auf, und wir sehen in Calder6n einen Dichter, der dieses Ringen ganz beson­ders intensiv darzustellen wußte. In Calder6n lebt, wenn ich so sagen darf, dramatisch dieses Ringen nach dem Durchchristetwerden des Menschen.

Da sehen wir auf das charakteristischste Drama des Calder6n hin, auf den «Cyprianus », der eine Art wundertätiger Magier ist, also ein

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Mensch zunächst, der in den Naturdingen und Naturvorgängen lebt, indem er jene Geistigkeit durchforschen will. Wenn Sie das Bild eines solchen Menschen nach seiner späteren Metamorphose, nach der Faust-Metamorphose nehmen, so haben Sie nicht die volle Lebendig­keit, mit der etwa bei Calder6n Cyprianus auftritt. Denn dieses Drinnenstehen in dem Geiste der Natur bei Cyprianus hat noch vol­les Leben. Da ist noch eine volle Selbstverständlichkeit; während bei Faust alles schon in Zweifel gehüllt ist. Während Faust von Anfang an nicht mehr recht an das Finden des Geistigen in der Natur glaubt, ist der Cyprianus des Calder6n durchaus noch eine mittelalterliche Figur. So, wie der heutige Physiker oder Chemiker in seinem Labora­torium von seinen Apparaten umgeben ist, der Physiker von den Geißlerschen Röhren und andern Apparaten, der Chemiker von sei­nen Retorten und von seinen Wärmeöfen und dergleichen, so ist Cyprianus für seine Seelenverfassung überall von dem umgeben, was als das Geistige aufleuchtet und aufquillt aus den Naturvorgängen und Naturwesenheiten.

Da tritt - und das ist charakteristisch - in das Leben dieses Cypria­nus Justina ein. Hier haben wir den Hinweis auf etwas, was im Drama ganz menschlich dargestellt wird als ein weibliches Wesen, was wir aber doch, wenn wir es bloß als ein weibliches Wesen auf­fassen, eben nicht voll erfassen. Denn diese mittelalterlichen Dichter werden nicht richtig verstanden, wenn man so, wie das ihre neueren Erklärer tun, immer sagt: Da muß nur das ganz derb materiell Kon­krete aufgefaßt werden; wir dürfen zum Beispiel bei der Beatrice des Dante an nichts anderes denken als an ein weiches, weibliches We­sen. - Oder aber die Erklärer gehen an dem Richtigen auch vorbei, indem sie wiederum alles allegorisieren, in eine geistige Sphäre hinauf-heben. So weit voneinander, wie für die Köpfe der modernen Erklä­rer, waren eben damals die geistigen Bilder und die wirklichen Erden-wesen noch nicht. Und so dürfen wir, indem da in dem Calderón-Drama Justina auftritt, wiederum an die die Welt durchziehende Gerech­tigkeit denken, die eben nicht so etwas Abstraktes war wie das, was heute auch die Juristen nicht mehr haben, sondern was in ihrer Biblio­thek steht und was sie herausnehmen in Form von einzelnen Bänden.

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Es wurde eben die Jurisprudenz auch als etwas Lebendiges emp­funden.

So tritt Justina an Cyprianus heran. Und nun wird es natürlich wiederum schwierig für den modernen wissenschaftlichen Interpreten, der jetzt die Hymne verstehen soll, die Cyprianus auf Justina singt. Ja, die modernen Advokaten tun das nicht auf ihre Jurisprudenz, aber so jemand wie der Cyprianus empfand eben auch die Gerechtig­keit, die die Welt durchwebt und durchlebt als etwas, dem er Hym­nen singen konnte. Es ist eben das geistige Leben anders geworden, das muß immer wieder betont werden. Aber Cyprianus ist zu gleicher Zeit auch Magier, der es mit den Geistwesen der Natur zu tun hat, jener Welt der Dämonen, unter der auch das mittelalterliche Wesen Satanäs ist. Nun fühlt sich Cyprianus nicht fähig, wirklich an Justina heranzukommen. Da wendet er sich an den Satan, den Anführer die­ser Naturdämonen. Der soll ihm Justina verschaffen.

Da haben Sie die ganze tiefe Tragik des christlichen Konfliktes; nämlich das, was an Cyprianus herantritt in Justina, das ist die Ge­rechtigkeit, die der christlichen Entwickelung angemessen ist. Sie soll an Cyprianus, den noch halb heidnischen Naturgelehrten, heran-gebracht werden. Das ist die Tragik: er kann aus der Naturnotwen­digkeit, die etwas Starres hat, nicht die christliche Gerechtigkeit fin­den. Aber er kann sich auch nur an den Anführer der Dämonen, an den Satanas wenden, daß der ihm Justina verschaffe.

Satänas macht sich heran an die Aufgabe. Die Menschen können schwer begreifen, weil natürlich Sätänas ein sehr gescheites Wesen ist, daß er immer wieder an Aufgaben geht, an denen er schon so und so oft gescheitert ist. Aber das ist eben eine Tatsache. Wir mögen uns noch so gescheit dünken, wir können in dieser Weise nicht ein so ge­scheites Wesen wie Satanas kritisieren. Man müßte sich sagen, es muß doch etwas geben, was ein so gescheites Wesen immer wieder dazu bringt, das Glück aufs Neue zu versuchen, um die Menschen auf diese Weise zu verderben. Denn natürlich würde Verderbnis der Menschen eingetreten sein, wenn es Satan gelungen wäre, die christliche Gerech­tigkeit - wenn ich mich so ausdrücken darf - herumzukriegen, um sie an Cyprianus heranzubringen. Also Satan macht sich daran, aber es

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gelingt ihm nicht. Die ganze Gesinnung Justinas widerstrebt dem Sätanas; und sie entflieht dem Satan, und er behält ein Phantom von ihr zurück, ein Schattenbild.

Sie sehen, wie bei Calderón manches Motiv, das Sie dann im «Faust» wiederfinden, auftaucht, aber alles eben gewissermaßen in dieses urchristliche Ringen getaucht. Der Satan behält ein Schatten­bild zurück, das bringt er dem Cyprianus. Cyprianus kann natürlich mit dem Phantom, mit dem Schattenbild nichts rechtes anfangen. Es hat nicht Leben. Es hat nur ein Schattenbild der Gerechtigkeit in sich. Oh, es ist wunderbar ausgedrückt, wie das, was aus der alten Natur-weisheit geworden ist und als neuere Naturwissenschaft auftritt, wenn es an so etwas herankommen will wie an das soziale Leben, an die Justina, wie es nicht das wirkliche Lebendige liefert, sondern nur Ge-dankenphantome. Wie es jetzt, weil die Menschheit mit dem fünften nachatlantischen Zeitraum zu der toten Gedankenwelt vorgedrungen ist, eben nur Phantome liefert, die Phantome der Gerechtigkeit, die Phantome der Liebe, die Phantome von allem - ich will nicht sagen im Leben, aber in der Theorie.

Und über alledem wird Cyprianus verrückt. Justina, die wirkliche Justina, kommt mit ihrem Vater in die Gefangenschaft. Sie wird zum Tode verurteilt. Cyprianus hört das in seinem Wahnsinne und fordert für sich auch den Tod. Und eben auf dem Schafott finden sie sich. Über ihrem Sterben erscheint die Schlange, und auf ihr reitend der Dämon, der Justinä dem Cyprianus zuführen wollte, und erklärt, sie seien erlöst. Sie können aufsteigen in die himmlischen Welten: «Ge­rettet ist das edle Glied der Geisterwelt vom Bösen!»

Das ganze christliche Ringen des Mittelalters liegt darinnen. Der Mensch ist eingeschaltet zwischen dem, was er erleben kann vor der Geburt in der geistig-seelischen Welt, und was er erleben soll, nach­dem er durch die Pforte des Todes gegangen ist. Der Christus ist heruntergestiegen auf die Erde, weil nicht mehr gesehen werden konnte, was in früheren Zeiten noch im mittleren Menschen, im rhythmischen Menschen, gesehen worden ist, als gerade dieser mittlere Mensch durch die Atmungsübungen des Jogäsystems ausgebildet wurde, die also nicht eine Kopfausbildung waren, sondern eine Ausbildung

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des rhythmischen Menschen. Der Mensch kann den Christus in dieser Zeit nicht finden. Er strebt danach, ihn zu finden. Der Christus ist heruntergestiegen. Der Mensch soll, weil er ihn nicht mehr in der Erinnerung hat aus der Zeit, die er zwischen dem Tode und einer neuen Geburt durchlebt hat, er soll ihn hier finden.

Solche Dramen, wie das Cyprianus-Drama des Calderón stellen das Ringen nach diesem Finden dar, und es stellt eben die Schwierig­keiten dar, die der Mensch hat, der nun wirklich in die geistige Welt wiederum zurückkommen soll, der den Zusammenklang mit der gei­stigen Welt erleben soll. Cypriänus ist noch befangen von dem, was an Dämonenhaftem aus der alten heidnischen Welt nachklingt. Er hat aber auch das Jüdisch-Althebräische noch nicht so weit überwunden, daß es ihm ein Gegenwärtig-Irdisches geworden ist. Jahve thront für ihn noch in überirdischen Welten, ist nicht durch den Kreuzestod herabgestiegen und hat sich noch nicht mit der Erde vereinigt. Cyprianus und Justina erleben ihr Zusammengehen mit der geistigen Welt, indem sie durch die Pforte des Todes gehen. So furchtbar ist dieses Ringen, um den Christus hereinzubekommen in die mensch­liche Natur in der Zeit zwischen Geburt und Tod. Und ein Bewußt­sein davon ist vorhanden, daß das Mittelalter eben noch nicht reif ist, um ihn in dieser Weise hereinzubekommen.

In dem spanischen Cyprianus-Drama tritt uns das ganze Lebendige dieses Christus-Ringens viel deutlicher entgegen als in der Theologie dieses Mittelalters, die sich ja an abstrakte Begriffe halten wollte, und die in ihre abstrakten Begriffe das Mysterium von Golgätha einfan­gen wollte. In der dramatisch-tragischen Lebendigkeit des Calderón lebt dieses mittelalterliche Ringen nach dem Christus, das heißt, nach dem Durchchristetwerden der menschlichen Natur. Und wenn man dieses Calderón-Drama von dem Cypriänus mit dem späteren Faust-Drama vergleicht - es ist das charakteristisch genug -, dann sieht man, da tritt zuerst bei Lessing das Bewußtsein auf: Der Mensch muß im irdischen Leben den Christus finden können, denn der Christus ist durch das Mysterium von Golgathä gegangen und hat sich mit der irdischen Menschheit vereinigt. Nicht, daß das in klaren Ideen bei Lessing gelebt hat, aber ein deutliches Gefühl davon hat in Lessing

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gelebt. Und als er seinen «Faust» schreiben wollte - er hat ja nur ein kurzes Stückchen davon zu Papier bringen können -, endete er damit, daß den Dämonen, also denen, die noch den Cyprianus abhalten konnten, während des irdischen Lebens den Christus zu finden, zuge­rufen wird: Ihr sollt nicht siegen!

Damit war zu gleicher Zeit das Thema für den späteren Goethe­schen «Faust» gegeben; und im Grunde genommen ist es auch noch beim Goetheschen Faust äußerlich, wie der Mensch sich zum Christen­tum findet. Nehmen Sie den ganzen Goetheschen «Faust», nehmen Sie den ersten Teil: da ist das Ringen. Nehmen Sie den zweiten Teil: da soll zunächst durch die klassische Wälpurgisnacht, durch das Helena-Drama, das Aufnehmen des Christentums erfahren werden an der griechischen Welt. Dann aber weiß Goethe: der Mensch muß hier im Erdenleben den Anschluß finden an Christus. Er muß daher seinen dramatischen Helden hinführen zu dem Christentum. Allein, wie führt er ihn hin? Es ist ja nur ein theoretisches Bewußtsein, möchte ich sagen. Goethe war ein zu großer Dichter, als daß man das nicht bemerkt, daß es nur ein theoretisches Bewußtsein war. Denn zuletzt ist schließlich doch nur im letzten Akt das Aufsteigen im christlichen Sinne an das ganze Faust-Drama angeleimt. Es ist gewiß alles groß­artig, aber es ist nicht aus der inneren Natur des Faust herausgeholt, sondern Goethe hat das katholische Dogma genommen. Goethe hat den katholischen Kultus genommen und hat den fünften Akt an die andern angeleimt. Er wußte, es muß der Mensch zu der Durchchristet­heit geführt werden. Im Grunde genommen ist es nur die ganze Ge­sinnung, die im zweiten Teile des «Faust» lebt, die dieses Durchdrin­gen mit dem Christus darstellt. Denn bildhaft konnte es auch Goethe noch nicht geben, und eigentlich ist es auch erst nach dem Tode des Faust, wo der ganze christliche Aufstieg entfaltet wird.

Ich wollte das alles nur anführen, um Ihnen zu zeigen, wie ver­messen es eigentlich ist, wenn man leichten Herzens von der Errin­gung des Bewußtseins vom Mysterium von Golgatha, des christlichen Bewußtseins, spricht. Denn diese Erringung des christlichen Bewußt­seins stellt eben durchaus eine Aufgabe dar, um die so schwer ge­kämpft worden ist, wie wir es an solchen Beispielen sehen können,

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wie ich sie angeführt habe. Es ist heute an der Menschheit, diese gei­stigen Kräfte innerhalb der geschichtlichen Entwickelung der mitt­leren und der neueren Zeit zu suchen. Und nach der großen Kata­strophe, die wir durchgemacht haben, sollte schon die Menschheit ein Bewußtsein davon bekommen, daß es darauf ankommt, diese geistigen Impulse wirklich ins Seelenauge zu fassen.

ZEHNTER VORTRAG Dornach, 19. Februar 1922

#G210-1967-SE148 Neue und alte Einweihungsmethoden

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ZEHNTER VORTRAG

Dornach, 19. Februar 1922

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Wir haben in diesen Betrachtungen noch einmal darauf hingewiesen, wie in dem letzten Kulturzeitraum, den wir in der Menschheitsentwickelung zu verzeichnen haben, in dem fünften nachatlantischen Zeitraum, die hauptsächlichste Kraft, von der das menschliche Seelenleben beherrscht ist, die intellektuelle Kraft ist, die Verstandeskraft, die in Gedanken lebt. Und wir haben nun hinzufügen müssen, daß die Kraft der Gedanken eigentlich darstellt den Leichnam des geistig-seelischen Lebens, wie es vor der Geburt war. Immer stärker und stär­ker emanzipierte sich in gewissem Sinne diese Gedankenkraft von den andern Kräften der Menschenwesenheit in der neueren Zeit, und das wurde stark gefühlt von denjenigen Geistern, welche zu einem vollen Verständnisse des christlichen Impulses kommen wollten.

Das habe ich gestern versucht darzustellen an dem Beispiel des Calder6nschen Cyprianus. Wir haben da das Ringen auf der einen Seite aus den alten Vorstellungen einer durchseelten Natur heraus, aber zu gleicher Zeit ein starkes Gefühl von der Ohnmacht, in die der Mensch eigentlich hineinkommt, wenn er sich von der alten Anschau­ung entfernt und nun gezwungen ist, bei bloßen Gedanken seine Zu­flucht zu suchen. Gerade bei Cyprianus sehen wir, wie er, um sich Justinas zu bemächtigen - deren Bedeutung ich gestern versuchte dar­zulegen -, bei dem Satan seine Zuflucht sucht, wie er aber gerade in­folge des hauptsächlichsten neueren Seelenprinzips von diesem Satan nur das Phantom der Justina bekommen kann.

Alle diese Dinge weisen eben stark darauf hin, wie das Gefühl der nach dem Geistigen strebenden Menschen in diesem neuesten Zeit­raum der Menschheitsentwickelung war, wie sie das Tote des bloßen Gedankenlebens fühlten, und wie sie zu gleicher Zeit fühlten, daß in die Lebendigkeit der Christus-Auffassung nicht hineinzukommen sei mit diesem bloßen Gedankenleben. Nun habe ich schon gestern darauf hingedeutet, daß gewissermaßen eine weitere Phase desselben Pro­blems, das uns bei dem Calder6nschen Cyprianus entgegentritt, dann

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im Goetheschen «Faust» vor uns steht. In Goethe hat man ja eine menschliche Persönlichkeit zu sehen, welche hineingestellt ist in das Zivilisationsleben des 18. Jahrhunderts - das im Grunde genommen viel internationaler war als alles spätere Zivilisationsleben -, und welche stark, wirklich recht stark das Intellektualistische, das Ver­standesmäßige empfindet. Man kann schon sagen: Goethe hat sich in seiner Jugend in den verschiedensten Wissenschaften so herumgetrie­ben, wie er das an seinem Faust darstellt. Denn Goethe suchte eben nicht das in dem Leben, das sich ihm als Intellektualistisches darbot, was aus einer gewissen menschlichen Gewohnheit heraus die meisten suchen, sondern er suchte eine wirkliche Verbindung mit derjenigen Welt, welcher der Mensch mit seiner ewigen Natur angehört. Man kann sagen, Goethe suchte wirkliche Erkenntnis. Diese konnte er durch die einzelnen Wissenschaften, die sich ihm darboten, eben nicht finden. Goethe kam vielleicht zunächst auf eine äußerliche Weise an die Faust-Gestalt heran. Aber jedenfalls hat er durch seine besondere Veranlagung in dieser Faust-Gestalt dasjenige gefühlt, was diesen rin­genden Menschen darstellt, von dem wir gestern gesprochen haben. Und er identifizierte sich in einem gewissen Sinne mit diesem ringen­den Menschen.

Goethes Arbeit am «Faust» erscheint einem in drei Etappen. Die erste Etappe führt zurück in eine frühe Jugendzeit Goethes, in der er eben ganz empfunden hat das Unbefriedigende seiner Universitäts­studien, aus denen er heraus wollte zu einer wirklichen Verbindung der Seele mit dem vollen geistigen Leben. Da stellte er die Faust-Gestalt, die ihm entgegengetreten war aus dem «Puppenspiel», aus dem heraus man noch sehr wohl den ringenden Menschen erkennen kann, eben als den strebenden Menschen dar, der heraus will aus dem bloßen Verstandesmäßigen zu einem vollmenschlichen Erfassen des kosmischen Ursprungs des Menschen. Und so steht denn in der ersten Gestalt, die Goethe seinem «Faust» gegeben hat, Faust neben den an­dern einzelnen Figuren einfach als der strebende Mensch da. Dann ging Goethe durch diejenigen Entwickelungsstadien seines Lebens hin­durch, die er zunächst durchgemacht hat, indem er sich in die noch im Süden vorhandene Kunst vertiefte, in der er gewissermaßen eine

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höhere Ausgestaltung des Wesens der Natur sah. Goethe suchte fort­schreitend den Geist innerhalb der Natur. Er konnte ihn in dem Geistesleben nicht finden, das sich ihm zunächst dargeboten hatte. Eine tiefe Sehnsucht führte ihn zu dem, was er als die Reste der griechischen Kunst im Süden ansah. Da glaubte er in der Art und Weise, wie aus der griechischen Weltanschauung heraus die Natur-geheimnisse in den künstlerischen Gestaltungen verfolgt worden sind, die Geistigkeit der Natur zu erkennen.

Dann, möchte ich sagen, machte das Ganze, was er da in Italien absolviert hatte, in seiner eigenen Seele eine Verwandlung durch. Wir sehen diese Verwandlung sich ausleben in der intimen Gestaltung, die er dem «Märchen» von der grünen Schlange und der schönen Lilie gegeben hat, wo er aus gewissen traditionellen Begriffen über Schön­heit, über Weisheit, über Tugend und Kraft seinen Tempel formte mit den vier Königen.

Wir sehen, wie dann aus dieser Vorstellungswelt heraus, angeeifert durch Schiller, Goethe am Ende des 18. Jahrhunderts zurückkehrt zu seinem «Faust». Und dieses zweite Stadium seiner «Faust»-Arbeit drückt sich ja insbesondere dadurch aus, daß er den «Prolog im Him­mel» bingestellt hat, jene wunderschöne Dichtung, die mit den Wor­ten beginnt: «Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang.» Da steht dann, so wie Goethe jetzt die Faust-Dichtung umfassen will, Faust nicht mehr als eine einzelne Person da, die es nur mit sich selber zu tun hat; da steht gewissermaßen der Kosmos mit den auf- und absteigenden Weltenkräften, und hineingestellt in diesen Kosmos der Mensch, um den die guten und die bösen Mächte ringen. Da ist Faust in den ganzen Kosmos hineingestellt. Goethe hat gewissermaßen das Problem, das für ihn zunächst bloß ein Mensch­beitsproblem war, zum Weltenproblem ausgedehnt.

Und eine dritte Phase tritt dann ein, als Goethe in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts daran geht, den «Faust» zu vollenden. Da sind wieder ganz andere Gedankenformen in seiner Seele vorhan­den als am Ende des 18. Jahrhunderts, da er den «Prolog im Himmel» dichtete und alte Naturvorstellungen, vergeistigte Naturvorstellungen damals zu Hilfe genommen hatte, um das Faust-Problem zu einem

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kosmischen Problem zu machen. In den zwanziger Jahren, als er am zweiten Teile «Faust» zu Ende arbeitet, da will Goethe dann wie­derum aus der menschlichen Seele heraus alles gewinnen, gewisser­maßen wiederum das Seelenwesen zum Allwesen erweitern.

Wir sehen, wie er dramatisch - selbstverständlich kann er das nur in äußeren Gestaltungen machen -, wie er aber innere Wege der Seele darstellt in der klassischen Walpurgisnacht, in dem Wieder-Aufleben-lassen der Helena-Szene, die allerdings schon früher, aber nur als Episode, entstanden war, und wie er dann das innere Erleben, das zu gleicher Zeit ein kosmisches Erleben in der Seele ist, wenn dieses Er­leben geistig wird, wie er das in dem großen Schlußtableau des «Faust» zu Ende zu führen versucht. Da mündet «Faust» allerdings ein in das christliche Element. Allein, ich habe schon gestern gesagt, dieses christliche Element entwickelt sich ja nicht aus der Seele des Faust heraus, sondern es ist gewissermaßen angeleimt. Goethe hat sich in die Form des katholischen Kultus vertieft und leimt dieses chri-stianisierende Element an den «Faust» an, so daß zwischen dem Rin­gen des Faust und diesem Einmünden in das durchchristete Welten­tableau doch nur ein äußerer Zusammenhang ist. Selbstverständlich setzt das den «Faust» nicht herunter, aber es ist doch so, daß man sagen muß: Goethe, der im tiefsten Sinne des Wortes gerungen hat, darzustellen, wie im irdischen Leben selber die Geistigkeit gefunden werden sollte, ihm ist es eigentlich nicht gelungen, dieses Finden der Geistigkeit im irdischen Leben irgendwie darzustellen. Er hätte dazu kommen müssen, das Mysterium von Golgatha in seinem Vollsinne zu begreifen, zu begreifen, wie wirklich aus kosmischen Weiten herunter-gestiegen ist die Christus-Wesenheit in den Menschen Jesus von Nazareth, sich verbunden hat mit der Erde, so daß, wenn man seither den Geist sucht, der im Tatensturm auf und ab wallt, eigentlich der Christus-Impuls im Erdenleben gefunden werden müßte.

Man möchte sagen, daß Goethe niemals den Erdengeist, der im Tatensturm, im Zeitenweben auf und ab wallt, in Zusammenhang bringen konnte mit dem Christus-Impuls, das ist in gewissem Sinne etwas, was wir als eine Art Tragik empfinden, die aber selbstver­ständlich dadurch gegeben ist, daß in jener Zeit menschlicher Entwickelung,

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in der Goethe stand, eben durchaus noch nicht die Be­dingungen da waren, um das Mysterium von Golgatha in seinem Vollsinne zu empfinden. Und dieses Mysterium von Golgatha kann eigentlich in seinem Vollsinne nur empfunden werden, wenn die Menschen das, was sie im fünften nachatlantischen Zeitraum als die toten Gedanken haben, wiederum zu beleben verstehen. Heute spricht noch sehr viel Vorurteil und Vorempfindung und auch Vorwille gegen das Lebendigmachen der Gedankenwelt. Aber die Menschheit muß dieses Problem lösen: die Gedankenwelt, die, wenn der Mensch konzi­piert beziehungsweise geboren wird, als der Leichnam des Geistig-Seelischen in die menschliche Natur eintritt, diese Gedankenwelt wie­derum zu beleben, diesen Leichnam der Gedanken, der Vorstellungen, zu einem Lebendigen zu machen. Das kann aber nur geschehen, wenn die Gedanken umgewandelt werden zunächst in Imaginationen, und wenn dann die Imaginationen zu Inspirationen und Intuitionen er­höht werden. Denn was gebraucht wird, ist volle Menschenerkenntnis. Nicht eher wird das, was ich gestern vor Sie hinstellte, in seinem Voll-sinne begriffen werden: daß die Welt, wie sie um uns herum ist, eine große Frage, und der Mensch selbst die Antwort ist, was im tiefsten Sinne eben mit dem Mysterium von Golgatha hat gegeben werden sollen. Nicht eher wird das begriffen werden, als bis der Mensch wie­derum begriffen werden kann.

Setzen wir noch einmal rein schematisch diesen dreigliedrigen Menschen vor uns hin: den Kopfmenschen oder Nerven-Sinnesmen­schen in dem gestern wiederum besprochenen Sinne; den rhythmischen Menschen, den Brustmenschen; und den Stoffwechsel-Gliedmaßen­menschen.

Indem man heute den Menschen betrachtet, nimmt man ihn so, wie er einem als äußerliche Gestaltung entgegentritt. Wer heute im Sezier­saal den Menschen auf den Seziertisch legt, der hat nicht ein tiefes Gefühl davon, indem er zum Beispiel den Kopf des Menschen unter­sucht, daß er etwas ganz anderes vor sich hat als wenn er, sagen wir, einen Finger untersucht. Der Muskel des Fingers wird in derselben Weise beurteilt wie der Muskel des Kopfes. Aber man muß wissen, daß der Kopf des Menschen im wesentlichen eine metamorphosische

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Umgestaltung des Gliedmaßen-Stoffwechselorganismus von der vo­rigen Inkarnation ist, daß der Kopf also in bezug auf seine Entwik­kelung etwas ganz anderes ist als der heutige Gliedmaßenmensch.

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Nun, wenn man sich einmal durchgerungen hat zu einer inneren Anschauung des dreigliedrigen Menschen, dann wird man auch wie­derum zu einer Anschauung kommen können über das, was aus dem Kosmos heraus mit diesem dreigliedrigen Menschen zusammenhängt. Wir sind eigentlich als äußere menschliche Wesenheit nur durch un­sere Kopforganisation dem Festen oder Irdischen einverleibt. Wir wären niemals ein Wesen, das als Festes, als Irdisches anzusprechen wäre, wenn wir nicht unsere Kopforganisation hätten, die aber ein Nachklang ist der Gliedmaßenorganisation von der vorigen Inkarna­tion. Daß wir auch feste Bestandteile in den Gliedmaßen, in den Hän­den, in den Füßen haben, das ist eine Ausstrahlung des Kopfes. Der Kopf ist dasjenige, was uns zum Festen macht. Alles, was fest in uns ist, was irdisch ist, das geht in seinem Kraftverhältnis vom Kopfe aus.

Wir können sagen: im Kopfe liegt das Feste, die Erde, in uns (siehe Zeichnung). Und alles das, was sonst fest in uns ist, das strahlt über

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den Menschen vom Kopfe hin. Im Kopfe liegt vorzugsweise der Ur­sprung der Knochen, der festen Knochenbildung. Aber in diesem Kopfe sehen wir auch schon den Übergang zum Flüssigen. Alles das, was feste Bestandteile des Gehirnes sind, ist eingebettet im Gehirn-wasser, und im Kopfe findet ein fortwährendes Durcheinandervibrie-ren der festen Gehirnbestandteile mit dem Gehirnwasser statt, das

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dann durch den Rückenmarkskanal mit dem übrigen Körper zusam­menhängt. So daß wir sagen können, wenn wir den Nerven-Sinnes-menschen in Betracht ziehen, da ist der Übergang von dem Irdischen (blau) zu dem Wässerigen, zu dem Flüssigen. Wir dürfen also sagen, der Nerven-Sinnesmensch lebt in dem erdig-wässerigen Elemente. Und eigentlich besteht unser Gehirn also, dem Organismus nach, in diesem Korrespondieren des Festen mit dem Flüssigen.

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Gehen wir dann über zu dem Brustorganismus, zu dem rhyth­mischen Organismus, so lebt dieser rhythmische Organismus in einem Wechselverhältnis zwischen dem Flüssigen und dem Luftförmigen (gelb). Sie sehen daher das Flüssige mit dem Luftförmigen in Berüh­rung treten durch die Lunge. Sie sehen das rhythmische Leben als ein Durcheinanderweben des Flüssigen mit dem Luftförmigen, des Was­sers mit der Luft. So daß ich sagen kann: Der rhythmische Mensch lebt im wässerig-luftförmigen Elemente.

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Und der Stoffwechsel-Gliedmaßenmensch, der lebt dann auf dem Übergang von dem luftförmigen Element in das Wärmeelement, in das feurige Element (rot). Er ist ein fortwährendes Auflösen des Luft­förmigen in das Wärmeelement, in das feurige Element, das dann den

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ganzen Menschen durchsetzt als seine Körperwärme. In Wahrheit ist das, was im Stoffwechsel geschieht und was durch unsere Bewegungen geschieht, ein Herauforganisieren des luftförmigen Elementes, des gas­förmigen Elementes in das Wärmeelement, in das feurige Element. In­dem wir herumgehen, verbrennen wir fortwährend die luftförmig ge­wordenen Elemente unserer Nahrungsstoffe; und auch wenn wir nicht herumgehen im gewöhnlichen Leben des Menschen, geschieht es fort­während, daß, indem die Nahrungsmittel bis zum Luftförmigen getrie­ben sind, sie verbrennen und in das Wärmeelement übergehen. So daß ich sagen kann, der Gliedmaßen-Stoffwechselmensch lebt im luftför­mig-feurigen Elemente.

Nerven-Sinnesmensch: erdig-wässeriges Element

Rhythmischer Mensch: wässerig-luftförmig

Gliedmaßen-Stoffwechselmensch: luftförmig-feurig.

Dann geht es hinauf ins Atherische, ins Lichtförmige, in die Ather­bestandteile des Menschen, in den ätherischen Leib. Wenn der Mensch durch seinen Stoffwechsel-Gliedmaßenorganismus alles in die Wärme übergeführt hat, dann geht es in den Atherleib hinauf. Da schließt sich der Mensch zusammen mit dem Äther, der die ganze Welt aus­füllt, da gliedert er sich an den Kosmos an.

Solche Vorstellungen, wie ich sie Ihnen hier schematisch entwickle, sie lassen sich durchaus, wenn der Mensch innerlich plastisch-musika­lischen Sinn hat, ins Künstlerische, ins PQetische umgestalten. Und man könnte bei einer solchen Dichtung wie der Faust-Dichtung durch­aus das, was man weiß, auch im künstlerischen Gestalten zum Aus­drucke bringen, wie gewisse kosmische Geheimnisse, sagen wir, im siebenten Bilde meines ersten Mysteriums zur Darstellung gekommen sind. Da kommt man zu der Möglichkeit, den Menschen wiederum im Anschlusse an den Kosmos zu schauen. Aber dann darf man eben nicht das, was einem der Verstand über die äußere Natur gibt, auf den Menschen anwenden. Dann muß man sich klar sein: studierst du die äußere Natur und dann den menschlichen Kopf geradeso wie die äußere Natur, dann studierst du etwas, was gar nicht herein gehört in diese äußere jetzige Natur, sondern was von der vorigen Inkarnation

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kommt. Das studierst du so, wie wenn es aus dem jetzigen Momente heraus entstanden wäre; aber es ist nicht aus dem jetzigen Momente heraus entstanden, könnte auch niemals aus einem jetzigen Momente heraus entstehen; denn aus den Naturkräften, die da sind, könnte niemals ein menschliches Haupt entstehen. Daher darf das menschliche Haupt nicht studiert werden nach gegenständlicher Er­kenntnis, wie sie der Verstand gibt, sondern nach imaginativer Er­kenntnis. Also das menschliche Haupt wird man nicht früher erken­nen, als bis man es nach imaginativer Erkenntnis studiert.

Beim rhythmischen Menschen, da geht schon alles hinein ins Be­wegte. Da haben Sie es mit dem flüssigen und dem luftförmigen Elemente zu tun. Der rhythmische Mensch ist ein Anfang zwischen dem wässerigen und dem luftförmigen Elemente. Da wogt alles. Und die äußeren festen Bestandteile in unserer Brust sind nur das, was der Kopf hineinstrahlt in dieses Wogen. Wollen wir also den rhythmischen Menschen studieren, so müssen wir sagen, in diesem rhythmischen Menschen wogen ineinander wässeriges Element und luftförmiges Element (siehe Zeichnung, grün, gelb). Und da hinein sendet dann das Haupt, der Kopf die Möglichkeit, daß feste Bestandteile, wie sie in der Lunge und so weiter sind, da drinnen vorhanden sein können (weiß).

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Dieses Wogen, das die wirkliche Gestaltung des rhythmischen Men­schen ist, das läßt sich nur durch Inspiration studieren. So daß der rhythmische Mensch nur durch Inspiration studiert werden kann.

Und der Gliedmaßen-Stoffwechselmensch - das ist das fortwäh­rende Brennen der Luft in uns. Sie stehen darinnen, Sie fühlen sich in Ihrer Wärme als Mensch, aber das ist eine sehr dunkle Vorstellung. Im Ernste kann man das nur studieren durch Intuition, wo die Seele im Objekte darinnen steht. Nur Intuition kann zum Stoffwechsel­Gliedmaßenmenschen führen.

Der Mensch wird immer ein Unbekanntes bleiben, wenn er nicht mit Imagination, Inspiration und Intuition studiert wird. Er wird immer dastehen vor dem Menschen als diese äußerliche Gestalt, die er für das heutige populäre und auch für das heutige wissenschaftliche Vorstellen ist. Dabei darf es nicht bleiben. Der Mensch muß wieder erkannt werden. Wenn Sie den Menschen nur in seinen festen Be­standteilen studieren, wenn Sie nur die Zeichnungen nehmen, die heute in den Anatomiebüchern stehen, dann studieren Sie es schon ohnedies nicht richtig, weil Sie es imaginativ studieren sollten, weil alle diese Zeichnungen, die man von den festen Bestandteilen des menschlichen Organismus macht, als Bilder vom vorigen Erdenleben genommen werden sollten. Schon das ist das erste. Aber was dann im feineren Menschen in den physischen Bestandteilen lebt, das kann erst durch Inspiration, und das andere, das Luft- und Wärmeförmige, erst durch Intuition studiert werden. Das sind die Dinge, die ins europäische Bewußtsein hineinkommen müssen, die in die ganze moderne Zivili­sation hineinkommen müssen. Ohne daß wir dieses in die ganze mo­derne Zivilisation hineinbringen, kommen wir eben durchaus mit die­ser Zivilisation nicht zu einem Aufbau, sondern nur zu einem Abbau.

Wer Goethe versteht, wer versteht, was er in seinem «Faust» wollte, der fühlt schon, daß er eigentlich, ich möchte sagen, durch ein gewisses Tor durch wollte. Überall ringt er mit der Frage: Wie steht es eigentlich mit diesem Menschen? - Als ganz junger Mensch hat Goethe angefangen, die menschliche Gestalt zu studieren. Lesen Sie seine Abhandlung vom Zwischenknochen und auch das, was ich dar­über in meinen Ausgaben von den Naturwissenschaftlichen Schriften

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Goethes geschrieben habe; überall will er an den Menschen heran. Er versucht es zuerst auf anatomisch-physiologische Weise; dann ver­sucht er es in den neunziger Jahren auf mehr moralische Weise durch Vorstellungen, die wir dann in dem «Märchen» von der grünen Schlange und der schönen Lilie finden. Und dann will er den Men­schen, wie er in der Welt drinnensteht, schildern im «Faust». Er möchte durch ein Tor hindurch, um einzusehen, wie dieser Mensch in der Welt drinnensteht. Aber er hat nicht die Elemente dazu, er kann es nicht.

Als Ca/der6n seinen «Cyprianus» schrieb, da war das Ringen noch auf einer vorhergehenden Stufe. Da sehen wir, wie Justina sich dem Satan entreißt, wie dann Cyprianus wahnsinnig wird, wie sie sich im Tode finden, wie in dem Momente, als sie auf dem Schafott endi­gen, ihre Erlösung geschieht: oben erscheint die Schlange mit dem darauf reitenden Dämon, der selber verkündigen muß, sie seien erlöst.

Da sehen wir, wie in der Zeit, in der Calder6n seinen «Cyprianus» geschrieben hat, deutlich gesagt werden soll: Hier im Erden-leben findet ihr das Göttlich-Geistige nicht. Ihr müßt erst sterben, ihr müßt erst durch den Tod gehen, dann findet ihr das Göttlich-Geistige, jene Erlösung, die ihr durch den Christus finden könnt. Da ist man noch weit davon entfernt, das Mysterium von Golgatha zu verstehen, durch das doch der Christus auf die Erde niedergestiegen ist; dort müßte er also auch zu finden sein. Es ist noch zuviel Heidnisches, zu­viel Jüdisches in den Vorstellungen des Calder6n, um das christliche Empfinden schon voll zu haben.

Dann ist natürlich wiederum einige Zeit vergangen, bis Goethe an seinem «Faust» arbeitete. Goethe fühlt schon die Notwendigkeit:

Faust muß hier auf der Erde seine Erlösung finden können. Goethe hätte die Frage so stellen müssen: Wie findet Faust die Bewahrheitung der Paulinischen Worte: «Nicht ich, sondern der Christus in mir»? Goethe hätte dazu kommen müssen, seinen Faust nicht nur sagen zu lassen: «Auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen», sondern: Auf freiem Grund, mit dem Christus in der Seele, den Menschen im Erden-leben zum Geiste führend. - So etwa müßte Goethe seinen Faust sagen lassen. Goethe ist natürlich ehrlich; er sagt es nicht, weil er es noch

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nicht voll erfaßt hat. Aber Goethe strebt nach diesem Erfassen. Goethe strebt nach etwas, was eigentlich erst erfüllt werden kann, wenn man sagt: Erkenne den Menschen durch Imagination, Inspira­tion, Intuition. - Daß das so ist, gibt demjenigen, der sich Goethe naht, das Gefühl, daß in Goethes Ringen, in Goethes Streben eigent­lich viel mehr ist, als sich dann irgendwie ausgelebt hat, als dann in die moderne Zivilisation übergegangen ist. Man kann vielleicht Goethe nur erkennen, wenn man es so macht, wie ich es in meinen Jugendschriften gemacht habe, wo ich versuchte, dasjenige darzustel­len, was gewissermaßen unbewußt als eine Weltanschauung in Goethe lebte. Aber es ist ja im Grunde genommen so gewesen, daß in der Ge­genwart doch die Menschheit diesem Suchen wenig Verständnis ent­gegenbringt.

Wenn ich auf dieses ganze Verhältnis hinschaue innerhalb der mo­dernen Zivilisation, dann muß ich mich immer wieder erinnern an mei­nen alten Lehrer und Freund Karl Julius Schröer. Und namentlich daran, wie Schröer selber, als er in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts am «Faust» und an den andern Goetheschen Dramen ar­beitete, Kommentare, Einleitungen gab, wie er eigentlich gar nicht darauf bedacht war, in streng umrissenen Begriffen über Goethe zu reden, sondern mehr in allgemeinen Vorstellungen; wie er aber ver­suchte, begreiflich zu machen, daß dasjenige, was als Tiefstes in Goethe lebte, doch hinein muß in die moderne Kultur. Schröer hat, als der fünfzigste Todestag Goethes war, 1882, eine Rede gehalten:

«Die kommende Anschauung über Goethe.» Schröer lebte in dem Traum, daß dazumal schon die Zeit gekommen wäre, die Goethe zu einer Art von Auferstehung verhelfen würde. Und dann schrieb er einen kurzen Aufsatz in der «Neuen freien Presse», der wiederum abgedruckt ist in dem Büchelchen «Goethe und die Liebe», das jetzt unter andern Schröerschen Schriften von unserem Kommenden-Tag-Verlag erworben worden ist, so daß die Restexemplare dort zu haben sind und nach einiger Zeit wohl auch Neuauflagen werden besorgt werden können. Dieser Aufsatz «Goethe nach 50 Jahren» ist ein kur­zer Auszug aus jenem Vortrag, den ich dazumal gehört habe. Er ent­hält manches von dem, was dazumal in Schröers Gefühlen lebte: daß

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Goethe in die Zivilisation hinein müsse. Und dann, als Schröer das Büchelchen schrieb «Goethe und die Liebe», da hatte er in den An­merkungen zu zeigen versucht, wie man Goethe lebendig machen solle, denn Goethe lebendig machen, heißt ja in gewissem Sinne, die abstrakte Gedankenwelt selber lebendig machen. Ich habe in der letzten Nummer des «Goetheanum» hingewiesen auf eine solche Stelle, die wunderschön ist; und die in dem Büchelchen «Goethe und die Liebe» steht. Da sagt Schröer: «Schiller erkannte ihn [Goethe nämlich]: Ist der intuitive Geist genialisch und sucht in dem Empi­rischen den Charakter der Notwendigkeit auf, so wird er zwar immer nur Individuen, aber mit dem Charakter der Gattung erzeugen. Goethe steht mit seiner intuitiven Methode, mit der er im vergänglichen In­dividuum die unvergängliche Idee, den Urtypus sieht, nicht so ver­einzelt da, als man vielleicht annehmen möchte. »

Gerade als Schröer dazumal, 1882, diese Stelle schrieb, war ich bei ihm; das heißt, während er an dem Büchelchen schrieb, kam ich öfter zu ihm, und er war dazumal ganz voll von einem Eindruck, den er bekommen hatte. Dieser Eindruck rührte davon her, daß er irgendwo wahrgenommen hatte, wie einer jener damals noch vorhandenen älte­ren Ärzte - Oppolzer war es nämlich, der Wiener Kliniker Oppolzer - eine gewisse unbestimmte Intuition hatte bei der Dia­gnose. Wenn Oppolzer ans Krankenbett trat, dann machte er nicht die Differentialuntersuchungen, wie man sie sonst macht, sondern der Typus des Kranken machte auf ihn einen gewissen Eindruck, und aus dem Typus des Kranken heraus empfand er nun auch etwas von dem Typus der Krankheit. Das machte auf Schröer einen starken Ein­druck, und aus diesem Eindruck heraus schrieb er dann die Stelle, die dieses Phänomen bei Oppolzer nur zur Erläuterung benützte. Er schrieb: «In der Heilkunst preist man an großen Diagnostikern am Krankenbette den Tiefblick, mit dem sie den Habitus, den indivi­duellen Typus des Kranken und daraus dann die Krankheit erkennen. Nicht ihr chemikalisches oder anatomisches Wissen steht ihnen dabei zur Seite, sondern die Intuition in das Lebewesen als Ganzes. Sie sind schöpferische Geister, die die Sonne sehen, weil ihr Auge sonnenhaft ist. Andere sehen sie eben nicht. Folgt ein solcher Diagnostiker der intuitiven

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Methode Goethes unbewußt, Goethe hat sie mit Bewußtsein in die Wissenschaft eingeführt. Sie führte ihn zu Ergebnissen, die nicht mehr bestritten werden, nur die Methode ist noch nicht allseitig erkannt. »

Das schrieb Schröer aus diesem Aperçu mit der Oppolzerschen Intuition am Krankenbett heraus, schon damals hindeutend darauf, daß also die einzelnen Wissenschaften, zum Beispiel die Heilkunde, von der Methode, die wiederum mit dem Geiste arbeitet, befruchtet werden müssen.

Es hat etwas Tragisches, wenn ich zurückschaue, wie in Schröer einer der letzten von denjenigen Menschen vorhanden war, die noch etwas empfanden von dem Tiefsten in Goethe. Denn während Schröer dazumal, im Beginn der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, geglaubt hat, daß ein Wiederaufleben Goethes stattfinden müsse, hat man ja Goethe nachher erst recht eingesargt, erst richtig begraben. Man könnte auch sagen: Das richtige Grab Goethes, das ist für Mittel­europa gewesen die Goethe-Gesellschaft, und auf englisch heißt sie Goethe-Society, denn sie wurde dort auch als ein Ableger begründet. Das war die Grabstätte des lebenden Goethe. Aber die Notwendigkeit besteht doch, dieses lebendige Element, das in Goethe lebte, wiederum in unsere Zivilisation hineinzubringen. Karl Julius Schröers Trieb war ein guter; er konnte sich nur dazumal nicht erfüllen, weil die Zeit weiterging in der Anbetung des Toten. «Wer will was Lebendigs er­kennen und beschreiben, sucht erst den Geist herauszutreiben.»

Das ist, was eben die Devise wurde, und heute ist in manchen sehr weiten Kreisen diese Devise bis zum Haß gegen alles Vernehmen vom Geistigen gegeben - wie Sie ja aus der Aufnahme der Anthroposophie bei vielen Menschen ersehen können.

Die Zivilisation, aus der Sie selber alle noch herausgewachsen sind, braucht durchaus dieses Element einer Wiederbelebung. Und es ist nur merkwürdig, wie heute vieles geredet wird zum Beispiel über den Goetheschen «Faust» - der ja nur ein neues Moment in jenem Ringen nach dem Geist darstellt, das wir im Calder6nschen «Cyprianus» gestern gesehen haben -, wie aber nicht gesehen wird, daß es Aufgabe der Gegenwart ist, zur vollen Lebendigkeit dasjenige herauszustellen,

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was Goethe eigentlich hat leben lassen, unbestimmt andeutend, ge­fühls- und empfindungsmäßig, aber nicht in geistiger Anschauung, in seinem «Faust», insbesondere im zweiten Teil. Wir müßten auf diese Erscheinungen in ganz intensiver Weise unsere Aufmerksamkeit rich­ten, denn wir haben es da wirklich nicht bloß mit einer Weltanschau­ungsangelegenheit zu tun; wir haben es schon mit einer allgemeinen Zivilisationsangelegenheit zu tun. Dafür gibt es viele Symptome der Gegenwart. Diese Symptome müssen nur im richtigen Lichte gesehen werden.

Da ist eine Schrift erschienen, welche «Die drei Krisen» heißt, von Ruedorfler, eine Schrift, die einen, wenn man sie liest, ich möchte sagen auf jeder Seite sticht. Denn der, der sie geschrieben hat, ist eine Persönlichkeit, die selber im diplomatisch-politischen Leben Europas in ganz wichtigen Stellungen mitgewirkt hat, vor dem Kriege und in den Krieg hinein. Der Mann sucht sich jetzt, nachdem er alle mög­lichen Wege dieses europäischen Lebens kennengelernt hat, eben von Auslugen aus, von denen aus man es genauer kennenlernen kann als die meisten Menschen, er sucht sich jetzt klarzuwerden darüber, was eigentlich ist. Ich brauche Ihnen nur ein paar Stellen vorzulesen aus der Schrift eines Menschen, der durchaus ein Realist, nicht ein Idealist sein will, der sich einen gewissen trockenen Blick angeeignet hat in­nerhalb seiner diplomatischen Laufbahn, und bei dem es, trotzdem er solche Stellen niedergeschrieben hat, wie ich sie Ihnen vorlesen werde, doch so ist, daß man sagen kann: Der Zopf, der hängt ihm hinten. Er ist trotzdem geblieben, was man heute insbesondere liebt, der bür­gerliche Philister.

Er spricht von drei Dingen in dieser seiner Schrift. Er spricht er­stens davon, wie die Staaten und Völker Europas kein Verhältnis mehr - zueinander haben. Dann spricht er davon, wie die einzelnen regieren­den Kreise, die Führer innerhalb der einzelnen Völkerschaften, wieder­um zum Volke selbst kein Verhältnis haben. Und drittens spricht er davon, wie namentlich diejenigen Menschen, die heute in radikaler Art eine neue Zeit herausarbeiten und begründen wollen, erst recht kein Verhältnis zur Realität haben.

Also ein Mensch, der mitgearbeitet hat, wie gesagt, an den Zuständen,

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die heute geworden sind, der schreibt etwa so: «Diese Erkran­kung des staatlichen Organismus entreißt der Vernunft die Führung, überantwortet die Entschließungen des Staats mannigfachen unsach­lichen Nebeneinflüssen und Nebenrücksichten. Sie beschränkt die Be­wegungsfreiheit, zersplittert den staatlichen Willen und hat überdies zumeist noch eine gefährliche Labilität der Regierungen im Gefolge. Die Zeit des ungebärdigen Nationalismus vor dem Kriege, der Krieg selbst, der europäische Zustand nach dem Kriege haben ungeheure Anforderungen an die Vernunft der Staaten, ihre Ruhe und Bewe­gungsfreiheit gestellt. Daß mit den Aufgaben das Vermögen nicht wuchs, sondern abnahm, hat die Katastrophe vollendet. Die Krise des Staates und die Krise der Weltorganisation haben in steter Wech­selwirkung einander befördert und eine jede die destruktiven Wir­kungen der anderen vermehrt.» So spricht nicht irgendein Idealist, nicht irgendein künstlerischer Mensch, der bloß zugeschaut hat, son­dern einer, der mitgetan hat. Er sagt zum Beispiel: «Wenn die Demo­kratie bestehen soll, muß sie ehrlich und mutig genug sein, zu sagen, was ist, auch wenn sie gegen sich selbst zu zeugen scheint. Europa steht vor dem Untergang.»

Daß wir vor dem Untergange Europas stehen, das sagen heute nicht bloß die pessimistisch angehauchten Idealisten, sondern das sagen ins­besondere diejenigen, die in der Praxis drinnengestanden haben. Je­mand, der, wie gesagt, darinnengestanden hat und mitgetan hat, schreibt heute eben den Satz hin: «Europa steht vor dem Untergang. Da ist keine Zeit, daß ein jeder aus parteitaktischen Gründen seine Fehler verbirgt, statt sie zu bessern. Nur zu diesem Behufe, nicht als laudator temporis acti unterstreiche ich, daß die Demokratie sich selbst zerstören muß und wird, wenn sie nicht den Staat aus dieser Verstrickung von Nebeneinflüssen und Nebenrücksichten befreien kann. Das vorkriegerische Europa ist zusammengebrochen, weil alle kontinentalen Staaten, und zwar die Monarchien ebenso wie die De­mokratien und am meisten das autokratische Rußland, teils freiwillig und unbewußt, teils unwillig und gezwungen sich der Demagogie un­terworfen haben, unfähig, in der selbstgeschaffenen Verirrung der Geister das Vernünftige zu erkennen und das etwa doch Erkannte

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frei und entschieden zu tun. Die Oberschichten der alten Staatsord­nung Europas, im vergangenen Jahrhundert freilich Träger der euro­päischen Bildung und reich an Persönlichkeiten von staatsmännischem Geist und Welterfahrung, wären nicht so leicht aus dem Sattel und als morsch und verbraucht beiseite geworfen worden, wenn sie, mit den Problemen und Aufgaben der verwandelten Zeit mitgewachsen, nicht des staatsmännischen Geistes verlustig gegangen wären und eine andere Tradition als die der äußerlichsten diplomatischen Routine bewahrt hätten. Wenn die Monarchen den Anspruch erheben, Staats­männer besser und sachlicher auszuwählen als Parlamente, dann müs­sen sie und ihre Höfe Mittelpunkt und Höhepunkt der Bildung, Ein­sicht und Kenntnis sein. Das aber war lange vor dem Kriege vorbei. Aber die Anklage gegen die Fehler der Monarchie entbindet die Demokratie nicht, die Ursachen ihrer eigenen Unzulänglichkeit zu erkennen und alles zu tun, um sie zu beheben. Ehe Europa gesunden, ehe versucht werden kann, seine heillose Desorganisation durch einen haltbareren politischen Bau zu ersetzen, müssen die einzelnen Länder ihre inneren Dinge dergestalt ordnen, daß ihre Regierungen zu sach­lich freier Arbeit auf lange Sicht befähigt werden. Sonst erlahmt der beste Wille und die größte Begabung, tausendfach umstrickt, in dem allerorten gleichen Verhangnis.» Ich wurde Ihnen das alles nicht vor­lesen, wenn es von einem Idealisten herrührte, wenn es nicht von je­mandem herrührte, der da glauben muß, ganz im Realen drinnenzu­stehen, weil er eben mitgetan hat.

«Es ist ein Schauspiel von tiefer Tragik, wie jeder Versuch einer bessernden Handlung, jedes Wort der Umkehr sich in den Netzen dieses Verhängnisses fängt und, hundertfach umstrickt, schließlich wirkungslos zu Boden fällt; wie das europäische Bürgertum, gedan­kenlos an dem Zeitirrtum des steten Fortschritts der Menschheit han­gend oder die gewohnte Bahn jammernd weitertrottend, nicht sieht und sehen will, daß es von der aufgespeicherten Arbeit früherer Jahre zehrt und kaum fähig ist, die Schäden der jetzigen Weltordnung zu erkennen, geschweige denn, aus sich heraus eine neue zu gebären; wie auf der anderen Seite die Arbeiterschaft, sich in nahezu allen Ländern radikalisierend, von der Unhaltbarkeit des gegenwärtigen

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Zustandes überzeugt, sich Heilbringer einer neuen Ordnung glaubt, in Wirklichkeit aber in diesem Glauben nur unbewußtes Werkzeug der Zerstörung und des Untergangs, auch des eigenen, ist. Die neuen Parasiten der wirtschaftlichen Desorganisation, der klagende Reich­tum von gestern, der zum Proletarier herabsinkende Kleinbürger, der gläubige Arbeiter, der eine neue Welt zu begründen wähnt, sie alle scheint dasselbe Verhängnis zu umschlingen, sie alle scheinen Erblin­dete, die ihre eigenen Gräber schaufeln.» Das steht nicht in dem Buch eines Idealisten, das steht eben heute in dem Buch eines, der mit­gearbeitet hat! «Aber der ganze Aspekt des heutigen politischen We­sens, die neueren Friedensschlüsse der Entente, der polnische Vor­marsch in die Ukraine, die Blindheit oder Hilflosigkeit der Entente gegenüber der deutsch-österreichischen Entwicklung, zeigt dem nun einmal auf Realitäten angewiesenen Politiker, daß die ideale Forde­rung einer paneuropäischen, konstruktiven Revision der Pariser Frie­densschlüsse zwar gestellt, die dringendste Warnung erschütternd be­gründet, Forderung und Warnung aber nur unbeachtet verhallen können und die Dinge im alten Sinne zwangsläufig weiterrollen - dem Abgrund zu.»

Das ganze Buch ist geschrieben, um zu beweisen, daß Europa vor dem Abgrunde steht, daß wir daran sind, das Grab der europäischen Zivilisation zu schaufeln. Aber das alles möchte ich Ihnen nur als eine Introduktion sagen zu dem, was ich nun eigentlich für notwendig halte zu sagen. Das ist nämlich etwas anderes. Wir haben da einen Menschen vor uns, der in den entscheidenden Büros selber gesessen hat, der da sieht, daß Europa am Abgrunde steht, und der einfach sagt - das geht aus dieser ganzen Schrift hervor: Wenn nichts anderes geschieht, als was die Fortsetzung der alten Impulse ist, dann geht die Zivilisation unter; unbedingt geht sie unter. Es muß etwas Neues kommen.

Nun, ich suche nun, wo in einer solchen Schrift auf das Neue hin-gedeutet worden ist. Ja, ich finde es auf Seite 67, da stehen drei Zei­len: «Nur eine Sinnesänderung der Welt, eine Willensänderung der beteiligten Hauptmächte kann einen obersten Rat der europäischen Vernunft entstehen lassen.»

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Ja, Sie sehen, vor dieser Entscheidung stehen die Menschen. Sie weisen darauf hin, nur wenn überall eine Sinnesänderung entsteht, wenn etwas ganz Neues kommt, dann gibt es noch eine Rettung. Das ganze Buch ist geschrieben zu dem Zwecke, um zu zeigen, daß es sonst keine Rettung gibt. Es ist viel Richtiges daran. Die Wahrheit ist näm­lich, daß es für die zusammenbrechende Zivilisation aus nichts weiter heraus eine Rettung gibt als aus dem Geistesleben, das aus den wirk­lichen geistigen Quellen geschöpft wird. Es gibt keine andere Rettung, sonst geht eben die moderne Zivilisation, insofern sie von Europa aus bis nach Amerika begründet worden ist, ihrem Untergange entgegen. In dem, was verfault, muß gesehen werden die wichtigste Zeiterschei­nung der Gegenwart. Und es hilft nichts, Kompromisse zu schließen mit dem Verfaulenden, sondern es hilft allein, auf dasjenige zu sehen, was auch über dem Grabe gedeihen kann, weil es eben stärker ist als der Tod. Das ist das Geistesleben. Aber für das, was da notwendig ist, haben solche Leute zunächst nur die ganz abstrakte Hindeutung:

Es muß eben eine allgemeine internationale Sinnesänderung entste­hen. - Hören sie irgendwo etwas von wirklichem Aufblühen von gei­stigem Leben, dann ist es «unbrauchbare Mystik». Dann kommen sie und sagen: Ja, in solchen sinkenden Zeiten des Unterganges, da ma­chen sich alle möglichen Okkultismen und Mystiken geltend, und da muß man sich hüten davor.

Und so schaufeln an dem Grabe der heutigen Zivilisation am mei­sten diejenigen, die sogar einsehen, daß dieses Schaufeln geschieht. Es ist nicht anders möglich, zu diesen Dingen Stellung zu nehmen, als indem man sie mit vollem Ernst einsieht, indem man sich mit vollem Ernst wirklich versenkt in die Wahrheit, daß ein neues Geistesleben notwendig ist, und daß dieses neue Geistesleben wirklich gesucht wer­den muß, so daß endlich die Möglichkeit gefunden werde, innerhalb des irdischen Lebens den Christus zu finden, ihn so zu finden, wie er ist seit dem Mysterium von Golgatha. Denn er ist heruntergestie­gen, um sich mit den Erdenverhältnissen zu verbinden.

Den stärksten Kampf gegen diese eigentlich christliche Wahrheit führt heute zum Beispiel eine gewisse Sorte von Theologie, die gerade dann sich aufbäumt, wenn man von dem kosmischen Christus spricht.

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So daß immer wieder und wieder darauf aufmerksam gemacht wer­den muß, daß auch schon in den Zeiten, in denen zum Beispiel Schröer auf Goethe hingewiesen hat zur Wiederbelebung der Zivilisation, schon dazumal das Buch von dem Basler Professor, dem Freunde Nietzsches, erschienen ist über die Christlichkeit der neueren Theo­logie - er meinte die christliche Theologie. Und Overbeck meinte dazumal, daß gerade die Theologie das Unchristlichste ist, und suchte das als Historiker der Theologie zu beweisen. Damals war also in Basel die historisch-theologische Lehrkanzel mit einem Professor be­setzt, der den Beweis führte: die Theologie ist unchristlich!

Die Menschheit hat in die Katastrophe hineintreiben müssen, weil sie die einzelnen Rufe, die da waren, die allerdings noch sehr an Un­klarheit litten, nicht aufgenommen hat. Heute hat die Menschheit keine Zeit mehr, zu warten. Heute muß die Menschheit wissen, daß solche Darstellungen wie die von Ruedorffer durchaus wahr sind, daß es durchaus notwendig ist, einzusehen, wie durch die Fortsetzung der alten Impulse alles zusammensinkt. Dann gibt es nur eines: sich an das­jenige zu wenden, was auch aus Gräbern wachsen kann, nämlich das Geistig-Lebendige.

Und das ist es, worauf immer wieder und wiederum aufmerksam gemacht werden muß, gerade in unserem Zusammenhange.

ELFTER VORTRAG Dornach, 24. Februar 1922

#G210-1967-SE169 Neue und alte Einweihungsmethoden

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ELFTER VORTRAG

Dornach, 24. Februar 1922

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Der Einschnitt zwischen dem vierten und fünften nachatlantischen Zeitraum, der in das 15. Jahrhundert hineinfällt und den ich als sol­chen oft bezeichnet habe, hat wirklich viel mehr in der Entwickelung der Menschheit zu bedeuten, als die äußere Geschichte auch heute noch gewöhnlich verzeichnet. Man ist sich nicht bewußt, welch ein gewaltiger Umschwung sich in aller Seelenverfassung der Menschen damals abgespielt hat. Man kann sagen, in das Bewußtsein gerade der besten Geister sind die Spuren dessen, was sich dazumal für die Menschheit vollzogen hat, tief eingegraben. Sie sind es noch lange ge­wesen und sind es noch heute. Daß sich so etwas Bedeutsames vollzie­hen kann, ohne daß es zunächst äußerlich stark bemerkt wird, davon liefert ja die Entstehung des Christentums selbst ein Beispiel.

Bedenken Sie nur, daß dieses Christentum, das im Laufe von fast zwei Jahrtausenden so umgestaltend auf die zivilisierte Welt gewirkt hat, auch für die bedeutendsten Geister der damals maßgebenden rö­mischen Kultur, nach einem Jahrhundert nach dem Mysterium von Golgatha eigentlich noch nicht berücksichtigt war. Wurde es doch damals angesehen wie ein kleines unbedeutendes Ereignis drüben, an den Grenzen des Reiches, in Asien. Und man darf sagen, ebensowenig ist das, was um das erste Drittel des 15. Jahrhunderts herum sich ab­gespielt hat für die zivilisierte Welt, bemerkt worden innerhalb des­sen, was man äußerlich-dokumentarisch geschichtlich verzeichnet hat. Aber es hat eben durchaus seine Spuren eingegraben in menschliches Streben, in menschliches Ringen.

Wir haben bereits einiges davon auch in der letzten Zeit wiederum verzeichnet, zum Beispiel die Art, wie es sich in der Dichtung Calderóns in dem Magus Cyprianus abgespielt, wie gerade in Spanien dieser geistige Umschwung in der Menschheit aufgefaßt worden ist. Nun aber können wir sehen, wie an den verschiedensten Stellen der Menschheitsentwickelung, wenn auch die Sache nicht so gesagt wird, wie man sie heute aus der Anthroposophie heraus sagen muß, doch

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ein energischeres Empfinden dafür vorhanden ist, daß man gewisser­maßen innerlich-seelisch sich klarwerden muß über diesen Umschwung, der sich da vollzogen hat. Und auch darauf habe ich schon hingedeu­tet, wie einer der Versuche, aus menschlichem Ringen heraus sich klar­zuwerden über diesen Umschwung, der Goethesche «Faust» ist. Aber über diesen Goetheschen «Faust» wird vielleicht noch mehr Licht ver­breitet werden, wenn man ihn in einen größeren Weltenzusammen­hang hineinstellt. So wie Faust in der Goetheschen Dichtung als gei­stige Erscheinung zunächst isoliert vor uns dasteht, können wir ihn etwa in der folgenden Art charakterisieren.

Goethe kommt zunächst in seinem jugendlichen Streben, das natür­lich angeregt ist durch den Geisteszustand Europas, dazu, das mensch­liche Ringen innerhalb des auftauchenden Intellektualismus, drama­tisch darzustellen. Aus der Art von Bekanntschaft, die er mit der mittelalterlichen Faust-Gestalt, aus dem Volksschauspiel oder der­gleichen gemacht hat, stellt sich ihm eben die Persönlichkeit des Faust als ein Repräsentant jener ringenden Persönlichkeiten vor die Seele, die in jenem Zeitalter lebten. Faust gehört allerdings dem 16. Jahr­hundert an, nicht dem 15., aber man kann ja sagen, dieser Um­schwung vollzog sich nicht in einem Jahre, auch nicht in einem Jahr­hundert, sondern ist über die Jahrhunderte hin verteilt. Also Goethe trat die Faust-Gestalt entgegen wie eine Persönlichkeit, die in diesem ganzen Ringen drinnenlebt, aus einer früheren Zeit heraus in eine spätere Zeit hinein. Und man sieht eigentlich, wie Goethe die beson­dere Art dieses Ringens vom vierten in den fünften nachatlantischen Zeitraum hinüber ganz klar ist. Wir sehen, wie er seinen Faust zu-nächst als den Gelehrten auftreten läßt, der alle vier Fakultäten kennt, sie hat auf sich wirken lassen, der also in seine Seele die Im­pulse aufgenommen hat, die aus dem Intellektualismus, aus der intel­lektualistischen Wissenschaftlichkeit herauskommen, und der auch das menschlich Unbefriedigende des Stehenbleibens im einseitigen In­tellektualismus empfindet. Faust wendet sich von diesem Intellektua­lismus ab, wie Sie wissen, und wendet sich in seiner Art der Magie zu. Man muß sich nur klarwerden, was das eigentlich heißt in diesem Falle. Was da Faust durchgemacht hat «an Philosophie, Juristerei,

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Medizin und leider auch Theologie», ist das, was man durchmachen kann an der intellektualisierten Wissenschaftlichkeit. Das läßt einen zunächst unbefriedigt. Es läßt einen unbefriedigt aus dem Grunde, weil jene Form der Abstraktheit, durch die diese Wissenschaftlichkeit spricht, eben nur einen Teil des Menschen, den Kopfteil, in Anspruch nimmt, wenn wir uns des Ausdruckes bedienen wollen, und den gan­zen übrigen Menschen eigentlich unberücksichtigt läßt.

Man braucht nur zu vergleichen, wie anders es war in einer vorher­gehenden Zeit. Das wird eben gewöhnlich übersehen, daß es durchaus anders war in einer vorhergehenden Zeit. Da haben sich diejenigen Menschen, die zu der Erkenntnis des Lebens und der Welt vordringen wollten, nicht an die verstandesmäßigen Begriffe gewendet, sondern sie gingen alle darauf aus, hinter den sinnlichen Erscheinungen der Umwelt geistige Wirklichkeiten, geistige Wesenhaftigkeiten zu schauen. Das ist es, was eben so schwer verstanden wird, daß nach Erkenntnis ringende Persönlichkeiten etwa des 10., 11., 12. Jahrhun­derts durchaus nicht nach bloßen begrifflichen Zusammenhängen ge­sucht haben, sondern daß sie nach geistiger, wesenhafter Realität ge­sucht haben, nach dem, was man schauen konnte hinter den sinn­lichen Erscheinungen, nicht nach dem, was man bloß denken kann in den sinnlichen Erscheinungen.

Aber darauf beruht eben dieser Übergang, daß gewissermaßen das, was man früher gesucht hatte, in die Sphäre des Aberglaubens gerückt wurde, daß man die Neigung verlor, nach solchen wirklichen gei­stigen Wesenheiten zu suchen, und daß man für das einzig Mögliche, das wirklich Wissenschaftliche, die intellektualistischen Zusammen­hänge hielt. Aber so sehr man auf der einen Seite sich logisch sagte:

Nicht abergläubisch sind einzig und allein solche Begriffe, solche Ideen, die der Verstand an der sinnlichen Wirklichkeit ausprägt -, so wenig konnte sich der ganze Mensch, vor allem das menschliche Ge­müt, befriedigen in dem, was es dann zuletzt an diesen Begriffen, an diesen Ideen hatte. Und so findet sich denn der Goethesche Faust in der Lage, eben unbefriedigt zu sein an dem Intellektualistischen und sich zurückzuwenden zu dem, was er noch von der Magie weiß.

Diese Seelenstimmung war schon eine solche, die durchaus bei

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Goethe echt und ehrlich war. Auch Goethe hatte sich in den verschie­densten Wissenschaften umgetan an der Universität in Leipzig. Und ehe er eine gewisse schauende Vertiefung dann in Straßburg bei Herder fand, versuchte er - eigentlich auch in der Abkehr von dem Intellektualismus, der ihm in Leipzig entgegengetreten war - sich, zum Beispiel im Vereine mit Susanne von Klettenberg und durch das Studium von entsprechenden Werken, umzutun in demjenigen Ge­biete, das er dann im «Faust» die Magie nennt. Es war durchaus der Goethesche Weg selber. Erst als Goethe dann bei seinem weiteren Studium in Straßburg Herder fand, stand eben ein Geist vor ihm, der selber dem Intellektualismus abgeneigt war. Herder war durch­aus kein intellektueller Mensch - daher sein Anti-Kantianismus -, der dann Goethe in gewisser Weise, ohne die Magie, über dasjenige hinwegführte, was er aus einer wirklich faustischen Stimmung heraus vorher in Anlehnung an die alte Magie sich zu erringen versucht hatte.

So hat Goethe eigentlich hingesehen auf diesen Faust des 16. Jahr­hunderts - man könnte ebensogut sagen: auf den Gelehrten des 15. Jahrhunderts, der aus der Magie herauswächst, aber halb noch darinnensteht -, indem er, Goethe, selbst sein tiefstes inneres Ringen darstellen wollte, wie es sich ihm ergab, weil die Spuren des Um­schwunges von dem vierten in den fünften nachatlantischen Zeit­raum durchaus in ihm noch nachwirkten.

Es gehört wohl zu dem interessantesten Punkte der neueren Geistes-entwickelung, daß Goethe, indem er sein eigenes Jugendringen zum Ausdruck bringen wollte, sich an den Professor des 15., des 16. Jahr­hunderts wandte, um in dieser Gestalt sein eigenes inneres Seelenleben und Seelenerfahren dramatisch zu charakterisieren. Man mißversteht natürlich vollständig sowohl das, was in Goethe lebte, wie auch das, was im 15., 16. Jahrhundert als der große Umschwung vorhanden war, wenn man mit Du Bois-Reymond sagt: Goethe habe einen gro­ßen Fehler begangen, indem er seinen «Faust» so dargestellt hat, wie er ihn dargestellt hat; er hätte ihn ganz anders machen sollen. Faust hätte allerdings vielleicht unbefriedigt sein müssen von dem, was ihm das Traditionelle hätte geben können. Allein, wenn Goethe imstande

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gewesen wäre, den Faust ordentlich darzustellen, so würde Faust, nachdem er die ersten Szenen durchgemacht hat, nachher Gretchen ehrlich gemacht, geheiratet haben und ein wohlbestallter Professor geworden sein, der die Elektrisiermaschine und die Luftpumpe erfun­den hätte. - Das ist die Anschauung, die Du Bois-Reymond hat, wie der Faust eigentlich hätte werden sollen.

Nun, Goethe hat eben den Faust nicht so gemacht, und ich weiß nicht, ob er viel interessanter geworden wäre, wenn er so ausgestaltet zur Welt gekommen wäre, wie Du Bois-Reymond es gewollt hat. Aber jedenfalls, so wie der Goethesche Faust dasteht, ist er eine der interessantesten Erscheinungen der neueren Geistesgeschichte dadurch, daß eben Goethe sich gedrungen fühlte, den Professor des 15. und 16. Jahrhunderts als den Repräsentanten dessen hinzustellen, was in ihm, in Goethe selber, nachzitterte von jenem Umschwung von dem vierten in den fünften nachatlantischen Zeitraum hinüber.

Wir wissen ja, daß der Faust des 16. Jahrhunderts - der also auch sagenhaft, nicht als der Mann, der die Elektrisiermaschine und die Luftpumpe erfindet, ausgestaltet war -, daß der sich auch der Magie zuwendet, aber wirklich zugrunde geht, dem Teufel verfällt, daß dieser Faust des 16. Jahrhunderts, schon von Lessing und auch von Goethe, nicht als der Faust des 18. Jahrhunderts anerkannt werden konnte. Vielmehr mußte gestrebt werden zu zeigen, wie nun, trotzdem wiederum zum Geistigen hingestrebt wird, der Mensch dennoch seinen Weg, wenn man das Wort gebrauchen darf, zur Erlösung hin finden soll.

So steht zunächst der Faust da als der Professor des 15., des 16.Jahr-hunderts, den Goethe eigentlich wirklich gut zeichnet, denn so sind sie durchaus gewesen an den Universitäten dazumal, solche Persön­lichkeiten. Natürlich, der Faust der Sage kommt da gar nicht in Be­tracht, der Faust der Sage war natürlich niemals dieser Professor, son­dern mehr ein herumvagabundierender Zigeuner; aber Goethe zeich­net ja auch nicht diesen Faust der Sage, sondern er charakterisiert eben eine Professorengestalt. Und es ist durchaus so, daß wir sagen können, so wie Goethe seinen Faust charakterisiert hat - in der Tiefe der Seelenempfindungen ist er natürlich eine einzelne Gestalt, eine

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Ausnahme -, wie er ihn hineingestellt hat in den geistigen Betrieb, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf: auf der einen Seite sich mit den intellektualistischen Wissenschaften befassend, aber doch nicht unbekannt mit einem gewissen Hinneigen zu Geistigkeiten, die schon zu Goethes Zeiten natürlich durchaus als Aberglaube bezeichnet wurden, so ist dieser Faust durchaus der Typus eines, sagen wir, Philosophieprofessors oder vielleicht auch eines Medizinprofessors des 14., 15. Jahrhunderts.

Nun können wir aber auch diesen Goetheschen «Faust» mehr in einen größeren Weltenzusammenhang hineinstellen. Goethe selbst führt uns zwar den Famulus Faustens vor, und wir sehen da, welches Verhältnis besteht zwischen dem Professor und seinem Famulus. Wir sehen auch einen Schüler, können aber nicht eigentlich glauben, daß der Schüler nun ganz besonders tiefen Einfluß von seinem Professor Faust erhal­ten habe, das geht schon aus der Art hervor, wie er sich später ent­wickelt. Also im Goetheschen «Faust» selber sehen wir eigentlich we­nig von der Wirkung des Faust, das heißt des seelenvertieften Pro­fessors des 14. und 15. Jahrhunderts, wie er etwa in Wittenberg ge­lehrt haben könnte. Aber man könnte doch sagen, es gibt einen Schü­ler dieses Faust, der uns tiefer hineinführen kann in diesen ganzen Weltenzusammenhang. Es gibt einen Schüler des Faust, der nun fast mit derselben Bedeutung in der Geistesgeschichte der Menschheit drin­nensteht wie der Professor Faust selber - ich meine natürlich immer den Goetheschen Faust. Und dieser Schüler, das ist kein anderer als Hamlet.

Hamlet kann tatsächlich angesehen werden als ein richtiger Schüler des Faust. Das Historische kommt dabei nicht in Betracht, ich meine immer das, was Goethe hingestellt hat als den Faust. Schon der ganze Fortgang des Faust bezeugt es ja, daß wir es zwar zu tun haben mit der Menschheitsauffassung des 18. Jahrhunderts, daß Goethe aber doch das Bestreben hat, seinen Faust zurückzudatieren. In einer ge­wissen Beziehung können wir eben durchaus sagen: Hamlet, der in Wittenberg studiert hat, und der sich eine gewisse Geistesverfassung aus diesem Studium mit nach Hause bringt, Hamlet, wie in Shake­speare hingestellt hat, ist in einer gewissen Weise anzusehen,

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allerdings weltgeistesgeschichtlich, als ein Schüler des Faust. In ihm haben wir vielleicht sogar etwas, was wir in viel treuerem Sinne eine Schülerschaft des Faust nennen können, als das, was uns in der Goetheschen Dichtung selber als eine solche Schülerschaft des Faust entgegentritt.

Bedenken Sie einmal den ganzen Charakter des Hamlet und stellen Sie es mit der Tatsache zusammen, daß er in Wittenberg studiert hat, wo er durchaus eine solche Gestalt wie den Faust als Professor gehört haben könnte, und nehmen Sie dann die Art und Weise, wie Hamlet zu seiner Aufgabe kommt: Der Geist seines Vaters erscheint ihm. Also er hat etwas zu tun mit der wirklichen geistigen Welt. Er ist zunächst hineingestellt in die wirkliche geistige Welt. Aber er hat in Witten­berg studiert, er hat in Wittenberg so gut studiert, daß er das mensch­liche Gehirn für ein Buch ansieht, erinnern Sie sich an die Phrase des Hamlet, wo von dem Buch des Gehirns die Rede ist. Er hat so gut menschliche Wissenschaft studiert, daß er von dem Buch des Gehirns spricht, daß er sich sogar auf seine Schreibtafel aufschreibt, was er im Gedächtnis behalten will, fast wie wenn er den Spruch der späteren Faust-Dichtung im Auge hätte: «Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.» Also Hamlet ist auf der einen Seite ein ganz trefflicher Schüler des Intellektualismus, wie er ihm in Wittenberg beigebracht worden ist, aber er steht auf der andern Seite in einem geistigen Zusammenhange darinnen, und beide Impulse wir­ken in seiner Seele. Und das ganze Hamlet-Drama steht eigentlich unter dem Einflusse dieser beiden Impulse. Hamlet, als Dich­tung sowohl wie als Gestalt, steht unter dem Einfluß dieser Impulse, denn im Grunde genommen weiß der Dichter des Hamlet auch nicht recht, wie er die geistige Welt und die intellektua­listische Seelenverfassung zusammenbringen soll. Dichtungen, die solche wirklich im Leben tief wurzelnden Eigentümlichkeiten haben, die geben dann den Kommentatoren reichlich Gelegenheit zum Strei­ten. Daher werden über solche Dichtungen viele Bücher geschrieben, aus denen man allerdings nicht recht klug wird, aus dem einfachen Grunde, weil es auch gar nicht nötig ist, darüber klug zu werden. Man kann nämlich immerfort sehen, wie die Kommentatoren als

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wichtige Probleme behandeln: Sind die Geister im «Hamlet» bloß ein Bild oder haben sie eine objektive Bedeutung? Wie hat man das zu bewerten, daß nur Hamlet den Geist sieht, die andern Personen nicht, die gleichzeitig auf der Bühne sind?

Denken Sie sich nur, was da alles außerordentlich Geistvolles und Interessantes darüber geschrieben worden ist! Nur trifft man damit selbstverständlich gar nicht das, was für den Dichter des «Hamlet» in Betracht kommt; denn für den kommt gerade in Betracht, daß er, der dem 16. und 17. Jahrhundert angehörte, über dieses Problem not­wendigerweise, weil er lebensvoll schreiben mußte, so schreiben mußte, daß man die Art, wie er die Sache auffaßt, gar nicht in abstrakte Be­griffe einfassen kann. Man sollte es in solchen Formen, wie es die Kommentatoren machen, lieber bleiben lassen; deshalb bezeichne ich es als unnötig. Denn da handelte es sich gerade um jenen Übergang, der herüberführte von der Zeit her, wo man sich noch klar war: die geistigen Wesenheiten sind Realitäten wie ein Tisch oder Stuhl oder wie ein Hund oder eine Katze; denn das war so. Und dem Calderón, der noch auf dem alten Standpunkte stand, obwohl er sogar einer etwas späteren Epoche angehört als Shakespeare, Calderón wäre es gar nicht eingefallen, irgendwie auch nur anzudeuten, daß, was er als geistige Wesenheiten vorführt, irgendwie nur einen subjektiven Charakter haben könnte. Der stellt, weil er mit seiner ganzen Seele in der Anschauung drinnensteht, alles Geistige ebenso handfest hin wie Hunde und Katzen.

Natürlich, bei Shakespeare kommt eben schon in Betracht, daß er mit seiner Seelenverfassung ganz in der Übergangszeit drinnensteht und daher sich gar nicht gedrungen fühlen kann, diese Frage als Dich­ter anders zu behandeln, als: Es kann so sein, und es kann so sein. -Die Grenze ist gar nicht so ganz sicher zwischen dem, ob nun die Gei­ster subjektiv oder objektiv sind. Das ist ja ohnedies eine Frage, die für eine höhere Weltanschauung ebenso aufhört wie die deutlichen, für das Leben, nicht für die Astronomie, zu bestimmenden Grenzen zwischen Tag und Nacht. Diese Frage, ob das eine subjektiv, das an­dere objektiv ist, die hört dann auf, wenn man die Objektivität der menschlichen Innenwelt erkennt und die Subjektivität der Außenwelt.

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Aber gerade in diesem lebensvollen Verschweben hält Shakespeare das, was er im «Hamlet» und auch, sagen wir, zum Beispiel in «Macbeth» darstellt. Wir sehen, daß also die Dichtungen Shakespeares durchaus herausgeholt sind aus dem Übergang von dem vierten in den fünften nachatlantischen Zeitraum.

Im «Hamlet» kommt das allerdings am bedeutendsten zum Aus­drucke. Hamlet hat vielleicht gerade in Wittenberg, wenn ich mich jetzt etwas, sagen wir unhistorisch, aber deshalb vielleicht nicht weni­ger wahr ausdrücken darf, diejenigen Semester studiert, wo Faust -Sie wissen jetzt, nach den Voraussetzungen, was ich damit meine -weniger über Magie und mehr über intellektualistische Wissenschaften gelesen hat. Also er ist vielleicht in Wittenberg gewesen, bevor Faust selber zu dem Geständnisse gekommen ist, daß er zehn Jahre kreuz und quer und grad und krumm seine Schüler an der Nase herum­geführt hat. Hamlet gehört vielleicht gerade zu denjenigen, die an der Nase herumgeführt worden sind; also sein Studium fällt vielleicht gerade in diese zehn Jahre hinein. Und nun, als er wiederum zurück­kommt und das Ganze aufgenommen hat aus einer Seele heraus, die selber unsicher war - denn man kann sich natürlich ganz klar sein darüber, daß Faust unsicher war in den zehn Jahren, wo er seine Schüler kreuz und quer und grad und krumm an der Nase herum­geführt hat -, nun steht er auf der einen Seite der Erfahrung der gei­stigen Welt gegenüber, demjenigen also, was geblieben ist aus der frü­heren Zeit und was für ihn noch vorhanden ist, und auf der andern Seite steht er jener menschlichen Anschauung gegenüber, die einfach das Geistige vertreibt. Denn gerade so, wie die Geister vor dem Lichte fliehen, so flieht die Anschauung der Geister vor dem Intellektualis­mus. Die geistige Anschauung kann den Intellektualismus nicht ver­tragen; und dann kommt die Seelenstimmung heraus, von der man etwa sagen kann: Der Mensch wird innerlich ganz herausgerissen aus dem geistigen Zusammenhang. Er wird von des Gedankens Blässe innerlich angekränkelt. Dann kommt eben eine solche Stimmung zu­stande, wie sie eigentlich als Seelenstimmung den ganzen Zeitraum charakterisiert vom 11. bis zum 15. Jahrhundert und in die folgenden Jahrhunderte noch hinein. Und Goethe, weil er für alles empfänglich

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war, ragte in diesen Zeitraum auch mit seiner Seelenverfassung noch hinein. Darüber muß man sich nur klar sein.

Man nehme einmal das griechische Drama. Dieses griechische Drama ist ja gar nicht denkbar ohne die dahinterstehenden geistigen Mächte. Die bestimmen die Menschenschicksale. Der Mensch ist einge­sponnen in das, was als Schicksale die geistigen Mächte flechten. Da wird das, was der Mensch eigentlich nur erleben könnte, wenn er die Schlafzustände bewußt erlebte, in das gewöhnliche Leben hereingetra­gen. Da wird hereingetragen in das gewöhnliche Leben, wie in den Willen das hereinkommt, was im Willen auch beim Tagwachen ver­schlafen wird. Das griechische Schicksal ist ein Hinblicken auf das, was sonst verschlafen wird. Der Grieche ist sich bewußt, daß, wenn er seinen Willen entfaltet, wenn er übergeht in die Handlung, daß dann nicht nur das Tagwachen wirkt mit den blassen Gedanken, son­dern daß da, weil der ganze Mensch wirkt, auch das wirkt, was im Menschen pulsiert, wenn der Mensch schläft. Aus einer solchen Emp­findung geht dann auch eine ganz bestimmte Stellung zu der Frage des Todes, zu der Frage der Unsterblichkeit hervor.

Nun kommt der Zeitraum, der von mir eben bezeichnet worden ist, in dem der Mensch kein Bewußtsein mehr davon hat, daß in ihn während des Schlafes ein Geistiges hereinwirkt, das auch in den Wil­len hereinspielt. Es kommt der Zeitraum, wo der Mensch den Schlaf als das Seine, könnte man sagen, hinnimmt, wo er aber doch durch alte Tradition ein Bewußtsein davon hat: man hängt mit der geistigen Welt zusammen. Schon dämmern herauf die ganz abstrakten Begriffe:

«Philosophie, Juristerei, Medizin und leider auch Theologie» in der modernen Gestalt. Das dämmert herauf, aber es spielt noch das frü­here Anschauen herein. Das bewirkt einen Dämmerzustand. In diesem Dämmerzustand hat man allerdings gelebt, und im Grunde genom­men sind solche Gestalten wie der Faust herausgeboren aus einem Dämmerzustande, aus einem Hineinblicken in die geistige Welt, das wie ein Um-sich-Blicken im Traume ist. Und man bedenke die Stim­mung, die da steht hinter solchen Worten wie «Schlaf», «Traum» im «Hamlet». Man möchte sagen, indem Hamlet seine Monologe spricht, spricht er einfach auf empfindungsgemäße, natürlich nicht auf theoretische,

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sondern auf empfindungsgemäße Weise die Rätsel seines Zeit­alters aus.

Und so sehen wir, wie über die Jahrhunderte hinweg, aber im Zu­sammenhang der Geister, Shakespeare den Schüler darstellt, Goethe den Professor, aus dem einfachen Grunde, weil natürlich einige Jahr­hunderte verflossen waren und man in der Goethe-Zeit mehr nach dem Quell zurückgehen mußte dessen, um was es sich da handelte. Aber wir werden da in einen Zusammenhang hineingeführt, der uns wirklich zeigt, wie im Bewußtsein der Menschen etwas lebt von der Art etwa, daß sich solche hervorragende Geister sagen: Ich muß zum Ausdrucke bringen, was da eigentlich als ein Übergangszustand in der Menschheitsentwickelung vorhanden ist.

Nun ist das außerordentlich Interessante, diese Weltstellung, möchte ich sagen, weiter auszudehnen, weil ja eine Unsumme von ganz um­fassenden Fragen und Lebens- und Weltenrätseln auftauchen. Es ist interessant, zum Beispiel zu sehen, wie man unter den Shakespea­reschen Werken «Hamlet» als die reinste Darstellung einer Persönlich­keit hat, die den ganzen Dämmerzustand des Übergangs, namentlich in den Monologen, zum Ausdruck bringt. Man möchte sagen, wenn man den Hamlet verstanden hat vom 17. bis zum 18. Jahrhundert, dann hätte man fragen können: Ja, wo ist denn in der Seele des Hamlet das angeregt worden? - Man ist hingewiesen nach Witten­berg. Man ist hingewiesen nach der Faust-Quelle. Zu ganz ähnlichen Fragen kommt man dann, wenn man «Macbeth» betrachtet; aber schon ist es hereingezogen in das Menschliche, wenn man «Lear» be­trachtet. Da wird die Frage nicht mehr so nahe herangerückt an das Erdgebiet nach dem Geistigen hin, da rückt sie in den Menschen hin­ein, wird zum subjektiven Zustand, aber auch dafür zum Wahnsinn.

Und dann könnte man die andern Shakespeareschen Dramen in Be­tracht ziehen und könnte sagen: Was der Dichter dieser Dramen hat lernen können an den Gestalten, wo er das Menschliche bis an das Geistige heranführt, das lebt dann fort in den Königsdramen, ohne daß er da noch dasselbe Thema in derselben Weise weiterverfolgt; aber die unbestimmten Kräfte wirken weiter. Nur daß man, wenn man nun die Shakespeareschen Dramen als Ganzes weiterverfolgt,

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eigentlich immer das Gefühl hat: sie gipfeln in dem Zeitalter der Königin Elisabeth. Shakespeare hat darstellen wollen, was aus unter­bewußten, brodelnden Völkerkräften heraus zu der intellektualisti­schen Klarheit führt, die, seit dem Zeitalter der Elisabeth, von diesem Winkel der zivilisierten Welt ganz besonders ausgeht. Von diesem Ge­sichtspunkte aus erscheint die ganze Shakespearesche Dramenwelt wie erne Art, ich will nicht sagen Lustspiel, das befriedigend ausgeht, aber wenigstens wie ein Drama, das einen gewissen befriedigenden Schluß hat. Das heißt, er führt zu einer Welt, die sich dann weiterentwickelt, die dann, nachdem der Umschwung eine Zeitlang da war - Shakespeare führt ja seine Dramenwelt bis in seine eigene Gegenwart -, die An­schauung der unmittelbaren Gegenwart zurückläßt, die eben weiter geht als eine Welt, mit der man sich abfindet. Das ist ja das Merkwür­dige, daß die Shakespearesche Dramenwelt bis zu der Shakespeare-schen Gegenwart führt, mit der man sich dann abfindet, weil von da aus die Geschichte mit einem befriedigenden Verlauf, in den Intellek­tualismus verlaufend, eben weitergeht. Der Intellektualismus geht von jenem Winkel aus, von dem Shakespeare gedichtet hat, was er dar­gestellt hat, indem er es zu diesem Ende geführt hat.

Die Fragen, die ich meine, die gehen einem dann auf, wenn man die Linien verfolgt herüber von dem Schüler Hamlet bis zu dem Professor Faust und nun fragt, wie es denn mit Goethe gestanden hat in der Zeit, in der er aus seinem Ringen heraus zu der Faust-Gestalt gekom­men ist. Ja, sehen Sie, da hat Goethe auch den «Götz von Berlichin­gen» gedichtet. Im «Götz von Berlichingen», wiederum aus Volkstüm­lichem heraus, stehen einander gegenüber einerseits durchaus alte Mächte aus der vorintellektualistischen Zeit, das alte deutsche Kaiser­tum, das ja durchaus nicht verglichen werden darf mit dem, was spa­ter deutsches Kaisertum geworden ist, die Ritter, die Bauern, das­jenige also, was aus einer vorintellektualistischen Zeit durchaus nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt ist - was sich nicht nur so wenig auf den Kopf beschränkt, daß es auch die Hände braucht, son­dern sogar eine eiserne Hand gebraucht. Es wird zurückgegangen zu etwas, was einmal gelebt hat in der neueren Zivilisation, was aber gewissermaßen seinem ganzen Wesen nach noch im vierten nachatlantischen

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Zeitraum wurzelt. Und dem steht andererseits gegenüber, etwa in der Gestalt Weislingens, nun das andere, was dann heraufkommt:

die intellektualistische Zeit, die innig zusammenhängt mit dem deut­schen Fürstentum, das dann die späteren Zustände in Mitteleuropa bis zu der heutigen Katastrophe herbeigeführt hat.

Man sieht, wie Goethe im «Götz von Berlichingen» eigentlich an-stürmt gegen dieses Fürstentum, wie er zurückschaut auf die Zeiten, in denen der Intellektualismus noch nicht da war, wie er Partei nimmt für das Alte, wie er sich auflehnt gegen das, was gerade in Mittel­europa an die Stelle dieses Alten getreten ist. Man möchte sagen: Es ist so, wie wenn Goethe im «Götz von Berlichingen» sagen wollte, der Intellektualismus hat auch Mitteleuropa ergriffen. Aber hier erscheint er nicht als etwas, was nichts Berechtigtes hat. Goethe wäre es gar nicht eingefallen, Shakespeare zu negieren. Wir wissen, wie Goethe sich zu Shakespeare im positiven Sinne verhalten hat. Ihm wäre es nicht eingefallen, etwa Shakespeare deshalb zu tadeln, weil er zuletzt zu einem Ende geführt hat, das bleiben konnte. Im Gegenteil, das war Goethe außerordentlich sympathisch.

Aber wiederum: die Art und Weise, wie dann der Intellektualismus sich gerade in Goethes Umgebung ausgebildet hat, veranlaßt Goethe dazu, daß er dieses Bestehende, Daseiende eigentlich als etwas Unbe­rechtigtes hinstellt, daß er da seinerseits das, was in der Französischen Revolution als das Politische zum Ausdrucke gekommen ist, geistig anfaßte. Goethe ist in «Götz von Berlichingen» der geistige Revolutio­när, der das Geistige negiert, so wie die Französische Revolution das Politische negiert hat. Aber nur wendet sich Goethe in einem gewissen Sinne zurück zu dem, was da war, das er ja gewiß nicht in der alten Gestalt wiederum erneuert wünschen kann. Aber er will, daß es eine andere Entwickelung nehme. Es ist außerordentlich interessant, diese Stimmung in Goethe zu beachten, wie er wirklich sich auflehnt gegen das, was sich an die Stelle der Götz-Welt gesetzt hat.

So ist es außerordentlich interessant, daß Shakespeare so tief erfaßt worden ist von Lessing, von Goethe, daß sie geradezu in Anlehnung an Shakespeare gesucht haben, was sie aus ihrer geistig-revolutionären Stimmung heraus finden wollten, während da, wo sich der Intellektualismus

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ganz besonders tief eingegraben hat aus den Vorbedingun­gen heraus zum Beispiel bei Voltaire, dieser Intellektualismus auf Shakespeare in der wüstesten Weise losschlägt. Voltaire hat bekannt­lich Shakespeare einen besoffenen Wilden genannt. Diese Dinge müs­sen alle durchaus berücksichtigt werden.

Nun, stellen Sie, um die große Frage, die da auftaucht, und die ins­besondere zur Charakteristik vom Umschwung des vierten zum fünf­ten nachatlantischen Zeitraume von so großer Bedeutung ist, zu ver­stehen, stellen Sie zu dem etwas anderes hinzu. Stellen Sie hinzu, wie eigentümlich nun Schiller eingegriffen hat in diese geistige Revolution, die bei Goethe auf Goethesche Art im «Götz von Berlichingen» zum Ausdrucke kommt. Schiller hat zunächst im engst umrissenen Kreise das kennengelernt, wogegen er sich aufzulehnen hatte, als aus dem ein­seitigsten, krankhaftesten Intellektualismus herauskommend. Da es dazumal noch keine Waldorfschule gab, die sich auch gegen den ein­seitigen Intellektualismus auflehnt, und Schiller nicht in Württemberg auf die Waldorfschule geschickt werden konnte, wurde er auf die Karlsschule geschickt. Und alles, was Schiller nun in seiner Jugend als Protest entwickelt, ist im Grunde genommen aus dem Protest gegen die Pädagogik der Karlsschule geboren. Es hat im Grunde genommen ein wirkliches produktives Arbeiten gegen diese Pädagogik, die heute die Weltpädagogik ist - trotzdem Schiller dagegen seine «Räuber» ge­schrieben hat -, es hat ein wirkliches positives Arbeiten dagegen nicht gegeben, bis zu der Begründung der Waldorfschule.

Nun, wie stellt sich Schiller, der ja später an die Seite Goethes ge­stellt war, in diese ganze Umgebung hinein? Er dichtet seine «Räuber». In Spiegelberg und in den andern Gestalten erkennen wir ganz deut­lich, wenn wir nur solche Dinge zu beurteilen wissen, daß er seine Mit­schüler gezeichnet hat. Franz Moor konnte er natürlich nicht gerade aus seinen Mitschülern heraus gewinnen, aber er schilderte ihn so, daß er eigentlich all das, was nun aus der genialen Erfassung der neueren Zeit herauskommt, in ahrimanischer Gestalt in Franz Moor hinstellte. Und wer diese Dinge zu beurteilen vermag, der sieht überall, wie Schiller zwar nun nicht mehr geistige Wesenheiten äußerlich darstellt, wie sie noch im «Hamlet», in «Macbeth» auftreten, sondern wie

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Schiller das ahrimanische Prinzip in Franz Moor wirksam sein läßt. Und dem steht gegenüber das luziferische Prinzip in Karl Moor. Und in Franz Moor sehen wir einfach einen Repräsentanten dessen, woge­gen Schiller sich nun auflehnte. Wiederum ist es dieselbe Welt, gegen die Goethe sich im «Götz von Berlichingen» auflehnt, nur tut Schiller es auf eine andere Weise. Das lehrt ja spater «Kabale und Liebe».

So sehen wir, daß hier, in Mitteleuropa, diese Geister, Goethe und Schiller, nicht so zeichnen wie Shakespeare. Sie lassen die Geschehnisse nicht einlaufen in etwas, was dann bleiben kann, sondern sie stellen etwas dar, was da war, aber nach ihrer Ansicht eine ganz andere Ent­wickelung hätte nehmen sollen. Also das, was sie eigentlich wollen, ist nicht da, und das, was auf dem physischen Plane da ist, gegen das leh­nen sie sich zunächst in einer geistigen Revolution auf. So daß wir hier ein merkwürdiges Ineinanderspielen haben von dem, was auf dem phy­sischen Plane da ist, und dem, was in diesen Geistern lebt.

Wenn ich das in einem etwas gewagten Bilde graphisch darstellen sollte, was da eigentlich ist, so möchte ich es so zeichnen: Wir haben bei Shakespeare das Bild so, daß die Geschehnisse durchaus erden-mäßig weiterlaufen (siehe Zeichnung, blau), daß das, was er aus der

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früheren Zeit, in der noch das Geistige gewirkt hat, heraufnimmt, weiterwirkt (rot), und daß es überläuft in eine Gegenwart, die dann eben die Tatsache des weltgeschichtlichen Verlaufs bildet.

Wir gewahren dann, wenn wir bei Goethe und bei Schiller nehmen,

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was sie an Ahnungen einer alten Zeit haben (rot), einer Zeit, wo noch die geistige Welt mächtig war, im vierten nachatlantischen Zeitraum, daß sie das heraufführen bloß in ihren Intentionen, in ihre Geistigkeit, während sie das, was sich auf der Erde abspielt (blau), im Kampfe da­mit auffassen. Ich möchte sagen, da haben wir das eine in das andere hineinspielend auf dem Umwege durch den menschlichen Geistes-kampf. Und das ist durchaus der Grund, warum hier dann in Mittel-europa der Übergang gefunden wurde zu dem reinen Menschheits­problem. So daß - und das werde ich noch weiter ausführen können in den folgenden Betrachtungen - tatsächlich in der besonderen Auf­fassung des Menschen als eines Wesens, das im sozialen Zusammen-hange drinnensteht, durch die Goethe-Schiller-Zeit ein mächtiger Um­schwung geschieht.

Sehen wir jetzt nach dem Osten hinüber, nach dem Osten Europas. Ja, in derselben Weise können Sie überhaupt nicht nach dem Osten hinüberschauen. Wer bloß die äußeren Tatsachen schildert und kein Verständnis hat für das, was in den Seelen Goethes, Schillers und na­türlich vieler anderer lebte, der wird zwar die äußeren Tatsachen schildern, aber nicht das, was da hineinspielt aus einer geistigen Welt, die immerhin vorhanden ist, die aber nur in den Köpfen der Menschen vorhanden ist. In Frankreich wird revolutionär auf dem politischen Boden, auf dem physischen Plane der Kampf vollzogen. In Deutsch­land geht er nicht bis zu dem physischen Plane herunter, aber durch die Menschenseelen geht er noch hindurch, in den Menschenseelen zit­tert er. Aber diese ganze Betrachtung läßt sich nicht ausdehnen nach dem Osten, denn im Osten ist die Sache anders. Da kommt man näm­lich, wenn man das nun weiterverfolgen will, erst mit der Anthropo­sophie der Sache nahe; denn da ist, was in den Seelen Goethes und Schillers, also immerhin schon auf der Erde, wenn auch durch Erden-seelen wirbelt, das ist noch erst in der höheren Welt vorhanden, und es kommt überhaupt nicht unten auf der Erde zum Ausdrucke.

Wenn Sie das, was sich zwischen Goethes und Schillers Geist in der physischen Welt abspielt, nach Rußland hinüber verfolgen wollen, dann müssen Sie schon etwa so schildern, wie man die Schlachten schilderte in der Attila-Zeit, wo sich etwas über den Köpfen der Menschen

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in den Lufträumen oben abspielte, wo die Geister miteinander ihre Schlachten ausführten.

Was Sie in Mitteleuropa ausgeführt finden durch Goethe und Schiller

- bei Schiller, indem er die «Räuber», bei Goethe, indem er den «Götz von Berlichingen» schreibt -, das finden Sie im Osten noch als geistige Tatsache, über dem physischen Plan in der geistigen Welt sich abspie­lend. Wollen Sie da die Paralleltaten für das Schreiben der «Räuber», des «Götz» suchen, dann müssen Sie es bei den Geistern in der über­sinnlichen Welt suchen; Sie können sie nicht auf dem physischen Plane suchen. So daß man für diesen Osten es dann so darstellen könnte:

Wie Wolken, über dem physischen Plane sich abspielend, haben wir das, was die Sache erst verständlich macht, und unten, ganz unberührt davon das, was verzeichnet werden kann äußerlich auf dem physischen Plane.

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Und man kann sagen: Man weiß also, wie sich ein westlicher Mensch, der ein Schüler des Faust geworden war, verhalten hat, ver­halten konnte, denn man hat den Hamlet. Den russischen Hamlet könnte man nicht haben. Oder doch? Ja, vor dem geistigen Blick könnte man ihn haben, wenn man sich vorstellen würde, daß, während Faust in Wittenberg lehrt -, ich meine immer den Goetheschen Faust, keine historischen Tatsachen, aber das, was wahrer als die Geschichts­darstellung ist - und Hamlet ihm zuhört, der sich ja alles aufschreibt, selbst das, was ihm der Geist sagt und daß es Schurken gibt in Däne­mark und so weiter, also alles das, was das Buch des Gehirns braucht, sich aufschreibt; man bedenke, was Shakespeare aus der Gestalt ge­macht hat, die er dem Saxo Grammatikus entnommen hat, wo die Sache ganz anders ist, kein Anhaltspunkt dafür ist, wie Shakespeare wirklich den Schüler des Faust gestaltet hat -, daß da auch eine Engelwesenheit

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ihm zugehört hätte. Also, während Hamlet auf der Schul­bank gesessen hat, Faust auf dem Katheder gestanden hat, hätte hinten ein Engel zugehört; der wäre dann nach Osten geflogen. Da hätte er dann im Osten seinerseits das entwickelt, was sich parallel in den Ta­ten des Hamlet im Westen hätte abspielen können.

Ich glaube nicht, daß man zu einem wirklich eindringenden Ver­ständnis kommt, wenn man bloß die äußeren Tatsachen beachtet und nicht die tiefgehenden Eindrücke, die diese äußeren Tatsachen gerade auf die bedeutendsten Persönlichkeiten der Zeit gemacht haben, na­mentlich wenn es sich um etwas so Einschneidendes handelt wie den Umschwung vom vierten in den fünften nachatlantischen Zeitraum.

ZWÖLFTER VORTRAG Dornach, 25. Februar 1922

#G210-1967-SE187 Neue und alte Einweihungsmethoden

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ZWÖLFTER VORTRAG

Dornach, 25. Februar 1922

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Von den Aufgaben habe ich Ihnen sprechen wollen, welche den Füh­rern des geistigen Lebens gestellt waren aus dem Umschwung heraus, der sich vom vierten zum fünften nachatlantischen Zeitraum herüber vollzogen hat. Und ich versuchte anschaulich zu machen, welche Kräfte da ausgegangen sind und sich gezeigt haben in der Faust-Gestalt, in der Hamlet-Gestalt. Wenn man auf das Wesentliche den Blick wendet, so sieht man, daß solche geistige Führer wie die Dichter der genannten Gestalten sich vor die Aufgabe gestellt sahen, dichterisch die Frage zu beantworten: Was wird aus dem Menschen, wenn er seine innere Seelenbefriedigung suchen muß aus dem bloßen intellektua­listischen Leben heraus, aus dem Leben in abstrakten Gedanken? -Denn selbstverständlich, von diesem besonderen Eindruck, der auf die Seele dadurch hervorgerufen wird, daß sie genötigt ist, mit Hilfe von abstrakten Gedanken auf das hinzuschauen, was ihr das Teuerste, das Bedeutsamste ist, was ihr Sinn und Ziel ihres eigenen Daseins zeigt, von einer solchen Stellung zum Gedankenleben kommt eben die ganze Seelenverfassung. Aus all den Entwickelungsmomenten heraus, die wir gestern skizzenhaft uns vor die Seele gestellt haben, mußten ja im Grunde genommen Goethe und Schiller schaffen.

Und wir haben auch schon gesehen, wie Goethe und Schiller sich hineinverstrickt sahen in die Entwickelungsmomente, auf die wir da deuten konnten. Wir haben gesehen, wie bei beiden durchaus zum Aus­drucke kommt, daß sie eigentlich fühlen: in der großen, in der wirk­lichen Dichtung läßt sich nicht auskommen ohne eine gewisse Hin-neigung zu der eigentlichen geistigen Welt. Aber jene alte Hinneigung zur geistigen Welt, die noch im 11., 12., 13. Jahrhundert für die abend­ländische geistige Entwickelung charakteristisch war, die war im Grunde genommen nicht mehr möglich für den Menschen der darauf­folgenden Zeit. Sie zog sich zurück, könnte man sagen, vor der bloßen intellektualistischen Betrachtung. Auf der andern Seite aber war diese intellektualistische Betrachtung, dieses Leben in Gedanken, noch nicht

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so weit, daß etwa im Gedankenleben selbst das reale, das wirkliche Geistige hätte erreicht werden können.

Das ist nun eigentlich das Charakteristische der Stellung Schillers und Goethes in der Geistesentwickelung der Menschheit, daß ihr Auf­treten, ihre wichtigste Wirksamkeit in eine Zeit fällt, in welcher die alte Geistigkeit dahingegangen war, und aus dem neuen Intellektualismus noch nicht die lebendige Geistigkeit hervorsprießen konnte. Wir haben ja vor einiger Zeit hier gesehen, wie das, was die Seele als Intellektua­lismus erfüllt, eigentlich der Leichnam jenes geistigen Lebens ist, wel­ches die Seele in der geistig-seelischen Welt vor ihrer Geburt bezie­hungsweise vor der Konzeption durchmacht. Dieser Leichnam muß selbstverständlich wiederum belebt werden. Er muß wiederum hinein­gestellt werden in das ganze Leben des Kosmos. Aber dazu war man eben in jener Zeit noch nicht gekommen, und das Ringen Goethes und Schillers gerade in ihrer allerbedeutsamsten Zeitepoche besteht darin, nun doch in diesem Übergangszeitalter eine irgendwie befriedigende Seelenverfassung zu erringen, die auch dichterisch produktiv sein konnte.

Am klarsten, am intensivsten tritt das gerade hervor in dem Zusam­menarbeiten zwischen Goethe und Schiller. Als die beiden bekannt wurden, hatte Goethe einen größeren Teil seiner Faust-Dichtung fertig:

was 1790 als Fragment des «Faust» erschienen war und einiges andere darüber hinaus. Wenn man dieses Fragment, das 1790 erschienen war, und auch das, was dazumal von Goethe aus irgendwelchen Gründen zurückgehalten wurde, prüft - es ist ja zum Beispiel die Kerkerszene zurückgehalten worden, trotzdem sie damals schon fertig war, und das Fragment beginnt unmittelbar, ohne irgendwelchen «Prolog im Him­mel» mit der Szene: «Habe nun, ach, Philosophie, Juristerei... durch­aus studiert», wenn man das prüft, so muß man sagen, in diesem Frag­ment steht Faust allein da, aus seinem Inneren heraus ringend nach einer befriedigenden Seelenverfassung. Er sieht sich unbefriedigt vom bloßen Intellektualismus, strebt hin nach einem Zusammenkommen mit der geistigen Welt. Der Erdgeist in der bekannten Fassung, wie wir sie jetzt haben, tritt auf. Wir haben durchaus schon ein Hinstreben Goethes nach der geistig-seelischen Welt, aber was da zum Beispiel

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vollständig fehlt, was Goethe dazumal im Grunde genommen fern lag, das war das Hineinstellen des Faust in den ganzen kosmischen Zusam­menhang. Der «Prolog im Himmel» war nicht da. Also, Faust war noch nicht hineingestellt in jenen Kampf des Gottes mit dem Satan. Das kam erst dazu, als Goethe die Anregung von Schiller bekam, sei­nen «Faust» fortzusetzen.

Unter dieser Anregung suchte er jetzt Faust nicht mehr allein zu las­sen, sondern ihn in den ganzen kosmischen Zusammenhang hineinzu­stellen. Und so gestaltete er dann seinen «Faust», mehr oder weniger angeregt durch Schiller, so daß wir sagen können: da Faust zum zwei­ten Male dann 1808 vor die Welt tritt, sehen wir aus dem Persönlich­keitsdrama, das doch der «Faust» 1790 noch war, ein Weltendrama entstehen. Wir sehen in der Prologszene: «Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang», im Auftreten der Engel, im Auftreten der ganzen geistigen Welt, in dem Gegensatze des Satans, einen Kampf, der sich in jener Welt abspielt um die Gestalt des Faust. Vorher, 1790, war Faust mit sich selbst beschäftigt. Wir sehen auf seine Person hin. Er ist einzig und allein der Mittelpunkt. Später tritt ein ganzes Weltentableau vor uns auf, in das Faust hineingestellt ist. Um ihn kämpfen gute und böse Mächte. Goethe hat 1797 diese Szene geschrieben, durch die Faust in ein Weltentableau hineingestellt wird, nachdem Schiller von ihm geradezu die Fortsetzung des «Faust» ge­fordert hatte.

Goethe fühlte sich in einem gewissen Sinne, wie ja die «Zueignung» zeigt, schon entfremdet der Art und Weise, wie er sich in jungen Jah­ren zu seinem «Faust» gestellt hatte. Was da eigentlich in den Seelen hervorragendster Menschen geschehen ist, sehen wir zum Beispiel an Schiller. Schiller hat eigentlich realistisch begonnen. Ich habe Ihnen gestern gesagt, wie das luziferische und das ahrimanische Element in Karl Moor und Franz Moor einander gegenübertreten. Aber dabei ist gar nicht die Rede von einem Hereinragen der geistigen Welten in irgendeiner ureigenen Gestalt, sondern wir können nur in den Cha­raktereigentümlichkeiten des Karl Moor und Franz Moor das Luzi-ferische und das Ahrimanische verfolgen. Es ist Schiller durchaus eigen, daß er von einem gewissen realistischen Elemente ausgeht. Aber als er

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in dieser Art seine Jugenddramen vollendet hatte, und als er dann mit Goethe bekannt wird, da sehen wir, wie er, als er in den neunziger Jahren wiederum zur Dichtung zurückkehrt, sich genötigt findet, die geistige Welt in seine dichterische Gestaltung hereinspielen zu lassen. Und es gehört wiederum zu den interessantesten Tatsachen, wie Schiller sich nun genötigt fühlt, die geistige Welt hereinspielen zu lassen in seine dichterischen Gestalten.

Betrachten Sie den «Wallenstein». Wallenstein richtet sich in seinen Entschlüssen nach seinem Sternenglauben. Wallenstein unternimmt seine Handlungen, bildet sich seine Absichten im Sinne seines Sternen-glaubens. Es spielt also der Kosmos in Schillers Gestaltendichtungen durchaus herein. Das ganze Wallenstein-Drama kann man nur ver­stehen, wenn man ins Auge faßt, wie Wallenstein sich durchdrungen fühlt von denjenigen Kräften, die von den Sternkonstellationen aus­gehen. Man kann geradezu sagen: Schiller fühlte sich am Ende des 18. Jahrhunderts gedrungen, zu jener Sternenanschauung zurückzu­kehren, die im 16. und 17. Jahrhundert für die Menschen, die über­haupt über solche Dinge nachdachten, die gewöhnliche war. Also Schiller glaubte das Menschenleben in hervorragenden Erscheinungen nicht darstellen zu können, ohne dieses Menschenleben in den Kosmos hineinzustellen.

Und weiter, nehmen Sie eine solche Dichtung wie «Die Braut von Messina». Schiller macht ein Experiment. Er versucht, den alten Schicksalsgedanken in Verbindung mit der Sternenweisheit in die dra­matische Handlung hineinzugestalten. Und hier bei dieser «Braut von Messina» ist es ganz besonders auffällig, daß Schiller sich gedrängt fühlt, das zu tun, denn bei der «Braut von Messina» können Sie näm­lich wiederum ein gewisses Experiment machen. Werfen Sie einmal den ganzen Sternenglauben und das ganze Schicksal heraus und neh­men Sie das, was dann noch bleibt: dann haben Sie immer noch eigent­lich ein großartiges Drama in der «Braut von Messina». So daß also Schiller schon in der «Braut von Messina» ein Drama hätte gestalten können ohne Sternenglauben und ohne die Schicksalsidee - und er hat dann den Sternenglauben und die Schicksalsidee hineingenommen. Das bedeutet, daß er in seiner Seelenverfassung die Notwendigkeit fühlte,

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den Menschen in den Kosmos hineinzustellen. Es ist gewiß, daß hier ein absoluter Parallelismus da ist zu dem, was Goethe dahin geführt hat in der Fortsetzung seines «Faust», diesen Faust in das ganze Weltentableau hineinzustellen.

Goethe tut das bildhaft; bei ihm treten die Engel als Stern führer auf. Wir sehen den Kosmos bildhaft vor uns in dem großen Tableau «Pro­log im Himmel». Schiller, der mehr zur Abstraktion neigte, der mehr unbildlich war, fühlte sich genötigt, in derselben Zeit in seinen «Wallenstein», in seine «Braut von Messina» das Hineingestelltsein des Menschen in den Kosmos hineinzugeheimnissen, und zwar so weit, daß sogar der Schicksalsgedanke der alten griechischen Tragödie wiederum auftrat. Aber sehen Sie sich noch etwas anderes an. Schiller nahm ge­rade in der Zeit seines Bekanntwerdens mit Goethe in seiner Art die Freiheitsgedanken der Französischen Revolution auf. Wir haben schon gestern anzuführen gehabt, daß sich die Revolution in Frankreich als politische Revolution abspielte, innerhalb Mitteleuropas dagegen als geistige Revolution. Und man möchte sagen: den intimsten Charakter nahm diese geistige Revolution an in einer Schrift Schillers, die ich in verschiedenen Zusammenhängen auch hier schon erwähnt habe; in den Briefen «Über die ästhetische Erziehung des Menschen».

Da sehen wir, wie Schiller frägt: Wie kommt der Mensch zu einem wirklich menschenwürdigen Dasein? - Etwas, das man eine Freiheits­philosophie nennen kann, war dazumal noch nicht möglich. Schiller beantwortet sich die Frage in seiner Art. Er sagte sich: Wenn der Mensch nur seinen logischen Gedanken folgt, dann ist er unfrei. - Selbst­verständlich ist er unfrei, denn man kann nicht das, was die Logik sagt, nach irgendeiner Freiheit gestalten, da unterliegt der Mensch der Vernunftnotwendigkeit. Also gerade da, wo er zunächst für sein Erdenleben am geistigsten wird, ist er ja nicht frei, da unterliegt er der Vernunftnotwendigkeit. Er ist nicht frei, zu sagen: zwei mal zwei ist sechs oder fünf. Dagegen unterliegt der Mensch der Naturnotwendig­keit, wenn er mit seinem ganzen Organismus eben an die Naturnot­wendigkeit hingegeben ist.

So sieht Schiller den Menschen hineingestellt zwischen die Vernunft-notwendigkeit und die Naturnotwendigkeit, und er sieht einen Ausgleich

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zwischen beiden Zuständen in dem, was er den ästhetischen Zu­stand nennt. Da rückt der Mensch gewissermaßen die Vernunft-notwendigkeit herunter in das, was ihm gefällt und mißfällt, worin er also in einem gewissen Sinne frei ist. Und wenn er seine Triebe, seine Instinkte, die Naturnotwendigkeiten also, so weit modelt, daß er sich ihnen überlassen kann, daß sie ihn nicht zum Tiere erniedrigen, daß er sie wieder heraufgehoben hat, dann begegnen sie sich eben in der Mitte mit der Vernunftnotwendigkeit. Die Vernunftnotwendigkeit steigt um eine Stufe herunter, die Naturnotwendigkeit um eine Stufe herauf, sie begegnen sich in der Mitte. Und der Mensch, indem er sich nach dem, was ihm gefällt und mißfällt, richtet, ist in einem Zustande, wo er weder der einen noch der andern Notwendigkeit unterliegt, wo er das­jenige vollziehen darf, was ihm gefällt, weil ihm eben das Gute gefällt, weil er zu gleicher Zeit mit seinen Sinnen das Gute begehrt.

Das ist natürlich eine ganz philosophisch-abstrakte Darstellung, die Schiller gegeben hat. Goethe gefiel der Gedanke außerordentlich, aber ihm war wiederum klar: So kommt man dem Menschenrätsel natür­lich nicht bei. Goethe wird ganz gewiß das außerordentlich Geistvolle tief empfunden haben, denn es gehört zu den besten Abhandlungen der neueren Zeit, was Schiller in diesen Briefen «Über die ästhetische Er­ziehung» geleistet hat. Goethe hat dieses Großartige, dieses Gewaltige des Gedankens gefühlt. Aber er hat zu gleicher Zeit gefühlt: aus sol­chen Gedanken heraus kann man überhaupt nichts gestalten, was dem Menschenwesen irgendwie beikommt. Das Menschenwesen ist zu reich, um ihm mit solchen Gedanken beizukommen.

Schiller hat, wenn ich so sagen darf, gefühlt: Ich stehe im intellek­tualistischen Zeitalter. Gerade durch den Intellektualismus wird der Mensch unfrei, denn das ist Vernunftnotwendigkeit. - Er sucht also eigentlich in dem ästhetischen Schaffen, in dem ästhetischen Genießen den Ausweg. Goethe hatte ein Gefühl für das unendlich Reiche, In­haltsvolle der menschlichen Natur. Er konnte sich nicht zufriedengeben mit der allerdings geistvollen, tiefen Auffassung von Schiller. Daher fühlte er sich genötigt, in seiner Art auszudrücken, was da im Men­schen eigentlich für Kräfte zusammenspielen. Nicht nur seiner Natur nach, sondern seiner ganzen Auffassung nach hat Goethe das nicht in

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der Form von abstrakten Begriffen geben können, sondern er schrieb dann unter dem Einflusse der Schillerschen Gedanken dieser Art sein «Märchen» von der grünen Schlange und der schönen Lilie, wo wir eine ganze Menge, etwa zwanzig Gestalten, auftauchen sehen, die alle irgend etwas mit Seelenkräften zu tun haben, und die nun zusammen-wirken, nicht nur als Vernunftnotwendigkeit und Naturnotwendig­keit, sondern die als zwanzig verschiedene Impulse zusammenwirken, um endlich in der mannigfaltigsten Weise dasjenige zu gestalten, was die reiche Natur des Menschen bedeutet.

Da kommt vor allen Dingen auch das in Betracht, daß Goethe es eben aufgab, überhaupt in abstrakten Begriffen über die Menschen­wesenheit zu sprechen. Goethe fühlte sich gedrängt, von den Begriffen wegzugehen. Wenn man das Verhältnis Schillers zu Goethe charakteri­sieren will mit Bezug auf die ästhetischen Briefe und auf das Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie, muß man eigentlich das Folgende sagen: Goethe hat ja direkt unter dem Einfluß von Schillers ästhetischen Briefen dieses «Märchen» geschrieben. Also er wollte dieselben Fragen von seinem Gesichtspunkte, von seiner Emp­findung aus beantworten. Das kann man nachweisen. Das habe ich längst historisch auch nachgewiesen, und das leuchtete auch ein. Und will man nun vollständig das, was da sich abspielte zwischen den bei­den Persönlichkeiten, darstellen, so müßte man sagen: In alten Zeiten, als die Menschen, wenn sie erkennen wollten, sich noch von den We­senheiten der geistigen Welt besuchen ließen, als sie noch in ihren Er­kenntniswerkstätten - verzeihen Sie, wenn ich den spießbürgerlichen Ausdruck gebrauche - arbeiteten, um hinter die Geheimnisse der Welt zu kommen, und in diese Erkenntniswerkstätten hereindrangen die geistigen Wesenheiten, die Faust wiederum sucht, der Erdgeist und manches andere von geistigen Wesenheiten kommt ja zu Faust herein, da war es anders als heute, da konnte sich der Mensch als ein Verwand­ter dieser geistigen Wesenheiten fühlen, die ihn besuchten. Da wußte er: Ich lebe jetzt allerdings auf der Erde, muß mich des Instrumentes eines physischen Leibes bedienen, aber vor der Geburt und nach dem Tode bin ich ein solches Wesen, wie diejenigen sind, die mich da be­suchen. - Also er wußte, er hat zwar einen Aufenthaltsort gesucht für

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das Erdenleben, das ihn von der geistigen Welt trennt, aber diese gei­stige Welt besucht ihn. Er wußte sich dieser geistigen Welt dennoch verwandt. Das gab dem Menschen ein Bewußtsein seines eigenen Wesens.

Nehmen wir einmal an, Schiller wäre etwa in den Jahren 1794, 1795 zu Goethe gekommen und hätte gesagt: Sehen Sie, ich habe nun die Briefe «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» geschrieben; ich habe versucht, aus dem modernen Intellektualismus heraus dem Menschen wiederum die Möglichkeit zu geben, sich als Mensch zu fühlen. Ich habe die Ideen gesucht, die man haben muß, um von der wirklichen menschlichen Wesenheit zu sprechen. Diese Ideen sind in den Briefen über die ästhetische Erziehung enthalten. - Goethe würde das gelesen haben, würde dann das nächstemal, wenn er Schiller wie­der getroffen hätte, haben sagen können: Ja, lieber Freund, das ist sehr schön, was Sie da gemacht haben. Sie haben dem Menschen wiederum einen Begriff von seiner Würde vor Augen gehalten; aber so geht es doch nicht. Der Mensch ist doch ein geistiges Wesen, und die Geister ziehen sich, wie vor dem Licht, so auch vor den Begriffen, die ja nichts anderes sind als eine andere Form des gewöhnlichen Tageslichtes, zu­rück. Also da muß anders verfahren werden. Man muß von den Be­griffen wieder zu etwas anderem gehen.

Das, was ich so in eine konkrete Sprache übersetze, das können Sie verfolgen in Goethes und Schillers Briefwechsel. Es steht alles da, wenn es auch nur in einzelnen Andeutungen dasteht. Und Goethe schrieb darüber sein «Märchen» von der grünen Schlange und der schö­nen Lilie, das nun darstellen sollte, wie die seelischen Kräfte im Men­schen eben wirken. Damit hat Goethe das Bekenntnis abgelegt: Man muß, wenn man über den Menschen und seine Wesenheit sprechen will, zu Bildern aufsteigen. - Das aber ist der Weg zur Imagination. Goethe hat also einfach damit hingewiesen auf den Weg zu der imaginativen Welt. Und deshalb ist dieses «Märchen» von der grünen Schlange und der schönen Lilie so außerordentlich wichtig, weil es zeigt, daß Goethe aus seinem Ringen heraus, wie er es auch in seinen «Faust» gelegt hat, gerade in einem wichtigsten Momente sich auf den Weg zu den Imagi-nationen hin gedrängt fühlte.

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Goethe wäre es philosophisch erschienen, wenn man gesagt hätte:

Im Menschen wirken zusammen Denken, Fühlen und Wollen. - So hat er nicht gesagt, sondern er stellte dar, wie an einem gewissen Orte die drei Könige vorhanden sind, der goldene, der silberne und der eherne König. In diesen Bildern liegt für ihn etwas, was sich in Begriffen nicht ausdrücken läßt. Wir sehen also Goethe auf dem Wege zum imagina­tiven Leben hin. Und hier berühren wir eine der allerallertiefsten Fra­gen, die Goethe eigentlich beschäftigten. Es ist bei Goethe so, daß er über die eigentliche Tiefe der Frage wohl überhaupt zu niemandem gerne sprach. Aber man kann erkennen, wie ihn diese Frage beschäf­tigte. An den mannigfaltigsten Stellen kommt es heraus, wie ihn die Frage beschäftigte: Was hat der Mensch eigentlich davon, wenn er von seinem Denken aus hinter sein eigenes Wesen kommen will, von jenem Denken, zu dem eben der Intellektualismus gekommen ist? Was hat der Mensch davon? - Manchmal tritt die ganze Schwere dieses Erden-rätsels -, das ja natürlich ein Epochenrätsel ist, denn es konnte dieses Rätsel in der starken Form eben nur in dieser Epoche hervortreten - in paradoxen Worten auf. So zum Beispiel lesen Sie im «Faust»:

Die hohe Kraft

Der Wissenschaft -

Der ganzen Welt verborgen!

Und wer nicht denkt,

Dem wird sie geschenkt,

Er hat sie ohne Sorgen.

Es ist ein außerordentlich tiefes Wort, wenn es auch die Hexe sagt:

Die hohe Kraft der Wissenschaft - der ganzen Welt verborgen! Wer nicht denkt - also dem, der nicht denkt -, dem wird sie geschenkt! Man kann also eigentlich noch so viel denken, so bleibt einem die hohe Kraft der Wissenschaft verborgen. Wenn man es dazu bringt, nicht zu denken, da wird sie einem geschenkt: man hat sie ohne Sorgen. Man müßte also eigentlich die Kraft entwickeln, nicht zu denken, in irgend­einer kunstvollen Weise nicht zu denken, um - nicht etwa zu der Wissenschaft zu kommen, zu der kann man ja natürlich nicht ohne Denken kommen-, aber um zu der Kraft der Wissenschaft zu kommen.

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Diese Kraft der Wissenschaft, Goethe weiß, daß sie in dem Men­schen wirkt. Er weiß, sie wirkt schon in dem kleinen Kinde, das noch nicht denkt. Man hat es mir ja besonders übelgenommen, daß ich in meinem Buche «Die geistige Führung des Menschen und der Mensch­heit» gleich auf den ersten Seiten darauf aufmerksam gemacht habe, daß, wenn der Mensch durch seine Gedanken all die geistvollen Dinge in der Gestaltung des menschlichen Leibes ausführen müßte - durch die Kraft, die auch in der Wissenschaft waltet, bewußt ausführen wollte -, er schon recht alt werden könnte, und er würde doch nicht zu jenen feinen plastisch-künstlerischen Gestaltungskräften kommen! So ist ja die Kraft der Wissenschaft schon notwendig, um dieses Gehirn in den ersten kindlichen Jahren von einem ziemlich formlosen Klum­pen zu jener grandiosen Gestaltung zu bringen, in die es eben gebracht werden muß.

Es ist ein Problem, das Goethe tief beschäftigt. Natürlich, ein bloßes stumpfes Nichtdenken meint er nicht, aber er ist sich klar darüber:

Wenn man sich durch das intellektualistische Denken nicht den Zu­sammenhang mit der Kraft der Wissenschaft stört, dann muß man zu ihr kommen. - Eigentlich läßt er den Faust von Mephisto aus die­sem Grunde in die Hexenküche führen. Über diese Dinge wird nur immer kommentarisch über die Ecke herüber geredet, verrenkt geredet. Man kennt Goethe schlecht, wenn man das, was er selbst in einer sol­chen Szene wie in der Hexenküche will, nicht mit einem gewissen Emp­finden des Goetheschen Wesens verstehen will. Faust wird der Ver-jüngungstrank gereicht. Gewiß, das ist durchaus in realistischem Sinne aufzufassen, daß er einen solchen Verjüngungstrank bekommt; aber wenn man sich Goethe danebenstehend denkt und die Hexe sagt:

Du mußt verstehn!

Aus Eins mach Zehn,

Und Zwei laß gehn,

Und Drei mach gleich,

So bist du reich.

Verlier die Vier!

Aus Fünf und Sechs -

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So sagt die Hex -

Mach Sieben und Acht,

So ist's vollbracht:

Und Neun ist Eins.

Und Zehn ist keins.

Und wenn man Goethe, so wie er war, empfinden kann, so muß man eben sagen: Es hätte nun einer kommen können und fragen: Warum lassen Sie denn da das Hexen-Einmaleins sagen? - Dann würde Goethe vielleicht gesagt haben, wenn er dazu aufgelegt gewesen wäre, denn er sprach über diese Dinge nicht gerne: Ja, die hohe Kraft der Wissen­schaft, der ganzen Welt verborgen! und wer nicht denkt, dem wird sie geschenkt. Nun, das Denken wird einem vergehen, wenn einem gesagt wird: Aus Eins mach Zehn, und Zwei laß gehn, und Drei mach gleich, so bist du reich - und so weiter: da hört das Denken auf! Da kommt man schon in einen solchen Zustand hinein, daß man die hohe Kraft der Wissenschaft ohne das Denken geschenkt bekommen kann. - Diese Dinge spielen natürlich immer in den Goetheschen «Faust» und in die Goethesche Dichtung hinein.

Also Goethe stand vor diesem Problem, das für ihn etwas außer­ordentlich Tiefes war. Denn, was hat der Faust eigentlich nicht, und was bekommt er durch die Hexenküche? Was hat er vorher nicht? Wenn Sie sich diesen Faust, wie er etwa der Lehrer des Hamlet gewe­sen sein kann, denken, der sich angewidert fühlt von Philosophie, Juristerei, Medizin und Theologie, der zu der Magie greift, wenn Sie ihn sich vorstellen, wie er dann auch in der Osterszene vor uns steht, dann müssen Sie sich sagen: Eines fehlt jedenfalls diesem Faust, eines, was Goethe hatte. Goethe kam nie zurecht damit; er fühlte sich als Faust, aber er mußte sich sagen: Ja, das alles ist in mir, was ich da in diesen Faust hineingelegt habe, aber ich habe noch etwas anderes in mir. Darf ich denn das haben? - Der Faust hat nämlich keine Phanta­sie, und Goethe hatte Phantasie. Die Phantasie bekommt nämlich Faust erst durch die Hexenküche, durch den Verjüngungstrank. Goethe hat sich gewissermaßen die Frage beantwortet: Wie ist es, wenn man mit Phantasie in die Weltengeheimnisse eindringen will? - Denn das war die hervorragendste Kraft, die Goethe selber hatte.

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Nun war er sich in seiner Jugend durchaus nicht klar, ob man da nicht ganz ins Leere tappt, wenn man mit der Phantasie in Welten-geheimnisse hineinblickt. Das ist schon die Faust-Frage. Denn die ganz trockene Intellektualität, die lebt nur in Spiegelbildern. Sobald man zur Phantasie kommt, so ist man schon um eine Stufe näher den Wachs­tumskräften des Menschen, den Kräften, die einen durchziehen. Da kommt man schon, wenn auch nur von der Ferne, in die plastischen Kräfte hinein, die zum Beispiel auch das Gehirn in der Kindheit pla­stisch machen. Da ist ja nur noch eine Stufe von der Phantasie zur Imagination! Aber das war gerade für Goethe die Hauptfrage.

Nun läßt er den Faust in die Hexenküche eintreten, damit er das verflixte Denken ablegt, das zwar zur Wissenschaft, aber nicht zur Kraft der Wissenschaft führt, damit er gewissermaßen leben darf im Reiche der Phantasie. Und von da ab entwickelt Faust eben die Kraft der Phantasie auch. Goethe erwirbt gewissermaßen für den Faust das Recht zur Phantasie durch den Trank in der Hexenküche. Und die Verjüngung besteht ja in nichts anderem, als daß Faust nicht bei den trockenen Kräften bleibt, die er als etwa, sagen wir, fünfunddreißig-jähriger Professor hatte, sondern daß er zurückkehrt zu seiner Jugend und die jugendlichen Gestaltungskräfte, die Wachstumskräfte herauf-nimmt in die Seele. Denn wo Phantasie vorhanden ist, da leben eben die jugendlichen Gestaltungskräfte in dem Seelischen fort.

Das alles war in Goethe veranlagt, denn die Hexenküche hat Goethe schon etwa 1788 geschrieben. Das war also in ihm veranlagt, es bro­delte in ihm, das verlangte nach Lösung. Aber durch Schiller bekam er einen neuen Impuls. Er wurde hingedrängt auf den Weg nach der Imagination hin. Schiller selbst lag es zunächst noch fern, nach der Imagination hin zu gehen. Aber Schiller suchte dann im «Wallenstein» und in der «Braut von Messina» das Kosmische. Er versuchte, hinter die unterbewußten Kräfte des menschlichen Wesens zu kommen in der «Jungfrau von Orleans».

Die ganze Tiefe des Ringens, die da waltete, sieht man ein, wenn man sich sagt: Man nehme einmal das «Demetrius»-Fragment, von dem Schiller ja mit dem Tode hinweggegangen ist. Dieses «Demetrius»­Fragment übersteigt an dramatischer Kraft alles, was Schiller sonst

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geschrieben hat. Schiller hatte im Pulte noch den Entwurf zu den «Maltesern». Dieses Malteserdrama, wenn es Schiller hätte gestalten können, wäre wahrscheinlich auch etwas ganz Großartiges geworden. Der Kampf der Malteserritter, dieses geistigen Ritterordens ähnlich dem Templerorden, gegen den Sultan Soliman - dabei entfaltet sich das ganze Prinzip des Malteserordens. Es ist zweifellos, wenn Schiller das einmal ausgeführt hätte, wäre er vor die Frage gedrängt worden:

Wie kann man wiederum dazu kommen, die Anschauung der geistigen Welt hereinzubringen in das menschliche Schaffen? Denn die Frage stand ja schon ganz lebendig vor ihm da.

Und Schiller stirbt hinweg. Goethe hat die Anregung nicht weiter. Später, angeregt durch Eckermann - der ja weniger geistvoll als Schiller war, um das so auszudrücken-, vollendete er seinen «Faust»; den zweiten Teil, etwa vom Jahre 1824 an, bis zum Tode. Kurz vor dem Tode siegelt er ihn ja ein. Es ist ein nachgelassenes Werk. Wir ha­ben in der verschiedensten Weise diesen zweiten Teil des «Faust» be­trachtet. Tief bedeutsame, grandiose Einblicke in mannigfaltige Ge­heimnisse der geistigen Welt, das ist die eine Seite. Man kann natürlich nach dieser Seite hin nicht genug tun, man muß versuchen, ihn von den höchsten Standpunkten aus zu verstehen. Aber es kommt noch etwas anderes in Betracht. Goethe fühlte sich gedrungen, diese Faust-Dich­tung zu Ende zu führen. Betrachten wir einmal die Entwickelung der Faust-Philosophie. Wir könnten noch eine Phase weiter zurückgehen. In der Cyprianus-Gestalt habe ich Ihnen eine solche Phase vorgeführt, und im 9. Jahrhundert entsteht die Bearbeitung der Theophilus-Sage. Theophilus ist durchaus eine Art Faust des 8., 9. Jahrhunderts. Er geht einen Pakt, einen Vertrag ein mit dem Satan, und es ergeht ihm ganz ähnlich wie dem Faust.

Nehmen wir diesen Theophilus, diesen Faust des 9. Jahrhunderts, und nehmen wir den sagenhaften Faust des 16. Jahrhunderts, an den Goethe doch angeknüpft hat. Das 9. Jahrhundert verdammt tief den Pakt mit dem Teufel. Theophilus wendet sich zuletzt an die Jungfrau Maria und wird erlöst von allem, dem er verfallen wäre, wenn der Vertrag mit dem Satan in Erfüllung gegangen wäre. Das 16. Jahrhun­dert macht die Faust-Sage protestantisch, das heißt, es wird nicht in

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positiver Weise dargestellt, wie in der Theophilus-Sage, wie die An­lage zur Verdammung da ist, aber die Erlösung durch die Jungfrau Maria dazukommt - es wird protestiert. Es wird in der Weise, wie es dem Protestantismus entspricht, die Faust-Sage dargestellt. Faust schließt seinen Pakt mit dem Teufel und verfällt ihm auch.

Lessing schon und Goethe machen wiederum dagegen Protest. Das kann nicht so sein, daß der Mensch, der eben mit den weltlichen Mäch­ten und innerhalb der Wirkungsweise der weltlichen Mächte, sich in die Hand der Satansgestalt begibt und auf dessen Pakt eingeht, daß ein solcher Mensch, weil er aus Wissensdrang handelt, durchaus zu­grunde gehen müsse. Goethe protestiert gegen diese Auffassung, gegen diese protestantische Auffassung der Faust-Sage. Er will Faust retten. Während er im ersten Teil die Sache noch so dargestellt hat, daß er eigentlich die Konzession an den Untergang des Faust gemacht hat -denn im ersten Teil geht ja Faust zugrunde -, kann aber Goethe dabei nicht stehenbleiben: Faust muß gerettet werden. Nun führt uns Goethe in grandioser Weise durch die Erlebnisse, die im zweiten Teil des «Faust» geschildert sind. Wir sehen die innere kraftvolle Wesenheit des Menschen sich geltend machen: «In deinem Nichts hoff ich das All zu finden!» Man braucht sich nur an solche Worte zu erinnern, die eine gesunde, kraftvolle Menschennatur dem Verderber entgegen­stellt.

Wir sehen, wie Faust die ganze Geschichte, bis zum Griechentum, durchmacht. Faust darf nicht zugrunde gehen. Und Goethe macht alle Anstrengungen, zu Bildern zu kommen, zu Bildern, die zwar in anderer Form gestaltet sind, aber die er doch aus dem katholischen Kultus, aus der katholischen Symbolik nimmt. Und wenn Sie das, was speziell goethisch-imaginativ ist, zu dem er sich durch ein ganzes, so reiches Menschenleben, wie es eben das Goethe-Leben war, hinaufgearbeitet hat, wenn Sie das wegnehmen, dann sind Sie wieder bei der Theo­philus-Sage, dann sind Sie wieder zurückgekehrt zu dem 9. Jahrhun­dert. Denn es ist zuletzt die Himmelskönigin, die sich im Glanze naht. Und wenn man das spezifisch Goethesche wegnimmt, hat man wie­derum den Theophilus der seligen Nonne Hroswitha vor sich, natürlich nicht genau dasselbe, aber doch etwas, das eben noch nicht

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zu einer selbständigen Gestaltung des dichterischen Problems gelangt ist, sondern das noch Anleihen machen muß bei dem Früheren.

Sie sehen also, wie bei einer so großen Persönlichkeit wie Goethe alles Streben darauf gerichtet ist, wiederum einen Zugang zur geistigen Welt zu finden. Im «Märchen» von der grünen Schlange und der schö­nen Lilie sucht er die Imagination, die den Menschen begreiflich ma­chen soll. In seinem «Faust» sucht er auch zur Imagination zu kom­men, aber er kann nicht zur selbständigen Imagination kommen, er muß noch die katholische Symbolik zu Hilfe nehmen. So daß sogar sein Schlußtableau noch eine Ähnlichkeit mit der ungeschickten Dar­stellung der Hroswitha aus dem 9. Jahrhundert verrät, nur natürlich ausgeführt von einem der größten Dichter.

Man muß schon auf diese verschlungenen Wege, welche die geistige Geschichte der Menschheit gegangen ist, hinweisen, um zu einem Be­griff davon zu kommen, was alles in dieser Geistesgeschichte wirkt. Denn dann erst geht einem auf, wie, ich möchte sagen, durch die Menschheitsgeschichte hindurch Karma wirkt. Man braucht sich nur einmal hypothetisch vor Augen zu stellen, daß die Dinge, die nicht geschehen sind, geschehen wären - nicht um rückwärts die Geschichte zu korrigieren, sondern um sich das, was eben da ist, begreiflich zu machen. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Schiller, der bei seinem Tode noch ein junger Mann war, hätte weitergelebt. Die «Malteser» hatte er impulte; den «Demetrius» arbeitete er eben aus.ImZusammen­hang mit Goethe entwickelte sich gerade die höchste Geistigkeit in ihm, die erst bei beiden zusammen lebt. Es riß der Faden. Was Goethe an­strebte, was er nicht vermochte, man sieht es, wenn man den zweiten Teil des «Wilhelm Meister», wenn man die «Wahlverwandtschaften» nimmt. Goethe strebte überall danach, den Menschen einzugliedern in einen großen geistigen Zusammenhang. Allein konnte er es nicht mehr. Schiller war ihm genommen.

Es drückt sich in diesem Ganzen eben aus, wie die neuere Geistes-entwickelung der Menschheit nach einem gewissen Ziele hingeht, nach dem Ziele, den Menschen in seiner Verwandtschaft mit der geistigen Welt zu suchen, wie aber überall Hemmnisse da sind. Und so wird Ihnen vielleicht so etwas wie der Goethesche «Faust» in seiner ganzen

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Größe erst dadurch anschaulich, daß man sieht, was er nicht hat, daß man sieht, auf welchem Wege die ganze Geistesentwickelung der Menschheit war. Ja, man kommt natürlich nicht dadurch zur Erkennt­nis dessen, was an geistiger Größe in der Menschheitsentwickelung vor­handen ist, daß man bloß sagt: Ein unvergleichlich großes Werk! - daß man dann alle möglichen Erklärungen gibt, sondern nur dadurch kommt man dazu, daß man eben dieses Ringen des ganzen Menschen-geistes nach einem gewissen Entwickelungsziele hin ins Auge faßt. Das kann einem bei diesen Dingen ganz besonders stark entgegentreten. Und dann, im 19. Jahrhundert, da reißt der Faden gänzlich ab! Das 19. Jahrhundert, auf naturwissenschaftlichem Gebiete so großartig, schläft ja auf geistigem Gebiete. Es kommt höchstens dazu, daß dann aus höchster naturwissenschaftlicher Weisheit etwas ausgesetzt wird an einer Schöpfung, wie es der «Faust» ist.

Goethe braucht Schiller, um Faust, den er zuerst als Persönlichkeit gestaltet hat, hineinzustellen in ein großes umfassendes Weltentableau. Man kann fühlen, was Goethe vielleicht noch aus dieser Faust-Philo­sophie gemacht hätte, wenn er Schiller nicht so früh verloren hätte. Dann kommen diejenigen, die über die Dinge nachdenken und sagen:

«Faust» ist ein mißliches Werk, Goethe hat eigentlich die ganze Sache verfehlt. Hätte er die Sache richtig gemacht, so hätte Faust Gretchen geheiratet, sie ehrlich gemacht, hätte die Elektrisiermaschine und die Luftpumpe erfunden; dann wäre der richtige Faust vor die Menschheit hingestellt worden!

Ein großer Ästhetiker, Friedrich Theodor Vischer, sagte: Dieser zweite Teil des «Faust», der ist ja nichts. Er entwirft einen Plan, wie er hätte sein sollen: so eine Art besserer Eugen Richter aus dem 19. Jahr­hundert ist da herausgekommen, so ein Parteimann, der nur etwas mas­siver ist, als dann im 19. Jahrhundert die Parteimänner gewirkt haben. Nicht von einem unbedeutenden Menschen, sondern von einem sehr bedeutenden Menschen - denn ein solcher war Friedrich Theodor Vischer - rührt ja das Wort her: Der zweite Teil des «Faust» ist ein zusammengeschustertes, zusammengeleimtes Machwerk des Alters!

Es war überhaupt der Zusammenhang mit dem Streben nach der Geistigkeit verloren. Man schlief in bezug auf die Geistigkeit. Aber

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gerade aus all diesen Verhältnissen heraus muß der Mensch der Gegen­wart die Aufgaben finden bezüglich eines neuen Weges zur geistigen Welt. Wir können uns natürlich nicht etwa darauf berufen:

Die hohe Kraft

Der Wissenschaft,

Der ganzen Welt verborgen!

Und wer nicht denkt,

Dem wird sie geschenkt.

Er hat sie ohne Sorgen.

Wir können nicht beschließen, aufzuhören zu denken, denn das Denken ist einmal eine Kraft, die heraufgekommen ist mit dem fünften nachatlantischen Zeitraum, und diese Kraft muß geübt werden. Aber sie muß eben entwickelt werden nach derjenigen Seite hin, die im Grunde genommen bei Goethe schon mit dem «Märchen» von der grünen Schlange und der schönen Lilie begonnen war. Sie muß geübt werden nach der Imagination hin. Man muß sich klar sein darüber: die Verstandeskraft verscheucht den Geist; aber wenn man den Verstand selber entwickelt zur Imagination hin, so kommt man wiederum an den Geist heran. Das ist es, was erkannt werden kann aus einer lebendigen Betrachtung dessen, was sich eben auf dem Gebiete, das wir hier be­rührt haben, abgespielt hat.

DREIZEHNTER VORTRAG Dornach, 26. Februar 1922

#G210-1967-SE204 Neue und alte Einweihungsmethoden

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DREIZEHNTER VORTRAG

Dornach, 26. Februar 1922

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Die beiden vorangehenden Vorträge waren Betrachtungen gewidmet, die darauf hinweisen sollten, wie jener gewaltige Umschwung, der in der ganzen Seelenverfassung der zivilisierten Menschheit mit dem

15. Jahrhundert eingetreten ist, also mit dem Übergange von dem vierten nach dem fünften nachatlantischen Zeitraum, nachgewirkt hat in bedeutenden Persönlichkeiten. Und ich darf vielleicht das, was ich in diesen beiden Betrachtungen ausgeführt habe, mit wenigen Worten einleitend heute noch einmal skizzieren. Ich habe darauf hingewiesen, wie intensiv eine Persönlichkeit wie Goethe das Nachzittern jenes Um­schwunges fühlte, wie er fühlte, als sicheres Erlebnis zieht jetzt in die menschliche Seele das Verstandesmäßige, das Intellektualistische ein; wie er fühlte, man muß zurechtkommen in der Seele mit diesem Intel­lektualistischen, und wie er noch gewisse Ahnungen davon hatte, daß diesem Intellektualistischen vorangegangen ist ein unmittelbarer Ver­kehr des Menschen mit der geistigen Welt. Wenn es auch nicht so war wie in den Zeiten des alten atavistischen Hellsehens, war immerhin vorhanden eine Art Rückblick auf die Zeit, in welcher die Menschen noch, wenn sie von Erkenntnis sprachen, sich bewußt waren, daß eine solche Erkenntnis nur möglich ist, wenn man gewissermaßen aus der Welt der Sinne wegtritt, um die hinter der Sinneswelt befindlichen geistigen Wesenheiten irgendwie zu schauen.

Goethe hat diese ganze Empfindungswelt seiner Seele in seine Faust-­Figur gelegt. Wir sehen, wie Faust unbefriedigt ist von dem bloßen Intellektualismus, der ihm entgegengetreten ist in den vier Fakultäten:

Habe nun, ach! Philosophie,

Juristerei und Medizin,

Und, leider, auch Theologie!

Durchaus studiert...

Das heißt: Habe den ganzen Komplex des intellektualistischen Wissens auf meine Seele geladen und stehe nun mit dem vollständigsten Zweifel da; drum hab' ich mich der Magie ergeben.

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Also Goethe legt in diese Faust-Gestalt das Zurückgehen zu dem Verkehr mit der geistigen Welt hinein wegen der Unbefriedigtheit in den intellektualistischen Wissenschaften. Das stand dem jungen Goethe ganz deutlich vor der Seele, das wollte er in seiner Faust-Figur zum Ausdrucke bringen. Und indem er dieses, sein eigenes Seelenrin-gen, darstellen wollte, griff er dazu, als Repräsentanten dafür eben die Faust-Gestalt zu nehmen. Und ich sagte, wenn das auch bei dem hi­storischen, mythologischen Faust nicht der Fall ist, in bezug auf das, was Goethe geschildert hat, können wir uns den Faust vorstellen als den Professor, der etwa im 16. oder auch im 17. Jahrhundert in Witten­berg gelehrt haben könnte, und der ja «an die zehen Jahr» seine Schü­ler kreuz und quer und grad und krumm an der Nase herumgeführt hat. Und man kann schon hinschauen, wenn man einmal diese Hypo­these aufstellt, wie es da in diesem Bildungsgange ausgesehen hat, wie da vermischt war das neue Intellektualistische mit dem, was noch hin­wies in die alten Zeiten, wo noch der Verkehr mit der geistigen Welt und mit den geistigen Schöpferkräften für den Menschen möglich war.

Nun fragte ich, ob wir außer dem, was uns in der Faust-Dichtung vorgeführt wird, etwa im weiteren Umkreis auf Wirkungen stoßen können von dem, was so jemand wie Faust gelehrt haben könnte im 15., 16., 17. Jahrhundert. Und da stießen wir denn auf Hamlet und konnten sagen: die Gestalt, die Shakespeare aus dem Hamlet gemacht hat - den er seinerseits wiederum aus den dänischen Sagen genommen, aber umgestaltet hat -, diese Gestalt des Hamlet erscheint uns als der Schüler des Faust, als einer derjenigen, die gerade eben von solchen Persönlichkeiten, wie der Faust war, die zehn Jahre an der Nase herumgezogen worden waren. Wir sehen dann diesen Hamlet, wie er selber hineingestellt ist in den Verkehr mit der geistigen Welt, wie ihm sein Auftrag wird aus der geistigen Welt heraus, wie er fortwährend aber gestört wird durch das, was er sich durch die intellektualistische Bildung angeeignet hat. Kurz, wir sehen gewissermaßen den ganzen Übergang vom vierten in den fünften nachatlantischen Zeitraum auch an dieser Figur des Hamlet.

Und ich konnte weiter sagen: Wenn man nun eingeht auf die ganze

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Stimmung, auf die künstlerische Gestaltung in den Shakespeareschen Dramen, in den Shakespeareschen Königsdramen: findet man da, daß in dem künstlerischen Schaffen des Dichters der Shakespeareschen Dramen selber diese Dämmerstimmung des Übergangs liegt. Ich machte dann darauf aufmerksam, wie in einer gewissen Weise gerade in Mitteleuropa Goethe und Schiller mit ihrem ganzen Seelenleben drinnengestanden haben in dem Nachzittern dieses Überganges, wie sie aber in einem gewissen Sinne nicht akzeptieren wollten, was die intellektualistische Weltanschauung seither im Leben der Menschen gestiftet hatte. Dadurch wurden sie zurückgeführt zu Shakespeare, weil sie ja bei Shakespeare die Kunst fanden, im «Hamlet», in «Macbeth» und so weiter, heranzurücken an die geistige Welt; weil sie, von da ausgehend, den Blick auf die nun schon für die intellektua­listische Anschauung verborgenen geistigen Mächte werfen konnten.

Goethe hat das in seinem «Götz von Berlichingen» getan, indem er gewissermaßen Partei nimmt noch für die alte Zeit des vierten nachatlantischen Zeitraumes in ihrem Nachklingen, ablehnend, was durch den Intellektualismus heraufgekommen ist. Und Schiller stellt sich geradezu mit seinen Jugenddramen, namentlich mit den «Räubern», so hinein, daß er zwar nicht auf das Übersinnliche hinweist, ganz rea­listisch sein will, daß wir aber fast bis auf die Worte hin in der Charakteristik des Karl Moor [durchaus das Ahrimanische finden, während wir in der Charakteristik des Franz Moor]* etwas nachklingen haben von dem luzi­ferischen Element, wie es in Miltons «Verlorenem Paradies» waltet. Kurz, wir sehen, trotz dem Realismus, eine Art des Zurückstrebens nach einer solchen Auffassung der Wirklichkeit, daß man in dieser Auffassung durchschimmern sieht die geistigen Mächte und die gei­stigen Kräfte.

Ich deutete weiter an, wie im Westen Shakespeare in der Lage war, wenn ich mich so ausdrücken darf, in vollem Einklang mit seiner so­zialen Umgebung künstlerisch zu schaffen. Zunächst, wenn wir das für Shakespeare charakteristischste Hamlet-Drama nehmen, sehen wir, wie er die Handlung überall ganz nahe heranrückt an die über­sinnliche Welt; und ebenso in «Macbeth». Wir sehen, wie er im «König Lear» zum Beispiel diese übersinnliche Welt mehr in die menschliche Persönlichkeit hereinzieht, aber in die abnorme menschliche

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*Anmerkung VGD: der in Klammer gestellte Text wurde zugefügt gemäß Sonderhinweis in der Aufl. 2001 von M.M.

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Persönlichkeit, in das Element des Wahnsinns. Wir sehen, wie er dann in Königsdramen zwar zur Realistik übergeht, wie aber doch eigentlich in ihnen eine einzigartige lange dramatische Entwickelungsdarstellung waltet, wie er überall das Walten von Schicksalsmächten darinnen hat, aber so, daß das alles zuletzt ausläuft in das Zeitalter der Königin Elisabeth.

Man möchte sagen: Was in Shakespeares Dramen waltet, das ist ein Rückblick auf die alte Zeit, die seine Gegenwart herbeigeführt hat, aber so, daß diese Gegenwart akzeptiert wird; daß alles, was künst­lerisch aus den alten Zeiten dargestellt wird, eine Art von Begreiflichmachen der Gegenwart darstellt. Man kann sagen, Shakespeare schil­dert die Vergangenheit; aber er schildert sie so, daß er sich in seine soziale Gegenwart des Westens so hineinstellt, daß nunmehr ein ge­wisser Zeitraum erreicht ist, in dem die Dinge laufen können, wie sie eben ablaufen. Wir sehen, daß eine gewisse Befriedigung eintritt gegenüber dem, was nun gekommen ist in bezug auf die äußere Welt. Der Intellektualismus in der sozialen Ordnung wird akzeptiert vom Menschen der äußeren physischen Erdenwelt, vom sozialen Menschen, während der künstlerische Mensch in Shakespeare zurückgeht und eigentlich das darstellt, was aus dem Übersinnlichen heraus das bloße Intellektualistische geschaffen hat.

Wir sehen, wie das in Mitteleuropa dann eine Unmöglichkeit wird. Da können sich Goethe und Schiller, und vorher schon Lessing, nicht so in die soziale Ordnung hineinstellen, daß sie sie akzeptieren. Sie gehen alle auf Shakespeare zurück, aber auf den Shakespeare, der sel­ber zurückgegangen ist zum Vergangenen. Sie möchten, daß das Ver­gangene eine andere Fortsetzung finde als die ihrer Umgebung. Shakespeare ist gewissermaßen zufrieden mit seiner Umgebung; sie sind unzufrieden mit ihrer Umgebung.

Goethe schafft aus dieser geistigen Revolutionsstimmung heraus das Götz-Drama, Schiller schafft seine Jugenddramen. Wir sehen, wie hier die äußere Erdenwirklichkeit kritisiert wird und wie im Künst­lerischen ein Auf- und Abwogen desjenigen wirkt, was nur in der Idee erreicht werden kann, was nur im Geiste erreicht werden kann. So daß man sagen kann: In Goethe und Schiller ist nichts vorhanden

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von einem Akzeptieren der Gegenwart, sondern nur, daß man sich über das, was in der äußeren sinnlichen Wirklichkeit ist, trösten muß mit dem, was aus der geistigen Welt herunterwirkt. Shakespeare leitet gewissermaßen das Übersinnliche in das Sinnliche herein. Goethe und Schiller können das Sinnliche nur akzeptieren, indem sie immer das Geistige ins Auge fassen. Man hat also in Goethes und Schillers Dra­men ein Zusammenwirken des Geistigen mit dem Physischen, im Grunde genommen eine unaufgelöste Disharmonie. Und ich sagte dann: Ginge man weiter nach Osten hinüber, so würde man finden, daß das, was geistig ist, überhaupt gar nicht mehr auf der Erde ist. Der Osten von Europa hat nicht so etwas geschaffen, in das hereinspielt das Geistige, sondern der Osten sieht hinauf zu dem Gei­stigen; er flieht die äußeren Wirkungen und geht hinauf zu dem Gei­stigen als dem Erlösenden.

So konnte ich Ihnen sagen, indem ich das Ganze dann in ein Bild, in eine Imagination kleidete: Wenn wir uns Faust in Wittenberg vor­stellen als Lehrer des Hamlet, dann sehen wir unten auf der Schul­bank den Hamlet, zuhörend, dann zurückgehend nach dem Westen und sich in die westliche Zivilisation wieder einlebend. Wenn wir aber diejenige Wesenheit aufsuchen wollten, welche nach dem Osten hätte gehen können, nachdem sie im Auditorium des Faust zugehört hätte, so müßten wir einen Engel suchen, der von der geistigen Welt aus dem Faust zugehört hätte und dann nach dem Osten gegangen wäre. So daß alles das, was er nun vermittelt hätte, sich nicht so ab­gespielt hätte, wie Hamlets Taten und Handlungen sich auf dem phy­sischen Plane abspielen, sondern das würde sich über den Menschen, in der geistigen Welt, abgespielt haben.

Und ich führte dann gestern aus, wie aus dieser Stimmung heraus, gerade in der Zeit der Bekanntschaft mit Schiller, Goethe dazu ge­drängt worden ist, das Wesen des Menschen wiederum heranzurücken an die geistige Welt; wie er - denn er konnte es nicht so theoretisch ausführen wie Schiller als Philosoph in seinen Ästhetischen Briefen -genötigt war, es ins Imaginative hineinzutreiben in dem «Märchen» von der grünen Schlange und der schönen Lilie. Wie dann weiter Schiller dazu genötigt worden ist, das äußere Wirkliche des Menschenlebens

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auch wiederum an das Geistige heranzurücken, und zwar, ich möchte sagen, experimentierend, indem er im «Wallenstein» den Ge­stirnglauben des Wallenstein walten läßt, der wie ein Schicksal über der Persönlichkeit Wallensteins wirkt, indem er in der «Braut von Messina» ein Schicksal geradezu in Verwobenheit mit dem Sternenglauben wirken läßt. So daß also diese Persönlichkeiten genötigt wa­ren, immer wieder und wiederum sich zurückzuwenden zu jener Zeit, in der die Menschen noch einen unmittelbaren Verkehr mit der gei­stigen Welt hatten.

Ich habe dann gesagt, daß Goethe und Schiller doch eben in einer Zeit lebten, in der es noch nicht möglich war, aus der modernen See­lenverfassung heraus wiederum den Zugang zur geistigen Welt zu fin­den. Schiller namentlich hätte bei seinem philosophischen Streben, wenn er länger gelebt hätte - man sieht es aus dem Malteserfrag­ment -, zweifellos, wenn er dieses Drama zu Ende geführt hätte, sich einen Blick verschafft in die Art und Weise, wie gerade innerhalb eines solchen Ordens wie im Johanniter- oder Malteserorden oder im Templerorden, wie da die geistigen Welten mitgewirkt haben in den Taten der Menschen. Aber es war eben Schiller nicht gegönnt, seine «Malteser» als fertiges Drama vor die Welt hinzustellen; er ist zu früh gestorben. Goethe hingegen konnte nicht bis zu einem wirklichen Er­greifen der geistigen Welt vorrücken, daher wandte er sich zurück. Und wir können sagen: Allerdings in wesentlich metamorphosierter Umgestaltung ist Goethe doch zurückgegangen zu dem katholischen Symbolismus, zu dem katholischen Kultus, zu dem Bildkultus. So daß wir förmlich an die Theophiluslegende der guten Nonne Hroswitha aus dem 9. Jahrhundert erinnert werden, wenn auch Goethe Faust zu­letzt in einem christianisierenden Tableau erlöst sein läßt. Man möchte sagen, man spürt noch - wenn auch allerdings mit Goetheschem gran­dios-künstlerischem Sinn ausgestaltet - in dem: «Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan!» das Hinaufziehen des Theophilus aus dem 9. Jahr­hundert durch die Jungfrau Maria.

Wenn man diese Dinge überblickt, dann sieht man tief hinein, wie in dem Intellektualismus gerungen wird, in jenem Intellektualismus, der den Menschen innerlich den Gedankenleichnam erleben läßt dessen,

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was der Mensch ist, bevor er durch die Geburt beziehungsweise durch die Konzeption heruntersteigt in sein physisches Erdenleben. Was als Gedanke in uns lebt, wenn wir es nicht befruchten durch die Erkenntnisse der Geisteswissenschaft, ist ja bloß ein Geistesleichnam. Was wir geistig eigentlich sind bis zum Erdenleben hin, das stirbt, in­dem es in den Leib einzieht, und den Leichnam davon tragen wir in uns. Es ist unsere irdische Gedankenkraft, die Gedankenkraft unseres gewöhnlichen Bewußtseins.

Wie kommt das wieder zum Leben, was eigentlich tot ist in geistiger Beziehung? Das ist die große Seelenfrage, die in Goethe und Schiller lebt. Sie drücken das nicht philosophisch aus, sie haben es aber in der Empfindung. Sie richten ihre Dichtungen danach ein. Aber sie haben diese Empfindung: Da ist etwas Totes, wenn wir bloß bei dem Intel­lektualistischen bleiben. Wir müssen es zum Leben erwecken. Aus die­ser Empfindung streben sie zurück zum Sternenglauben, zu allem möglichen, um Geist hereinzubekommen in das, was sie darstellen wollen. Es ist schon notwendig, daß man darauf sieht, wie in solchen hervorragenden Persönlichkeiten sich eben der Weltenlauf darstellt, der hereinströmt in ihre Seelen und ihr eigenes Ringen bedeutet. Man begreift die Gegenwart nicht, wenn man nicht sieht, wie das, wonach in der Gegenwart gestrebt werden muß - ein neuerliches Erreichen der geistigen Welt -, wie das gerade das große Problem bei Goethe und bei Schiller bildete.

Es ist schon so, daß mit diesem großen Umschwung im 15. Jahr­hundert, der in den gewöhnlichen landläufigen Geschichtsdarstellun­gen einfach ganz und gar unberücksichtigt bleibt, der Mensch eine ganz andere Stellung zu sich selbst gewann. Und man muß nicht ver­suchen, das mit theoretischen Begriffen einzufangen. Man muß ver­suchen, es in den Empfindungen der Menschen zu verfolgen, wie es sich vorbereitete und wie es später dann auslief, nachdem der Um­schwung sich bereits, seiner wesentlichen geistigen Kraft nach, voll­zogen hat.

An den entscheidenden Stellen der Geistesentwickelung wird auch maßgebend auf diese Dinge hingewiesen. Sehen Sie sich einmal an, wie uns dieses entgegentritt bei Wolfram von Eschenbach in seinem

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«Parzival». Sie kennen ja alle die Vorgänge des Parzival. Sie wissen, daß das Entscheidende bei Parzival in seiner ganzen Entwickelung darinnen liegt, daß er zuerst von einer Art Unterweiser die Anwei­sung bekommt, durch die Welt zu gehen, ohne viel zu fragen. In Gur­nemanz zeigt sich uns eben ein Vertreter jener alten Weltrichtung, die durchaus den Menschen noch im Verkehr mit der geistigen Welt sieht, indem er Parzival sagt: Frage nicht; denn die Fragen kommen ja im Grunde genommen aus dem Intellekt, und vor dem Intellekt fliehen die Geister. Willst du also nahekommen der geistigen Welt, so darfst du nicht fragen.

Aber die Zeit hat sich geändert, der Umschwung tritt ein. Er wird vorherverkündet: Wenn auch Parzival noch viele Jahrhunderte zu­rückversetzt werden muß, etwa ins 7. oder 8. Jahrhundert, ist es so, daß alles schon vorgelebt wurde im Gralstempel. Da sind gewisser­maßen schon die Einrichtungen der Zukunft; da muß man fragen. Denn das ist das Wesentliche, daß die Stellung des Menschen sich jetzt mit diesem Umschwung vom vierten in den fünften nachatlantischen Zeitraum ändert, und daß man vorher nicht zu fragen brauchte, daß vorher gewissermaßen das galt, was Goethe in paradoxen Worten sagt:

Die hohe Kraft

Der Wissenschaft -

Der ganzen Welt verborgen!

Und wer nicht denkt,

Dem wird sie geschenkt,

Er hat sie ohne Sorgen.

Nicht fragen, denn das Denken vertreibt die Geister! Das war vorher die richtige Ordnung, im intellektualistischen Zeitalter aber muß man durch den Intellekt, nicht durch das Herabdämpfen des Denkens, die geistige Welt wiederfinden. Da muß also gerade das Entgegengesetzte eintreten, da muß man fragen. Dieser ganze Umschwung, daß im fünften nachatlantischen Zeitraum aus dem Menschen die Sehnsucht nach dem Geiste herausgeboren werden muß in Form der Fragestel­lung, dieser ganze Umschwung tritt uns schon bei Parzival entgegen.

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Aber es tritt uns bei Parzival noch etwas anderes, sehr Merkwürdiges entgegen. Das möchte ich in der folgenden Weise charakterisieren.

Die Sprachen, wie wir sie heute haben, sind ja weit weg von ihrem Ursprunge. Sie haben sich eben weiterentwickelt. Wenn wir heute sprechen, so erinnern ja, ich habe das oftmals ausgeführt, die einzel­nen Lautzusammenhänge nicht mehr an das, was mit diesen Lautzusammenhängen bezeichnet wird. Man muß sich erst wiederum ein feineres Sprachgefühl aneignen, um in der Sprache das zu erleben, was die Sprache bedeutet. In den Ursprachen der Menschheit war das nicht so. Da hat man gewußt, wenn man irgendeinen Lautzusam­menhang hatte, wie in diesem selber dasjenige darinnen liegt, was man erlebt in dem, was er bedeutet. Heute versucht es der Dichter nachzu­ahmen, zum Beispiel «Und es wallet und siedet und brauset und zischt». Da haben wir in der Dichtersprache etwas von dem nach­geahmt, was draußen gesehen werden soll. Aber das ist eben alles schon abgeleitet; in jedem einzelnen Laute empfand man einstmals den innigsten Zusammenhang mit dem, was sich draußen abspielte. Heute können höchstens noch die Dialekte einen gewissen Anspruch darauf machen, daß man in den Worten der Dialekte diesen Zusam­menhang mit der äußeren Wirklichkeit fühlt. Aber unserer Seele steht die Sprache doch nahe. In unserer Seele bildet die Sprache ein beson­deres Element.

Daß sich das als eine tiefe Empfindung in der Seele des Menschen abgeladen hat, ist wieder eine Folge des Umschwunges vom vierten in den fünften nachatlantischen Zeitraum herein, wiederum etwas, was weder Philologie noch Geschichte berücksichtigen. Daß die Menschen noch mehr in ihrer Sprache im vierten nachatlantischen Zeitraum ge­lebt haben, im fünften gar nicht mehr, das bedingt eine andere Stel­lung des Menschen zur Welt. Denken Sie einmal, wenn der Mensch noch in der Sprache, indem er redet, mitgeht mit dem Rauschen det Wellen, mit dem Donnern und mit dem Blitz und mit alledem, was da draußen ist, wenn der Mensch, indem er seine eigenen Stimm­organe in Bewegung setzt, fühlt, wie in diesen Stimmorganen nach-zittert, was draußen geschieht, wie da der Mensch mit seinem Ich ganz anders verknüpft ist mit dem, was draußen in der Welt vorgeht!

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Und das ist es gerade, was sich immer mehr und mehr losreißt mit dem Umschwung von dem vierten in den fünften nachatlantischen Zeit­raum. Das Ich wird innerlich, und die Sprache wird mit dem Ich innerlich, daher aber auch weniger signifikant, weniger das Außere bezeichnend. Solche Dinge werden von der intellektualistisch gewor­denen Erkenntnis erst recht nicht geschaut. Man denkt kaum daran, diese Dinge zu charakterisieren; aber um das, was in der Menschheit vorgeht, wiederum richtig zu verstehen, wird man sie charakterisieren müssen.

Nun denken Sie sich einmal, was da entstehen kann. Stellen Sie sich recht lebhaft vor: Vierter nachatlantischer Zeitraum, fünfter nachatlantischer Zeitraum - natürlich werde ich jetzt alles in Extremen zu schildern haben -, der Übergang ist kein schroffer, aber um darzu­stellen, muß man gewissermaßen schroff sein. Nehmen wir an, das ist der Mensch im vierten nachatlantischen Zeitraum, das im fünften nachatlantischen Zeitraum (siehe Zeichnung links). Im vierten nach­atlantischen Zeitraum, wenn da die Dinge der Welt (g sind,dann ist der Mensch mit seinen Worten, die ich jetzt als bei ihm seiend mit die­sem Rot bezeichnen will, durch die Worte noch mit den Sachen zu­sammenhängend. Er lebt gewissermaßen sich in die Sache hinüber durch seine Worte. Im fünften nachatlantischen Zeitraum geschieht es immer mehr und mehr, daß der Mensch die Worte als etwas seelisch gewissermaßen Innerlich-Abgesondertes hat (Zeichnung rechts).

#Bild S. 213

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Führen wir uns das, was da vorliegt, einmal etwas deutlich, ich möchte sagen grotesk-deutlich vor die Seele. Wenn wir den Menschen da - im vierten nachatlantischen Zeitraum - anschauen, können wir sagen: Der lebt noch mit den Dingen; die Dinge draußen in der Welt, die er selber tut, die werden daher nach seinen Worten vor sich gehen. Wenn man so einen Menschen handeln sieht und zugleich hört, wie er seine Handlungen bezeichnet, dann stimmt das zusammen. So wie seine Worte mit den äußeren Dingen zusammenstimmen, so stimmt auch das, was er tut, mit den Worten zusammen. Wenn der da - im fünften nachatlantischen Zeitraum - redet, da merkt man nicht mehr, daß seine Worte weiterklingen in dem, was er tut. Was für einen Zu­sammenhang mit der Tätigkeit empfinden Sie, wenn Sie heute sagen:

Ich habe Holz gehackt! - Mit dem, was da draußen geschieht, in dem Hacken, empfindet einer ja längst nicht mehr die Bewegung der Hacke. Dadurch entfernen sich aber allmählich die Lautzusammen-hänge, sie stimmen dann wirklich nicht mehr mit dem Außeren über­ein. Man findet dann keinen Zusammenhang. Und wenn dann einer auf die Worte pedantisch hinhört und doch das tut, was in den Wor­ten liegt, dann wird es ganz was anderes. Da sagt einer: Ich backe Mäuse. - Wenn einer nun tatsächlich Mäuse backen würde, so würde das grotesk ausschauen, so würde man das nicht verstehen.

Das hat man gefühlt und hat gesagt: Der Mensch sollte einmal das, was er eigentlich in der Seele drinnen hat, im Verhältnis zu dem be­trachten, was er draußen tut: Das verhält sich ja gerade so, wie wenn die Eule in den Spiegel schaut! Wie wenn man der Eule den Spiegel vorhält, so würde sich das verhalten, was einer tut, der sich ganz ge­nau nach den Worten richtet. Und aus dieser Empfindung entstand in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts der Till Eulenspiegel. Der Eulenspiegel ist das, was der Menschheit vorgehalten wird. Nicht als ob man das auf den Till Eulenspiegel selber beziehen sollte; sondern indem Till Eulenspiegel wörtlich nimmt, was die Menschen in den trockenen abstrakten Worten haben, sehen sich die Menschen, wäh­rend sie sich sonst nicht sehen. Er ist der Eulen-Spiegel, in dem sich die Eulen wirklich sehen können.

Es ist Nacht geworden. Früher haben die Menschen in die geistige

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Welt hineingesehen. Ihre Worte haben sie auch so getätigt, daß sie mit der Welt stimmten. Damals waren die Menschen Adler. Jetzt sind sie Eulen geworden. Die Seelenwelt ist ein Nachtvogel geworden. Und in der abenteuerlichen Welt, die der Till Eulenspiegel darstellt, wird eben der Eule der Spiegel vorgehalten.

So kann man schon das, was in der geistigen Welt auftritt, betrach­ten. Die Dinge haben schon ihre Hintergründe. Man lernt einfach Geschichte, und damit auch die Hauptsache in der gegenwärtigen Menschheit, nicht kennen, wenn man nicht auf die geistigen Zusam­menhänge hinblicken kann. Insbesondere ist es wichtig, daß man all das äußerliche Charakterisieren verläßt. Ich bitte Sie, schauen Sie in irgendeinem Wörterbuch nach, was alles an Erklärungen für den Eulenspiegel gegeben wird! Man begreift das nicht, wenn man nicht in den ganzen Vorgang des Geisteslebens hineinsieht. Es kommt schon darauf an bei der Geisteswissenschaft, daß man den Geist in den Din­gen wirklich entdeckt; nicht so, daß man einige außerhalb der Sinnes-welt befindliche geistige Wesenheiten begrifflich weiß oder nicht, son­dern es kommt darauf an, daß man sich hineinfindet in das geistige Betrachten der Wirklichkeit.

Den Umschwung, der da eingetreten ist, indem die Menschen frü­her sich der geistigen Welt nahe gefühlt haben und nachher sich wie herausgestoßen fühlten, diesen Umschwung kann man auch sonst durchaus sehen. Ich bitte Sie, fühlen Sie einmal die ganze Tiefe des Impulses, der durch so etwas wie die Parzival-Dichtung hindurch­geht. Nehmen Sie den Parzival, wie ihm von seiner Mutter Herzeleide Narrenkleider angezogen werden, daß er nicht hineinwachsen soll in die Welt, welche die neue Welt darstellt. Er soll bei der alten Welt verbleiben. Er wächst also aus der sinnlichen Wirklichkeit heraus in die geistige Welt hinein. Das 17. Jahrhundert hat auch so eine Art Parzival, aber einen komischen: da ist alles ins Komische getaucht. Im intellektualistischen Zeitalter kann man, wenn man ehrlich ist, zunächst nicht den Seelenduktus aufbringen, der im Parzival waltet. Aber einen solchen Menschen, der ausziehen muß, in die Welt hinaus sich verlieren muß, und der zuletzt doch in der Einsamkeit landet, sein Seelenheil findet, den zeichnet man auch im 17. Jahrhundert,

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nach dem Umschwung: das ist der «Simplicissimus» des Christoffel von Grimmelshausen. Nehmen Sie nur einmal den ganzen Vorgang des «Simplicissimus». Sie müssen natürlich dabei auf die Stimmung achten - dort die reine, ich möchte sagen heilige Parzival-Stimmung, hier die humoristische, komische Stimmung. Aber nehmen Sie nun den «Simplicissimus»: der Sohn eines begüterten Bauern aus dem Spessart; im Dreißigjährigen Kriege wird das Haus abgebrannt. Der Sohn muß fliehen, kommt zu einem Waldeinsiedler, der ihn in allerlei unterrich­tet. Aber der stirbt. Da ist er nun in die Welt hinausgeworfen; er muß wandern. Er wächst hinein in all die Ereignisse, Schicksalsschläge, die eben durch den Dreißigjährigen Krieg geboten werden. Er kommt an den Hof des Gouverneurs von Hanau. Äußerlich hat er nichts gelernt, äußerlich ist er der reine Tor; aber er ist ein innerlicher Mensch bei alledem. Und weil er nun so äußerlich der reine Tor ist, sagt sich der Gouverneur von Hanau: Das ist ein Narr, der weiß nichts, das ist der Simplicissimus, das ist der allereinfältigste Mensch. Wozu soll ich ihn erziehen? Zum Hofnarren. Nun erzieht er ihn zum Hofnarren.

Aber jetzt ist der äußere Mensch und der innere Mensch ausein­andergezogen. Das Ich ist selbständig geworden gegenüber dem äuße­ren Menschen. Und das wird gerade in dem «Simplicissimus» gezeigt. Jetzt ist der äußere Mensch in der äußeren Welt der zum Hofnarren erzogene Narr, den alle für einen Narren nehmen; und der innere Mensch beim Simplicissimus, der hält alle diese, die ihn zum Narren nehmen, selbst zum Narren, denn er ist, trotzdem er gar nichts ge­lernt hat, viel gescheiter als die andern, die ihn zum Narren gemacht haben; denn er bringt die andere Intellektualität, die aus dem Gei­stigen kommt, aus sich heraus, und die Intellektualität, die bloß aus dem Verstande kommt, die tritt ihm in dem Außerlichen entgegen. Und nun nehmen ihn die Intellektualisten als Narren, und er, der Narr, bringt den Intellektualismus aus der geistigen Welt und hält die andern nun zum Narren, die ihn zum Narren machen wollen. Dann wird er von Kroaten gefangengenommen, abenteuert in der Welt herum, und zuletzt mündet er wiederum in der Einsiedelei ein, um seinem Seelenheile zu leben.

Man hat schon die Ähnlichkeit des Simplicissimus mit dem Parzival

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erkannt, aber es kommt auf den Stimmungsunterschied an. Es kommt darauf an, daß das, was noch ganz in die Gemütsseele getaucht war im Parzival, heraufgekommen ist in die Bewußtseinsseele, daß der kaustische Verstand wirkt, daß das Komische, das ja nur im kau­stischen Verstand seinen Ursprung haben kann, da wirkt. Wenn man aber ein Gefühl hat für diesen Stimmungsumschwung, dann wird man gerade in solchen Produktionen, die wirklich nicht bloß aus Einzelnen hervorgehen, sehen, was eigentlich in der Menschheitsentwickelung geschehen ist. Und Christoffel von Grimmelshausen hat eben einfach die ganze Stimmung, die Denkweise seiner Zeit hineingeheimnißt in diesen «Simplicissimus» gerade so, wie, man möchte sagen, man das ganze Volk dichtend findet, um alles das zusammenzutragen, was die Seele als Eule im Spiegel sehen kann, und dadurch alle möglichen Ge­schichten zusammengetragen werden im Till Eulenspiegel.

Es wäre schon durchaus notwendig, daß man auf alle diese Zusam­menhänge einmal genauer einginge, nicht bloß, um im einzelnen diese Zusammenhänge zu charakterisieren. Ich kann Ihnen ja selbst nur einzelne Beispiele geben. Würde man das, was eigentlich gesagt wer­den kann, sagen, dann müßte man jahrelang über die Dinge reden. Aber darum allein handelt es sich nicht, sondern es handelt sich dar­um, daß man wirklich einer vergeistigten Auffassung der Dinge näherkommt, wenn man solche Dinge, die nur rein äußerlich hingestellt werden, auch in ihren geistigen Zusammenhängen kennenlernt. Und so darf man sagen: Man sieht überall, wie durch die Gei­stesentwickelung der Menschheit durchzittert jener gewaltige Um­schwung, der da geschehen ist vom vierten in den fünften nachatlan­tischen Zeitraum hinein. Es ist so, daß man, wenn man nur etwas zurückgeht von der Zeitenwende, gleich dasjenige hat, was uns in allen Erscheinungen hinweist darauf, wie stark dieser Umschwung war.

Man kann ja eigentlich auch nur in einem solchen Zusammenhange ganz verstehen, was in den Gestalten liegt, die das Geistesleben aus der Vergangenheit in die Gegenwart heraufgetragen hat. Nehmen Sie Lohengrin, den Sohn des Parzival. Fragen Sie sich einmal ehrlich: Ist es so ohne weiteres verständlich, daß Elsa nicht nach Namen und

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Geschlecht des Lohengrin fragen darf? Die Menschen nehmen das so hin; aber warum sie eigentlich nicht fragen soll, das ist etwas, worüber doch nicht intensiv genug nachgedacht wird, weil gewöhnlich die Dinge ihre zwei Seiten haben. Gewiß, man kann die Sache auch an­ders darstellen, aber ein Wichtiges ist in dem Folgenden enthalten: Lohengrin ist der Abgesandte des Grals, der Sohn des Parzival. Wo­mit hat man es denn da innerhalb der Gralsgemeinschaft zu tun? Die­jenigen, die um das Geheimnis des Grals wußten, die dachten über dieses Geheimnis des Grals so, daß im Gralstempel nicht bloß die auserlesenen Gralsritter sind; sondern ein jeglicher, der reinen Herzens ist und im richtigen Sinne Christ ist, zieht, so sagte man, während des Schlafens, vom Einschlafen bis zum Aufwachen, nach dem Gral hin. Geradezu als den Versammlungsort der wahrhaft christlichen Seelen während des Nachtschlafens dachte man sich den Gral. Man wollte entrückt sein dem Erdenleben. Daher mußten dem Erdenleben auch diejenigen entrückt sein, die die Gralsherrschaft leiteten. Zu ihnen ge­hörte Lohengrin, der Sohn des Parzival. Wer daher wirken wollte im Sinne der Gralsimpulse, der mußte sich ganz in der geistigen Welt fühlen, der mußte sich ganz fühlen als ein Angehöriger der geistigen Welt, der durfte vor allen Dingen sich nicht als ein Angehöriger der äußeren Erdenwelt fühlen. Er mußte in einem gewissen Sinne, sagen wir, den Vergessenheitstrank haben.

Lohengrin wird von der Gralsburg abgeschickt. Er verbindet sich mit Elsa von Brabant, also mit dem ganzen Brabantervolk. Er zieht im Gefolge Heinrichs I. gegen die Ungarn. Also er führt im Auftrage des Grals wichtige weltgeschichtliche Impulse aus. Daß er das kann, das rührt von der Kraft her, die er aus dem Gralstempel hat. Ja, wenn wir zurückgehen in den vierten nachatlantischen Zeitraum, da werden ja auch diese Dinge anders; da wirkten nicht bloß die äußerlichen, mit dem Verstande zu erfassenden Impulse, da wirkten eben geistige Impulse überall mit. Die geschichtliche Darstellung ist ja so, daß man das kaum merkt.

Wir reden heute ganz richtig wiederum von Meditationsformeln, einfachen Sätzen, die durch ihre Einfachheit im Bewußtsein wirken. Ich weiß nicht, wieviel Leute heute mit dem richtigen Verständnis darauf

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hinschauen, wenn ihnen die Geschichte erzählt, daß diejenigen, die aufgefordert wurden, sich den Kreuzfahrern anzuschließen - und das war im vierten nachatlantischen Zeitraum -, daß die versehen wurden mit der Meditationsformel «Gott will es», und daß diese Formel eben mit einer spirituellen Gewalt wirkte. Das war gewissermaßen eine soziale Meditation, die mit dem «Gott will es» gegeben wurde. Ach­ten Sie einmal auf solche Dinge in der Geschichte, Sie werden da schon mehr solche Dinge finden! Sie werden den Ursprung der alten Devisen finden. Sie werden finden, wie gewisse Burgengeschlechter unter solchen Devisen gerade ihre Eroberungszüge begonnen haben, wie sie mit geistigen Mitteln, mit geistigen Waffen gewirkt haben. Mit den bedeutendsten geistigen Waffen wirkten die Gralsritter, wirkte so jemand wie Lohengrin. Er konnte das nur, wenn ihm die Erinne­rungen an seine äußere Abstammung, an seinen äußeren Namen, an sein äußeres Geschlecht nicht entgegentraten. Er mußte sich geradezu in eine Sphäre versetzen, wo er dem Geistigen hingegeben sein konnte und sich der Verkehr mit der Außenwelt bloß auf die sinnliche An­schauung beschränkte, nicht auf irgendwelche Erinnerungen. Er mußte unter der Wirkung des Vergessenheitstrankes seine Taten voll­führen. Er durfte nicht erinnert werden, in seiner Seele durfte nicht aufsteigen: Ich heiße so, ich bin aus diesem Geschlechte. - Daher darf ihn Elsa von Brabant nicht fragen. Für ihn ist das notwendig. In dem Augenblicke, wo er gefragt wird, muß er sich erinnern. Es ist genau dieselbe Wirkung auf seine Taten, wie wenn man ihm sein Schwert bräche.

Wenn wir eben hinter den Zeitraum gehen, wo alles intellektuali­stisch geworden ist, und wo nun auch die Menschen das, was voran­gegangen ist, in intellektualistische Begriffe kleiden und alles so vor­stellen, als ob es gewesen wäre wie nachher, wenn wir hinter das zu­rückgehen, was dem intellektualistischen Zeitraume angehört, da fin­den wir auch im sozialen Wirken überall das Spirituelle. Und die Menschen rechneten mit dem Spirituellen, rechneten daher zum Bei­spiel mit Moralischem als mit Arzneimitteln.

Ich möchte sehen, wie im intellektualistischen Zeitalter, wenn man nur dem Intellektualismus angehört, die Menschen das auffassen

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würden, wenn man in seiner Apotheke auch Moral als Arzneimittel hätte! Aber man braucht wiederum nur um ein paar Jahrhunderte hinter den Umschwung zurückzugehen. Lesen Sie den «Armen Heinrich» von Hartmann von Aue, der demselben Zeitalter angehört wie Wolfram von Eschenbach. Da steht vor Ihnen der Ritter, der reiche Ritter, der aber von Gott abgefallen ist, der in seiner Seele den Zusammenhang mit der geistigen Welt verloren hat, der daher dieses atheistische Moment, das über ihn gekommen ist, auch als physische Krankheit erlebt, als die Miselsucht, eine Art Aussatz. Die Leute mei­den ihn. Kein Arzt kann ihn heilen. Er kommt zu einem gescheiten Arzt in Salerno. Der sagt ihm, physische Heilmittel gibt es für ihn nicht; das einzige Heilmittel ist, wenn sich eine reine Jungfrau für ihn töten läßt. Das Blut einer reinen Jungfrau kann ihn davon be­freien. Er verkauft alle seine Güter, lebt einsam auf seinem Meierhof, wird betreut von einem Meier. Dieser Meier hat eine Tochter. Die gewinnt den aussätzigen Ritter, den Ritter mit der Miselsucht, lieb. Sie hört von dem, was allein sein Heilmittel sein könnte. Sie be­schließt, für ihn zu sterben. Er begibt sich mit ihr zum Arzt von Salerno; da wird es ihm leid. Er will lieber weiter den Aussatz haben als dieses Opfer. Aber schon, daß ihr Wille zum Opfer vorhanden war, das wirkt. Er wird nach und nach geheilt. - Wir sehen das Her­überwirken des Spirituellen im geistigen Leben, wir sehen, wie mora­lische Impulse heilen, als heilende Wirkungen aufgefaßt wurden. Heute sagt man: Nun ja, entweder war es ein Zufall, oder es war überhaupt nicht, man erzählt so etwas nur. - Mag man über den ein­zelnen Fall denken, wie man will - es muß doch darauf aufmerksam gemacht werden, daß in dem Zeitalter, das dem 15. Jahrhundert vor­angegangen ist, im wesentlichen noch viel stärker von Seele auf Seele gewirkt wurde als später, auch von dem, was die Seelen dachten und empfanden und wollten. Denn jene soziale Trennung zwischen Mensch und Mensch, die dann später eingetreten ist, die ist eben durchaus eine Begleiterscheinung des Intellektualismus. Und je weiter der Intellektualismus gedeiht, je weniger man sucht nach dem, was ihm entgegenwirken muß: nach dem Spirituellen, desto mehr wird der Intellektualismus die einzelnen Individualitäten auseinanderspalten.

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Das mußte zwar kommen; Individualismus muß sein. Aber aus dem Individualismus heraus muß das Soziale gefunden werden. Sonst be­steht das «soziale Zeitalter» darin, daß die Menschen unsozial sind und deshalb nach Sozialismus schreien. Sie schreien ja am meisten nach Sozialismus, weil sie im Inneren der Seele unsozial sind. Aber dieses soziale Element, das einem in solch einer Dichtung wie «Der arme Heinrich» des Hartmann von Aue entgegentritt, das müssen wir beachten. Das tritt dann auch in geistigen Schöpfungen zutage, und in den geistigen Schöpfungen findet man es sehr deutlich in der Stim-mung. Es ist in diesem «Armen Heinrich» eben eine ganz andere Stim­mung vorhanden. Wir können natürlich nicht sagen, sentimental; denn sentimental ist man erst später in dem unnatürlichen Herausgehen aus dem Intellektualismus geworden. Aber es ist eine Art frommer Stim­mung, eben eine Art spiritueller Stimmung darinnen. Will man später ehrlich sein in denselben Sachen, dann muß man komisch werden, dann muß man so darstellen, wie Christoffel von Grimmelshausen im «Simplicissimus» dargestellt hat, oder wie das Volk selber im «Till Eulenspiegel» dargestellt hat.

Dieses Sich-herausgeworfen-Fühlen aus der Welt, das tritt uns nicht bloß in den Dichtungen eines Volkes, das tritt uns im Grunde genom­men überall entgegen. Und nun sehen Sie, wie in alldem eine andere Stellung des Menschen zu sich selber liegt. Der Mensch muß wieder von einem ganz neuen Standpunkte aus die Frage aufwerfen: Ja, was bin ich denn eigentlich als Mensch? - Das zittert immer nach. Daher wird vom neuen intellektualistischen Standpunkte aus diese Frage immer wieder neu gestellt: Was ist denn das eigentlich, der Mensch? -Früher hat man sich an die geistige Welt gewendet. Da haben die Leute das ja wirklich gesucht, was der Faust vergeblich wiederum sucht. Man wendete sich an die geistige Welt, wenn man wissen wollte: Was ist eigentlich der Mensch? Weil man wußte: Außerhalb dieses physischen Erdenlebens ist ja der Mensch ein Geist. Will er also sein wahres Wesen, das er auch im physischen Erdenleben lebt, kennenlernen, dann muß er sich an die geistige Welt wenden. Aber immer mehr kommt er davon ab, sich an die geistige Welt zu wenden.

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Goethe läßt im «Faust» noch eine Ahnung auftauchen: Ich muß mich an die geistige Welt wenden, wenn ich ihn erkennen will, den Geist. - Aber es geht nicht. Der Erdgeist erscheint zwar, aber Faust kann diesen Erdgeist mit dem gewöhnlichen Erkennen nicht ansehen. Der Erdgeist sagt ihm: «Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!» Faust muß sich wegwenden, zu Wagner; in Wagner sieht er dann den Geist, den er begreift. Nicht den Erdgeist begreift er, er «Ebenbild der Gottheit». Goethe hat also noch in einem Zeitalter ge­lebt, wo man sich hinrang danach, aus der geistigen Welt heraus das Wesen des Menschen zu finden. Sehen Sie, was dann kommt, als Goethe gestorben war. Da wollten die Menschen ja auch wieder wis­sen, und zwar aus dem Intellektualismus heraus, was eigentlich der Mensch ist. Nun verfolgen Sie es weiter: Die Menschen können sich nicht an die geistige Welt wenden, um zu erfahren, was der Mensch ist. An sich selbst finden sie es auch nicht, denn die Sprache ist schon zur Seeleneule geworden. So gehen sie denn zu den Menschen, welche die alte Zeit, wenigstens äußerlich noch, darbietet. Im 19. Jahrhun­dert - was kommt da herauf? 1836 Jeremias Gotthelf: «Bauernspiegel»; 1839 Immermann: «Oberhof», «Drei Mühlen», «Schwarz­wälder Bauerngeschichten»; George Sand: «La petite Fadette»; 1847

Grigorowitsch: «Anton der Unglückliche»; 1847-1851 Turgenjew:

«Aufzeichnungen eines Jägers».

Es ist die Sehnsucht, in dem einfachen Menschen das zu finden, womit man sich die Frage beantworten kann: Was ist denn eigentlich der Mensch? - Früher hat man sich an die geistige Welt gewendet; jetzt wendete man sich hinunter zu den Bauern. Im Laufe von zwei Jahrzehnten kommt über die ganze Welt hin die Sehnsucht, Dorf-geschichten zu schreiben, weil man den Menschen studieren will. Da die Menschen eben sich selbst nicht erkennen können, höchstens wie die Eulen in den Spiegel schauen, deshalb gingen sie zu den einfachen Menschen. Das aber können Sie wiederum in allen einzelnen Zügen -von Jeremias Gotthelf bis zu Turgenjew - nachweisen, wie eigentlich alles darauf hinausgeht, den Menschen kennenzulernen. Aus unbe­wußten Dorfgeschichten heraus, in all den einfachen Geschichten, auch bei George Sand und so weiter, strebt es nach Menschenkenntnis.

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Das geistige Leben wird eben erst durchsichtig, wenn man es von einem solchen Gesichtspunkte aus erkennt.

Das ist es, was ich in diesen drei Vorträgen vor Sie habe hinstellen wollen, gewissermaßen zur Illustration des Überganges vom vierten in den fünften nachatlantischen Zeitraum. Denn es genügt nicht, daß man diesen Übergang mit ein paar hingepfahlten Begriffen, mit ab­strakten Begriffen charakterisiert - wie man es zunächst natürlich auch getan hat -, sondern es handelt sich darum, daß man die ganze Wirklichkeit geistgemäß gerade durch Anthroposophie durchschauen kann. Dafür wollte ich Ihnen in diesen Vorträgen ein Beispiel geben.

VIERZEHNTER VORTRAG Dornach, 19. März 1922

#G210-1967-SE224 Neue und alte Einweihungsmethoden

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VIERZEHNTER VORTRAG

Dornach, 19. März 1922

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Verschiedene Anlässe haben uns dazu geführt, zu betrachten, wie im Übergange vom 13. ins 14. und 15. Jahrhundert das Zeitalter des Intellektualismus beginnt, das Zeitalter, das wir auch oft bezeichnet haben als das der fünften nachatlantischen Kultur. Es ist gerade da­durch charakterisiert, daß in diesem Zeitalter der Mensch dazu kommt, als das Tonangebende in allem seinem Streben das Intellek­tuelle zu betrachten. Wie sich dieser Intellektualismus auf den ver­schiedenen Gebieten des inneren Lebens ausgebildet hat, davon haben wir ja oft gesprochen. Alles, was charakteristisch ist für die Mensch­heitsentwickelung, hat eine innere Seite, durch die es sich mehr aus-lebt in den Empfindungen, in den Anschauungen der Menschen, in den herrschenden Willensimpulsen und dergleichen. Zugleich hat es aber auch eine äußere Seite, durch die es sich darlebt in den Zustän­den, die sich geschichtlich in der Menschheitsentwickelung ergeben, und da muß man sagen, daß vorläufig der am meisten bezeichnende Ausdruck für das intellektualistische Zeitalter geschichtlich die Fran­zösische Revolution ist, diese große Weltbewegung vom Ende des 18. Jahrhunderts.

Allerdings, vieles hat im Menschheitsleben durch lange Zeiten hin­durch darauf hingewiesen, wie eine solche Art des sozialen Zusammenseins angestrebt werden soll, wie sie dann in der Französischen Revo­lution tumultuarisch zum Ausdrucke gekommen ist. Und vieles ist wiederum von der Französischen Revolution geblieben, das in der einen oder in der andern Form da oder dort auflebt, und zwar auf­lebt in den äußeren sozialen Zuständen der Menschheit. Man braucht sich ja nur zu überlegen, wie die Französische Revolution etwas dar­stellt, was in der Art, wie sie sich am Ende des 18. Jahrhunderts dargelebt hat, vorher nicht möglich gewesen wäre, und zwar aus dem Grunde, weil für alles, was der Mensch hier auf der Erde anstrebte, er eigentlich nicht die volle Befriedigung auch auf dieser Erde gesucht hat.

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Seien Sie sich doch klar darüber, es hat vor dem Zeitalter der Fran­zösischen Revolution in der geschichtlichen Entwickelung der Mensch­heit niemals eine Epoche gegeben, in der sich die Menschheit gesagt hätte: Alles, was der Mensch durch sein Denken, Fühlen, Wollen an­streben kann, das muß auch einen äußeren entsprechenden Ausdruck im irdischen Dasein selber finden. - In jenem Zeitalter, das der Fran­zösischen Revolution vorangegangen ist, war man sich klar darüber, daß die Erde nicht alles hergeben kann, was der Mensch an Bedürf­nissen seines Geistes, seiner Seele und seines Leibes haben kann. Der Mensch hat sich immer mit einer übersinnlichen Welt verbunden ge­fühlt und hat es dieser übersinnlichen Welt zugeschrieben, daß sie be­friedigen müsse, was auf der Erde nicht befriedigt werden kann.

Allerdings, lange bevor die Französische Revolution ihren tumul­tuarischen Ausdruck fand, strebte man auf den verschiedensten Ge­bieten der zivilisierten Welt dahin, eine soziale Ordnung herbeizufüh­ren, durch die auf der Erde möglichst viel von den menschlichen Be­dürfnissen befriedigt werden kann. Die Französische Revolution aber hat ihren Grundcharakter darin, daß einfach ein sozialer Zustand hervorgerufen werden sollte, der ein entsprechender Ausdruck für menschliches Denken, Fühlen und Wollen schon hier auf der Erde ist. Das ist im wesentlichen das Streben des Intellektualismus.

Der Intellektualismus hat als sein Gebiet das irdische Dasein. Alles, was in der sinnlich-physischen Welt vorliegt, das will der Intellektua­lismus befriedigen. Er will also auch innerhalb der physischen Erdenordnung solche soziale Zustände herbeiführen, welche ein Ausdruck für das Intellektuelle sind. Bis zur Anbetung der Göttin der Vernunft, womit aber eigentlich gemeint war die Göttin des Intellekts, geht ja dieses Streben, in den sozialen Zuständen das hervorzurufen, was der Mensch anstreben kann. Man kann also sagen: Von sehr alten Zustän­den, in denen die Menschen sich richteten nach den Impulsen, die ihnen von den Eingeweihten und Mysterienschülern kamen, durch welche sie das Göttlich-Geistige selbst in ihre soziale Ordnung auf­nahmen, von jenen alten Zuständen her bewegte sich das soziale Stre­ben der Menschheit etwa zu den ägyptischen Zuständen, wo in die soziale Ordnung aufgenommen wurde dasjenige, was die Könige von

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den Priestern erfuhren über den Willen der Menschheitsentwickelung, wie er sich etwa in den Sternen ausspricht. Später dann, im älteren Rom, noch im königlichen Rom, versuchte man - es wird das ange­deutet durch die Unterredung des Numa Pompilius mit der Nymphe Egeria -, durch die Erforschung der geistigen Welt das hervorzurufen, was soziale Zustände sein sollten. Immer mehr und mehr entwickelte sich dann aus diesem Ineinanderweben des Geistigen mit dem Sinn­lich-Sozialen die Forderung: Alles soll auf der Erde so gestaltet wer­den, daß es ein unmittelbarer Ausdruck des Intellekts sei.

Will man schematisch solch einen Gang darstellen, so muß man ihn in der Form einer absteigenden Kurve darstellen. Im Tiefpunkt steht dann die Französische Revolution (siehe Zeichnung), von hier aus

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mußte es dann wieder aufwärtsgehen. Dieses Aufwärtsgehen wurde auch sogleich wiederum als eine Reaktion auf die Französische Revo­lution versucht, und wir sehen ja genau, wie zum Beispiel Schiller -wir können es in den Briefen «Über die ästhetische Erziehung» selber lesen - angeregt worden ist, durch das, was durchaus in der Franzö­sischen Revolution auf äußerliche Weise zum Ausdruck kam, nun im Inneren des Menschen wiederum einen Anschluß an die geistige Welt zu suchen. Für Schiller entstand die Frage: Wenn es unmöglich ist, hier auf der Erde eine vollkommene soziale Ordnung hervorzurufen, wie kann der Mensch zu dem kommen, was ihn in bezug auf sein Denken, Fühlen und Wollen befriedigen kann; wie kann der Mensch auf dieser Erde zur Freiheit kommen?

Und Schiller beantwortete diese Frage dahin, daß er sagte: Wenn

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der Mensch logisch, der Vernunftnotwendigkeit nachlebt, so ist er eben ein Diener der Vernunftnotwendigkeit, er ist kein freies Wesen. Wenn der Mensch seinen sinnlichen Trieben folgt, seinen bloßen Instinkten, dann gehorcht er wiederum der Naturnotwendigkeit, er ist kein freies Wesen. - Und Schiller kam dazu, sich zu sagen: Eigent­lich ist der Mensch ein freies Wesen nur dann, wenn er entweder künstlerisch schafft oder genießt. Eine Verwirklichung der Freiheit in der Welt kann es einzig und allein nur dadurch geben, daß der Mensch künstlerisch arbeitend oder künstlerisch genießend ist. Da wird im künstlerischen Anschauen ausgeglichen, was sonst Zwang der Ver­nunftnotwendigkeit ist oder Zwang der Naturnotdurft, wie Schiller sich ausdrückt. Indem der Mensch im Künstlerischen lebt, ist es ja so, daß er in dem Kunstobjekte nicht einen solchen Zwang des Gedan­kens empfindet wie beim logischen Forschen. Auch in dem, was ihm entgegentritt durch die Sinne, empfindet er nicht den sinnlichen Reiz, sondern der sinnliche Reiz wird geadelt durch das geistige Anschauen im Künstlerischen. Der Mensch ist also, insofern er ein der Kunst fähiges Wesen ist, auch fähig, die Freiheit innerhalb des irdischen Daseins zu entfalten.

Schiller sucht also die Frage zu beantworten: Wie kann der Mensch als soziales Wesen zur Freiheit kommen? - Und er kommt zu der Antwort, daß der Mensch nur als ein für Kunst empfängliches Wesen zur Freiheit kommen kann, daß er nicht frei sein könne in der Hin­gabe an die Vernunftnotwendigkeit, und ebensowenig in der Hin­gabe an die Naturnotwendigkeit.

Es kam in der Zeit, in der Schiller seine Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen» schrieb, dies gerade im wechselseitigen Ver­kehr Goethes und Schillers in einer großartigen Weise zum Ausdrucke. Dies zeigt sich darin, wie Schiller aufgenommen hat dasjenige, was Goethe dazumal umarbeitete an seinem «Wilhelm Meister», wie er hin­gerissen war von dieser Art der Darstellung, von dieser innerlichen Frei­heitsdarstellung, weil Goethe als Künstler gar nicht ein intellektuali­stischer, sondern ein im freien Gedanken schaffender Geist war, der aber auf der andern Seite durchaus innerhalb des sinnlichen Erlebens in der Kunst stehenblieb. Das empfand Schiller. Er empfand Goethes

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künstlerische Betätigung so frei, wie das Spiel des Kindes frei ist. Und wir sehen, wie Schiller enthusiasmiert ist von dieser an das Spiel des Kindes erinnernden freien künstlerischen Betätigung des Men­schen. Das begeisterte ihn ja zu dem Ausspruche: Der Künstler ist der einzige wahre Mensch, und der beste Philosoph ist gegen ihn nur eine Karikatur - wie es in einem Briefe an Goethe heißt. Das begeisterte ihn aber auch zu dem Ausspruch: Der Mensch ist nur dann ganz Mensch, wenn er spielt, und er spielt eigentlich nur, wenn er ganz Mensch ist. - Damit ist nicht ein frivoles oder ein unterhaltsames Spiel gemeint, sondern es ist das künstlerische Tun und das künst­lerische Genießen gemeint. Es ist das Verweilen des Menschen im künstlerischen Erleben gemeint, und es ist damit gemeint das wirk­liche Freiwerden des Menschen.

Nun, um welchen Preis wollte man sich denn da, wo man von dem, was in der Französischen Revolution als soziale Ordnung angestrebt worden war, wieder hinaufstrebte zu etwas, was der Mensch sich innerlich erringen muß, was ihm nicht durch äußere staatliche Ein­richtungen gegeben werden kann - um welchen Preis wollte sich denn da der Mensch diese soziale Freiheit erkaufen? Er wollte sie sich er­kaufen um den Preis, daß sie ihm nicht gegeben werden könne beim logischen Nachdenken, nicht gegeben werden könne äußerlich im ge­wöhnlichen physischen Leben, sondern nur in der ausschließlichen Be­tätigung im künstlerischen Erleben.

Man möchte sagen, man findet einen Abdruck dieser Empfindungen gerade bei den besten Geistern dieses Zeitalters, bei Schiller in theoreti­scher Form, bei Goethe, der ja praktisch dies Leben in der Freiheit geübt hat. Sehen wir uns einmal die Gestalten Goethes an, die er aus dem Leben heraus schuf, und an denen er darstellen wollte das echt Menschliche, das wahrhaft Menschliche. Sehen wir uns den «Wilhelm Meister» an. Wilhelm Meister ist eine Persönlichkeit, an der Goethe das echte, wahre Menschentum darstellen wollte. Aber für das Ge­samtauffassen des Lebens ist ja Wilhelm Meister im Grunde genom­men ein Bummler. Er ist kein Mensch, der im höchsten Sinne des Wortes nach einer die Seele tragenden Weltanschauung sucht. Er ist auch kein Mensch, der im äußeren Leben einen Beruf, eine Arbeit vertreten

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kann. Er bummelt so durch das Leben. Dem liegt zugrunde, daß eigentlich jenes Freiheitsideal, das bei Goethe und Schiller ange­strebt wurde, nur erreicht werden konnte von Menschen, die sich aus dem denkerischen und arbeitsamen Leben herausreißen. Man möchte sagen, Schiller und Goethe wollten hinweisen auf die Illusion der Französischen Revolution, auf den illusionären Glauben, als ob irgend etwas Äußeres, ein Staat, dem Menschen die Freiheit geben könne. Sie wollten darauf hinweisen, wie der Mensch sich diese Frei­heit nur im Inneren erringen könne.

Damit ist allerdings jener große Gegensatz zwischen Mitteleuropa und dem romanischen Westeuropa gegeben. Das romanische West­europa glaubte in einem absoluten Sinne an die Macht des Staates, glaubt ja bis heute daran. Und in Mitteleuropa entstand dagegen die Reaktion, daß das Menschenideal eigentlich nur innerlich gefunden werden könne. Aber es geschah eben auf Kosten des sich voll Hin­einstellens in das Leben. Heraus aus dem Leben mußte solch ein Mensch wie Wilhelm Meister streben.

Man sieht, im ersten Anhub konnte nicht das volle Menschentum in dem wirklichen Menschen gefunden werden. Natürlich, wenn alle Menschen Künstler werden sollten, um, wie Schiller sagte, die ästhe­tische Gesellschaft zu begründen, dann würden wir vielleicht eine ästhetische Gesellschaft haben, aber sehr lebensfähig würde diese ästhetische Gesellschaft nicht sein. Ich kann mir zum Beispel, um gleich etwas Radikales zu sagen, nicht recht vorstellen, wie in dieser ästhetischen Gesellschaft die Kloaken geräumt würden. Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie in dieser ästhetischen Gesellschaft mancher­lei von dem geleistet werden sollte, was nun einmal nach strengen logischen Begriffen zu leisten ist. Das Ideal der Freiheit stand leuch­tend vor den Menschen, aber der Mensch konnte nicht aus einem vol­len Darinnenstehen im Leben nach einer Verwirklichung dieses Ideals der Freiheit streben. Es mußte jener Hinaufschwung nach dem Über­sinnlichen wiederum gesucht werden, und zwar jetzt in bewußter Form, wie früher ein Herunterschwung atavistisch stattgefunden hatte; es mußte ein Wiederhinaufschwung in die geistige Welt ge­sucht werden. Das Ideal der Freiheit mußte festgehalten werden, aber

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der Aufschwung mußte gesucht werden. Man mußte zunächst die Möglichkeit gewinnen, für das Handeln des Menschen, für das Darinnenstehen im handelnden Leben die Freiheit zu sichern. Das konnte man nur, wie mir schien, auf dem Wege, der in meiner «Philo­sophie der Freiheit» vorgezeichnet ist.

Wenn der Mensch sich zu jener inneren Seelenverfassung aufschwingt, durch die er überhaupt fähig wird, im reinen Gedanken, wie ich jetzt dargestellt habe, sittliche Impulse zu finden, dann wird er ein freier Mensch trotz dem völligsten Sich-Hineinstellen ins Le­ben. Daher mußte ich in meiner «Philosophie der Freiheit» einen Be­griff einführen, den man sonst in Moralbeschreibungen, in Moralpredigten nicht findet: den Begriff des sittlichen Taktes, des selbst­verständlichen Handelns aus sittlichem Takt, des Übergehens sitt­licher Impulse in gewohnheitsmäßiges Handeln.

Nehmen Sie die Rolle, die der Takt, der moralische Takt in meiner «Philosophie der Freiheit» spielt, so werden Sie sehen, wie da nicht bloß, wie in der ästhetischen Gesellschaft, in das Fühlen, sondern wie da auch in das Wollen die wirkliche menschliche Freiheit, das heißt das gesamte Menschtum eingeführt werden sollte. Derjenige Mensch, der dann überhaupt dazu gekommen ist, eine solche Seelenverfassung zu haben, daß in seinem Wollen reine Gedanken als sitt­liche Impulse leben können, der darf sich dann in das Leben, und wenn es sonst noch so lastend ist, hineinstellen - er wird die Möglich­keit haben, als ein freier Mensch in diesem Leben drinnenzustehen, insofern das Leben Handlung, Tat von uns verlangt.

Und dazu mußte dann die Möglichkeit gesucht werden, auch für das, was Vernunftnotwendigkeit ist, was gedankliche Erfassung der Welt ist, das zu finden, was dem Menschen die Freiheit sichert, die Unabhängigkeit von dem äußeren Zwange. Das wiederum konnte nur geschehen durch anthroposophische Geisteswissenschaft. Dadurch, daß der Mensch die Möglichkeit verstehen lernt, sich in das hinein­zufinden, was im Geiste von den Weltengeheimnissen und Weltenrätseln erlebt wird, lebt er sich in Gedanken mit seinem Menschtum zusammen mit dem inneren Geiste der Welt. Und er gelangt durch Freiheit in die Wissenschaft vom Geiste hinein.

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Was da vorliegt, kann man am besten daran sehen, wie die Men­schen auf diesem Gebiete eigentlich heute noch sich furchtbar sträu­ben, frei zu werden. Das ist wiederum ein Gesichtspunkt, von dem aus man die Gegnerschaft gegen die Anthroposophie verstehen kann. Die Menschen wollen nicht frei sein auf geistigem Gebiete. Sie wollen durch irgend etwas gezwungen, geführt, gelenkt werden. Und weil es jedem freisteht, das Geistige anzuerkennen oder abzulehnen, so lehnen die Menschen es eben ab und wählen dasjenige, demgegenüber es dem Menschen nicht freisteht, es anzuerkennen oder abzulehnen.

Ob es blitzt und donnert, ob im Laboratorium durch einen gewissen Vorgang sich Sauerstoff und Wasserstoff vereinigen, darüber gibt es keinen Entschluß, es anzuerkennen, oder nicht anzuerkennen. Ob es Angeloi und Archangeloi gibt, das anzuerkennen, steht dem Menschen frei. Er kann es auch leugnen. Der Mensch aber, der nun einen wirk­lichen Freiheitsimpuls hat, der kommt schon durch diesen Freiheitsim­puls zur Anerkennung des Geistigen im Denken. Es kann dasjenige, was als erster Anhub in Schillers Briefen «Über die ästhetische Erziehung des Menschen», in Goethes ganzem künstlerischem Wirken enthalten war - die Verwirklichung der menschlichen Freiheit durch inneres Ringen, durch inneres Streben -, es kann das eben nur dann erreicht werden, wenn man anerkennt, daß der Mensch zu dem, was er im künstlerischen Erleben als freies Wesen hat, auch hinzufügen kann ein freies Erleben in dem Reiche des Denkens, ein freies Erleben im Reiche des Wollens, das nur in der richtigen Weise ausgebildet werden muß.

Schiller nahm eben einfach das, was das intellektuelle Zeitalter dar­geboten hat. Die Kunst strebte im Zeitalter Schillers noch aus diesem Intellektualismus heraus. Darin fand Schiller noch die menschliche Freiheit. Was aber der Intellektualismus dem Gedanken darbietet, ist unfrei, unterliegt dem logischen Zwang. Da erkannte Schiller nicht die Möglichkeit an, daß Freiheit walte, ebensowenig im Handeln, im gewöhnlichen harten Leben. Das mußten wir uns erst erringen durch die Einführung anthroposophischer Geisteswissenschaft, daß die Frei­heit auch anerkannt werden konnte auf dem Gebiete des Denkens und auf dem Gebiete des Wollens. Denn Schiller und Goethe erkann­ten sie nur an auf dem Gebiete des Fühlens.

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Aber ein solcher Weg zur vollen Anerkennung der menschlichen Freiheit ist ja nur möglich, wenn der Mensch auch zu einer inneren Anschauung von dem Zusammenhang dessen, was ihm in der Seele als Geistiges erlebbar ist, mit dem Natürlichen kommt. Solange wie zwei abstrakte Begriffe, Natur und Geist, nebeneinander stehen für die menschliche Anschauung, so lange kann der Mensch nicht in einem solchen Sinne zu einer wirklichen Auffassung der Freiheit fortschrei­ten, wie ich es angeführt habe. Derjenige, der, ohne daß er sich selber durch Meditation, Konzentration und so weiter in die geistige Welt hineinlebt, der nur durch seinen gesunden Menschenverstand das anerkennt, was durch Imagination, Inspiration und Intuition gefun­den ist, der erlebt aber bei diesem Anerkennen durchaus etwas. So zum Beispiel wird jemand, der einfach in den Büchern liest oder in Vorträgen hört, ohne daß er dabei schläft, was durch Imagi­nation aus der Welt hervorgeholt wird, schon nötig haben, der wird schon, obwohl alles durch den gesunden Menschenverstand geschehen kann, nötig haben, sich anders an diese Offenbarungen der geistigen Welt heranzumachen als an das, was in einem heutigen Physik- oder Chemiebuche oder in einer Botanik oder in einer Zoologie geschrie­ben ist.

Man kann, ohne innerlich viel zur Aktivität überzugehen, alles das aufnehmen, was in einer heutigen Botanik oder Zoologie geschrieben ist. Man kann aber nicht, ohne sich innerlich in Tätigkeit, in Aktivität zu versetzen - wie es aber durchaus im gesunden Menschenverstand nötig ist -, das aufnehmen, was zum Beispiel in meiner «Geheim-wissenschaft im Umriß» dargestellt ist. Alles kann begriffen werden, und wer da sagt, es sei unbegreiflich, der will einfach nicht innerlich aktiv mit seinem Denken vorgehen, sondern er will es so passiv neh­men, wie man die Vorstellungen eines Kinos passiv hinnimmt. Da braucht man allerdings sein Denken nicht viel in Bewegung zu setzen, und so möchten die Menschen heute alles hinnehmen. Sie können auch das, was im Laboratorium dargeboten ist, so hinnehmen. Dasjenige, was in meiner «Geheimwissenschaft» gesagt wird, das kann so nicht hingenommen werden. Höchstens stellt es sich manchmal heraus, daß gewisse Professorengemüter das so hinnehmen möchten. Dann machen

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sie wohl den Vorschlag, daß diejenigen, die so etwas schauen, in psy­chologischen Laboratorien, wie man das heute nennt, sich untersuchen lassen. Es ist das ebenso gescheit, wie wenn jemand verlangen würde, daß der, welcher mathematische Probleme löst, sich untersuchen ließe, ob er fähig ist, mathematische Probleme zu lösen. Jenem wird man sagen: Wenn du einsehen willst, ob die mathematischen Probleme richtig gelöst sind, dann mußt du eben lernen, sie lösen zu können, dann kannst du es nachprüfen. - Und töricht wäre es, zu antworten:

Nein, das will ich nicht, ich will nicht lernen sie nachzuprüfen, son­dern ich werde dann in einem psychologischen Laboratorium unter-suchen, ob es richtig gelöst ist! - Ja, so ungefähr sind dieAnforderungen, die zuweilen heute von Professorengemütern gestellt werden, denen dann allerlei «Generäle» in einer böswilligen Absicht die Sache nachplap­pern. Sie sind töricht, sie sind dumm, diese Forderungen, aber es ist das kein Hindernis, daß diese Dinge heute mit großem Aplomb be­hauptet werden können.

Wer sich mit innerlicher Aktivität in das hineinversetzt, was aus der Imagination stammt, der hat davon allerdings eine gewisse Frucht für seine Seele. Es bleibt ja nicht unbedeutend für die Seele, wenn jemand sich bemüht, das imaginativ Erkannte zu verstehen. Es gibt gewisse Heilmittel, die auf diese oder jene Krankheitszustände des Menschen wirken. Heute ist es schon außerordentlich schwierig, bei den Menschen Heilmittel überhaupt zur Wirksamkeit zu bringen. Wer aber sich bemüht hat, das Imaginative durch den gesunden Menschen­verstand zu verstehen, der macht von seiner Lebenskraft wiederum so viel aktiv, daß Heilmittel, wenn sie die richtigen sind, bei ihm auch wiederum wirksamer werden, daß der Organismus sie nicht zurückwirft.

Die Torheit redet heute davon, daß anthroposophische Medizin die Menschen durch Hypnose und Suggestion und so weiter, wie man es nennt, auf geistigem Wege heilen wolle. Sie können das in allen möglichen Blättern lesen in Anknüpfung an die Bemerkungen, die ich gerade über Medizin auf meinen Vortragsreisen in den letzten Monaten gemacht habe. Aber darum handelt es sich zunächst nicht. Es handelt sich darum, die heutige Medizin wirklich weiterzuführen

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durch geistige Erkenntnisse. Man kann natürlich nicht durch Ein­impfen eines Gedankens heilen, doch hat trotzdem das geistige Leben, ganz konkret gefaßt, soweit eine Bedeutung für die Wirksamkeit der Heilmittel, daß derjenige, der sich bemüht, Jmaginatives zu verstehen, dadurch seinen physischen Organismus geeigneter macht, für richtige Heilmittel empfänglich zu sein, wenn er sie durch seine Krankheits­zustände braucht, als ein anderer, der in dem bloßen äußerlichen In­tellektualismus, das heißt, in dem heutigen Materialismus mit seinem Gedankensystem verharrt.

Die Menschheit wird ein Aufnehmen dessen, was imaginativ erfaßt werden kann, schon aus dem Grunde brauchen, weil sonst der phy­sische Leib der Menschen immer mehr und mehr in solche Zustände verfallen würde, daß er gar nicht mehr geheilt werden kann, wenn er erkrankt. Denn dazu muß immer das Geistig-Seelische nachhelfen. Alles das, was an Prozessen in der Natur vorhanden ist, spricht sich ja nicht bloß aus in dem, was sinnlich vor sich geht, sondern es spricht sich so aus, daß dieses sinnlich Vor-sich-gehende überall durchsetzt ist von Geistig-Seelischem. Will man daher eine sinnliche Substanz in dem menschlichen Organismus zur Wirksamkeit bringen, so muß man in einem gewissen Sinne das Seelisch-Geistige haben, das diese sinn­liche Substanz zur Wirksamkeit bringt. Der ganze Menschheitsprozeß fordert, daß die menschliche Seelenverfassung wiederum durchsetzt werde von dem, was in seelisch-geistigem Sinne zu ergreifen ist.

Man kann nun allerdings sagen: Sehnsucht ist heute viel vorhanden innerhalb der Menschheit nach diesem Seelisch-Geistigen. Aber diese Sehnsucht bleibt vielfach im Unbewußten und Unterbewußten stek­ken. Und das, was die Menschen im Bewußtsein haben, was ja ganz und gar ein bloßer Rest des Intellektualismus ist, das lehnt sich auf, das wehrt sich gegen das Spirituelle, und es ist zuweilen grotesk, wie man sich wehrt gegen dieses Spirituelle. Es wird zumeist vor Eu­rythmievorstellungen von mir auseinandergesetzt, wie das Euryth­mische auf einer wirklichen sichtbaren Sprache beruht; ebenso wie die Lautsprache aus Einrichtungen des Organismus heraus sich entwickelt, so auch die sichtbare Sprache der Eurythmie. So wie Laut um Laut, Selbstlaut, Mitlaut, alle Vokale und Konsonanten sich herausringen in

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Anlehnung an das Erleben des Menschen aus dem menschlichen Orga­nismus, so wird in der Eurythmie sichtbarlich Laut für Laut herausgeholt, und es wird da nun wirklich gesprochen. Man müßte glauben, daß nun die Menschen, denen solches Eurythmische vorgeführt wird, versuchen würden, sich vor allen Dingen hineinzufinden in den Grundimpuls, daß Eurythmie eben eine Sprache ist.

Gewiß, vielleicht wird man nicht gleich darauf kommen, wie das gemeint ist. Man kann aber unschwer bald sich hineinfinden in das, was da gemeint ist, wenn man ernstlich dazu den Willen hat. Aber da habe man neulich - in Berlin nennt man es Ulkiges - etwas unge­mein Ulkiges gelesen als Kritik einer Eurythmievorstellung. Da sagte jemand: Ja, das Unmögliche dieser Eurythmievorstellungen zeigte sich darin, daß die Leute zuerst Ernstes, Seriöses darstellten, und nachher Humoristisches, und sonderbarerweise - so fand der geistvolle Kri­tiker heraus - wurde das Humoristische mit denselben Bewegungen dargestellt wie das Ernste, Seriöse. Sehen Sie, er hat soviel von der Sache verstanden, daß er glaubt, es müßte das Humoristische mit an­dern Lautzeichen dargestellt werden als das Ernste, Seriöse! Wenn man ernst zu verstehen vermag, daß Eurythmie eine wirklich sichtbare Sprache ist, dem entspräche, daß eine jede Sprache für das Ernste eigene Laute braucht und für das Komische wieder andere Laute! Also wenn jemand in der deutschen oder französischen Sprache zu deklamieren begänne, dann würde er sich vielleicht des 1, des U und so weiter bedienen, aber er müßte, wenn er dann Humoristisches dekla­mierte, andere Laute haben. Ich weiß nicht, wieviele Leute daraufgekom­men sind, wie dieser Kritiker einer der ersten deutschen Zeitungen Blitzdummes zutage gefördert hat; aber so stellt es sich dar, wenn man es in Wirklichkeit sieht. Es ist also etwas, was bedeutet, daß in diesen Köpfen bereits jede Möglichkeit des Denkens aufgehört hat; sie kön­nen gar nicht mehr denken. Denn das ist das Ergebnis, das Fazit des Intellektualismus, wie er sich auf allen Gebieten des Lebens heute breitmacht, daß die Menschen zuerst ihre Gedanken zu toten inneren Seeleninhalten werden lassen. Wie steif, wie tot sind die meisten Ge­danken, die heute produziert werden, wie wenig innerliche Beweglich­keit haben sie, wie sehr sind sie nachgeäfft dem, was da oder dort

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vorgeschaffen ist! Wir haben in unserem Zeitalter im Grunde genom­men außerordentlich wenig originelle Gedanken. Aber das, was ge­storben ist - und die Gedanken unseres Zeitalters sind ja meistens ge­storben -, das bleibt nicht in demselben Zustande. Sehen Sie sich einen Leichnam nach drei Tagen an, sehen Sie ihn nach fünf Jahren an, oder gar nach vierzig Jahren: das stirbt ja weiter, das verwest weiter. Und daß so etwas nicht gemerkt wird, wie die Gedanken da schon in einen Verwesungszustand gekommen sind, wenn jemand sagt:

Das Unmögliche der Eurythmie zeigt sich darin, daß es für die humo­ristischen Sachen dieselben Bewegungen sind, wie für die ernsten -, das beruht lediglich darauf, daß die Menschen nicht in der Lage sind, ihren gesunden Menschenverstand heranzuschulen zum Beispiel an in­spirierten Wahrheiten, wie sie sich in der Anthroposophie ergeben. Schult man den gesunden Menschenverstand, ohne daß man selber eine okkulte Entwickelung durchmacht, an inspirierten Wahrheiten, dann bekommt man ein feines Gefühl für die lebendige Wahrheit, für das Gesunde und Ungesunde im menschlichen Denken, im mensch­lichen Forschen. Und dann, verzeihen Sie den Ausdruck, dann be­ginnen solche Behauptungen wie die, welche ich Ihnen eben gesagt habe, zu stinken. Dann erwirbt man sich die Möglichkeit, den Ver­wesungsgeruch dieser Gedanken zu riechen. Diese Fähigkeit des Rie­chens, die fehlt unseren Zeitgenossen eben in hohem Grade. Aber das merkt ein großer Teil unserer Zeitgenossenschaft nicht, sondern liest über diese Dinge hinweg.

Es ist schon notwendig, daß man ganz gründlich hineinsieht in das, wessen da die Menschheit bedarf. Die Menschheit bedarf wirklich auch jener Freiheit in der Seelenverfassung dem Gedanken gegenüber, die nur möglich ist dadurch, daß der Mensch sich dazu aufschwingt, spirituelle Wahrheiten in sich aufzunehmen. Sonst kommen wir natür­lich zu jenem Untergange der Kultur, der heute auf allen Gebieten sehr deutlich wahrzunehmen ist. Die Gesundheit des Urteils, das Un­mittelbare des Eindruckes, das sind Dinge, die den Menschen wirklich schon zum großen Teile verlorengegangen sind, und die nicht ver­lorengehen dürfen, die aber nur dann nicht verlorengehen werden, wenn der Mensch sich hindurchfindet zu dem Erfassen des Spirituellen.

#SE210-237

Es ist eben durchaus ins Auge zu fassen, daß der Mensch an der Anthroposophie einen Lebensinhalt hat, wenn er mit seinem gesunden Menschenverstand sich heranmacht an das, was durch Imagination, Inspiration und Intuition gewonnen werden kann. In der Hingabe an das imaginativ Erforschte findet der Mensch zum Beispiel jene innerliche Lebendigkeit, die ihn für Heilmittel empfänglich macht, neben anderem, neben dem zum Beispiel, daß es ihn überhaupt zu einer freien Persönlichkeit macht, die nicht für alle möglichen öffentlichen Suggestionen zugänglich ist.

Durch das Hineinleben in inspirierte Wahrheiten gelangt der Mensch dazu, ein sicheres Empfinden zu haben von dem Wahren und dem Falschen. Er gelangt auch dazu, dieses sichere Empfinden im Sozialen auszuleben. Wie wenige Menschen zum Beispiel können denn heute noch zuhören! Sie können ja nicht zuhören, sie reagieren immer gleich mit ihrer eigenen Meinung. Gerade dieses Hinhören auch auf den andern Menschen, das wird in einer schönen Weise da­durch entwickelt, daß der Mensch sich mit seinem gesunden Men­schenverstand in inspirierte Wahrheiten einlebt. Und das, was der Mensch für das Leben braucht: ein gewisses Loskommen von seinem eigenen Selbst, eine gewisse Selbstlosigkeit, das wird in hohem Grade entwickelt durch das Einleben in intuitive Wahrheiten. Und dieses Einleben in imaginative, inspirierte, intuitive Wahrheiten, das ist ein Lebensinh alt.

Es ist natürlich bequemer, wenn gesagt wird, die Leute können einen solchen Lebensinhalt aus dem bekommen, was Waldo Trine verspricht: daß man die Dinge nur ihrem Inhalte nach durchzulesen braucht und damit einen Lebensinhalt bekommt - während es schwe­rer ist, sich den Lebensinhalt auf anthroposophische Weise zu ver­schaffen. Der kann nur arbeitend erworben werden, arbeitend in dem Hineinleben ins Imaginative oder in das imaginativ Erforschte, ins inspiriert Erforschte und ins intuitiv Erforschte. Aber dann ist das auch ein Lebensinhalt, der sich intensiv mit der menschlichen Persön­lichkeit, mit dem ganzen Wesen des Menschen verbindet. Und einen solch sicheren Lebensinhalt gibt gerade dasjenige, was als Anthropo­sophie in die Welt treten will.

HINWEISE

#G210-1967-SE239 Neue und alte Einweihungsmethoden

#TI

HINWEISE

#TX

Die in den Vorträgen genannten geschriebenen Werke von Rudolf Steiner sind alle innerhalb der Gesamtausgabe erschienen. Siehe die Übersicht am Schluß des Bandes.

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9 Dieser Vortrag wurde gehalten anläßlich des Weihnachtskurses für Lehrer

1921/22: «Die gesunde Entwicklung des Leiblich-Physischen als Grundlage

der freien Entfaltung des Seelisch-Geistigen», Gesamtausgabe, Bibl.-Nr. 303.

Gestern habe ich von der Initiationswissenschaft gesprochen: Siehe den Vor­trag vom 31. Dezember 1921, im Band «Der Mensch als Erdenwesen und Himmelswesen»; Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 209.

22 Fürst Bismarck tat einen merkwürdigen Ausspruch: in der Rede vom 9. Mai

1884: «Ich erkenne ein Recht auf Arbeit unbedingt an und stehe dafür ein, solange ich auf diesem Platz sein werde. Ich befinde mich damit nicht auf dem Boden des Sozialismus, sondern auf dem Boden des preussischen Land-rechts." Zit. nach Brodnitz: «Bismarcks nationalökonomische Ansichten«, Seite 136, in Gide und Rist: «Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehr­meinungen», 2. Auflage, Jena 1921, Seite 488.

23 Maximilien Marje Isidore Robespierre, 1758-1794. Seit 1793 führend im revolutionären «Wohlfahrtsausschuß», 1794 guillotiniert.

29 Wiadimir Solowjew, 1853-1900. Das Zitat ist aus dem Werk «Die geistigen Grundlagen des Lebens«, Erster Teil, Einleitung; Ausgewahlte Werke uber­tragen von Harry Köhler, I. Band, Stuttgart 1922.

34 Aurelius Augustinus, 354-430, Bischof in Nordafrika.

41 Kosmosophie, Philosophie, Religion: Vergleiche zu diesen Ausführungen auch die Autoreferate zu den zehn Vorträgen des «Französischen Kurses», «Kos­mologie, Religion und Philosophie», Gesamtausgabe Dornach 1956, Bibl.­Nr.25, sowie den Zyklus vom 6.-15. September 1922, Gesamtausgahe Dornach 1962, Bibl.-Nr. 215.

43 Scotus Erigena, um 810 bis um 877. Sein Hauptwerk «De Divisione naturae« wurde 1225 durch Papst Honorius in Paris auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

50 Dieser Vortrag weist zahlreiche Lücken in der Nachschrift auf. Der Schluß befaßt sich mit einigen Zeitfragen und deckt sich inhaltlich größtenteils mit Ausführungen im Vortrag 1 (Solowjew, Bismarck, Rohespierre) und ist daher nicht gedruckt.

61 im Sinne der Lehre des Apostels Paulus: Zum Beispiel I. Kor.. 15.

#SE210-240

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63 Die «Freie Waldorfschule Stuttgart>, 1919 von Rudolf Steiner begründet mit der von ihm inaugurierten Erziehungskunst auf Grundlage der anthropo­sophisch orientierten Menschenkunde.

67 Ein großer Denker Westeuropas: Herbert Spencer, 1820-1903. «Education, intellectual, moral and physical», 1861.

Salowjew: Siehe Hinweis zu Seite 29

68 Adolf von Harnack, 1851-1930>, ,Tlieologe und Geschichtsforscher. Haupt­werk «Lehrbuch der Dogmengeschichte> in drei Bänden.

Konzil von Nicäa, 19. Juni 325. Zustandekommen des nicäischen Glaubens­bekenntnisses von der Gleichheit des Sohnes (Jesus Christus) mit dem Vater.

74 zum Beispiel im Wiener Zyklus von 1914: «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt>, Zyklus 32>, erweiterte Auflage Ge­samtausgabe Dornach 1959>, Bibl.-Nr. 153.

80 Ein einleitender Abschnitt>, in welchem sich Rudolf Steiner lobend über die Art aussprach>, wie Albert Steffen damals in der Zeitschrift «Goetheanum» über einen gegnerischen Vortrag berichtet hatte>, wird in Band Bibl.-Nr. 255 der Gesamtausgabe enthalten sein.

81 Thales von Milet, um 640-545 v. Chr.

89 Stellen bei den ersten Kirchenvätern : Zum Beispiel bei Justin (apol. I 46).

97 Malteserorden, 1798 überrannte Bonaparte>, der mit einer Flotte nach Agypten unterwegs war>, die Insel Malta in zwei Tagen.

102 bei einem öffentlichen Vortrag: «Anthroposophie und Wissenschaft»>, Basel>,

2. November 1921>, in der Gesamtausgabe im Band Bibl.-Nr. 75:

109 David Lloyd George, 1863-1945. Von 1916-1922 britischer Premierminister.

112 in den neunziger Jahren: Am 16. Februar 1894 wurde in Jena der 60. Geburts­tag von Ernst Haeckel gefeiert. Rudolf Steiner nahm als geladener Gast teil. Der von Haeckel verehrte, 1890 seines Amts entsetzte Bismarck folgte der Einladung Haeckels.

137 Philo von Alexandrien, jüdischer Philosoph und Theologe>, lebte um 20 v. Chr. bis 40 n. Chr.

141 Calderón de la Barca, Pedro>, 1600-1681. Größter Dramatiker Spaniens. Das Drama über Cyprian>, («El magico prodigioso> - «Der wundertätige Magier>>),

#SE210-241

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wurde 1637 verfaßt nach der späteren Fassung einer alten Sage in der

>legenda aurea». Das Stück spielt in der Zeit des Kaisers Decius in Antiochia.

150 «Märchen» von der grünen Schlange und der schönen Lilie: Vergleiche u. a. Rudolf Steiner in «Goethes Geistesart in ihrer Offenbarung durch seinen Faust und durch das ,Märchen von der Schlange und der Lilie'». Gesamt ausgabe Dornach 1956, Bibl.-Nr. 22.

156 im siebenten Bilde meines ersten Mysteriums : . . : «Die Pforte der Einweihung (Initiation)«, ein Rosenkreuzermysterium durch Rudolf Steiner>, im Jahre 1910 verfaßt. In «Vier Mysteriendramen>, Gesamtausgabe Dornach 1962. Bibl.­Nr.14.

158 f. in meinen Ausgaben von den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes:

Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, von Rudolf Steiner mit Einleitun-gen, Fußnoten und Erläuterungen im Text herausgegeben in Kürschners «Deutsche National-Litteratur«. Über den Zwischenkieferknochen vgl.Band I. fotomechanischer Nachdruck Bern 1949, Seite 277 ff.

159 die paulinischen Worte : . . : Gal. 2>, 20.

160 Karl Julius Schröer, 1825-1900. Über sein Büchlein «Goethe und die Liebe« siehe Rudolf Steiner in «Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart», Gesammelte Aufsätze 1921-1925 aus der Wochenschrift «Das Goetheanum«' Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 36>, Seite 111.

163 Schrift von Ruedorffer... : J. J. Ruedorffer «Die drei Krisen. Eine Unter­suchung über den gegenwärtigen politischen Weltzustand.> Stuttgart/Berlin

1920.

168 Franz Overbeck, 1837-1905.

169 vierten und fünften nachatlantischen Zeitraum: Über die nachatlantischen

Kulturepochen siehe Rudolf Steiner «Die Geheimwissenschaft im Umriß« im

Kapitel «Die Weltentwickelung und der Mensch». Gesamtausgabe Dornach

1962, Bibl.-Nr. 13.

Calderón: Siehe Hinweis zu Seite 141.

170 Faust gehört dem 16. Jahrhundert an: 1506 erste zeitgenössische Erwähnung von Faust, 1587 erster Druck des Volksbuches von Faust in Frankfurt.

172 Johann Gott fried Herder, 1744-1803. Nennt zum Beispiel Kants System «ein Reich unendlicher Hirngespinste, blinder Anschauungen, Phantasmen, Schematismen und leerer Buchstabenworte« (Werke XVIII).

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172 Emil Du Bois-Reymond, 1818-1896. In >Goethe und kein Ende>. Rede vom 15. Oktober 1882; in >Reden», i. Folge>, Leipzig 1886.

174 William Shakespeare, 1564-1616. >Hamlet> stammt aus der späteren Schaf­fenszeit.

175 von dem Buch des Gehirns: In >Hamlet», i. Aufzug>, 5. Auftritt. was man schwarz auf weiß besitzt . . . : «Faust», I. Teil>, Studierzimmer.

182 Voltaire, 1694-1778.

Waldorfschule: Siehe Hinweis zu Seite 63.

das luziferische Prinzip: Über die >luziferischen> und «ahrimanischen» We­senheiten siehe das unter Hinweis zu Seite 169 genannte Kapitel in Rudolf Steiners Werk >Die Geheimwissenschaft im Umriß>.

185 Sazo Grammatikus, dänischer Geschichtsschreiber>, gestorben 1204.

188 wir haben ja vor einiger Zeit gesehen: Zum Beispiel in Vorträgen in Dornach am 26. November und 19. Dezember 1920. In der Gesamtausgabe Bibl.­Nr. 202.

193 das habe ich längst historisch nachgewiesen . Siehe Rudolf Steiner «Metho­

dische Grundlagen der Anthroposophie 1884-1901>. Gesamtausgabe Dornach 1961, Bibl.-Nr. 30, Seite 86 ff' 201ff.

198 Schiller suchte dann das Kosmische: Siehe Rudolf Steiner «Schiller und die Gegenwart», Vortrag in Berlin 4. Mai 1905>, Dornach 1955.

199 Aber es kommt noch etwas anderes in Betracht: Siehe Rudolf Steiner «Gei­steswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes Faust> . Gesamtausgabe Dornach 1967, Bibl.-Nr. 272 und 273.

Theophilus-Sage: Aus griechischem Ursprung im 10. Jahrhundert ins Abend-

land gekommene Legende und in Prosa und Versform fast in allen bekannten

Sprachen erzählt, durch die niedersächsische Dichterin Hrosvitha' Nonne in

Gandersheim' in lateinische Verse gebracht.

200 In deinem Nichts hoff ich das All zu finden: «Faust> II, Finstere Galerie, Faust zu Mephisto.

Denn es ist zuletzt die Himmelskönigin . Siehe >Faust> II, letzte Szene, Doctor Marianus (Faust).

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202 Friedrich Theodor Vischer, 1807-1887, Philosoph und Ästhetiker. Schrieb eine Satire «Faust. Der Tragödie dritter Teil», 1862.

203 Die hohe Kraft der Wissenschaft: «Faust>, I. Teil, Hexenküche.

206 Miltons «Verlorenes Paradies»: Epos von John Milton>, 1608-1674. Englischer Dichter und puritanischer Politiker.

209 Theophilus-Legende: Siehe Hinweis zu Seite 199.

210 Wolfram von Eschenbach, um 1170-1220. In seinem «Parzival> spricht

Gurnemanz zu Parzival :

Ihr sollt nicht überlästig fragen . fhr möget hören, möget sehen,

scharf erwittern>, kluglich merken: Das wird an Sinn und Witz euch

stärken.

213 nachatlantischer Zeitraum: Siehe Hinweis zu Seite 169.

214 Till Eulenspiegel, soll 1350 in Mölln gestorben sein. Erstes Vnlksbuch in hoch-deutscher Sprache erschien 1515.

216 Christo ffel von Grimmelshausen, gestorben 1676. >Der abenteuerliche Simpli­cissimus« erschien 1669.

220 Hartmann von Aue, um 1170-1213.

222 im 19. Jahrhundert:

Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius)' 1797-1854; Karl Immermann, 1796-1840;

George Sand (A. L. Dudevant)>, 1804-1876; D. W. Grigorowitsch>, 1818-1883;

Iwan S. Turgenjew' 1818-1883.

228 Brief an Goethe: vom 7. Januar 1795. Wörtlich: «So viel ist indes gewiß, der Dichter ist der einzige wahre Mensch, und der beste Philosoph ist nur eine Karikatur gegen ihn.»

Ausspruch (wörtlich): «Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch. wo er spielt.> «Über die ästhetische Erziehung des Menschen»>, 15. Brief.

233 allerlei «Generäle» . . . : Hinweis auf die Rednertätigkeit des Generals vnn Gleich.

237 Ralph Waldo Trine, 1866-1958. «In Harmonie mit dem Unendlichen>, 1897

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.