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= DAS FAUST-PROBLEM Dornach, 30. September 1916 =
= DAS FAUST-PROBLEM Dornach, 30. September 1916 =
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Er ist ein so gräßlicher Kerl, daß er, nachdem er den Faust das Unglück hat anstellen lassen mit Gretchens Mutter, mit Gretchens Bruder, ihn nach zwei Tagen als Wanderer seelenvergnügt nach dem Blocksberg führt. Aber man muß immer wiederholen: Goethe war schon nicht jener quietschvergnügte Wald- und Wiesen-Goethe, als der er den Menschen bisher erschienen ist, sondern man wird sich bequemen müssen, zu er­kennen, daß in ihm etwas ganz anderes noch ist, und daß vieles erst ans Tageslicht kommen muß, was in Goethes Dichtung steckt.  
Er ist ein so gräßlicher Kerl, daß er, nachdem er den Faust das Unglück hat anstellen lassen mit Gretchens Mutter, mit Gretchens Bruder, ihn nach zwei Tagen als Wanderer seelenvergnügt nach dem Blocksberg führt. Aber man muß immer wiederholen: Goethe war schon nicht jener quietschvergnügte Wald- und Wiesen-Goethe, als der er den Menschen bisher erschienen ist, sondern man wird sich bequemen müssen, zu er­kennen, daß in ihm etwas ganz anderes noch ist, und daß vieles erst ans Tageslicht kommen muß, was in Goethes Dichtung steckt.  


= GOETHES AHNUNGEN NACH DEM KONKRETEN HIN SCHATTENHAFTE BEGRIFFE UND WIRKLICHKEITSDURCHTRANKTE VORSTELLUNGEN Dornach, 27. Januar 1917 =
= GOETHES AHNUNGEN NACH DEM KONKRETEN HIN. SCHATTENHAFTE BEGRIFFE UND WIRKLICHKEITSDURCHTRÄNKTE VORSTELLUNGEN Dornach, 27. Januar 1917 =
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Doch an diese Dinge will ich dann morgen noch anknüpfen, um unsere Betrachtungen weiterzuführen. Aber Sie sehen, es kann uns ge­rade dasjenige, was Goethe sagen wollte, manches verdeutlichen, das gar sehr in dem Laufe unserer bisherigen Betrachtungen liegt.  
Doch an diese Dinge will ich dann morgen noch anknüpfen, um unsere Betrachtungen weiterzuführen. Aber Sie sehen, es kann uns ge­rade dasjenige, was Goethe sagen wollte, manches verdeutlichen, das gar sehr in dem Laufe unserer bisherigen Betrachtungen liegt.  


= FAUST UND DAS PROBLEM DES BUSEN Dornach, 3. November 1917 =
= FAUST UND DAS PROBLEM DES BÖSEN Dornach, 3. November 1917 =
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FAUST UND DAS PROBLEM DES BUSEN
FAUST UND DAS PROBLEM DES BÖSEN


Dornach, 3. November 1917
Dornach, 3. November 1917
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So spielt in der esoterischen Helena-Sage, die Goethe wohl benützte, auch der dritte und der vierte nachatlantische Zeitraum herein in den fünften. So hat Goethe wunderbarerweise dieses Helena-Problem ver­wendet.
So spielt in der esoterischen Helena-Sage, die Goethe wohl benützte, auch der dritte und der vierte nachatlantische Zeitraum herein in den fünften. So hat Goethe wunderbarerweise dieses Helena-Problem ver­wendet.


Nun, davon wollen wir morgen noch weitersprechen, das Helena-Problem nicht nur in bezug auf den Faust behandeln, sondern wir wollen dann einiges noch von dem Helena-Problem angeben, was uns wirklich über vieles in uns aufklären kann, was als Frage entstehen kann aus den Betrachtungen, die in dieser Zeit durch unsere Seele gehen müssen.  
Nun, davon wollen wir morgen noch weitersprechen, das Helena-Problem nicht nur in bezug auf den Faust behandeln, sondern wir wollen dann einiges noch von dem Helena-Problem angeben, was uns wirklich über vieles in uns aufklären kann, was als Frage entstehen kann aus den Betrachtungen, die in dieser Zeit durch unsere Seele gehen müssen.


= DIE HELENA-SAGE UND DAS FREIHEITSRÄTSEL Dornach, 4. November 1917 =
= DIE HELENA-SAGE UND DAS FREIHEITSRÄTSEL Dornach, 4. November 1917 =
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Doch davon will ich dann morgen weiter sprechen, weil sich die Sache doch nicht in einer Auseinandersetzung erledigen läßt.  
Doch davon will ich dann morgen weiter sprechen, weil sich die Sache doch nicht in einer Auseinandersetzung erledigen läßt.  


= GEISTESWISSENSCHAFTLICHE AUSFÜHRUNGEN IN ANKNÜPFUNG AN DIE «KLASSISCHE WALPURGISNACHT Fortsetzung: Darnacb 28. September 1918 =
= GEISTESWISSENSCHAFTLICHE AUSFÜHRUNGEN IN ANKNÜPFUNG AN DIE «KLASSISCHE WALPURGISNACHT» Fortsetzung: Dornach 28. September 1918 =
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ihr zur geistigen Welt kommen wollt, ihr müßt gewisse Unbequemlich­keiten überwinden. - Gewiß, das ist die eine Seite, die man geltend machen muß. Aber bedenken Sie, welche Summe von seelenbeglücken-den Empfindungen darinnen liegt, daß eine geisteswissenschaftliche An­schauung uns den Blick eröffnet von dem Leben, das wir hier vollbringen mit andern Menschen zwischen Geburt und Tod, welche weltbeglücken-den Empfindungen eröffnet werden dadurch, daß man weiß, man lebt noch inniger mit denjenigen, die durch des Todes Pforte gegangen sind. Und denken Sie sich, wenn einmal dieser Gedanke der Zweiseitigkeit richtig erfaßt wird, wenn richtig diese Welt einmal angesehen wird im Sinne der Geisteswissenschaft, so wird nicht nur dasjenige, was Geistes­wissenschaft zu sagen hat, ausgießen die Forderung von unbequemem Eindringen in die geistigen Welten, sondern es wird auszugießen haben diese Geisteswissenschaft über die Herzen der Menschen ungeheure Sum­men von Trostesempfindungen, ungeheure Summen von andern seelen­beglückenden Empfindungen, die dadurch die menschliche Seele ergrei­fen, daß diese menschliche Seele immer mehr und mehr fähig sein wird, nicht nur mit denen zu leben, die in der sinnenfälligen Welt sie umgeben, sondern mit all den Menschen zu leben, mit denen irgendein Lebensband eingegangen worden ist in dem physischen Leben, zu leben mit ihnen über des Todes Pforte hinaus. Können wir denn nur verlangen, wenn wir vernünftig sind, daß eine Wissenschaft, welche unsere Seelen er-lebend hinausträgt über des Todes Pforte, eine bequeme Wissenschaft sein soll? Nein, das können wir, wenn wir verständig und vernünftig sind, ohnedies nicht verlangen. Durch die Unbequemlichkeit auch zu einer gewissen Weltbeglückung wird die Menschheit der Zukunft ent­gegengehen müssen. Dazu wird sie sich entschließen müssen, Wissen­schaft zu suchen von geistigen Welten.  
ihr zur geistigen Welt kommen wollt, ihr müßt gewisse Unbequemlich­keiten überwinden. - Gewiß, das ist die eine Seite, die man geltend machen muß. Aber bedenken Sie, welche Summe von seelenbeglücken-den Empfindungen darinnen liegt, daß eine geisteswissenschaftliche An­schauung uns den Blick eröffnet von dem Leben, das wir hier vollbringen mit andern Menschen zwischen Geburt und Tod, welche weltbeglücken-den Empfindungen eröffnet werden dadurch, daß man weiß, man lebt noch inniger mit denjenigen, die durch des Todes Pforte gegangen sind. Und denken Sie sich, wenn einmal dieser Gedanke der Zweiseitigkeit richtig erfaßt wird, wenn richtig diese Welt einmal angesehen wird im Sinne der Geisteswissenschaft, so wird nicht nur dasjenige, was Geistes­wissenschaft zu sagen hat, ausgießen die Forderung von unbequemem Eindringen in die geistigen Welten, sondern es wird auszugießen haben diese Geisteswissenschaft über die Herzen der Menschen ungeheure Sum­men von Trostesempfindungen, ungeheure Summen von andern seelen­beglückenden Empfindungen, die dadurch die menschliche Seele ergrei­fen, daß diese menschliche Seele immer mehr und mehr fähig sein wird, nicht nur mit denen zu leben, die in der sinnenfälligen Welt sie umgeben, sondern mit all den Menschen zu leben, mit denen irgendein Lebensband eingegangen worden ist in dem physischen Leben, zu leben mit ihnen über des Todes Pforte hinaus. Können wir denn nur verlangen, wenn wir vernünftig sind, daß eine Wissenschaft, welche unsere Seelen er-lebend hinausträgt über des Todes Pforte, eine bequeme Wissenschaft sein soll? Nein, das können wir, wenn wir verständig und vernünftig sind, ohnedies nicht verlangen. Durch die Unbequemlichkeit auch zu einer gewissen Weltbeglückung wird die Menschheit der Zukunft ent­gegengehen müssen. Dazu wird sie sich entschließen müssen, Wissen­schaft zu suchen von geistigen Welten.  


= DIE SAMOTHRAKISCHEN KABIREN-MYSTERIEN DAS GEHEIMNIS DER MENSCHWERDUNG Darnach, 17. Januar 1919 =
= DIE SAMOTHRAKISCHEN KABIREN-MYSTERIEN. DAS GEHEIMNIS DER MENSCHWERDUNG Dornach, 17. Januar 1919 =
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249 Hamerling> . . in seinem «Homunkulus>: Epos 1888. s. den Vortrag von Rudolf Steiner: Berlin, am 26> März 1914> «Geisteswissenschaft als Lebens-gut». Bibl.-Nr. 63, Gesamtausgabe Dornach 1959.
249 Hamerling> . . in seinem «Homunkulus>: Epos 1888. s. den Vortrag von Rudolf Steiner: Berlin, am 26> März 1914> «Geisteswissenschaft als Lebens-gut». Bibl.-Nr. 63, Gesamtausgabe Dornach 1959.
251 «Kreuzwendedich>: Georg Kreuzwendedich, Freiherr von Rheinbaben, 1855 bis 1921.
251 «Kreuzwendedich>: Georg Kreuzwendedich, Freiherr von Rheinbaben, 1855 bis 1921.
= Literatur =
* [[a:Rudolf Steiner|Rudolf Steiner]]: ''Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust»'', Band II: Das Faust-Problem, [[GA 273]] (1981), ISBN 3-7274-2730-2 {{Vorträge|273}}
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[[Kategorie:GA 273 Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust»|!]]
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Aktuelle Version vom 27. Oktober 2023, 22:22 Uhr

ansehen im RUDOLF STEINER VERLAG

DAS FAUST-PROBLEM Dornach, 30. September 1916

#G273-1967-SE009 Das Faust-Problem

#TI

DAS FAUST-PROBLEM

Dornach, 30. September 1916

nach einer Aufführung der Szene im Studierzimmer aus #TX

Ich möchte heute wiederum an das eben Dargestellte anknüpfen, um daraus eine Einheit zu gewinnen, die es dann möglich machen wird, morgen zu einer umfassenderen Betrachtung zu kommen.

Wir haben gesehen, wie der Übergang vom 14., 15. ins 16., 17. Jahr-hundert in der ganzen Entwiekelung der Menschheit einen außerordent­lich bedeutenden Einschnitt zeigt, der Übergang von dem griechisch-lateinischen Zeitalter zu unserem fünften nachatlantischen Zeitraum, zu dem Zeitraum, in dem wir jetzt leben, aus dem unsere Impulse für alles Erkennen und auch für alles Handeln fließen, zu dem Zeitraum, der bis zum vierten Jahrtausend währen wird. Nun, aus alldem, was Sie über Goethes «Faust» wissen und über den Zusammenhang dieses Goe-theschen «Faust» mit der Faust-Gestalt, wie sie aus der Sage des 16. Jahr-hunderts stammt, werden Sie einsehen, daß sowohl diese Faust-Gestalt aus dem 16. Jahrhundert wie dasjenige, was Goethes Anschauung aus ihr geformt hat, in innigem Zusammenhange steht mit all den Übergangs-impulsen, die das neue Zeitalter in geistiger Beziehung und damit auch in äußerlich materieller Beziehung heraufgebracht haben. Nun ist bei Goethe die Sache wirklich so, daß gerade dies Problem vom Herauf­kommen der neuen Zeit und vom Fortwirken der Impulse der neuen Zeit ungeheuer mächtig war, daß er ganz und gar inspiriert war die sechzig Jahre, die er an seinem «Faust» geschaffen hat, von der Frage:

Welches sind die wichtigsten Aufgaben, die wichtigsten Gesinnungs­richtungen der neueren Menschen? Und Goethe konnte wahrhaftig zurüekblieken in das abgelaufene Zeitalter, das heute selbst der Wissen-schaff so wenig mehr bekannt ist, jenes abgelaufene Zeitalter, das mit dem 14., 15. Jahrhundert zu Ende geht. Was die Geschichte meldet -ich habe es oftmals gesagt - über die Seelenstimmung der Menschen, über die menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse früherer Jahrhun­derte, das ist doch im Grunde etwas, was recht sehr «graue Theorie» ist.

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In den Seelen der Menschen früherer Jahrhunderte, der Jahrhunderte noch, die dem Faust-Zeitalter vorangegangen sind, sah es gewaltig anders aus als in den Seelen der Gegenwartsmenschen, in den Seelen der gegenwärtigen Menschheitsepoche. Und Goethe hat so recht eine Gestalt, eine Persönlichkeit in seinem «Faust» verkörpert, die zurüekbliekt auf die Seelenverfassung der Menschen in früheren Jahrhunderten, in lang vergangenen Jahrhunderten, und die zugleich vorwärtsbliekt auf die Aufgaben der Gegenwart, auf die Aufgaben der Zukunft.

Indem Faust zunächst zurüekbliekt auf das, was seinem Zeitalter vorangeht, kann er im Grunde nur noch auf die Trümmer einer zu Ende gegangenen Kultur blicken. Wir müssen zuerst immer den Faust des 16. Jahrhunderts ins Auge fassen, der eine historische Gestalt ist, der wirklich gelebt hat, und der dann in die Volkssage übergegangen ist. Dieser Faust lebte noch in den alten Wissenschaften darinnen, die er sich angeeignet hat, lebte in Magie, in Alchimie und in der Mystik dar­innen, welche die Weisheit früherer Jahrhunderte war, namentlich auch die Weisheit der dem Christentum vorangegangenen Zeit war, die aber in der Zeit, in welcher der historische Faust des ,6. Jahrhunderts lebte, schon gründlich im Verfall war. Das, was da in der Faust-Zeit als Alchimie, als Magie, als Mystik von denjenigen angesehen worden ist, unter denen Faust lebte, war durchaus schon krauses Zeug, war ein Zeug, das auf Traditionen, auf Hinterlassenschaften aus älterer Zeit fußte, in dem man sich aber nicht mehr auskannte. Die Weisheit, die darinnen lebte, kannte man nicht mehr. Man hatte mancherlei gesunde Formeln aus alten Zeiten, mancherlei richtige Einsichten aus alter Zeit, aber verstand sie nurmehr schlecht. Also in ein Zeitalter eines ver­fallenden Geisteslebens war in dieser Beziehung der geschichtliche Faust hineingestellt. Und Goethe vermischt fortwährend dasjenige, was der geschichtliche Faust erlebte, mit dem, was er geformt hat zum Faust des 18. Jahrhunderts, zum Faust des 19. Jahrhunderts, ja zum Faust noch vieler kommenden Jahrhunderte. Daher sehen wir auch den Goetheschen Faust wieder zurückblicken zur alten Magie, zur alten Art von Weisheit, Mystik, die nicht Chemie im heutigen materialistischen Sinne getrieben hat, die durch die Hantierungen mit der Natur in Zusammenhang kom­men wollte mit einer geistigen Welt, aber die Kenntnisse schon nicht

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mehr hatte, um in der richtigen Art der früheren Zeit mit der geistigen Welt in Zusammenhang zu kommen. Was man in Jahrhunderten, die nun längst vergangen sind, als Heilkunde betrachtet hat, ist nicht so töricht, wie es eine heutige Wissenschaft oftmals machen will, nur ist die eigentliche darinnensteckende Weisheit verlorengegangen, und sie war zum Teil schon verloren im Zeitalter des Faust. Das kannte Goethe gut. Aber er kannte es nicht mit dem Verstande allein, er kannte es mit dem Herzen, er kannte es mit allen Seelenkräften, die an dem Wohl und Heil der Menschheit hängen und die für das Heil der Menschheit be­sonders in Betracht kommen. Goethe wollte sich die Rätselfragen, die für ihn daraus entsprossen, beantworten, daß man erkennen könne, wie man, immer weiter fortgehend, zu andern, für die neuere Zeit ebenso geeigneten Weisheiten in bezug auf die geistige Welt kommen könne, wie es die Alten vermochten, deren Weisheit nach dem Gange der Menschheit notwendig verglimmen mußte. Daher läßt er seinen Faust Magier werden. Faust hat sich der Magie ergeben wie der Faust des 16. Jahrhunderts. Aber er bleibt doch unbefriedigt aus dem einfachen Grunde, weil die eigentliche Weisheit der alten Magie eben schon ver­glommen war. Aus dieser Weisheit stammte auch die alte Heilkunde. Mit der alten Chemie, Alchimie stand alle Rezeptierkunde, alle Arznei-kunde in Zusammenhang.

Nun berührt man, wenn man eine solche Frage berührt, sogleich die tiefsten Geheimnisse der Menschheit, insofern diese nämlich dahin gehen, daß man in Wahrheit Krankheiten nicht heilen kann, ohne sie zugleich erzeugen zu können. Die Wege zum Heilen der Krankheiten sind zugleich die Wege zum Erzeugen der Krankheiten. Wir werden gleich nachher hören, wie in der alten Weisheit durchaus der Grundsatz herrschend war, daß derjenige, der Heiler war, zugleich Erzeuger von Krankheiten sein konnte, und wie deshalb in alten Zeiten die Heil-kunst mit einer tief moralischen Weltauffassung im Zusammenhang ge­dacht wurde. Aber wir werden auch gleich nachher sehen, wie wenig sich dasjenige hätte entwickeln können in diesen alten Zeiten, was man die neuere Freiheit der menschlichen Entwickelung nennt, die eigentlich erst in unserem fünften, in dem auf den griechisch-römischen folgenden Zeit­raum von der Menschheit in Angriff genommen worden ist. Wir werden

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sehen, wie diese hätte sein müssen, wenn die alte Weisheit verblieben wäre. Auf allen Gebieten aber mußte diese Weisheit zugrunde gehen, damit der Mensch gewissermaßen von vorne anfangen müsse, aber so, daß er mit dem Wissen und mit dem Handeln zugleich zur Freiheit streben konnte. Das hätte er nicht können unter dem Einflusse der alten Weisheit. In solchen Übergangszeiten, wie diejenige war, in der Faust lebte, ist der Verfall des Alten da; das Neue ist noch nicht gekommen. Da entstehen denn solche Stimmungen, wie sie im «Faust» zu bemerken sind in der Szene, die vorangeht derjenigen, die wir heute dargestellt haben. In dieser Szene sehen wir ganz klar, wie Faust aus dem Zeitalter heraus ist und sich heraus fühlt, in dem noch alte Weisheit, aber die schon nicht mehr völlig verstandene alte Weisheit, da war. Wir sehen, wie Faust, von seinem Famulus Wagner begleitet, hinausgeht ins Grüne aus seiner Zelle, wie er zunächst das Volk betrachtet, welches das Oster­fest im Freien, im Grünen feiert, wie er selbst österliche Stimmung be­kommt. Aber wir sehen sogleich, wie er nicht entgegennehmen will die Huldigungen, die ihm von dem Volk dargebracht werden. Ein alter Bauer tritt ja auf, tritt Faust gegenüber und bringt Huldigungen dar, weil das Volk glaubt, daß Faust, der Sohn eines alten Adepten, eines alten Heilkundigen, auch ein bedeutender Heilkundiger sei, der Heil und Segen unter das Volk bringen kann. Ein alter Bauer tritt Faust entgegen und sagt:

Fürwahr, es ist sehr wohl getan,

Daß ihr am frohen Tag erscheint;

Habt ihr es vormals doch mit uns

An bösen Tagen gut gemeint!

Gar mancher steht lebendig hier,

Den euer Vater noch zuletzt

Der heißen Fieherwut entriß,

Als er der Seuche Ziel gesetzt.

Auch damals ihr, ein junger Mann,

Ihr gingt in jedes Krankenhaus,

Gar manche Leiche trug man fort,

Ihr aber kamt gesund heraus;

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Bestandet manche harte Proben;

Dem Helfer half der Helfer droben.

Das sagt der alte Bauer, erinnernd, wie Faust zusammenhängt mit der alten Heilkunde, die aber sich nicht nur bezog auf die Heilung physischer Krankheiten, sondern auf die Heilung auch der moralischen Übel des Volkes. Faust weiß, daß er nicht mehr in einem Zeitalter ge­lebt hat, in dem die alte Weisheit wirklich hilfreich der Menschheit war, sondern schon in einer Verfallszeit. Und in seiner Seele glimmt auf Bescheidenheit, aber zu gleicher Zeit Niedergeschlagenheit über die Unwahrheit, der er eigentlich gegenübersteht, und er sagt:

Nur wenige Schritte noch hinauf zu jenem Stein,

Hier wollen wir von unsrer Wandrung rasten.

Hier saß ich oft gedankenvoll allein

Und quälte mich mit Beten und mit Fasten.

An Hoffnung reich, im Glauben fest,

Mit Tränen, Seufzen, Händeringen

Dacht ich das Ende jener Pest

Vom Herrn des Himmels zu erzwingen.

Der Menge Beifall tönt mir nun wie Hohn.

O könntest du in meinem Innern lesen,

Wie wenig Vater und Sohn

Solch eines Ruhmes wert gewesen!

Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann,

Der über die Natur und ihre heil'gen Kreise,

In Redlichkeit, jedoch auf seine Weise,

Mit grillenhafter Mühe sann.

Der, in Gesellschaft von Adepten,

Sich in die schwarze Küche schloß

Und, nach unendlichen Rezepten,

Das Widrige zusammengoß.

Da ward ein roter Leu, ein kühner Freier,

Im lauen Bad der Lilie vermählt,

Und beide dann mit offnem Flammenfeuer

Aus einem Brautgemach ins andere gequält.

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Also Goethe hat sehr wohl studiert, wie man dazumal verfahren ist, wie man den «roten Leu» - das Quecksilberoxyd, Schwefelqueck-silber - behandelt hat, wie man die verschiedenen Chemikalien zu­sammengemischt und ihren Prozessen überlassen hat, wie man Arze­neien daraus fabriziert hat. Das alles aber entsprach nicht mehr der alten Weisheit. Goethe kennt auch die Ausdrucksweise. Man hat durch­aus das, was man darzustellen hatte, in Bildern dargestellt. Die Ver­bindungen von Stoffen hat man wie eine Vermählung dargestellt. Da­her sagt er:

Aus einem Brautgemach ins andere gequält.

Erschien darauf mit bunten Farben

Die junge Königin im Glas -Das war ein Kunstausdruck. Wie in der heutigen Chemie Kunst- ausdrücke sind, so nannte man dazumal, wenn gewisse Substanzen einen gewissen Zustand und Farbe erreicht haben, «die junge Königin».

Hier war die Arzenei, die Patienten starben,

Sie starben damals dem Faust weg, wie sie auch heute noch bei vielen Arzeneien sterben.

Hier war die Arzenei, die Patienten starben,

Und niemand fragte: wer genas?

So haben wir mit höllischen Latwergen

In diesen Tälern, diesen Bergen

Weit schlimmer als die Pest getobt.

Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben,

Sie welkten hin, ich muß erleben,

Daß man die frechen Mörder lobt.

Das ist Selbsterkenntnis des Faust. So steht Faust nun vor sich selber da, er, von dem Sie wissen, daß er in alten magischen Weistümern sich umgetan hat, um in die Geheimnisse der Natur und des Geistes einzu­dringen. Durch alles das ist er aber vergeistigt worden. So wie Wagner, sein Famulus, der sich Genüge getan hat mit der neueren Weisheit, die im Schriftwerke ruht, die in Buchstaben ruht, kann es Faust nicht halten.

#SE273-015

Dieser Wagner ist ja eine Persönlichkeit, welche weit geringere Ansprüche an die Weisheit und an das Leben stellt. Und als Faust sich hineinträumen will in die Natur, um den Geist der Natur zu finden, da denkt der Wagner nur an den Geist, der ihm aus den Theorien, aus dem Pergamente, aus den Büchern fließt. Was da über Faust kommt, nennt er grillenhafte Stunden:

Ich hatte selbst oft grillenhafte Stunden,

- sagt Wagner -

Doch solchen Trieb hab ich noch nie empfunden.

Man sieht sich leicht an Wald und Feldern satt,

Des Vogels Fittich werd ich nie beneiden.

Er will nie mit dem Vogel hinausfliegen, um die Welt kennenzulernen!

Wie anders tragen uns die Geistesfreuden

Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!

Da werden Winternächte hold und schön,

Ein selig Leben wärmet alle Glieder,

Und ach! entrollst du gar ein würdig Pergamen,

So steigt der ganze Himmel zu dir nieder.

Ein vollständiger Büchermensch, ein ganzer Theorienmensch!

So, nachdem das Volk abgegangen ist, stehen sie nun da: derjenige, der hinein will zu des Lebens Quellen, der sein eigenes Wesen verbinden will mit den geheimnisvollen Kräften der Natur, um diese geheimnis­vollen Kräfte der Natur zu erleben: Faust - und derjenige, der nichts sieht als das äußere materielle Leben und dasjenige, was in den Büchern eben durch Materie aufgezeichnet ist: Wagner. Man braucht nicht viel nachzudenken, was, durch all das, was er erlebt hat bis zu diesem Augenblicke, wie es uns Goethe darstellt, in Fausts Innerem vorge­gangen ist; soviel aber kann man sich sagen nach alledem, was uns in Faust entgegentritt, daß das Innere, man möchte sagen, sich um- und umgekehrt hat, daß eine wirkliche Seelenentwickelung bei Faust statt­gefunden hat, daß er ein gewisses inneres Schauen erlangt hat, sonst hätte er nicht den Erdgeist rufen können, der im Tatensturm auf und

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ab wallt. Eine gewisse Fähigkeit, die äußere Welt nicht nur ihren äuße­ren Erscheinungen nach zu sehen, sondern den Geist zu sehen, der in allem webt und lebt, hat sich Faust angeeignet. Da springt ihnen, Faust und Wagner, ein Pudel von ferne entgegen. Wie sie beide den Pudel sehen, einen gewöhnlichen Pudel, wie ihn Faust sieht und wie ihn Wagner sieht, das charakterisiert die beiden Menschen ganz und gar. Nachdem Faust sich hineingeträumt hat in das lebendige Geistweben der Natur, erblickt er den Pudel:

Siehst du den schwarzen Hund durch Saat und Stoppel

streifen?

Wagner: Ich sah ihn lange schon, nicht wichtig schien er mir.

Faust: Betracht ihn recht! Für was hältst du das Tier?

Wagner: Für einen Pudel, der auf seine Weise Sich auf der Spur des Herren plagt.

In Kreisen geht der Pudel ringsherum.

Faust: Bemerkst du, wie im weiten Schneckenkreise

Er um uns her und immer näher jagt?

Und irr' ich nicht, so zieht ein Feuerstrudel

Auf seinen Pfaden hinterdrein.

Faust sieht nicht bloß den Pudel, sondern im Inneren des Faust regt sich etwas, er sieht etwas, was zum Pudel gehört wie ein Geistiges. Das sieht Faust. Wagner sieht es selbstverständlich nicht. Mit äußeren Augen kann man ja das nicht sehen, was Faust sieht.

Wagner: Ich sehe nichts als einen schwarzen Pudel;

Es mag bei euch wohl Augentäuschung sein.

Faust: Mir scheint es, daß er magisch leise Schlingen

Zu künft'gem Band um unsre Füße zieht.

Wagner: Ich seh' ihn ungewiß und furchtsam uns umspringen,

Weil er, statt seines Herrn, zwei Unbekannte sieht.

Faust sieht also in dieser einfachen Erscheinung zugleich etwas Geistiges.

#SE273-017

Halten wir das fest. Faust geht, indem sein Inneres ergriffen ist von einem gewissen Geistzusammenhang selbst mit diesem Pudel, nun in sein Studierzimmer. Nun, selbstverständlich, dramatisch stellt Goethe das so dar, daß der Pudel da ist, wie er ist; das ist auch gut, das Drama muß das so darstellen. Aber im Grunde haben wir es doch mit etwas, was Faust innerlich erlebt, zu tun. Und wie jetzt diese Szene sich abspielt, wie Faust hier etwas innerlich erlebt, das ist von Goethe wirklich meisterlich in jedem Worte gesagt. Sie sind draußen geblieben, Faust und Wagner, bis in die Nacht hinein, wo das äußere Licht nicht mehr wirkt, wo nur die Dämmerung gewirkt hat. In die Dämmerung hinein sieht Faust dasjenige, was er geistig sehen will. Nun kommt er nach Hause wiederum in seine Zelle. Nun ist er allein mit sich. Solch ein Mensch wie Faust, nachdem er all das durchgemacht hat, mit sich allein gelassen, ist in der Lage, Selbsterkenntnis, das heißt, das Leben des Geistes im eigenen Selbst zu erleben. Er drückt es aus, wie gewisser­maßen sein Innerstes rege geworden ist, aber auf geistige Art rege geworden ist:

Verlassen hab' ich Feld und Auen,

Die eine tiefe Nacht bedeckt,

Mit ahnungsvollem, heil'gem Grauen

In uns die beßre Seele weckt.

Entschlafen sind nun wilde Triebe

Mit jedem ungestümen Tun;

Es reget sich die Menschenliebe,

Die Liebe Gottes regt sich nun.

Der Pudel knurrt. Aber seien wir uns klar: es sind innere Erlebnisse, auch das Pudelknurren ist inneres Erlebnis, wenn es auch dramatisch äußerlich dargestellt wird. Faust hat sich mit der verfallenden Magie eingelassen, mit Mephistopheles eingelassen. Mephistopheles ist kein Geist, der ihn in die fortschreitenden, regulären geistigen Kräfte hinein-führt, Mephistopheles ist der Geist, den Faust erst überwinden muß, der ihm beigesellt wird, daß er ihn überwinde, der ihm zur Prüfung, nicht zur Belehrung, beigegeben ist. Das heißt: wir sehen jetzt Faust vor uns stehen, wie er auf der einen Seite hinein will in die göttlich-geistige

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Welt, welche die Weltentwickelung vorwärtsträgt, und wie auf der an­dern Seite die Kräfte in seiner Seele rege sind, die ihn hinunterziehen ins gewöhnliche Triebleben, das den Menschen abbringt von dem geistigen Streben. Gerade wenn Heiliges in seiner Seele sich regt, da spottet es; die entgegenstehenden Triebe spotten. Dies ist jetzt in Form äußerlicher Ereignisse wunderbar dargestellt: Faust, gewissermaßen nach dem Gött­lich-Geistigen mit all seinem Wissen hinstrebend, und seine eigenen Triebe, die dagegen knurren, so wie der materialistische Sinn des Men­schen knurrt gegen das geistige Streben. Und wenn Faust sagt: Sei ruhig, Pudel! Knurre nicht - so beruhigt er im Grunde genommen sich selber. Und nun spricht Faust, das heißt, in diesem Fall läßt Goethe Faust in einer wunderbaren Weise sprechen. Erst wenn man eingeht auf die ein­zelnen Worte, findet man, wie wunderbar Goethe das innere Leben des Menschen in geistiger Entwickelung kennt:

Ach, wenn in unsrer engen Zelle

Die Lampe freundlich wieder brennt,

Dann wird's in unserm Busen helle,

Im Herzen, das sich selber kennt -

im Herzen, das Selbsterkenntnis, das heißt, den Geist im eigenen Selbst sucht.

Vernunft fängt wieder an zu sprechen -.

Ein bedeutungsvoller Satz! Derjenige, der die geistige Entwickelung durchmacht, in die Faust gebracht wird durch sein Leben, weiß, daß Vernunft nicht nur etwas Totes im Inneren ist, kennt nicht nur die Kopfvernunft, weiß, wie lebendig Vernunft wird, wie inneres Geist-weben Vernunft wird und wirklich spricht. Das ist kein bloßes dichte­risches Bild:

Vernunft fängt wieder an zu sprechen,

Und Hoffnung wieder an zu blühn.

Vernunft spricht, fängt wieder an zu sprechen über das Vergangene, das lebendig geblieben ist aus dem Vergangenen, und Hoffnung wieder an zu blühen, das heißt, unseren Willen finden wir umgestaltet, so daß

#SE273-019

wir wissen, wir werden durch die Pforte des Todes als ein geistig-leben­diges Wesen gehen. Die Zukunft und die Vergangenheit gliedern sich wunderbar zusammen. Goethe will Faust sagen lassen, daß Faust weiß, in der Selbsterkenntnis das innere Leben des Geistes zu finden.

Man sehnt sich nach des Lebens Bächen,

Ach! nach des Lebens Quelle hin.

Und nun sucht Faust näherzukommen dem, wonach es ihn drängt, nach des Lebens Quellen. Einen Weg sucht er zunächst: den Weg der religiösen Erhebung. Er greift zum Neuen Testament. Und wie er jetzt zum Neuen Testament greift, das ist eine wunderbare Darstellung Goethescher weisheitsvoller Dramatik. Zu demjenigen greift er, wo die tiefsten Weisheitsworte der neueren Zeit darinnenstehen, zum Johannes-Evangelium. Das will er in sein geliebtes Deutsch übersetzen. Daß Goethe den Moment des Übersetzens wählt, das ist bedeutungsvoll. Derjenige, der das Wirken tiefer Welten- und Geisterwesenheiten kennt, weiß, daß beim Herübertragen von Weisheiten aus einer Sprache in eine andere alle Geister der Verwirrung auftreten, alle Geister der Ver­wirrung eingreifen. In den Grenzgebieten des Lebens äußern sich ins­besondere der menschlichen Entwickelung und dem menschlichen Heil entgegenstehende Mächte. Goethe wählt absichtlich die Übersetzung, um den Geist der Verkehrtheit, ja den Geist der Lüge, der jetzt noch im Pudel ist, hinzustellen neben den Geist der Wahrheit. Geht man auf das ein, was an Gefühlen und Empfindungen aus einer solchen Szene herausfließen kann, dann erscheint einem die wunderbare geistige Tiefe, die in diesen Szenen lebt. Alle die Anfechtungen, die ich eben charakteri­siert habe, die von dem kommen, was im Pudel steckt, die sich auf-bäumen, um die Wahrheit in die Unwahrheit zu entstellen, all das wirkt fort und wirkt gerade hinein in eine Tat des Faust, die einem recht Gelegenheit gibt, Wahrheit in Unwahrheit zu entstellen. Und wie wenig man eigentlich bemerkt, daß Goethe dies gewollt hat, das zeigen heute noch immer die verschiedenen Faust-Erklärer, denn diese Faust­Erklärer - was sagen sie denn gerade über diese Szene? Nun, Sie können es lesen. Da wird gesagt: Goethe ist eben ein Mensch des äußeren Le­bens, dem genügt das Wort nicht, er muß das Johannes-Evangelium

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verbessern, er muß eine richtigere Übersetzung finden, nicht: Im An­fang war das Wort, der Logos, sondern: Im Anfang war die Tat. Das findet Faust nach langem Zögern heraus. Das ist eine tiefe Goethe-Weisheit.

Diese Weisheit ist nicht eine Faust -Weisheit, ist eine echte Wagner-Weisheit, eine richtige Wagner-Weisheit! Geradeso wie jene Weisheit, die so oft und oft betont wird, daß Faust später dem Gretchen gegen­über so schöne Worte über das religiöse Leben sagt: Wer kann ihn nen­nen, wer bekennen, den Allumfasser, der alles hält und trägt, und so weiter - Gretchen -Weisheit ist! Das, was da Faust dem Gretchen sagt, das ist immer wieder und wieder zitiert worden, und es wird immer wieder und wiederum als eine tiefe Weisheit hingestellt von den Herren, die das zitieren, den Herren Gelehrten:

Wer darf ihn nennen?

Und wer bekennen:

Ich glaub' ihn?

Wer empfinden

Und sich unterwinden

Zu sagen: ich glaub' ihn nicht?

Der Allumfasser.

Der Allerhalter,

Faßt und erhält er nicht

Dich, mich, sich selbst?

Wölbt sich der Himmel nicht da droben?

Liegt die Erde nicht hierunten fest?

Und steigen freundlich blickend

Ewige Sterne nicht herauf?

Schau ich nicht Aug' in Auge dir,

Und drängt nicht alles

Nach Haupt und Herzen dir...

und so weiter.

Das, was da Faust sagt, wird als eine tiefe Weisheit oftmals dargestellt! Nun, hätte es Goethe als die allertiefste Weisheit gemeint, so hätte er es nicht Faust in dem Moment in den Mund gelegt, da er das sechzehnjährige

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Gretchen unterrichten will Eine Gretchen -Weisheit ist es! Man muß die Dinge nur ernst nehmen. Die Gelehrten sind nur aufgesessen. Sie haben dasjenige, was eine Gretchen-Weisheit ist, für tiefe Philo­sophie genommen. Und so wird denn auch das, was da als Bibel­übersetzung bei Faust auftritt, für eine ganz besonders tiefe Weisheit genommen, während Goethe nichts anderes darstellen will, als, wie Wahrheit und Irrtum den Menschen hin und her werfen, wenn er an eine solche Aufgabe geht. Tief, tief hat Goethe diese zwei Seelen des Faust gerade bei dieser Bibelübersetzung dargestellt.

Geschrieben steht: «Im Anfang war das Wort!»

Wir wissen, es ist der griechische Logos. Das steht wirklich im Johan­nes-Evangelium. Dagegen bäumt sich dasjenige, was durch den Pudel symbolisiert wird, in Faust auf, will ihn nicht zu dem tieferen Sinn des Johannes-Evangeliums kommen lassen. Warum ist gerade das Wort, der Logos, gewählt von dem Schreiber des Johannes-Evangeliums? Weil der Schreiber des Johannes-Evangeliums kennzeichnen will, daß das­jenige, was das Wichtigste ist in der menschlichen Erdenentwickelung, was den Menschen in der Erdenentwickelung äußerlich wirklich zum Menschen macht, nicht sich nach und nach entwickelt hat, sondern in den Urbeginnen da war. Wodurch unterscheidet sich der Mensch von allen übrigen Wesen? Dadurch, daß er sprechen kann, alle übrigen Wesen - Tiere, Pflanzen, Mineralien - nicht. Der Materialist glaubt, daß der Mensch zum Wort, das heißt zur Sprache, zum Logos, der vom Denken durchzittert ist, erst gekommen sei, nachdem er die tierische Entwickelung durchgemacht hat. Das Johannes-Evangelium nimmt die Sache tiefer und sagt: Nein, im Urbeginne war das Wort. Das heißt: Des Menschen Entwickelung ist ursprünglich veranlagt; der Mensch ist nicht bloß im materialistisch-darwinistischen Sinne höchste Spitze der Tierwelt, sondern in den allerersten Absichten der Erdenentwickelung, in den Urbeginnen, im Anfange war das Wort. Und nur dadurch kann der Mensch auf Erden ein Ich entwickeln, wozu die Tiere nicht kom­men, daß einverwoben ist das Wort der menschlichen Entwickelung. Das Wort steht geradezu für das Ich des Menschen. Aber gegen diese Wahrheit bäumt sich der Geist, der dem Faust beigegeben ist, der Geist

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der Unwahrheit, auf, und er muß tiefer herunter, er kann noch nicht verstehen die ganze tiefe Weisheit, die in dem Johannes-Worte liegt.

Hier stock' ich schon!

Aber es ist eigentlich der Pudel, der Hund in ihm, und was im Pudel steckt, was ihn stocken macht. Er kommt nicht höher hinauf, er kommt im Gegenteil tiefer herunter.

Hier stock' ich schon! Wer hilft mir weiter fort?

Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,

Ich muß es anders übersetzen,

Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.

Während er den Mephistopheles an sich herankommen sieht, glaubt er gerade, daß er vom Geist erleuchtet ist; er ist aber vom Geist der Finsternis verfinstert und kommt herunter.

Geschrieben steht: «Im Anfang war der Sinn!»

Das ist nicht höher als das Wort. Der Sinn waltet, wie wir leicht nach­weisen können, auch im Leben der Tiere, doch das Tier kommt nicht zum menschlichen Worte. Des Sinnes ist der Mensch fähig dadurch, daß er einen astralischen Leib hat. Faust steigt tiefer in sich herunter, vom Ich in den astralischen Leib hinein.

... «Im Anfang war der Sinn.»

Bedenke wohl die erste Zeile,

Daß deine Feder sich nicht übereile!

Er glaubt höher zu kommen, aber er kommt tiefer.

Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?

Nein, er steigt noch tiefer hinab von dem astralischen zu dem dichter-materiellen Atherleibe und schreibt:

... «Im Anfang war die Kraft!»

Kraft ist dasjenige, was im Atherleibe lebt.

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Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,

Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.

Mir hilft der Geist!

Der Geist, der in dem Pudel steckt!

Auf einmal seh' ich Rat

Und schreibe getrost: «Im Anfang war die Tat!»

Und jetzt ist er beim völligen Materialismus angekommen, jetzt ist er beim physischen Leib, durch den die äußere Tat sich vollzieht.

Wort (Logos) - Ich

Sinn - Astralleib

Kraft - Atherleib

Tat - Physischer Leib

So haben Sie Faust lebend und webend in einem Stück Selbsterkennt­nis. Er übersetzt die Bibel falsch, weil die verschiedenen Glieder der menschlichen Wesenheit, die wir so oft besprochen haben - Ich, astra­lischer Leib, Atherleib, physischer Leib -, in ihm in chaotischer Weise durch den mephistophelischen Geist zusammenwirken. Jetzt zeigt sich auch, wie diese Triebe walten, denn das äußere Bellen des Pudels ist dasjenige, was sich in ihm gegen die Wahrheit aufbäumt. Er kann noch nicht in seiner Erkenntnis die Weisheit des Christentums erfassen. Das sehen wir an der Art und Weise, wie er Wort, Sinn, Kraft, Tat in Zu­sammenhang bringt. Aber in ihm lebt schon der Drang, der Trieb zum Christentum. Indem er das, was als der Christus in ihm lebt, lebendig macht, besiegt er den Gegengeist. Er versucht es zunächst mit dem, was er aus der alten Magie erhalten hat. Da weicht der Geist nicht, da zeigt er sich nicht in seiner wahren Gestalt. Die vier Elemente und ihre Geister: Salamander, Sylphe, Undine, Gnomen ruft er auf; das alles beirrt den Geist nicht, der in dem Pudel steckt. Aber als er die Christus-Gestalt aufruft: den freventlich durchstochenen, durch alle Himmel ergossenen - da muß der Pudel seine wahre Gestalt zeigen.

Alles das ist im Grunde Selbsterkenntnis, eine Selbsterkenntnis, die Goethe ganz deutlich macht. Was tritt auf? Ein fahrender Scholast!

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Faust übt wirklich Selbsterkenntnis; er steht im Grunde genommen sich selbst gegenüber. Erst haben in der Pudelgestalt die wilden Triebe, die sich gegen die Wahrheit aufgelehnt haben, gewirkt, und jetzt gewisser­maßen wird er sich klar, klar-unklar! Der fahrende Scholast steht vor ihm. Es ist aber nur das andere Ich des Faust. Er ist selber nicht viel mehr geworden als ein fahrender Scholast mit all den Irrtümlichkeiten, die im fahrenden Scholasten sind; nur eben derber und gründlicher tritt ihm jetzt, wo er durch seinen Zusammenschluß mit der geistigen Welt die Triebe genauer kennenlernt, der fahrende Scholast, das heißt sein eigenes Selbst, wie er sich es bisher angeeignet hat, entgegen. Faust hat gelernt wie ein Scholast, nur hat er sich dann der Magie ergeben, und durch die Magie ist die Schulweisheit verteufelt worden. Was aus dem alten guten Faust geworden ist, wie er noch ein fahrender Scholast war, das ist er nur dadurch geworden, daß er noch die alte Magie darauf gesetzt hat. In ihm steckt noch der fahrende Scholast: er tritt ihm in verwandelter Gestalt entgegen. Es ist nur das eigene Selbst. Auch dieser fahrende Scholast ist das eigene Selbst. Der Kampf, das alles loszuwer­den, was einem da als eigenes Selbst entgegentritt, der ist nun in der weiteren Szene enthalten.

Es ist von Goethe immer versucht, in den verschiedenen Gestalten, mit denen Faust zusammen auftritt, nur das andere Ich des Faust zu zeigen, damit Faust immer mehr und mehr sich selbst erkennt. Viel­leicht erinnern sich manche von den Zuhörern, daß ich in früheren Vor-trägen auseinandersetzte, wie auch der Wagner in Faust selber dar-innensteckt, wie der Wagner auch nur ein anderes Ich des Faust ist. Auch der Mephistopheles ist nur ein anderes Ich. Alles Selbsterkenntnis! An der Welterkenntnis wird Selbsterkenntnis geübt. Aber das alles ist nicht in klarer Geist-Erkenntnis jetzt bei Faust; das alles ist in unklarer, dumpfer, man möchte sagen, doch noch von alter atavistischer Hell­seherkunst beeinträchtigter Geist-Seherkraft in Faust enthalten. Es ist nicht geklärt. Es ist nicht helle Erkenntnis, es ist traumhafte Erkenntnis. Das wird uns dargestellt, wie die Traumgeister, die eigentlich Gruppen-seelen von all denjenigen Wesen sind, die Mephistopheles begleiten, Faust umgaukeln, und wie er zuletzt erwacht. Und da läßt Goethe Faust ganz klar und deutlich sagen:

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Bin ich denn abermals betrogen?

Verschwindet so der geisterreiche Drang,

Daß mir ein Traum den Teufel vorgelogen,

Und daß ein Pudel mir entsprang?

Goethe gebraucht schon die Methode, immer wieder und wiederum auf die Wahrheit hinzudeuten. Daß er es eigentlich als Innenerlebnis des Faust meint, das ist in diesen vier Zeilen deutlich genug ausgespro­chen. Auch diese Szene zeigt uns, wie Goethe rang nach Erkenntnis des Überganges der alten Zeit in die neue, in der er selbst lebte, des vierten nachatlantischen Zeitraums in den fünften nachatlantischen Zeitraum. Die Grenze ist im 14., 15., 16. Jahrhundert. Wer im heutigen Denken lebt, der kann sich, wenn er nicht besondere Studien macht, keine gute Vorstellung machen von der Seelenentwickelung vergangener Jahr­hunderte, so sagte ich vorhin. Und zu Fausts Zeiten waren nur noch die Trümmer vorhanden. Wir erleben es oft, daß heute die Menschen nicht zu der neueren Geistesforschung, wie wir sie anstreben, herankommen wollen, sondern die alte Weisheit wieder aufwärmen wollen. Wie man­cher glaubt, wenn er dasjenige, was die Alten besessen haben, wieder auf-wärmt bei sich, dadurch zu einer tieferen, magisch-mystischen Weisheit über die Natur zu kommen! Zwei Unfuge, möchte ich sagen, stehen da allem geistigen Streben der Menschen ungemein nahe. Das erste ist, daß die Menschen alte, uralte Bücher sich kaufen und studieren und nun höher schätzen als die neuere Wissenschaft. Sie schätzen sie meist nur deshalb höher, weil sie sie nicht verstehen, weil die Sprache wirklich schon nicht mehr verstanden werden kann. Das ist der eine Unfug, daß man immer wieder und wiederum mit dem zum Kauderwelsch gewor­denen Inhalt der alten Bücher kommt, wenn man von Geistesforschung reden will. Das andere ist, daß man möglichst den neueren Bestrebungen alte Namen geben will und sie sich damit geheiligt hat. Sehen Sie sich manche, die sich okkulte oder geheime oder sonstige Gesellschaften nen­nen, an. Ihr ganzes Bestreben geht dahin, möglichst weit sich zurück­zudatieren, möglichst viel zu erklären über eine legendarische Ver­gangenheit, in alten Namengebungen sich zu gefallen. Das ist der zweite Unfug. All das braucht man nicht mitzumachen, wenn man wirklich

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die Bedürfnisse und Impulse unserer Zeit und der notwendigen Zukunft durchschaut. Man kann jedes beliebige Buch aufschlagen aus der Zeit, wo noch gewissermaßen Traditionen vorhanden waren. Da sieht man aus der Art und Weise, wie dargestellt wird, daß Hinterlassenschaften, Traditionen von einer alten Urweisheit vorhanden waren, welche die Menschheit besessen hat, daß aber diese Weisheit in Verfall geraten war. Die Ausdrucksweise, alles ist noch da, sogar ziemlich spät noch da.

Es steht mir gerade ein Buch zur Verfügung, das gedruckt ist im Jahre 1740, also sogar erst im i 8. Jahrhundert. Ich will eine kleine Stelle daraus vorlesen, eine Stelle, der gegenüber man sicher sein kann, daß mancher, der heute geistige Wissenschaft sucht, wenn solch eine Stelle an ihn herantritt, sagt: Abgrundartige, tiefe Weisheit! Oh, was ist darinnen alles enthalten! - Es gibt sogar dann manche, die glauben, daß sie eine solche Stelle verstehen. Nun, ich will Ihnen zunächst vorlesen die Stelle, die ich meine:

«Die Crone des Königes soll von reinem Golde sein, und eine keusche Braut soll ihm vermählet werden. Darum, so du durch unserer Cörper wirken willt, so nimm den geitzigen grauen Wolff, so seines Namens halben dem streitigen Marti unterworffen, von Gebuhrt aber ein Kind des alten Saturni ist, so in den Thälern und Bergen der Welt gefunden wird, und mit großem Hunger besessen, und wirf ihm für den Leib des Königes, daß er daran seine Zehrung haben möge.»

So hat man in alten Zeiten diese chemischen Vorgänge, die man ein­gerichtet hat, benannt, hat gesprochen von gewissen chemischen Vor­gängen, auf die Faust auch anspielt, wenn er davon spricht, wie ein roter Leu vermählt wird der Lilie im Glase und so weiter. Es ist nicht ordentlich, zu spotten über diese Dinge aus dem einfachen Grunde, weil die Art und Weise, die heute die Chemie spricht, für die Leute, die später kommen, wieder geradeso klingen wird, wie das für uns. Aber klar sollen wir uns sein, daß das auch entstanden ist sogar schon in einer sehr späten Verfallzeit. Hingedeutet wird auf einen «grauen Wolff». Mit diesem «grauen Wolff» ist ein gewisses Erz gemeint, das man in den Bergen überall findet und das einer gewissen Prozedur unterworfen wird. «König» nannte man einen gewissen Zustand von Substanzen. Und dasjenige, was hier erzählt wird, soll auf eine gewisse

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Hantierung hindeuten. Man nahm das graue Erz, behandelte es in einer gewissen Weise. Dieses graue Erz nannte man den «geitzigen grauen Wolff», das andere den «goldenen König», wo das Gold, nach dem es in einer gewissen Weise behandelt wurde, der «goldene König» war. Und da entstand eine Verbindung. Diese Verbindung beschreibt der Verfasser so noch: «Und wenn er den König verschlungen.. .»

Also es entsteht das, daß der «graue geitzige Wolff», das heißt, das graue Erz, das in den Bergen gefunden war, sich mit dem goldenen König - das ist ein gewisser Zustand des Goldes, nachdem es chemisch behandelt worden ist - verschmolzen hat. Da ist das Gold verschwun­den in das graue Erz hinein. Er stellt es dar: «Und wenn er den König verschlungen, so mache ein gross Feuer, und wirff den Wolff darein...» Also der Wolf, der das Gold aufgefressen hat, den goldenen König, wird in das Feuer geworfen. «Daß er gantz und gar verbrenne, so wird der König wieder erlöset werden.» Das Gold kommt wiederum zum Vorschein!

«Wenn das dreymal geschiehet, so hat der Löwe den Wolff über­wunden und wird nichts mehr an ihm zu verzehren finden, so ist dann unser Leib vollkommen zum Anfang unsers Werkes.»

Also er macht auf diese Weise irgend etwas. Wollte man wissen, was er macht, so müßte man diese Prozeduren sehr ausführlich beschreiben, namentlich wie der goldene König gemacht wird; aber es läßt sich das hier nicht beschreiben. Diese Prozeduren werden heute auch nicht mehr ausgeführt. Aber was verspricht sich denn der Mann? Er verspricht sich etwas, was durchaus nicht ganz aus der Luft gegriffen ist, denn er hat jetzt etwas gemacht. Wozu hat er denn das eigentlich gemacht? Das heißt, derjenige, der das hat drucken lassen, wird es wohl gar nicht mehr gemacht haben, sondern er hat es alten Büchern nachgeschrieben. Aber wozu ist das gemacht worden in der Zeit, als man die Dinge noch ver­standen hat? Das können Sie aus dem folgenden ersehen:

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Also jetzt lobt er das, was er hat entstehen lassen. Eine Art Arzenei hat er bekommen.

«Und wann sich der Löwe ersättiget hat, ist sein Geist stäreker wor­den denn zuvor, und seine Augen geben einen stoltzen Glantz von sich wie die helle Sonne.»

Das ist alles die Eigenschaft dessen, was er da in der Retorte darinnen hat!

«Sein inners Wesen vermag denn viel zu thun, und ist nützlich zu alle dem, dazu man ihn erfordert, und so er in seine Bereitschaft ge­bracht wird, so danken ihm die Menschenkinder, mit schweren her­fallenden Kranckheiten und mehrern Seuchen beladen, die zehen aus­sätzigen Männer lauffen ihm nach und begehren zu trineken von dem Blut seiner Seelen, und alle, so Gebrechen haben, erfreuen sich höchlich seines Geistes; denn wer von diesem güldenen Brunnen trinckt, empfin­det eine gantze Erneuerung der Natur, Hinnehmung des Bösens, Stäreke des Geblüts, Krafft des Hertzens und eine vollkommene Gesundheit aller Glieder.»

Sie sehen, es ist hingedeutet darauf, daß man es mit einer Arzenei zu tun hat, aber es ist hier auch hinlänglich darauf hingedeutet, daß das etwas zu tun hat auch mit dem, was als moralische Eigenschaft des Men­schen auftritt. Denn natürlich, nimmt es derjenige, der gesund ist, in der entsprechenden Menge, dann tritt das auf, was der da beschreibt. So meint er es, und so ist es auch bei den Alten gewesen, die noch etwas von den Dingen verstanden haben.

«Denn wer von diesem güldenen Brunnen trinckt, empfindet eine gantze Erneuerung der Natur.»

Also er hat gestrebt durch diese Kunst, die er da beschrieben hat, nach einer Tinktur, durch die wirkliche Lebensregung in den Menschen hin­einkommt:

«Kraft des Hertzens, Stäreke des Geblüts und eine vollkommene Ge­sundheit aller Glieder, sie seynd innen beschlossen, oder ausser dem Leibe empfindlich: denn es eröffnet alle Nervos und Poros, damit das Böse kan ausgetrieben werden, und das Gute dero Stäte ruhiglich be­wohnen kan.»

Ich habe dieses zunächst vorgelesen, um zu zeigen, wie schon selbst

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noch in diesen Trümmern einer alten Weisheit ein Niederschlag zu bemerken ist von dem, was man in alten Zeiten anstrebte. Man hat angestrebt, durch äußerliche Mittel, die man sich aus der Natur her­gestellt hat, den Körper anzuregen, das heißt, gewisse Tüchtigkeiten nicht bloß durch inneres, moralisches Streben zu erlangen, sondern durch Mittel der Natur selber, die man sich hergestellt hat. Halten Sie das einmal einen Augenblick fest, denn da werden wir auf etwas Wich­tiges geführt, was unseren Zeitraum unterscheidet von früheren Zeit­räumen. Es ist heute durchaus billig, über den alten Aberglauben zu spotten, denn dann handelt man sich dafür ein, daß man vor der ganzen Welt als ein gescheiter Mensch gilt, während man sonst nicht als ein gescheiter Mensch gilt, wenn man in uraltem Wissen etwas Vernünftiges sieht. Etwas, was sogar der Menschheit verlorengegangen ist und ver­lorengehen mußte aus gewissen Gründen, weil in diesem Streben der alten Zeit die Menschen niemals hätten zur Freiheit kommen können. Aber sehen Sie, Sie finden in alten Büchern, die jetzt in ältere Zeiten zurückgehen als dieser Schmöker, der eben einer sehr späten Verfallzeit angehört, Sie finden in alten Büchern, was Sie gut kennen: Sonne und Gold mit einem gemeinsamen Zeichen, mit diesem Zeichen: 0; Sie fin­den Mond und Silber mit diesem Zeichen: (. Für den heutigen Men­schen ist dieses Zeichen angewendet auf Gold und Sonne, und dieses Zeichen angewendet auf Mond und Silber, für Seelenfähigkeiten, die der heutige Mensch notwendigerweise hat, natürlich ein voller Unsinn. Es ist ein voller Unsinn, wie in der Literatur, die sich oftmals auch eine «esoterische» Literatur nennt, über diese Dinge gesprochen wird, denn man hat meistens gar nicht die Mittel zu erkennen, warum in alten Zeiten Sonne und Gold und Mond und Silber mit dem gleichen Zeichen bezeichnet worden ist.

Gehen wir einmal aus von Mond und Silber mit diesem Zeichen: (. Wenn wir zurückgehen noch in die Zeit, sagen wir, ein paar Jahr­tausende vor dem Mysterium von Golgatha, vor der christlichen Zeit­rechnung, dann haben die Menschen nicht nur die Fähigkeiten besessen, die schon in Trümmern waren zu der Zeit, als solche Dinge entstanden sind, sondern sie haben noch höhere Fähigkeiten besessen. Wenn ein Mensch der ägyptisch-chaldäischen Kultur Silber gesagt hat, so hat er

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zunächst nicht dasjenige gemeint, was wir meinen, wenn wir Silber sagen. Wenn der Mensch in seiner damaligen Sprache das Wort ge­braucht hat, das für ihn Silber bedeutet hat, so hat er das ganz anders angewendet. Solch ein Mensch hat innere Fähigkeiten gehabt, und er hat eine gewisse Art der Kraftwirksamkeit gemeint, die sich nicht bloß in einem Stückchen Silber findet, sondern die sich im Grunde über die ganze Erde ausbreitet. Er wollte sagen, wir leben in Gold, wir leben in Kupfer, wir leben in Silber. Gewisse Arten von Kräften hat er ge­meint, die da leben, und die insbesondere stark ihm entgegenströmten vom Monde. Und das hat er im gröbsten materiellen Sinne sensitiv, fein auch in dem Stückchen Silber empfunden. Er hat wirklich dieselben Kräfte vom Monde ausströmend, aber auch auf der ganzen Erde gefun­den, und besonders ins Materielle umgesetzt in dem Stückchen Silber. Nun, der heutige aufgeklärte Mensch sagt: Ja, Mond - der leuchtet so silberweiß, da hat man halt geglaubt, daß er aus Silber besteht. - So war es nicht, sondern ein heute verlorengegangenes, inneres Seelen-erlebnis hatte man beim Mond, was in der ganzen Erdensphäre als Kraft lebte, und - ins Materielle umgesetzt - bei dem Stückchen Silber. Es mußte also die Kraft, die im Silber steckt, gewissermaßen über die ganze Erde ausgebreitet sein. Heute sieht das der Mensch natürlich als einen kompletten Blödsinn an, wenn man ihm das sagt, und dennoch ist es nicht im Sinne der heutigen Wissenschaft ein kompletter Unsinn. Es ist gar kein Unsinn, durchaus kein Unsinn, denn ich will Ihnen eines sagen, was heute die Wissenschaft weiß, wenn sie es auch nicht immer sagt. Die heutige Wissenschaft weiß, daß etwas über vier Pfund Silber, fein verteilt, enthalten ist in einem Körper, aus dem Weltenmeere heraus­geschnitten gedacht in Würfelform, der eine englische Seemeile lang ist, so daß im gesamten Weltenmeere, das die Erde umgibt, zwei Millionen Tonnen Silber, fein verteilt, enthalten sind. Dies ist einfach eine wissen­schaftliche Wahrheit, die auch heute geprüft werden kann. Das Welten-meer enthält zwei Millionen Tonnen Silber, fein verteilt, in äußerster Homöopathie, könnte man sagen. Es ist wirklich das Silber ausgebreitet über die Erde hin. Heute muß man das dadurch konstatieren, wenn man es mit normalem Wissen konstatiert, daß man eben Meerwasser schöpft und mit allen möglichen minuziösen Untersuchungen methodisch

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prüft; aber dann findet man eben mit den Mitteln der heutigen Wissen-schaff, daß zwei Millionen Tonnen Silber im Weltenmeere enthalten sind. Diese zwei Millionen Tonnen Silber sind darinnen nicht etwa so enthalten, daß sie sich irgendwie aufgelöst haben oder ähnliches, son­dern die gehören dem Weltenmeere an; die gehören zu seiner Natur und Wesenheit. Und das wußte die alte Weisheit; das wußte sie durch die noch vorhandenen feinen, sensitiven Kräfte, die vom alten Helisehen herrühren. Und sie wußte, daß, wenn man sich die Erde denkt, man sich diese Erde nicht bloß zu denken hat so, wie die heutige Geologie sie sich denkt, sondern daß eben in dieser Erde in feinster Weise Silber aufgelöst ist.

Ich könnte jetzt weitergehen, könnte zeigen, wie auch Gold aufgelöst ist, wie alle diese Metalle - außer dem, daß sie materiell da oder dort abgelagert sind - in feiner Auflösung wirklich enthalten sind. Die alte Weisheit hatte also nicht Unrecht, als sie von Silber sprach. Das ist in der Erdensphäre enthalten. Als Kraft aber kannte man es, als gewisse Arten von Kraft. Andere Kräfte enthält die Silbersphäre, andere Kräfte die Goldsphäre und so weiter. Man wußte viel mehr noch von dem, was da als Silber ausgebreitet ist in der Erdensphäre; und man wußte, daß in diesem Silber die Kraft liegt, welche bewirkt Ebbe und Flut, weil eine gewisse belebende Kraft dieses ganzen Erdenkörpers in diesem Silber liegt, beziehungsweise identisch ist mit diesem Silber. Ebbe und Flut würden gar nicht entstehen; diese eigentümliche Bewegung der Erde wird ursprünglich angefacht von dem Silbergehalt. Das hat nichts mit dem Mond zu tun; aber der Mond hat mit derselben Kraft zu tun. Daher treten Ebbe und Flut in gewisser Beziehung mit den Mond-bewegungen auf, weil beide, Mondbewegungen und Ebbe und Flut, von demselben Kräftesystem abhängig sind. Und die liegen in dem Silber­gehalt des Weltenalls.

Man kann, selbst ohne hellseherische Erkenntnisse, bloß auf solche Dinge eingehen, und man wird mit einer Sicherheit des Beweises, der auf keinem Gebiete der Wissenschaft sonst erreicht wird als höchstens in der Mathematik, nachweisen können, daß es eine alte Wissenschaft gegeben hat, die solche Dinge wußte, die solche Dinge gut kannte. Und mit solchem Kennen und Können hing zusammen, was alte Weisheit

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war, jene Weisheit, die wirklich die Natur beherrschte, und die erst wiederum errungen werden muß durch Geistesforschung von der Gegen­wart in die Zukunft hinein. Wir leben gerade in dem Zeitalter, in dem eine alte Art der Weisheit verlorengegangen ist, und eine neue Art der Weisheit erst heraufkommt. Was hatte diese alte Weisheit im Gefolge? Sie hatte das im Gefolge, was ich schon angedeutet habe. Man konnte wirklich, wenn man also die Geheimnisse des Weltenalls kannte, den eigenen Menschen tüchtiger machen. Denken Sie, durch äußere Mittel konnte man den Menschen tüchtiger machen! Also die Möglichkeit war vorhanden, daß ein Mensch einfach dadurch, daß er sich gewisse Sub­stanzen herstellte und diese in entsprechender Menge zu sich nahm, Fähigkeiten sich aneignete, von denen wir heute mit Recht annehmen, daß der Mensch sie nur als angeborene Fähigkeiten haben kann, als Genie, als Talent und so weiter. Nicht dasjenige, was der Darwinismus phantastisch träumt, ist im Anfange der Erdenentwickelung, sondern solche Möglichkeit, die Natur zu beherrschen und dem Menschen selbst moralische und geistige Fähigkeiten zu geben aus der Behandlung der Natur heraus. Sie werden es nun begreiflich finden, daß man daher die Behandlung der Natur in ganz bestimmten Grenzen halten mußte: deshalb die Geheimnisse der urältesten Mysterien. Wer solche Erkennt­nisse, die wirklich etwas mit diesen Naturgeheimnissen zu tun hatten, die nicht bloß Begriffe und Ideen und Empfindungen waren, nicht bloß Glaubensvorstellungen, wer solche Erkenntnisse erlangen sollte, der mußte zuerst sich als vollkommen dazu geeignet erweisen, nichts, aber auch gar nichts mit diesen Kenntnissen für sich selber machen zu wollen, sondern lediglich diese Erkenntnisse, diese Tüchtigkeiten, die er sich durch diese Erkenntnisse aneignete, im Dienste der sozialen Ordnung anzuwenden. Daher wurden diese Erkenntnisse, sagen wir, in den ägyp­tischen Mysterien so geheimgehalten. Die Vorbereitung bestand dar­innen, daß derjenige, dem solche Erkenntnis übermittelt wurde, eine Garantie dafür abgab, daß er das Leben, das er vorher führte, in genau derselben Weise weiterführte, daß er nicht den geringsten Vorteil sich verschaffte, sondern die Tüchtigkeit, die er von jetzt ab erlangte durch die Behandlung der Natur, bloß in dem Dienst der sozialen Ordnung geltend machte. Unter dieser Voraussetzung hat man einzelne zu Eingeweihten

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werden lassen, die dann jene alte Kultur leiteten, deren Wunderwerke zu sehen sind und die nicht verstanden werden, weil man nicht weiß, woraus sie erflossen sind.

Aber die Menschheit hätte so niemals frei werden können. Man hätte sozusagen den Menschen durch Natureinflüsse zum Automaten machen müssen. Ein Zeitalter mußte heraufkommen, wo der Mensch durch bloße innere moralische Kräfte wirkte. So wird sozusagen verhüllt vor ihm die Natur, weil er sie entweiht hätte, indem in der neuen Zeit seine Triebe freigelassen wurden. Und am meisten sind seine Triebe frei­gelassen worden seit dem 14., 15. Jahrhundert. Daher verglimmt die alte Weisheit, da bleibt nur mehr eine Buchweisheit, die nicht verstan­den wird. Denn niemand würde sich heute abhalten lassen, wenn er solche Dinge wirklich verstünde, wie nur den Satz, den ich Ihnen vor­gelesen habe, diese Dinge zu seinem eigenen Vorteil zu gebrauchen. Das aber würde die schlimmsten Triebe in der menschlichen Gesellschaft hervorrufen, schlimmere Triebe, als jenes tastende Fortschreiten hervor­bringt, das man heute wissenschaftliche Betriebe nennt, wo man so im Laboratorium, ohne daß man in die Dinge hineinsehen kann, heraus-kriegt: dieser Stoff berührt den andern in dieser Weise, - wo man, oline in die Dinge hineinzusehen, etwas herauskriegt - nun, wie jetzt der Inhalt der Chemie ist. Man laviert so fort. Und Geisteswissenschaft wird erst wieder den Weg finden müssen hinein in die Geheimnisse der Natur. Aber zu gleicher Zeit wird sie eine soziale Ordnung begründen müssen, die ganz anders ist als die heutige soziale Ordnung, so daß der Mensch erkennen kann, was die Natur im Innersten zusammenhält, ohne deshalb zum Kampf der wildesten Triebe verführt zu werden.

Es ist Sinn und es ist Weisheit in der menschlichen Entwickelung, und das suchte ich jetzt schon durch eine ganze Reihe von Vorträgen Ihnen zu beweisen. Das, was geschieht in der Geschichte, geschieht - wenn auch oft durch so zerstörerische Kräfte als möglich - doch so, daß ein Sinn durch das geschichtliche Werden hindurchgeht, wenn es auch oft­mals nicht der Sinn ist, den der Mensch sich erträumt, und wenn der Mensch auch viel leiden muß durch die Wege, welche der Sinn der Ge­schichte oftmals geht. Durch alles, was im Laufe der Zeit geschieht - es geschieht ja gewiß so, daß das Pendel manchmal nach dem Bösen,

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manchmal nach dem weniger Bösen ausschlägt -, werden aber doch durch dieses Ausschlagen gewisse Gleichgewichtslagen erreicht. Und so war denn auch bis ins 14., 15. Jahrhundert - wenigstens einzelnen - eine gewisse Summe von Naturkräften bekannt, deren Kenntnis verloren­gegangen ist, weil die Menschen der neueren Zeit nicht die richtige Ge­sinnung dazu haben würden.

Sehen Sie, so schön ist das in dem Symbole beschrieben, das die Naturkraft in der ägyptischen Legende von der Isis ausdrückt. Dieses Isis-Bild, was für einen ergreifenden Eindruck macht es uns, wenn wir es uns vorstellen, wie es dasteht in Stein, aber - im Stein zugleich -der Schleier von oben bis unten: das verschleierte Bild zu Sais. Und die Inschrift trägt es: Ich bin die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft; meinen Schleier hat noch kein Sterblicher gelüftet. - Das hat wiederum zu einer ungemein gescheiten - obwohl sehr gescheite Leute diese gescheite Erklärung aufgenommen haben, muß es doch einmal gesagt werden -, zu einer sehr gescheiten Erklärung geführt. Man sagt da: Die Isis drückt also aus das Symbolum für die Weisheit, die vom Menschen nie erreicht werden kann. Hinter diesem Schleier ist eine Wesenheit, die ewig verborgen bleiben muß, denn der Schleier kann nicht gelüftet werden. Und doch ist die Inschrift diese: Ich bin die Ver­gangenheit, die Gegenwart und die Zukunft; meinen Schleier hat noch kein Sterblicher gelüftet. - Alle die gescheiten Leute, die also sagen, man kann das Wesen nicht ergründen, sie sagen logisch ungefähr dasselbe, wie wenn einer sagt: Ich heiße Müller, meinen Namen wirst du nie erfahren. - Es ist ganz genau dasselbe, was Sie immer über dieses Bild reden hören, wie wenn einer sagt: Ich heiße Müller, meinen Namen wirst du nie erfahren. Wenn man das: Ich bin die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft; meinen Schleier hat noch kein Sterblicher gelüftet - so auslegt, ist natürlich diese Auslegung ein völliger Unsinn. Denn es steht ja da, was die Isis ist: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - die dahinfließende Zeit! Wir werden morgen noch genauer über diese Dinge reden. Es ist die dahinfließende Zeit. Aber ganz etwas anderes, als was diese sogenannte geistvolle Erklärung will, ist aus­gedrückt in den Worten: Meinen Schleier hat noch kein Sterblicher ge­lüftet. - Ausgedrückt ist, daß man sich dieser Weisheit nähern muß wie

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denjenigen Frauen, die den Schleier genommen hatten, deren Jung­fräulichkeit bestehen bleiben mußte: in Ehrfurcht, mit einer Gesinnung, die alle egoistischen Triebe ausschließt. Das ist gemeint. Sie ist wie eine verschleierte Nonne, diese Weisheit früherer Zeit. Auf die Gesinnung wird hingedeutet durch die Sprache von diesem Schleier.

Und so handelte es sich darum, daß in den Zeiten, in denen uralte Weisheit lebendig war, die Menschen sich dieser Weisheit in der ent­sprechenden Weise näherten, respektive gar nicht zugelassen wurden, wenn sie sich ihr nicht in der entsprechenden Weise näherten. Aber der Mensch mußte sich selbst überlassen sein in der neueren Zeit. Da konnte er nicht diese Weisheit der alten Zeit, die Weisheitsformen der alten Zeit, haben. Die Kenntnis gewisser Naturkräfte ging verloren, jener Naturkräfte, die nicht erkannt werden können, ohne daß man sie im Inneren erfährt, ohne daß man sie innerlich zugleich lebt. Und in dem Zeitalter, in dem, wie ich Ihnen vor acht Tagen auseinandergesetzt habe, der Materialismus einen gewissen Höhepunkt erlangte, im 19. Jahr-hundert, kam eine Naturkraft herauf, die in ihrer besonderen Eigenart dadurch charakterisiert ist, daß jeder heute sagt: Die Naturkraft haben wir, aber verstehen kann man sie nicht, für die Wissenschaft ist sie ver­borgen. - Sie wissen, wie gerade die Naturkraft der Elektrizität in menschliche Verwendung kam; und die elektrische Kraft ist eine solche, daß der Mensch sie durch seine normalen Kräfte im Inneren nicht er­leben kann, daß sie im Außeren bleibt. Und mehr, als man glaubt, ist dasjenige, was im 19. Jahrhundert groß geworden ist, durch die Elek­trizität groß geworden. Es wäre ein leichtes, zu zeigen, wieviel, wie unendlich viel von der elektrischen Kraft abhängt in unserer gegenwär­tigen Kultur, wieviel mehr noch in der Zukunft abhängen wird, wenn die elektrische Kraft durch die moderne Art, ohne in das Innere ein­zugehen, verwendet werden wird. Viel mehr noch! Aber gerade die elektrische Kraft ist eine solche, die an die Stelle der alten, gekannten Kraft gesetzt worden ist in der menschlichen Kulturentwickelung, und an der der Mensch heranreifen soll in moralischer Beziehung. Heute denkt er bei ihrer Anwendung nicht an irgendeine Moral. Weisheit ist in der fortlaufenden geschichtlichen Entwickelung der Menschheit. Der Mensch wird heranreifen, indem er eine Zeitlang noch tiefere Schädigungen

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- Schädigungen sind ja, wie unsere Tage zeigen, genügend da -, indem er noch tiefere Schädigungen in seinem niedern Ich-Träger, dem wüsten Egoismus, entfalten kann. Hätte der Mensch noch die alten Kräfte, so wäre das ganz ausgeschlossen. Gerade die elektrische Kraft als Kulturkraft macht das möglich; die Dampfkraft in einer gewissen Weise auch, aber da ist es noch weniger der Fall.

Nun steht die Sache so, daß, wie ich Ihnen früher einmal auseinander­setzte, das erste Siebentel unseres Kulturzeitraumes, der bis ins vierte Jahrtausend dauern wird, vorbei ist. Der Materialismus hat einen ge­wissen Hochpunkt erreicht; die sozialen Formen, in denen wir leben, die ja zu solch traurigen Ereignissen in unseren Jahren geführt haben, sind wirklich so, daß sie nicht mehr fünfzig Jahre die Menschheit tragen werden, ohne daß eine gründliche Änderung der menschlichen Seelen geschieht. Das elektrische Zeitalter ist für den, der die Weltentwicke­lung geistig durchschaut, zu gleicher Zeit eine Aufforderung, eine gei­stige Vertiefung, eine wirkliche geistige Vertiefung zu suchen. Denn zu jener Kraft, die unbekannt im Äußeren bleibt für die Sinnesbeobach­tung, muß die geistige Kraft hinzukommen in die Seelen, die im tiefsten Inneren so verborgen ruht wie die elektrischen Kräfte, die auch erst erweckt werden müssen. Denken Sie sich, wie geheimnisvoll die elek­trische Kraft ist; sie wurde erst durch Galvani, Volta aus ihren geheimen Verborgenheiten herausgeholt. So geheim verborgen ruht audi das­jenige, was in den menschlichen Seelen sitzt, und was die Geisteswissen­schaft erforscht. Beide müssen zueinander kommen wie Nord- und Südpol. Und so wahr, wie die elektrische Kraft heraufgezogen ist als die in der Natur verborgene Kraft, so wahr wird heraufziehen die Kraft, die in der Geisteswissenschaft gesucht wird als die in der Seele verborgene Kraft, die dazugehört; wenn auch heute noch vielfach die Menschen vor dem, was Geisteswissenschaft will, so stehen - nun, wie ungefähr einer gestanden haben würde in der Zeit, wo eben Galvani, Volta die Frösche präpariert und bemerkt hatten an dem Zucken des Schenkels, daß da eine Kraft wirkt in diesem zuckenden Froschschenkel. Hat da die Wissenschaft gewußt, daß in diesem Froschschenkel alles lag von Berührungselektrizität, alles, was heute an Elektrizität bekannt ist? Denken Sie sich in die Zeit hinein, wo Galvani in seinem einfachen

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Versuchshaus gewesen ist und seinen Froschschenkel zum Fensterhaken hinaushängt, und dieser zu zucken beginnt, und er zum ersten Male dies feststellte! Es handelt sich da nicht um Elektrizität, nicht wahr, die erregt ist, sondern um Berührungselektrizität. Als Galvani das zum ersten Male feststellte, konnte er da annehmen, mit der Kraft, mit der da der Froschschenkel angezogen wird, wird man einmal Eisenbahnen über die Erde befördern, mit der wird man einmal den Gedanken um den Erdball herumkreisen lassen? Es ist noch nicht so sehr lange her, daß Galvani an seinen Froschschenkeln diese Kraft beobachtet hat. Einen, der dazumal schon sich versprochen hätte, was alles aus dieser Erkenntnis fließen wird, den hätte man gewiß für einen Narren an­gesehen. So kam es denn auch so, daß man heute denjenigen für einen Narren ansieht, der die ersten Anfänge einer geistigen Wissenschaft darzustellen hat. Es wird eine Zeit kommen, wo dasjenige, was von Geisteswissenschaft ausgeht, ebenso bedeutsam sein wird für die Welt -aber jetzt die moralische, geistig-seelische Welt - wie dasjenige, was von dem Galvani-Froschschenkel ausgegangen ist, für die materielle Welt, für die materielle Kultur. So vollziehen sich die Fortschritte in der Menschheitsentwickelung. Nur wenn man auf solche Dinge achtet, dann entwickelt man auch den Willen, mitzugehen mit dem, was erst in den Anfängen sein kann. Hat die andere Kraft, die elektrische Kraft, die aus ihrer Verborgenheit gezogen worden ist, bloß eine äußere materielle Kulturbedeutung und nur mittelbar eine Bedeutung für die moralische Welt, so wird dasjenige, was aus der Geisteswissenschaft kommt, die größte soziale Bedeutung haben. Denn die sozialen Ordnungen der Zukunft werden geregelt werden durch das, was Geisteswissenschaft den Menschen geben kann. Und alles dasjenige, was äußere materielle Kultur sein wird, wird in mittelbarer Weise ebenfalls von dieser Gei­steswissenschaft angeregt werden. Darauf kann ich heute am Schlusse nur hinweisen.

DIE "ROMANTISCHE WALPURGISNACHT." Dornach, 10. Dezember 1916

#G273-1967-SE038 Das Faust-Problem

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DIE "ROMANTISCHE WALPURGISNACHT."

Dornach, 10. Dezember 1916

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Ich möchte Ihnen nur einige Bemerkungen machen über die «Walpurgis­nacht», die wir gestern gespielt haben und morgen wieder spielen wer­den, weil es mir doch von Bedeutung scheint, eine richtige Vorstellung davon zu haben, wie sich diese «Walpurgisnacht» hineinstellt in den Fortgang und Gesamtzusammenhang der Faust-Dichtung. Es ist merk­würdig, daß, nachdem Faust Gretchen ins Unglück gebracht hat so weit, daß die Mutter durch Gift - durch den Schlaftrunk - zugrunde gegangen ist, nachdem der Bruder erschlagen worden ist durch die gemeinsame Schuld von Faust und Gretchen, Faust flieht und gewissermaßen Gret­chen vollständig im Stiche läßt und nichts weiß von alledem, was vor­geht.

Solch eine Sache hat natürlich nicht geringen Eindruck gemacht auf diejenigen, die gerade mit einer gewissen Liebe die Faust-Dichtung be­trachtet haben. Und ich will Ihnen nur die Worte Schröers vorlesen, der sicher den «Faust» mit einer ungeheuren Liebe betrachtet hat. Sie können über ihn in meinem letzten Buche «Vom Menschenrätsel» lesen. Karl Julius Schröer sagt über die «Walpurgisnacht»: «Es ist anzuneh­men, daß Faust, von Mephisto fortgerissen, geflohen sei. Er ließ Gret­chen im Jammer zurück. Ihre Mutter war tot, ihr Bruder erschlagen. Unmittelbar nach diesem Ereignis folgte ihre Entbindung. Sie verfiel in Wahnsinn, ertränkte ihr Kind und irrte umher, bis sie eingefangen und in den Kerker geworfen wurde.

Obwohl Faust alles, was nach dem Tode Valentins mit Gretchen ge­schah, nicht wissen konnte, so war er doch unter solchen Umständen geschieden, daß es ganz unnatürlich scheinen muß, ihn so wie hier - den zweiten Tag darauf? - als behaglichen Spaziergänger auf dem Blocks-berge zu sehen. So erscheint er uns nämlich in den Worten Vs. 3838 ff. Es ist ersichtlich, daß auch die Walpurgisnacht nicht in vollem Zusam­menhange mit dem Ganzen gedichtet ist. Der Dichter ist aus allem Pathos offenbar heraus und steht dem Stoff mit einer Anwandlung von

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Ironie gegenüber. Der allgemeine Grundgedanke, der den Auftritt mit dem Ganzen verbindet, ist deutlich. Mephistopheles führt Faust mit sich fort auf den Blocksberg, um ihn zu betäuben und Gretchen vergessen zu machen; die Liebe in Faust ist aber stärker, als Mephistopheles begreifen kann. Der Hexenspuk zieht ihn nicht an: das Bild Gretchens taucht in ihm auf mitten in dem wüsten Taumel. - Dieser Gedanke tritt, freilich nicht kräftig genug, hervor, und die ganze Walpurgisnacht erscheint im Verhältnis zur dramatischen Handlung viel zu groß. Sie war zu einem selbständigen Ganzen geworden, das noch obendrein durch den ange­schlossenen Walpurgisnachtstraum übermäßig erweitert wird. Dies gilt natürlich nur vor der Walpurgisnacht als Bestandteil der Tragödie.»

Also selbst ein Mann, der den «Faust» sehr lieb hat, kann sich nicht eigentlich einverstanden erklären damit, daß zwei Tage, nachdem das große Unglück geschehen war, Faust als rüstiger Spaziergänger mit Mephistopheles zusammen auf dem Blocksberg erscheint.

Nun möchte ich zunächst rein äußerlich dem aber entgegenstellen, daß die «Walpurgisnacht» zu den reifsten Teilen der Faust-Dichtung gehört. Sie ist geschrieben 1800 bis 1801. Goethe hat als ganz junger Mann am «Faust» zu schreiben begonnen, so daß wir zurückgehen kön­nen in den Anfang der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts: 1772, 1773, 1774. Da beginnt er die ersten Szenen aufzuschreiben. Nun war er um so viel älter geworden, hatte die großen Erfahrungen hinter sich, die sich unter anderem auch ausgesprochen haben in dem «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie», das früher geschrieben ist, und er fügt in seinen Faust jetzt die «Walpurgisnacht» ein; der «Walpurgis­nachtstraum» ist sogar ein Jahr früher geschrieben als die «Walpurgis­nacht» selber. Wir dürfen uns daraus doch die Vorstellung bilden, daß es Goethe sehr ernst war mit dem Hineingeheimnissen der «Walpurgis­nacht» in den «Faust». Aber man kommt nie und nimmer aus einer ge­wissen Unmöglichkeit des Verständnisses heraus, wenn man nicht ins Auge faßt, daß Goethe wirklich spirituell die Sache gemeint hat.

Ich kenne so ziemlich die Faust-Kommentare, die geschrieben worden sind bis zum Jahre 1900 - später nur noch weniger -, aber bis zum Jahre 1900 kenne ich sie so ziemlich alle; nachher habe ich mich nicht mehr so stark mit dem, was darüber geschrieben worden ist, eingelassen.

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Aber so viel ist mir ganz gut bekannt, daß niemand eigentlich darauf emgegangen ist, die Sache spirituell zu nehmen. Nicht wahr, man kann leicht einwenden, daß es eigentlich eine Zumutung ist an unser Emp­finden, an unser Gefühl, daß Faust zwei Tage nach dem großen Unglück seelenvergnügt spazierengehen soll. Aber Goethe war wirklich nicht der plattherzige Wald- und Wiesenmonist, als der er oftmals vorgestellt wird, sondern er war ein Mensch, wie das gerade auch die Einzelheiten der «Walpurgisnacht» zeigen, welcher tief gründlich eingeweiht war in gewisse spirituelle Zusammenhänge. Wer bekannt ist mit diesen Zu­sammenhängen, der sieht daran, daß in der «Walpurgisnacht» nichts dilettantisch, sondern alles sachgemäß ist; er sieht daran, wenn ich mich jetzt des trivialen Ausdrucks bedienen will, daß etwas dahinter ist, daß es nicht eine bloße Dichtung ist, sondern daß es aus spirituellem Ver­ständnis geschrieben ist. Für den, der mit gewissen Dingen bekannt ist, ist es merklich gerade an Einzelheiten, ob jemand Wirklichkeiten er­zählt - also ein Dichter mit spirituellem Verständnis schildert -, oder ob jemand sich etwas ausgedacht hat über geistige Welten und das, was damit zusammenhängt, etwa die Hexenwelt. In solchen Dingen muß man eben auch ein bißchen Aufmerksamkeit entwickeln.

Ich will Ihnen, obwohl ich auch diese Geschichte verhundertfachen könnte, eine einfache kleine Geschichte erzählen, welche Ihnen anschau­lich machen soll, wie man erkennen kann an Einzelheiten, ob man es zu tun hat mit etwas, wo was dahinter ist oder nicht. Selbstverständlich kann man noch irren; da kommt es dann auf das, wie erzählt wird, an. Ich war einmal in einer Gesellschaft, in der Theologen, Historiker, Dich­ter und so weiter waren. In dieser Gesellschaft erzählte man - es ist das jetzt lange her, es war in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, also fast dreißig Jahre her - das Folgende: Einmal predigte in einer Pariser Kirche ein Domherr in sehr fanatischer Weise gegen den Aberglauben, indem er nur dasjenige zulassen wollte, was die Kirche zuläßt, und vor allen Dingen verwehren wollte, daß die Leute an gewisse Dinge glau­ben, welche eben ihm eigentlich unheimlich waren. So namentlich wollte er begreiflich machen, der betreffende Domherr in seiner fanatischen Predigt, daß Freimaurerei zwar ein sehr böses Ding sei - Sie wissen, katholische Geistliche predigen sehr häufig über Freimaurerei und reden

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dabei alles mögliche von der Gefährlichkeit der Freimaurerei -, aber nun wollte er nur gelten lassen, daß es eine sehr verwerfliche Lehre sei und daß auch die Menschen, die dabei sind, recht böse Menschen seien; er wollte aber nicht gelten lassen, daß irgend etwas Spirituelles in man­chen solchen Brüderschaften stecke. Und das hörte denn ein Mensch an, der wiederum von einem andern hineingeführt war, und dem kam das sehr sonderbar vor, daß da der Domherr einer großen Gemeinde den Leuten etwas vorerzählte, was er für unrichtig hielt, weil er wirklich glaubte, daß geistige Kräfte durch solche Gesellschaften schon gehen. Die beiden erwarteten nach der Predigt den Domherrn, und nun beredeten sie sich niit ihm; er aber beharrte sehr fanatisch auf seiner Meinung, daß man es mit nichts Geistigem zu tun habe, sondern daß das eben bloß schlechte Menschen seien mit einer sehr bösen Lehre. Da sagte der eine, der etwas wußte über die Sache: Hochwürden, ich mache Ihnen den Vorschlag, kommen Sie nächsten Sonntag in einer bestimmten Zeit mit mir; ich werde Sie an einen verborgenen Ort einer gewissen Loge setzen, wo Sie die Dinge mit ansehen können. - Und der sagte: Ja, das werde ich tun, aber darf ich mir auch Reliquien mitnehmen? - Er fing nämlich an, sich zu fürchten! Er nahm sich also Reliquien mit; dann wurde er dahin geführt und saß dort im Verborgenen. Als das bestimmte Zeichen losging, da sah er, daß sich zum Präsidentenstuhle hin eine sehr merk­würdige Persönlichkeit blassen Gesichtes bewegte, und bewegte so, daß sie nicht die Füße vorsetzte, einen nach dem andern, sondern sich vor-gleiten ließ. Das wurde nun in einer bestimmten Weise erzählt, und weiter erzählte der Betreffende, nun habe er seine Reliquien wirken lassen, den Segen gesprochen und so weiter, da sei plötzlich eine Unruhe in die ganze Versammlung gekommen, und die ganze Sache sei zer­stoben!

Nachdem ein sehr fortgeschrittener Priester, der dabei war, ein Theo­loge, seine Meinung dahin abgegeben hatte, er glaube einfach nicht an die Sache, und ein anderer Priester vorbrachte, er habe in einem Kolle­gium in Rom gehört, daß für die Wahrhaftigkeit jenes Domherrn zehn Priester einen Eid in Rom abgelegt hätten, jener erste Priester aber noch meinte: Ich glaube lieber noch, daß zehn Priester einen falschen Eid ablegen, als daß das Unmögliche möglich ist, da sagte ich dazumal:

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Mir ist die Art und Weise genug, wie erzählt worden ist. Denn auf das Wie kam es an, auf die Sache von dem Fortgleiten.

Sie treffen dieses Fortgleiten auch hier in der «Walpurgisnacht»:

Gretchen, wie es wieder erscheint, gleitet fort. Also selbst eine solche Einzelheit ist sachgemäß von Goethe dargestellt. Und so ist jede Einzel­heit sachgemäß, nichts im spirituellen Sinne dilettantisch dargestellt.

Mit was haben wir es denn eigentlich zu tun? Mit etwas haben wir es zu tun, welches bezeugt, daß es für Goethe gar nicht in Frage kam, ob Faust nach zwei Tagen, nachdem das Unglück geschehen war, als ein seelenvergnügter Wald- und Wiesenwanderer auf dem Blocksberg er­scheine, sondern wir haben es zu tun mit einem geistigen Erlebnis des Faust in der «Walpurgisnacht», das er nicht abweisen konnte, das ge­rade als Folge der ihn erschütternden Ereignisse, die er durchgemacht hat, kommt. Wir haben es also damit zu tun, daß Fausts Seele heraus­gerissen wird aus seinem Leib und Mephisto gefunden hat in der geisti­gen Welt. Und innerhalb der geistigen Welt machen sie die Wanderung nach dem Brocken, das heißt, sie kommen zusammen mit denjenigen, die auch nun, wenn sie die Brockenwanderung machen, aus ihrem Leibe herausgerückt sind, denn selbstverständlich liegt der physische Leib der­jenigen Menschen, welche die Wanderung nach dem Brocken machen, im Bette.

In den Zeiten, in denen man solche Dinge besonders intensiv getrie­ben hat, haben sich diejenigen, die diese Brockenwanderung machen wollten - der Tag dazu, respektive die Nacht, ist vom 30.April zum 1. Mai -, gesalbt mit einer gewissen Salbe, wodurch die vollständigere Trennung, die von astralischem Leib und Ich, hergestellt werden konnte, als sie sonst im Schlafe vorhanden ist. Dadurch machen sie im Geiste diese Brockenfahrt durch. Das ist ein Erlebnis - selbstverständlich recht niederer Art -, aber es ist ein Erlebnis, das schon durchgemacht werden kann. Nur darf niemand glauben, daß er irgendwo auf leichte Art Aus­kunft über die Zusammensetzung der Hexensalbe erlangen kann, ge­radesowenig als Sie Auskunft erlangen werden auf leichte Weise, wie man es so wie van Helmont macht, um mit bestimmten Chemikalien, die man einreibt an einer bestimmten Körperstelle, aus seinem Leib bewußt herauszurücken. Das ist bei van Helmont geschehen. Aber derlei

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Dinge werden denjenigen nicht empfohlen, die - wie der Franz in Hermann Bahrs «Himmelfahrt» - es zu langweilig finden, die Übungen zu machen, um die Sache in gerechter Weise zu absolvieren. Ich weiß aber wohl, daß mancher gar nicht unglücklich wäre, wenn ihm derlei Mittel verraten würden!

Faust trifft nun - also Faustens Seele - mit Mephisto wirklich die aus ihrem Leib herausgerückten und in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai sich zusammenfindenden Hexen. Das ist ein wirklicher geistiger Vorgang, und dieser wirkliche geistige Vorgang wird nun von Goethe sachgemäß geschildert. Goethe stellt also nicht nur dar, daß man eine subjektive Vision haben kann, sondern ihm ist klar, wenn man wirklich aus seinem Leib herausgeht, so trifft man auch andere Seelen, die aus ihrem Leib herausgegangen sind. Das deutet schließlich Mephisto sehr genau an, wenn er sagt:

In die Traum- und Zaubersphäre

Sind wir, scheint es, eingegangen.

Wirklich in eine andere Sphäre sind sie eingegangen. In die Seelen-welt sind sie eingegangen; da treffen sie mit den andern Seelen zusam­men. Und in dieser Welt finden wir sie selbstverständlich so darinnen, wie sie darinnen sein müssen unter der Nachwirkung desjenigen, was aus ihrem physischen Leben ist. Faust muß ja wieder zurückkehren in seinen physischen Leib. Solange man überhaupt dazu veranlagt ist, wie­der zurückzukehren in seinen physischen Leib, das heißt, nicht physisch stirbt, so lange trägt man, wenn man mit seinem astralischen Leib her-ausgeht, gewisse Neigungen, Affinitäten des physischen Daseins an sich. Daher sagt Faust sehr begreiflich, daß er sich wohl fühle in der Früh-lingsluft, in der April-Mailuft; denn die vernimmt er naturlich, da er nicht ganz getrennt ist von seinem Leib, sondern nur heraußen ist und ihn wieder beziehen will, die vernimmt er natürlich durchaus. Man kann, wenn man so heraußen ist wie Faust hier aus seinem physischen Leib, alles dasjenige, was flüssig, luftförmig ist in der Welt, wahrneh­men, nur nicht das Feste. In allen Wesen draußen in der Natur ist ja Flüssigkeit darinnen. Der Mensch ist weit über neunzig Prozent eine Flüssigkeitssäule, und nur ganz wenig Prozent feste Körper sind in ihm.

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Also Sie dürfen nur nicht glauben, daß er, wie er so draußen ist, nicht einen andern Menschen sehen könnte; nur sieht er bloß dasjenige, was flüssig ist. Deshalb kann er auch die Natur, die vom Flüssigen durch­drungen ist, wahrnehmen. Sachgemäß alles, was da geschildert ist! Faust kann es so wahrnehmen. Aber Mephistopheles - also Ahriman -, ein ahrimanisches Wesen hat kein Verständnis für die gegenwärtige Erde; er gehört eigentlich demjenigen an,was zurückgeblieben ist; daher hat er es gar nicht besonders gern, wenn es beim Frühling ankommt. Erinnern Sie sich,wie ich in einem der letzten Vorträge auseinandersetzte, im Winter kann man sich erinnern an das Mondhafte. Aber das jetzige Mondhafte, wenn der Mond der Erdenmond ist, sagt ihm gar nicht be­sonders zu. Dasjenige Mondhafte aber, was mit dem früheren Mond-haften zusammenkommt, wenn das Feurige, Leuchtende aus der Erde hervorkommt, das ist sein Element: die Irrlichter, nicht das Monden­licht. Ganz sachgemäß dieser Zug zu den Irrlichtert, die er herausholt aus dem noch jetzt in der Erde Mondhaften!

Ich bemerke nur nebenbei: das Manuskript, das vorliegt zu der «Wal­purgisnacht», ist undeutlich, und es muß irgendeine Nachlässigkeit vor­liegen, denn in den Ausgaben findet sich überall etwas fast Unmögliches; und eigentlich ist mir erst, als wir hier unsere Vorübungen machten zu der Vorstellung, aufgefallen, daß Korrekturen notwendig sind gerade in der «Walpurgisnacht». Es ist in den Ausgaben so, daß erstens dieser Wechselgesang zwischen Faust, Mephistopheles und den Irrlichtern nicht verteilt ist auf die einzelnen Personen. Nun haben die Gelehrten allerlei Verteilungen gemacht, aber die stimmen nicht, so daß ich so verteilt habe, daß dasjenige, was sich so sehr häufig findet als dem Faust zu­geteilt, dem Mephistopheles gehört:

In die Traum- und Zaubersphäre

Sind wir, scheint es, eingegangen.

Führ' uns gut und mach' dir Ehre!

- sagt er zum Irrlicht -


Daß wir vorwärts bald gelangen

In den weiten, öden Räumen.

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Selbst bei Schröer finde ich es hier bei Faust angezeichnet, das gehört aber dem Mephistopheles, wie es auch gestern gesprochen worden ist, wenn Sie sich erinnern. Das Nächste:

Seh' die Bäume hinter Bäumen,

Wie sie schnell vorüberrücken,

Und die Klippen, die sich bücken,

Und die langen Felsennasen,

Wie sie schnarchen, wie sie blasen!

- das gehört dem Irrlicht.

Dann ist die Reihe an Faust, in den hereinkommen diejenigen Dinge, welche ihn erinnern an das erschütternde Erlebnis, das er hinter sich hatte:

Durch die Steine, durch den Rasen

Eilet Bach und Bächlein nieder.

Hör' ich Rauschen? Hör' ich Lieder?

Hör' ich holde Liebesklage,

Stimmen jener Himmelstage?

Was wir hoffen, was wir lieben!

Und das Echo, wie die Sage

Alter Zeiten, hallet wieder.

Dann ist merkwürdigerweise gerade bei Schröer das nächste dem Me­phistopheles zugeteilt; das ist natürlich dem Irrlicht zuzuteilen.

Uhu! Schuhu! tönt es näher . . . und so weiter.

Das hat Schröer dem Mephistopheles zuerteilt; das ist natürlich falsch Dann ist das letzte dem Faust zuzuteilen:

Aber sag' mir, ob wir stehen,

Oder ob wir weitergehen?

Alles, alles scheint zu drehen,

Fels und Bäume, die Gesichter

Schneiden, und die irren Lichter,

Die sich mehren, die sich blähen.

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Ich will gleich bemerken, daß auch in dem Nachfolgenden sich noch Fehler befinden. Nachdem Faust die Worte gesprochen hat:

Wie ras't die Windsbraut durch die Luft!

Mit welchen Schlägen trifft sie meinen Nacken! -finden Sie dem Mephistopheles zugeteilt eine lange Rede; sie gehört nicht dem Mephistopheles - sie ist in allen Ausgaben dem Mephisto­pheles zugeteilt -, nur die drei Zeilen gehören dem Mephistopheles:

Du mußt des Felsens alte Rippen packen,

Sonst stürzt sie dich hinab in dieser Schlünde Gruft.

Ein Nebel verdichtet die Nacht.

Höre, wie's durch die Wälder kracht!

Aufgescheucht fliegen die Eulen . . . und so weiter.

Das gehört nun dem Faust. Und erst wieder die letzten Zeilen:

Hörst du Stimmen in der Höhe?

In der Ferne, in der Nähe?

Ja, den ganzen Berg entlang

Strömt ein wütender Zaubergesang!

gehören dem Mephistopheles. Das mußte korrigiert werden, weil die Dinge doch richtig stehen müssen. Dann habe ich mir nur eine Zeile ein­zuschieben erlaubt. Weil natürlich einiges, gerade wenn es unter Hexen zugeht, wirklich nicht aufführbar ist, habe ich mir eine Zeile einzu­schieben erlaubt, aber die gehört ja nicht dazu.

Nun, ich muß gestehen, es hat mich eigentlich etwas betrübt, zu sehen, wie korrumpiert die Überlieferung ist in sämtlichen Ausgaben, und wie niemand darauf gekommen ist, die Sachen in der richtigen Weise zu ver­teilen. Man muß durchaus sich klar sein darüber, daß Goethe den «Faust» so nach und nach geschrieben hat, und daß natürlich - er nannte das Manuskript selber ein konfuses Manuskript - manches schon durch­aus korrigiert werden muß; es muß aber sachgemäß geschehen. Nicht Goethe soll korrigiert werden selbstverständlich, aber diejenigen, welche die Ausgaben gemacht haben.

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Aus dem Gesagten ist also verständlich, daß Mephistopheles sich auch des Irrlichtes als Wegeweiser bedient, und daß sie gleichsam einziehen in eine Welt, die eben so wahrgenommen wird, so beweglich, wogend, wie wahrgenommen wird, wenn das Feste fort ist. Nun versetzen Sie sich in alles dasjenige, was da gesprochen wird, wie sachgemäß wiederum das Feste fortgelassen ist, wie das durchaus stimmt mit allem, daß Goethe nun die Irrlichter, Mephisto, Faust als Wesen, die außer dem Leibe sind, zeigt. Mephisto hat nicht einen physischen Leib, er nimmt ihn nur an; Faust lebt augenblicklich nicht in seinem physischen Leib; Irrlichter sind elementarische Wesenheiten, die natürlich nicht den phy­sischen Leib ergreifen können, weil der fest ist. Das alles, indem Goethe es zusammen wie Wechselgesang fortführt, zeigt, daß er uns einführen will in das Wesenhafte der geistigen Welt, nicht in etwas bloß Visio­näres, sondern in das Wesenhafte der geistigen Welt. Daß es nun aber, wenn man so im Geistigen ist, auch anders aussieht, darauf werden wir gleich aufmerksam gemacht, denn wahrscheinlich wird ein ganz ge­wöhnlicher Beschauer nicht im Berg den Mammon glühen sehen, das Gold im Inneren. Überhaupt das Ganze, was beschrieben wird - man braucht das nun nicht zu erklären -, zeigt, wie hier eine außer dem Leibe befindliche Seele geschildert wird. Wir haben es also zu tun mit einem wirklichen Zusammenhang, der uns dargestellt wird innerhalb geistiger Wesenheiten, und Goethe läßt einfließen dasjenige, was ihn selber ver­bindet mit der Erkenntnis der geistigen Welt. Daß Goethe so sachgemäß den Mephistopheles überhaupt in seine Dichtung einführen konnte, bezeugt, daß er schon mit diesen Dingen gut bekannt war, daß er be­kannt war damit, daß Mephistopheles ein Wesen ist, das zurückgeblie­ben ist. Daher führt er Zurückgebliebene sogar ein. Denken Sie doch einmal - eine Stimme, die kommt:

Welchen Weg kommst du her?

Eine Stimme von unten - das ist also eine solche Stimme, die mehr von einem Wesen herrührt, das untermenschliche Instinkte hat - ant­wortet ihr:

Übern Ilsenstein!

Da guckt' ich der Eule ins Nest hinein.

Die macht' ein paar Augen!

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Stimme: 0 fahre zur Hölle!

Was reit'st du so schnelle!

Stimme: Mich hat sie geschunden,

Da sieh nur die Wunden;

Nun bedenken Sie, daß später darauf geantwortet wird:

Stimme, oben: Kommt mit, kommt mit, vom Felsensee!

Stimme von unten: Wir möchten gerne mit in die Höh.

Stimme von oben: Wer ruft da aus der Felsenspalte?

Und dann werden wir durch eine Stimme angesprochen, die drei­hundert Jahre kriecht. Das heißt: Goethe ruft die Geister auf, die drei­hundert Jahre zurück sind. Drei Jahrhunderte liegt die Entstehung des Faust zurück, der Faust-Sage; im 16. Jahrhundert ist sie entstanden. Die Geister, die zurückgeblieben sind aus jener Zeit, die sich nun vermischen mit denen, die als gegenwärtige Hexen nach dem Brocken kommen, treten auch auf, denn die Sachen muß man wörtlich nehmen. Also Goethe sagt: Oh, es walten in unserem Zusammenhang immer noch solche Seelen mit, und sie sind verwandt den Hexenseelen, da sie zurück­geblieben sind dreihundert Jahre. - Da, wo alles unter die Leitung des Mephistopheles kommt, in der «Walpurgisnacht», können solche, ich möchte sagen, noch ganz junge «Mephistopherln» auch erscheinen mitten unter den Hexenseelen. Und dann kommt eine Halbhexe, welche aus der Gegenwart ist; denn die Stimme, die früher gerufen hat:

Nehmt mich mit. Nehmt mich mit!

Ich steige schon dreihundert Jahr,

das ist nicht die Halbhexe, sondern ein wirklich dreihundert Jahre altes Wesen. So alt werden die Hexen nicht, wenn sie auch auf den Blocksberg gehen. - Die Haibhexe, die trippelt langsam, kommt langsam in die Höhe. Da also trifft sich wirklich Geistiges, sogar Geistiges, welches die Zeit überwunden hat, gewissermaßen zurückgeblieben ist in der Zeit. Manche Worte sind geradezu wunderbar. Das sagt die eine Stimme, gerade diejenige, die dreihundert Jahre schon steigt:

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Und kann den Gipfel nicht erreichen.

Ich wäre gern bei meinesgleichen.

Damit drückt Goethe sehr schön aus, daß die Hexenseelen und diejeni­gen, die auf solche Weise Verstorbenen angehören, die so intensiv zu­rückbleiben, etwas Verwandtes haben. Zu «ihresgleichen» wollen diese zurückbleibenwollenden Seelen. Sehr interessant!

Dann sehen wir, wie Mephistopheles immer eigentlich den Faust beim Gewöhnlichen, beim Trivialen erhalten will; er will ihn unter den Hexenseelen erhalten. Aber Faust will die tieferen Geheimnisse des Daseins kennenlernen, und deshalb will er noch mehr, noch weiter; er will zu dem wirklich Bösen, zu den bösen Urgründen:

Doch droben möcht' ich lieber sein!

Schon seh' ich Glut und Wirbelrauch.

Dort strömt die Menge zu dem Bösen;

Da muß sich manches Rätsel lösen.

Für dieses Tiefere, was Faust selbst im Bösen aufsuchen will, hat Mephistopheles nicht das rechte Verständnis; er mag auch nicht den Faust dahin führen, denn da wird die Geschichte nämlich etwas -penibel. Zu den Hexen noch geführt zu werden als Seele, das geht; aber wenn einer wie Faust in diese Gemeinschaft hineingeführt wird, dann kann er, wenn er weiterkommt zum Bösen, für manche Menschen höchst gefährliche Dinge entdecken, denn man würde den Ursprung für so manches, was auf der Erde ist, da im Bösen entdecken. Daher war es auch für manche Leute besser, die Hexen zu verbrennen. Denn wenn man auch selbstverständlich die Hexerei nicht gerade zu protegieren braucht, so könnte doch dadurch, daß Hexen auftreten und gewisser­maßen durch ihre medialen Eigenschaften von gewissen Menschen, die hinter manche Geheimnisse kommen wollen, benützt werden könnten, so könnte, wenn die Medialität weit genug ginge, der Ursprung von manchem, was in der Welt ist, dadurch ans Tageslicht kommen. Dazu läßt man es nun nicht kommen; daher verbrannte man die Hexen. Diejenigen, welche die Hexen verbrannt haben, hatten ein entschiedenes Interesse daran, daß nicht dasjenige verraten werden könnte, was herauskommt,

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wenn irgendein Kundiger weiter in die Hexengeheimnisse hineingeht. Nun, auf solche Dinge kann man nur hinweisen. Man würde von mancherlei den Ursprung gefunden haben, und niemand, der eigentlich so etwas nicht zu scheuen hat, ist für das Hexenverbrennen gewesen.

Aber Mephisto will, wie gesagt, Faust mehr beim Trivialen erhalten. Und Faust wird dann schon ungeduldig, denn er hat von einem Mephi­stopheles doch die Vorstellung, daß er ein wirklicher Teufel ist, und daß er ihm nicht triviale Zauberkünste vormache, daß er ihn ordentlich ins Böse hineinführe, nachdem er ihn schon einmal aus dem Leibe her­ausgebracht hat. Dann will er, daß er sich ihm als «Teufel» produziert und nicht als ein ganz gewöhnlicher Zauberer, der nur in die Kinker­litzchen der geistigen Welt einzuführen vermag. Aber Mephistopheles lenkt ab; er will doch nur in das Triviale einführen. Außerordentlich interessant ist nun, wie von dem eigentlich Bösen, das dem Faust nicht jetzt schon in diesem Stadium verraten werden soll, Mephistopheles ablenkt und ihn wieder so auf das Elementare aufmerksam macht. Und eine wunderbare Stelle ist diese:

Siehst du die Schnecke da? Sie kommt herangekrochen;

Mit ihrem tastenden Gesicht

Hat sie mir schon was abgerochen.

Wunderbar sachgemäß ist das in die Geruchsphäre Heruntergerückte! Es ist wirklich so: in dieser Welt, in die Mephistopheles da den Faust eingeführt hat, da riecht sich's viel mehr, als sich's schaut. «Tastendes Gesicht» - wunderbar anschaulich ausgedrückt, weil es nicht solch ein Geruch ist, wie die Menschen ihn haben, weil es auch nicht ein Gesicht ist, weil es so ist, wie wenn man aus den Augen etwas herausstrecken könnte, um mit feinen Augenstrahlen die Dinge zu betasten. Daß so etwas in den niederen Tieren lebt, das ist wahr, denn die Schnecke hat nicht bloß Fühler, sondern diese Fühler verlängern sich in außerordent­lich lange Atherstangen, und mit denen kann wirklich solch ein Tier dasjenige, was weich ist, betasten, aber nur ätherisch betasten. Denken Sie, wie sachgemäß, gar nicht dilettantisch.

Aber nun kommen sie zu einem munteren Klub - wir sind natürlich

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in einer geistigen Welt! -, da kommen sie zu einem munteren Klub. Und Goethe hatte schon verstanden, nicht einer zu werden von der Sorte, die von der geistigen Welt nur reden mit einem tragisch verlängerten Gesicht, sondern auch mit dem nötigen Humor und mit der nötigen Ironie zu sprechen, wenn diese am Platze sind. Warum sollten denn nicht ein alter General, ein Minister, «Seine Exzellenz», ein Parvenu und auch ein Autor, wenn sie gerade miteinander ihre Sachen sprechen und etwas - im Deutschen nennt man es picheln -, etwas Wein schlürfen, und nach und nach das selber so wenig interessant finden, was sie reden, daß sie dabei einschlafen, warum sollten sie denn nicht, wenn sie unter der besonderen Wirkung desjenigen stehen, was im Klub spielt, wenn sie so ein bißchen knobeln und noch die Spielleidenschaft unter ihnen ist, warum sollten denn nicht diese Seelen so herausrücken, daß man sie in einem munteren Klub unter den andern, die da herausgegangen sind, zusammen findet? In einem Klub: den General, Seine Exzellenz den Minister, den Parvenu und nun auch den Dichter? Warum sollte denn das nicht sein? Die trifft man also auch, denn sie sind außer ihrem Leibe. Und wenn man Glück hat, so kann man auch solch eine Gesellschaft finden, denn sie sind manchmal schon so, die Gesellschaften, daß sie miteinander durch ihr eigenes Amusement einschlafen. Sie sehen, Goethe verkennt nicht gerade die Sache. Aber Mephistopheles ist so überrascht, daß hier einmal durch die Natur selber, ohne daß es durch etwas an­deres als nur durch einen etwas abnormen Fortgang des naturgemäßen Lebens so weit kommt, sie in ihren Seelen in diesen Zustand ge­raten, - er ist so überrascht, daß es in dieser Weise an ihn herantritt, daß er sich noch an ältere Schichten seines Daseins erinnern muß. Des­halb wird er plötzlich alt an der Stelle, das kann er in der Gestalt gar nicht erleben; da pfuscht es ihm sogar herein aus der Menschenwelt, und das möchte er nicht. Denn sogar zu dem Irrlicht sagt er, es soll nicht zickzack gehen, sondern gerade, sonst bläst er ihm sein Flackerlicht aus. Es will das Irrlicht, indem es zickzack geht, den Menschen nachmachen; er will aber geradeaus gehen, die Menschen gehen zickzack. So stört ihn auch, daß da nur durch einen abnormen Gang des Lebens - nicht durch Höllenveranstaltung - vier ehrenwerte Mitglieder der menschlichen Gesellschaft in die Blocksbergzone eintreten.

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Dann aber geht es schon wieder besser. Zunächst ist die Trödelhexe da, die natürlich auch aus ihrem Leib gefahren ist, mit all ihren Kün­sten, die so schön angeführt werden:

Kein Kelch, aus dem sich nicht in ganz gesundem Leib

Verzehrend heißes Gift ergossen,

Kein Schmuck, der nicht ein liebenswürdig Weib

Verführt, kein Schwert, das nicht den Bund gebrochen.

Da fühlt er sich schon wiederum, da ja diese Hexe ganz gewiß «gesalbt» ist, in seinem Elemente, spricht sie als «Frau Muhme» an; aber er sagt:

Frau Muhme! Sie versteht mir schlecht die Zeiten.

Getan geschehn! Geschehn getan!

Verleg' sie sich auf Neuigkeiten!

Nur Neuigkeiten ziehn uns an.

Er möchte etwas haben, das den Faust mehr interessieren kann. Faust aber ist gar nicht so sehr angezogen, fühlt sich nun darinnen in einem sehr niedrigen geistigen Elemente und sagt jetzt - und das bitte ich Sie zu beachten -, sagt jetzt wunderbar:

Daß ich mich nur nicht selbst vergesse!

Daß ich nicht das Bewußtsein verliere! - Also er will nicht die ganze Sache bei herabgedrängtem Bewußtsein, atavistisch etwa erleben, son­dern bei vollem Bewußtsein erleben. Aber bei einer solchen Hexenmesse könnte man leicht das Bewußtsein herablähmen, das soll nicht sein. Denken Sie sich, wie weit Goethe geht.

Und jetzt wird darauf hingewiesen, wie das Seelische heraus muß aus dem Leibe, wie auch noch ein Stück Atherleib herausgeholt werden muß, was während der ganzen Erdenentwickelung sonst nicht geschieht, als wie in einem besonderen Herausfahren, ich möchte sagen, in einer Art Natur-Initiation. Der Atherleib des Faust ist mitgegangen zum Teil; das wird, weil der Atherleib - ich habe das öfter erwähnt - des Mannes weiblich ist, als Lilith gesehen. Das führt hinauf in Zeiten, in denen der Mensch überhaupt nicht so konstituiert war. Lilith ist der Sage nach Adams erste Frau und Luzifers Mutter. Also hier sehen wir, wie schon

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luziferische Künste, die dem Mephistopheles auch zu Hilfe stehen, mit­spielen, wie aber doch etwas Niedriges dabei ist. Das ist in der nach-folgenden Rede der Fall, die einer Verführung gleichkommt. Faust fürchtet sich ohnedies schon, daß ihm das Bewußtsein schwinden könnte, und dafür möchte Mephistopheles schon sorgen, daß Faust das Bewußt­sein verliert und so recht untertaucht. Er hat ihn nun dazu gebracht, sogar ein Stück Atherleib herauszuziehen, so daß er die Erscheinung der Lilith haben kann. Er möchte schon, daß es recht weit käme, daher ver­führt er ihn zu diesem Hexentanz, wo er selber mit der alten Hexe tanzt und Faust mit der jungen Hexe. Und da ergibt sich denn, daß Faust nicht das Bewußtsein verlieren kann. Er kann nicht das Bewußt­sein verlieren!

Nun haben wir also von Goethe richtig geschildert eine Szene, die unter Geistern vorgeht. Wenn die Seelen aus dem Leibe sind, können sie es erleben. Goethe konnte es so darstellen. Aber auch andere Seelen können hineinkommen in solche Gesellschaft. Sie bringen nur wiederum ihre irdischen Eigenschaften mit. Goethe wußte wohl, daß in Berlin Nicolai lebte, der sogar ein Freund Lessings war. Dieser Nicolai war einer der fanatischsten Aufklärer seiner Zeit, derjenigen Menschen, die dazumal - ja, wenn es schon einen Monistenbund gegeben hätte, so wären sie ihm beigetreten, wären sogar «Vorstände» im Monistenbund geworden, denn von solcher Sorte waren die Menschen im 18. Jahr­hundert! -, die dazumal gegen alles Spirituelle zu Felde zogen. So einer ist der Proktophantasmist - das Wort will ich nicht übersetzen, das können Sie sich im Lexikon nachschlagen -, aber das ist so einer. Also der Nicolai, der hat nicht nur, als Goethe «Die Leiden des jungen Wer­ther» schrieb, «Die Freuden des jungen Werther» geschrieben, um die Goethesche Sentimentalität zu verspotten vom freigeistigen Stand­punkte aus, sondern er hat auch, um dadurch, heute würde man sagen, richtig Monist sein zu können, in der Berliner Akademie der Wissen­schaften über die Verwerflichkeiten des Aberglaubens der geistigen Welt geschrieben. Und er konnte das! - Er litt an Visionen, sah hinein in die geistige Welt; aber er hatte das ärztliche Gegenmittel, das man schon damals kannte; er ließ sich nämlich an einer gewissen Gegend des Leibes Blutegel setzen. Da vergingen die Visionen. Und daher konnte er in

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jenem Vortrage der Akademie der Wissenschaften eine materialistische Deutung des Visionären geben; denn er konnte zeigen an seinem eigenen Beispiel, daß man, wenn man sich Blutegel setzen läßt, dann die Visio­nen vertreibt. Also ist alles nur unter dem Einflusse des Materiellen! Goethe hat da nicht etwa nur so blindlings aus der Luft gegriffen, son­dern er hat den Nicolai, Friedrich Nicolai, geboren 1733, Buchhändler und Schriftsteller, gestorben 1811, sehr gut gekannt. Und damit kein Zweifel ist, daß er den Nicolai meint, so läßt er den Proktophantasmist noch sagen, nachdem dieser unter die Geister als Geist selber gezogen ist und sie wegdiskutieren wollte, er läßt ihn nach einiger Zeit sagen:

Ihr seid noch immer da! Nein! das ist unerhört.

Sie sollten jetzt schon weg sein, denn er will sie ja wegdiskutieren.

Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt!

Heute würde man sagen: wir haben ja den Monismus verbreitet.

Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel.

Nun muß er es doch sehen, denn er kann es ja wirklich sehen; er ist ja einer, der an Visionen leidet, denn solche Menschen sind nun auch ge­eignet, sich zu vereinigen in der «Walpurgisnacht».

Goethe hat wiederum nicht dilettantisch geschildert, sondern einen Menschen genommen, der durch seine Imaginationen, wenn die Sache gerade günstig abläuft, in der Nacht vom 30.April auf 1. Mai eben auch bewußt in die geistige Welt eintreten und den Hexen begegnen kann. Es muß gerade ein solcher sein. Goethe schildert nicht dilettan­tisch, sondern er verwendet schon Menschen, die durchaus brauchbar sind. Aber sie bleiben in den Neigungen, in den Affinitäten, die sie auf der Welt haben. Daher will er, der Proktophantasmist, auch als Geist die Geister abschaffen; und Goethe macht das sehr deutlich. Denn Fried­rich Nicolai selber hat als Nachtrag zu dieser Abhandlung - die Ab­handlung über die Blutegelgeistertheorie - einen Geisterspuk auch be­sprochen, welcher sich zugetragen hat auf dem Gute Wilhelm von Hum­boldts in Tegel. Wilhelm von Humboldt wohnte in der Nähe von

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Berlin, in Tegel; Friedrich Nicolai hat sich auch als ein Aufgeklärter über den hergemacht; deshalb läßt Goethe ihn sagen:

Wir sind so klug, und dennoch spukt's in Tegel.

Tegel ist ein Vorort von Berlin, da hatten die Humboldts ein Gut; dort ist der Spuk passiert, um den sich Goethe sehr wohl bekümmerte; auch wußte er, daß den der Friedrich Nicolai beschrieben hat, aber als Geg­ner, als Aufgeklärter.

Wie lange hab' ich nicht am Wahn hinausgekehrt

Und nie wird's rein; das ist doch unerhört!

Na, selbst im Hause des aufgeklärten Wilhelm von Humboldt in Tegel spukt's. Den «Geistesdespotismus» will er nicht leiden, denn die Geister folgen ihm nicht, die sind nicht gehorsam:

Mein Geist kann ihn nicht exerzieren.

Und um vollends hinzuweisen darauf, daß er wirklich in sachgemäßer Weise eine Persönlichkeit nimmt, wie eben den Nicolai, führt er noch die Worte an:

Heut, seh ich, will mir nichts gelingen;

Doch eine Reise nehm' ich immer mit,

Und hoffe noch vor meinem letzten Schritt

Die Teufel und die Dichter zu bezwingen.

Nämlich Nicolai hat damals eine Reise durch Deutschland und die Schweiz gemacht und beschrieben; da hat er alles aufgezeichnet, was ihm so begegnet ist an Merkwürdigem, und da finden sich viele recht gescheite, aufgeklärte Bemerkungen. Besonders hat er sich überall gegen den Aberglauben gewendet, wie er es nannte. Also selbst auf die Schweizer Reise wird angespielt!

Und hoffe noch vor meinem letzten Schritt

Die Teufel und die Dichter zu bezwingen.

Die Teufel, weil er gegen die Geister vorgegangen; die Dichter - «Die Freuden des jungen Werther» - gegen Goethe.

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Solchen Leuten gegenüber ist schon Mephistopheles im klaren. Des­halb sagt er:

Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,

Das ist die Art, wie er sich soulagiert,

Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen,

Ist er von Geistern und von Geist kuriert.

Auch ein Hinweis eben auf die Blutegeltheorie des Friedrich Nicolai. Sie können sie in den Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Berlin lesen. ,799 hat Friedrich Nicolai diesen Vortrag gehalten.

Nun aber, nachdem diese Sache abgetan ist, sieht Faust eine sehr gewöhnliche Erscheinung: ein rotes Mäuschen springt aus dem Munde der schönen Hexe. Das ist eine sehr gewöhnliche Erscheinung und ist ein Beweis dafür, daß Faust voll bewußt geblieben ist; denn, wenn er nicht voll bewußt, sondern nur traumhaft wäre, so würde es bei dem roten Mäuschen bleiben, aber er kann diese zunächst durch sinnliche Triebe hervorgerufene Vision nun in dasjenige verwandeln, was es wirklich für ihn sein soll. Die Szene erstarrt - ich denke, das ist ein großer Eindruck - und das rote Mäuschen wird zum Gretchen. Es bleibt nur der rote Blutstrang um den Hals. Die Imagination hat sich auf­gelöst. Faust vermag überzugehen von einer niedrigen Imagination zu dem Sehen der Seele von Gretchen, die durch ihr Unglück nun vor ihm in ihrer wahren Gestalt sichtbar wird.

Sie mögen denken, wie immer Sie wollen, aber die Zusammenhänge in der geistigen Welt sind mannigfaltig, vielleicht auch verwirrend; und das, was ich Ihnen jetzt dargestellt habe über die Verwandlung einer niedrigen Vision von einem roten Mäuschen in etwas Höheres, Wahrhaftiges, Tiefes, das ist durchaus eine geistige Tatsache. Es ist höchst wahrscheinlich, daß die ganze Szene von Goethe ursprünglich anders gedacht war; es findet sich eine kleine Skizze, in der die Szene etwas anders dargestellt wird, so, wie Mephistopheles sie dem Faust vorzaubern möchte; aber Faust ist genug bewußt geworden, um sich hier dem Mephistopheles zu entziehen und eine Seele zu sehen, zu der ihn Mephistopheles selber nie geführt hätte; selbst für Mephistopheles bleibt sie die «Medusa», woraus Sie sehen, daß Goethe darauf hindeuten

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will, wie zwei verschiedene Seelen ein und dieselbe geistige Wirklichkeit in ganz verschiedener Weise deuten können; die eine wahr, die andere in der einen oder andern Richtung falsch. Mephistopheles aus seinen niederen Trieben heraus, welche solche Erscheinungen färben, kommt zu dem frivolen Ausspruch: Jeder sieht eben so etwas wie sein Liebchen. Und jetzt sehen wir auch, daß es sich um ein geistiges Erlebnis des Faust handelt, zu dem er hat kommen müssen. Er ist nicht der rüstige Spaziergänger, sondern er ist derjenige, der ein geistiges Erlebnis durchmacht; und das, was er hier sieht als Gretchen, das ist im Grunde genommen dasjenige, was in ihm lebt, und was das andere nur an die Oberfläche führt.

Nun will Mephisto den Faust ablenken von dem Ganzen, was nun die tiefere geistige Wirklichkeit ist, und führt ihn dann vor etwas - am Schlusse der «Walpurgisnacht» muß das durchaus so angesehen wer­den -, was Mephisto nur hereinversetzt: nämlich eine Art Theater. Das ist durchaus eine Zauberkunst des Mephistopheles. Aufgeführt wird dasjenige, was folgt: «Der Walpurgisnachtstraum» . Aber das Ganze wird in die Blocksbergszene versetzt, weil es so dargestellt werden soll, wie Mephisto eben Faust haben will, und der ganze «Walpurgisnachts­traum», über den ich heute nicht weiter reden will, der wird eigentlich von Mephisto vorgeführt, um Faust in ganz bestimmte Gedanken-richtungen hineinzubringen. Aber eine merkwürdige Art von dichte­rischer Umschreibung ist da. Erinnern Sie sich, wie Mephisto sagt:

Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,

Des Menschen allerhöchste Kraft,

Laß nur in Blend- und Zauberwerken

Dich von dem Lügengeist bestärken,

So hab' ich dich schon unbedingt -

Im «Walpurgisnachtstraum» ist alles vernünftig; aber Faust soll vor­gemacht werden, daß er sich an diesem Vernünftigen nur ergötzen soll. Goethe hat das italienische «dilettare» umgedeutet in das deutsche «dilettieren»; es ist eigentlich «ergötzen». Und Servibilis ist schon von Goethe erfunden als ein Diener des Mephistopheles, der Faust dazu bringen soll, daß er sich an dem Vernünftigen ergötzt, das heißt, daß

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er es in einer niedrigen, frivolen Weise nehme. Deshalb wird, trotzdem der «Walpurgisnachtstraum» ernst zu nehmen ist, gesagt:

Gleich fängt man wieder an.

Ein neues Stück, das letzte Stück von sieben;

Soviel zu geben ist allhier der Brauch.

Ein Dilettant hat es geschrieben,

Und Dilettanten spielen's auch.

Verzeiht, ihr Herrn, wenn ich verschwinde;

Mich dilettiert's den Vorhang aufzuziehn.

Also das ist die Art, wie Mephistopheles jetzt Faust dazu verführen will, daß er das Vernünftige des «Walpurgisnachtstraumes» verachte. Deshalb läßt er es ihm in einer solchen Aura gleichsam vorgesetzt sein. Denn das ist ihm recht, wenn er das Vernünftige hereinschwindeln kann auf den Blocksberg; das findet er gut. Denn nach seiner Ansicht gehört es dahin.

Sie sehen, wir haben es wirklich bei Goethe hier zu tun mit einer Dichtung, die über die niedrigere spirituelle Welt durchaus handelt, und die uns zeigt, daß Goethe beschlagen war in spirituellen Erkennt­nissen. Auf der andern Seite kann uns auch das aufmerksam machen, wie sehr es nötig ist, daß die Menschen ein wenig an Geisteswissenschaft herankommen, denn sonst - wie soll man Goethe verstehen? Selbst Goethe liebende, hervorragende Menschen können sonst nur finden, daß dieser Goethe ein so gräßlicher Kerl ist!

Das sagen sie nicht, sie vertuschen es dann. Das gehört auch zu den Lebenslügen!

Er ist ein so gräßlicher Kerl, daß er, nachdem er den Faust das Unglück hat anstellen lassen mit Gretchens Mutter, mit Gretchens Bruder, ihn nach zwei Tagen als Wanderer seelenvergnügt nach dem Blocksberg führt. Aber man muß immer wiederholen: Goethe war schon nicht jener quietschvergnügte Wald- und Wiesen-Goethe, als der er den Menschen bisher erschienen ist, sondern man wird sich bequemen müssen, zu er­kennen, daß in ihm etwas ganz anderes noch ist, und daß vieles erst ans Tageslicht kommen muß, was in Goethes Dichtung steckt.

GOETHES AHNUNGEN NACH DEM KONKRETEN HIN. SCHATTENHAFTE BEGRIFFE UND WIRKLICHKEITSDURCHTRÄNKTE VORSTELLUNGEN Dornach, 27. Januar 1917

#G273-1967-SE059 Das Faust-Problem

#TI

GOETHES AHNUNGEN NACH DEM KONKRETEN HIN

SCHATTENHAFTE BEGRIFFE

UND WIRKLICHKEITSDURCHTRANKTE VORSTELLUNGEN

Dornach, 27. Januar 1917

nach einer szenischen Darste!lung aus Zweiter Aufzug: Hoch gewölbtes, enges gotisches Zimmer. Laboratorium

#TX

Von den Szenen, die Sie eben gesehen haben, möchte man, daß sie ver­ständnisvollen Eingang fänden in weitesten Kreisen der Gegenwart, denn diese Szenen enthalten viele Keime der Entwickelung, in welcher auch die geisteswissenschaftliche Strömung läuft. Man kann sagen, daß Goethe, indem er diese Szenen aus langjähriger, allseitiger Erfahrung heraus schrieb, vieles geahnt hat von dem, was durch die Geisteswissen­schaft wie eine Saat aufgehen muß. Sowohl wie ein kulturhistorisches Dokument als auch wie ein Ausdruck einer tiefen Erkenntnis stehen gerade diese Szenen des zweiten Teiles des «Faust» vor unserer Seele. Wir dürfen schon, wenn wir an solche tiefste Manifestationen Goethe­schen Geistes herantreten, die uns jetzt schon gewohnten geisteswissen­schaftlichen Vorstellungen zu Hilfe nehmen, um zum vollen Verständ­nisse zu kommen. Denn in diesen geisteswissenschaftlichen Vorstellungen liegt formuliert, zum vollen Bewußtsein gebracht, was Goethe aus einer inneren Imagination heraus mit den Erfahrungen seiner Zeit aus-gestaltete.

Wir haben in der ersten der beiden Szenen zunächst etwas wie ein bedeutsames kulturhistorisches Dokument. Als Goethe, herangereift durch alles dasjenige, was er in sich aufgenommen hatte aus den Natur­wissenschaften auf der einen Seite, aus der Vertiefung heraus, welche diese naturwissenschaftlichen Anschauungen durch seine mystischen Studien erfahren haben, aus jener Vertiefung heraus ferner, die ihm die griechische Kunst gegeben hatte, als Goethe diese Vorstellungen, die da in ihm lebten, zu Gestalten formte, da war zugleich die Zeit, in welcher aus unendlichem Erkenntnis-Enthusiasmus heraus die Geister versuchten, heranzukommen an die höchsten Probleme des Daseins. Es

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ist etwas, was gerade in unseren Kreisen nicht überraschen darf, nicht überraschen kann, daß das Streben nach der geistigen Welt, wenn es . recht intensiv auftritt, man kann sagen seine Karikaturen treibt, richtig

seine Karikaturen treibt. Sowohl das mystische Streben wie auch das tiefere philosophische Erkenntnisstreben, sie treiben ihre Karikaturen. In Goethes unmittelbarer Nachbarschaft entwickelte sich zu der Zeit, in der in Goethes Geist diese Szenen sich entfalteten, wirklich ein bedeut­sames, man kann sagen philosophisch-theosophisches Streben. Da lehrte Johann Gottlieb Fichte aus einem ungeheuren Erkenntnis-Enthusiasmus heraus. Sie können aus den skizzenhaften Ausführungen in meinen Büchern, sowohl in dem einen über «Die Rätsel der Philosophie» wie auch aus dem letzten Buche «Vom Menschenrätsel» ersehen, wie Fichte in elementarer Weise strebte, dasjenige zu gestalten, was im Innersten der Menschenseele an Göttlich-Geistigem lebt, so daß durch diese Ent­faltung des Göttlich-Geistigen im Inneren der Seele der Mensch sich seines göttlich-geistigen Ursprunges selber bewußt wird. Fichte suchte das volle Leben des Ich, des schaffenden, wirkenden Ich, aber auch des gotterfüllten Ich in der Menschenseele zu erfassen. Damit versuchte er, den Anschluß des inneren menschlichen Lebens an das ganze kosmische Leben zu erfühlen. Und aus diesem Enthusiasmus heraus sprach er. Es ist nur zu erklärlich, daß gerade ein solcher Geistvorstoß vielfach An-stoß erregte. Nicht wahr, aus dem Konkreten der Geisteswissenschaft heraus konnte Fichte noch nicht sprechen, dazu war die Zeit noch nicht reif. Man möchte sagen, wie in abstrakten, umfassenden Begriffen suchte Fichte das Gefühl lebendig zu machen, das dann durch die Eindrücke der Geisteswissenschaft im Menschen belebt werden kann. Dadurch hatte seine Sprache vielfach etwas Abstraktes, aber etwas von leben-digem Fühlen, von lebendiger Empfindung durchdrungenes Abstraktes. Und es bedurfte schon des starken Eindruckes, den eine solche Persön­lichkeit unmittelbar machen kann, um überhaupt dasjenige, was Fichte zu sagen hatte, ernst zu nehmen. Gedruckt nahm es sich vielfach recht paradox aus, noch paradoxer als die Paradoxien - die notwendigen Paradoxien - der Geisteswissenschaft es oftmals sein müssen, weil das­jenige, was wahr ist, den Menschen, die daran nicht gewöhnt sind, viel­fach nur als das Lächerliche erscheint. Deshalb konnte gerade ein solcher

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Geist wie Fichte, der die Wahrheit sogar noch in ganz abstrakter Form sagen mußte, lächerlich gefunden werden.

Auf der andern Seite konnten Menschen, die schon den großen Ein­druck Fichtes bekamen, die Dinge übertreiben, wie ja alles leicht im Leben übertrieben wird. Und dann kamen Karikaturen der Fichteschen Wesenheit heraus, Karikaturen auch der andern, die aus ähnlicher Ge­sinnung dazumal in Jena lehrten. Lehrte in Jena doch auch Schelling, der dann aus einem ähnlichen Streben wie Fichte sich wirklich durch­rang, wie ich oftmals betonte, zu einer recht tiefen Auffassung des Christentums, ja des Mysteriums von Golgatha, der sich geradezu zu einer Art von Theosophie hinwendete, die er dann, allerdings ohne von seinen Zeitgenossen verstanden zu werden, in seiner «Philosophie der Mythologie» und in seiner «Philosophie der Offenbarung» zum Aus­drucke brachte, die aber schon lebte in jener Abhandlung, die er in An­lehnung an Jakob Böhme geschrieben hat über die menschliche Freiheit und andere damit zusammenhängende Gegenstände, schon lebte in seinem Gespräche «Bruno oder über das göttliche und das natürliche Prinzip der Dinge», namentlich lebte in seiner schönen Abhandlung «Über die Gottheiten von Samothrake», wo er ein Bild aufrollte von dem, was nach seiner Ansicht wirklich gelebt hat in jenen alten Myste­rien. Dann gab es solche Geister wie Friedrich Schlegel, die in energischer Weise auf die verschiedenen Zweige des menschlichen Wissens dasjenige anwendeten, was diese mehr philosophisch gearteten Naturen aus dem Zentrum der Weltenordnung herauszulocken versuchten. Hegel hatte begonnen, seine Philosophie aufzuzeichnen. Das alles hatte sich in Goethes Nachbarschaft abgespielt. Diese Menschen versuchten über alles Relative in der Welt, über alles dasjenige, was die Menschen in der Alltäglichkeit beherrscht, hinauszudringen zu dem Absoluten, zu dem­jenigen, was nicht bloß in Relativitäten lebt. So suchte Fichte hinaus­zudringen über das gewöhnliche alltägliche Ich zu dem absoluten Ich, das in der Gottheit verankert ist und in der Ewigkeit webt. So suchten Schelling und Hegel zu dringen zu dem absoluten Sein.

Die Art, wie die Zeit solches aufnahm, war natürlich verschieden. Man kann sich - insbesondere heute, wo die Geisteswissenschaft an unsere Herzen herandringen kann - schon eine lebendige Vorstellung

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verschaffen, in welcher Gemütsverfassung sich so ein Fichte, so ein Schelling, so ein Hegel befinden mochten, wenn sie über dasjenige spra­chen, was ihnen so klar vor dem geistigen Auge stand, und die Men­schen dagegen sich stumpf verhielten, stumpf, feindselig. Und dann kann man es begreifen, daß der jugendliche Fichte, indem er den Zöpfen in Jena entgegentrat, die alles nach ihrer Art zu wissen vermeinten, auch einmal zornentfiammt sein konnte. Fichte war öfter zornentfiammt, nicht nur, als man ihn von Jena wegschickte, sondern er war auch öfter zornentfiammt, wenn er sah, daß er sein Bestes gab, und es in kein Herz, keine Seele hineinging, weil die Leute alles besser zu wissen ver­meinten aus den alten herkömmlichen Vorstellungen und dem Wissen, das sie aufgenommen hatten. Und da kann man es dann schon begrei­fen, daß sich manchmal solch ein Geist wie Fichte, wenn er die Zöpfe von Jena vor sich hatte, zu dem Ausspruch hat hinreißen lassen können, wenn er da zu tun haben sollte mit diesen alten Kerlen, man solle alle, die über dreißig Jahre alt sind, totschlagen. - Es war ein Geisteskampf allererster Art, der dazumal in Jena entbrannte. Man schwärzte das auch an, was dazumal in Jena lebte. Ein Wasserdichter, der aber gerade Publikum hatte, der Kotzebue, schrieb ein sehr interessantes drama­tisches Pamphlet, das geistvoll ist, geistvoll dadurch, daß er schilderte so eine Art, könnte man sagen, Jung-Baccalaureus, der in Jena aus­gebildet worden ist, und der, indem er nach Hause kehrt zu seiner Mutter, in lauter Phrasen spricht, wie er s]e in Jena gehört hat. Die werden alle wörtlich hineingenommen in dieses Pamphlet, das da heißt «Der hyperboreische Esel oder die neue Bildung». Es nimmt sich das alles sehr geistvoll aus; es ist aber doch nichts anderes als eine niedrige Denunziation eines großen Wollens. Das müssen wir natürlich fern­halten von dem, was Goethe seinerseits auch tadeln wollte: die Kari­katur, die sich herausentwickelt aus dem Großen, denn wir müssen uns klar sein darüber, daß der Briefwechsel zwischen Goethe und Fichte, der Briefwechsel zwischen Goethe und Schelling zeigt, daß Goethe voll zu würdigen verstand diese nach dem Absoluten strebenden Geister. Aber Goethe war, wenn man bei ihm auch nicht okkulte Prinzipien geradezu systematisch verarbeitet findet, man kann sagen ein ganz in der Aura des Okkulten lebender Geist, der da wußte, wie dasjenige,

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was lebt im guten Fortschritte der Weltentwickelung, nach der einen Seite ahrimanisch, nach der andern Seite - wenn er auch diese Ausdrücke nicht gebrauchte, auf Ausdrücke kommt es nicht an - luziferisch ab­biegen kann, und daß eigentlich dieWeltentwickelung immer impendel-schlag ist zwischen dem Ahrimanischen und dem Luziferischen. Und Goethe wollte alles aus dem Tiefsten heraus entwickeln, überall zeigen, wie im Grunde genommen das Streben nach dem Höchsten zu gleicher Zeit eine Gefahr sein kann. Was kann nicht alles eine Gefahr werden! Das Allerbeste kann eine Gefahr werden, selbstverständlich. Und ge­rade dieses Problem trat Goethe so lebhaft vor das Seelenauge, wie das Beste eine Gefahr werden kann, wenn sich die ahrimanischen, die luzi­ferischen Mächte in die Dinge hineinmischen.

Da hatte er seine Faust-Dichtung im Auge, jenen Faust, der nach den tiefsten Geheimnissen des Daseins strebte, der verwirklicht zeigen sollte, was Goethe immer vor der Seele stand: das unmittelbare Anschauen des Geistig-Lebendigen in allem Natürlichen und Geschichtlichen. Goethe selber strebte zurück nach den Geheimnissen des geistigen Daseins der griechischen Vorzeit. Er wollte sich verbinden mit demjenigen, was schaffend lebendig in einem fertiggewordenen Zeitraume, im vierten nachatlantischen Zeitraume, vorhanden war. Das wollte er gestalten in seinem Faust, der nach dem Lebendigen der Helena hinstrebt. Die Wege sucht Goethe, auf denen er seinen Faust zu Helena führen kann. Aber Goethe war klar, daß dies eine Gefahr bedeutet. So berechtigt, so hoch-sinnig das Streben ist, das in solchem liegt, eine Gefahr bedeutet es, weil es sehr leicht in das luziferische Fahrwasser hineinführen kann.

So zeigt uns denn Goethe zunächst den Faust ins luziferische Fahr­wasser hineingeratend, paralysiert durch die Erscheinung der Helena, paralysiert durch die Verbindung mit dem Spirituellen. Aus dem Reich der Mütter hat Faust Helena heraufgeholt, zunächst nur als geistige Kraft vor sich gehabt. Paralysiert ist er durch das, was er spirituell erleben kann. Das Innere des Faust ist ausgefüllt mit dem, was er aufgenommen hatte. Er lebt in dem lebendigen Geistigen, in dem spirituellen Elemente des alten Griechenlandes, aber er ist dadurch paralysiert.

Und so finden wir ihn, indem Mephisto ihn zurückgebracht hat in

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seine Zelle, in sein Laboratorium, und ihn paralysiert zeigt durch das Zusammenleben mit dem geistigen Elemente der Vergangenheit.

Wen Helena paralysiert,

Der kommt so leicht nicht zu Verstande . . .

meint Mephistopheles. Wir sehen auch, wie eine gewisse Scheidung ein­getreten ist zwischen Faust, der in das luziferische Fahrwasser geraten ist, und Mephistopheles. Faust ist gewissermaßen mit seiner Seele - ob sie nun mehr oder weniger bewußt dies erlebt, was sie erlebt - in einem andern geistigen Fahrwasser, in das er durch luziferische Impulse ge­kommen ist, als diejenigen geistigen Wege sind, in denen Mephistophe­les wandelt. Sie sind wie durch eine Bewußtseinsgrenze jetzt voneinan­der geschieden.

Faust träumt, so sagt man in der profanen Sprache. Er weiß nichts von seiner alten Welt, in der er als der ihm gegenwärtigen lebt. Me­phisto hat sie aber um sich, und durch Mephisto lebt denn auch alles ahrimanisch wieder auf. Und so haben wir im Grunde genommen die zwei Welten gerade in dieser Szene hart aneinanderstoßend, ganz sach­gemäß aneinanderstoßend. Es ist merkwürdig, wie gründlich Goethe in seiner instinktiv geisteswissenschaftlichen Art eigentlich ist. Dieses An­einanderstoßen, es wird uns ganz deutlich gemacht durch den Famulus, der jetzt eingeführt wird, der ahnungslos hin und her pendelt, könnte man sagen, zwischen den gefährlichsten Dingen, die sich in seiner Um­gebung abspielen.

Diesen Ahnungslosen sehen wir zunächst, der uns gewissermaßen repräsentiert eine Art von Menschen, die wie gefangen sind von der Ahnungslosigkeit, der Unaufmerksamkeit, für die sie oftmals nichts können. Er sieht nicht, was um ihn herum vorgeht. In diesem Sinne kann man auch die ganze Rede auffassen, die von diesem Famulus kommt.

Anders schon wird uns das ganze Milieu, in dem wir jetzt leben, durch die Begegnung des zum Baccalaureus gewordenen früheren Schü­lers mit Mephistopheles dargestellt. Der Baccalaureus, man sieht es ihm an, geht ganz aus der Umgebung hervor, die ich Ihnen vorhin geschil­dert habe. Aber er stellt eine Karikatur davon dar, ist von alledem infiziert,

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was die Kant-Fichte-Schelling-Hegelsche Philosophie, die Schle­gelschen Auseinandersetzungen haben geben können; aber er nimmt alles im engumgrenzten, egoistischen Sinne. Warum tut er denn das? Ja, diese Frage muß man sich schon vorlegen. Warum ist denn eigentlich der Baccalaureus dasjenige geworden, als was er sich uns darstellt? Hat Goethe etwa wollen die ihm werte Philosophie der Jenenser verspotten in dem Baccalaureus? Ganz und gar nicht. Aber in seinem Sinne ist hineingeschickt worden in dieses philosophische Fahrwasser der Schüler, der da hat als ein Geleitwort von Mephistopheles erhalten:

Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum.

Folg' nur dem alten Spruch und meiner Muhme, der Schlange,

Dir wird gewiß einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange!

Den Impuls hat der Baccalaureus gewordene Schüler von Mephisto­pheles selber. Mephistopheles kann sich nicht beklagen, daß ihn der Baccalaureus so behandelt, daß er sagen muß:

Du weißt wohl nicht, mein Freund, wie grob du bist?

Denn er hat das alles in ihn gepflanzt; er hat das gesät in seiner Seele. Der Baccalaureus ist schon gefolgt dem Spruch und der Muhme, der berühmten Schlange. Und er fühlt sich zunächst gar nicht bange, das wird erst kommen. Er fühlt sich gar nicht bange in seiner Gottähnlich­keit, die er ja sehr deutlich ausspricht, indem er darauf aufmerksam macht, daß er es ist, der die Welt erschaffen hat, der die Welt gestaltey hat. - Schließlich ist dieses ja aus der Kantschen Philosophie für manche karikatursuchenden Menschenkinder geworden, wird es auch noch heute vielfach.

Ja, man kann schon Menschenkinder kennenlernen, welche die Kant­sche Philosophie noch ichlicher auffassen als dieser Baccalaureus. Wir haben einmal einen Menschen kennengelernt, der so infiziert war von Kantscher, Fichtescher Philosophie, daß er wirklich die Meinung hatte, er habe die ganze Welt erschaffen. Das war in ihm zur fixen Idee ge­worden, er habe die ganze Welt erschaffen. Ich sagte ihm dazumal: Nun ja, gewiß, als Vorstellung, als Ihre Vorstellung haben Sie ja die Welt erschaffen, aber zu der Vorstellung kommt noch etwas hinzu, denn Sie

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haben auch die Vorstellung Ihrer eigenen Stiefel erschaffen, aber der Schuster hat sie gemacht, diese Stiefel, und Sie können nicht sagen, daß Sie diese Stiefel gemacht haben, obwohl Sie die Vorstellung dieser Stie­fel gemacht haben! - Im Grunde beruht alle echte Widerlegung, sogar der Schopenhauerschen Philosophie von der «Welt als Vorstellung», auf diesem Schusterproblem, nur sieht man diese Dinge nicht immer im rechten Lichte.

Also der Baccalaureus ist schon gewissermaßen ein Opfer des Me­phisto, so wie er ihm jetzt selber entgegentritt. Nach dem Absoluten haben die Philosophen gestrebt. In dem Baccalaureus wird das Streben nach dem Absoluten zu einer Karikatur. Mephisto muß ihm sagen:

Kommt nur nicht absolut nach Haus.

Man sieht den Zusammenhang mit der Kultur, mit der Geisteskultur der damaligen Zeit in sehr geistvoller Weise durch Goethe dargestellt. Daher sind diese Szenen, weil sie aus der lebendigen Wirklichkeit her­aus sind, auch so lebendig und so ungemein dramatisch. Und Goethe hat immer wieder und wiederum das Bestreben, die Menschen hinaus-zuführen über jene etwas nach Kellergeruch duftenden Vorstellungen, die man so leicht hört: Ach, wir wollen uns nur mit dem Guten verbin­den; nichts Ahrimanisches und Luziferisches soll da sein; das muß man fliehen. - Weil Goethe nicht liebt diese nach Kellergeruch duftenden Vorstellungen, stellt er auch zuweilen den Mephistopheles recht sym­pathisch dar, recht gemütvoll, könnte man sagen. Denn wie gemütvoll ist es doch, wenn der gute Mephistopheles, als der Baccalaureus gar zu absolut wird, mit seinem Stuhl hinunterrückt von dem Baccalaureus zu dem - Publikum. Namentlich zu dem jüngeren Parterre, dachte sich Goethe, rückt Mephistopheles heran und sucht jetzt dort ein Unter­kommen. Und Goethe läßt den Mephistopheles nicht bloß Teuflisches, sondern ganz Treffendes sagen, weil Goethe weiß, wieviel Mephisto­phelisches dem Leben beigemischt sein muß, wenn das Leben gedeihen soll, wie ungesund die Vorstellungen sind, die in der angedeuteten Weise nach Kellergeruch duften. Und es ist schon der Mühe wert, einmal nach­zudenken darüber, wie auch Goethe nicht ganz kalt geblieben ist bei der Kälte der stumpfen Menge. Daher läßt er seinen Mephistopheles sich

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sogar etwas erzürnt aussprechen über die Leute, denen er ansieht, wie kalt sie bleiben bei den Weisheitssprüchen, die er doch äußert. Es ist das schon eine Kälte, auf die Goethe auch hinweisen wollte, obwohl diese Kälte lange noch nicht so kalt war, wie heute oftmals die Gesinnung und die Stimmung der Seele ist gegenüber demjenigen, was aus dem geistigen Leben an die Menschheit herandringen kann.

Und dann sehen wir, wie eine echt ahrimanische Tätigkeit sich ent­faltet in der Erzeugung des Homunkulus. Goethe ist es nicht leicht ge­worden, gerade diejenige Partie seines «Faust» zu dichten, die wir hier vor uns gehabt haben. Kleine Dichter werden mit allem fertig! Sogar mit dem großen Problem unter Umständen würde ein kleiner Dichter rasch fertig geworden sein: Faust und Helena zusammenzubringen. Aber Goethe war eben kein kleiner Dichter, daher ist ihm das Dichten schwer und sauer geworden. Daher mußte er einen Weg suchen, Faust wirklich mit der Helena zusammenzuführen, mit der er zusammen lebte, ich möchte sagen, in einem andern Bewußtseinszustande, wie wir gesehen haben. Goethe mußte den Weg suchen. Er war sich gar nicht gleich klar, wie er diesen Weg finden sollte. Zuerst sollte Faust hin­untergeführt werden in die Unterwelt und von Proserpina sich die Hilfe erbitten, daß Helena leibhaftig zu ihm herankomme. Aber Goethe emp­fand dasjenige, was er da darstellen würde, um sich die Helena von der Proserpina zu holen, so, daß er keine Begriffe und Vorstellungen fand, um die Sache darzustellen. Denn bedenken Sie nur, um was es sich han­delte. Es handelte sich darum, daß Faust soweit gekommen war, im Unterbewußtsein seiner Seele, imaginativ, an die Helena heranzu­kommen; aber er sollte mit denjenigen Fähigkeiten an sie herankom­men, die ihm im Leben natürlich waren. Dazu mußte Helena in diese Bewußtseinssphäre hereinsteigen. Also Goethe mußte gewissermaßen eine Verkörperung der Helena zustande bringen. Dazu benützte er das­jenige, was er wußte aus Paracelsus, den er wohl studiert hatte, nament­lich die Abhandlung von Paracelsus' «De generatione rerum» kam ihm sehr zugute. Da schildert Paracelsus, wie man durch gewisse Vorgänge Homunkeln erzeugen kann. Es ist selbstverständlich für den heutigen Menschen sehr leicht, zu sagen: Nun ja, das war halt ein mittelalterliches Vorurteil des Paracelsus. - Es ist für den heutigen Menschen leicht, zu

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sagen: Kein Mensch braucht zu glauben an dasjenige, was da Paracelsus phantasiert. - Gewiß, es braucht es ja meinetwillen auch keiner. Aber bedenken sollte man doch, daß Paracelsus in jener Abhandlung «De ge­neratione rerum» ausdrücklich versichert, durch gewisse Vorgänge wäre man imstande, etwas zu erzeugen, was zwar keinen Körper hat - bitte, darauf zu achten! Paracelsus sagt ausdrücklich: es hat keinen Körper -, was aber Fähigkeiten hat, die ähnlich sind den menschlichen Seelen-fähigkeiten, nur sich bis zur Hellsichtigkeit steigern. Also Paracelsus dachte an gewisse Hantierungen, die den Menschen dahin bringen, vor sich ein körperloses Wesen zu haben, das aber so wie der Mensch eine Art Verstandestätigkeit, eine Art Intellektualität, ja sogar in höherer Steigerung entfaltet. Das hat Goethe zu Hilfe genommen. Er hat sich etwa gedacht: rein spirituell griff herein die Helena in die Bewußtseins-sphäre des Faust, aber sie muß dichter werden.

Dieses Dichterwerden, das ließ er geschehen durch ein solches Wesen, wie der Homunkulus es ist, der gewissermaßen die Brücke baut zwi­schen dem rein Geistigen, Spirituellen, indem er selber körperlos ist, aber bei Gelegenheit von körperlichen Hantierungen entsteht, zu dem Körperlichen hinüber, so daß man sagen kann: Durch die Anwesenheit des Homunkulus wird es möglich, die ganz spirituelle Helena herein-zuführen in diejenige körperliche Welt, in der Faust heimisch ist.

Natürlich brauchte Goethe zu alldem eine Art Mißverständnis noch. Und das Mißverständnis wird auf dem Umwege durch Wagner herbei­geführt. Wagner ist durch seinen materialistischen Sinn dazu verführt, an die ganz materielle Herstellung des Homunkulus zu glauben; er würde dasjenige nicht zustande bringen, was ein wirklicher Homun­kulus ist, denn dazu bedarf es geistiger Kräfte, die Wagner nicht zur Verfügung stehen. Diese geistigen Kräfte werden dadurch herbeige­führt, daß Mephistopheles, das ahrimanische Element, herankommt. Denn dadurch wird wiederum der ahrimanische Impuls gegeben, daß wirklich aus dem etwas wird, was Wagner da zusammenkohobiert. Hätte Wagner auf seinem Wege ganz allein, vielleicht durch Zuhilfe­kommen von irgendwelchen ja überall verborgenen Kräften seinerseits etwas zustande gebracht, dann wäre es ihm vielleicht so gegangen wie jenem Mann, der mir vor einiger Zeit schrieb, daß er, nachdem er sich

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lange bemüht hätte, nun wirklich lebende kleine Männchen in seinem Zimmer zustande gebracht habe, aber nun nicht mehr loskommen könne; er könne nicht mehr sich retten vor ihnen! Er wollte Rat, wie er sich retten könnte vor diesen Geschöpfen, die er als lebendige Mechanis­men hervorgebracht hat. Sie verfolgten ihn seither überall. Man kann sich schon vorstellen, was aus dem Verstande solcher Menschen wird! Diese Menschen, die solche abenteuerlichen Dinge erleben, gibt es natür­lich heute noch immer, ebenso wie es die Spötter gibt gegen diese Dinge.

Durch ein niedliches Zusammentreffen, das aber auch nur ein nied­liches Zusammentreffen ist, behauptete ja gerade in der Zeit übrigens, in der Goethe diese Szene schrieb, Iohann Jakob Wagner in Würzburg, daß man Homunkeln erzeugen könne, und er gab sogar Wege an, wie man Homunkeln erzeugen kann. Es ist dies aber selbstverständlich nicht wahr, daß Goethe von ihm den Namen genommen hat. Denn der Name rührt schon her aus dem alten «Faust», der damals vorhanden war; der wurde niedergeschrieben, als dieser Johann Jakob Wagner noch ein Säugling war.

Es gehört also wiederum Mephistopheles dazu, daß aus dem, was Wagner zustande bringt, wirklich der Homunkulus wird. Aber er wird nun. Und er wird eigentlich im Grunde genommen so, wie Goethe gelernt hatte den Homunkulus darzustellen nach der Anleitung des Paracelsus. Und der Homunkulus wird in der Tat sogleich hellsichtig, denn er schaut den Traum des Faust, beschreibt dasjenige, was Faust gewissermaßen luziferisch abgezogen, wie in einem andern Bewußtseinszustand, erlebt, wie Faust wirklich hingelangt in die griechische Welt. Die Zusammen­kunft des Zeus mit Leda, der Mutter der Helena: wir erkennen sie in der Beschreibung, die der Homunkulus von dem Traum des Faust gibt.

Wir sehen also, wie Goethe unmittelbar nebeneinanderstellt das­jenige, was zuerst spirituell im Faust lebt, und den Homunkulus, der es zu deuten, aufzufassen weiß. Wir sehen, wie Goethe herüberarbeitet in die gewöhnliche physische Welt, so daß die Helena in die gewöhnliche physische Welt dann eintreten kann. Und durch all die Vorgänge, die geschildert werden in der «Klassischen Walpurgisnacht», sehen wir, wie Goethe versucht, aus dem Ewig-Geistigen der Helena, mit der Faust zu­sammen gelebt hat, das Körperliche zu gestalten, indem der Homunkulus

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durchgeht durch alle Reiche der Natur und seine Körperlosigkeit ablegt, sich verkörperlicht, sich verbindet mit dem geistigen Elemente der Helena. Und dadurch, daß das dann durchgeht durch alle Reiche der Natur, wird die Helena äußerlich auf dem physischen Plane das, als was sie uns im dritten Akte des zweiten Teiles des «Faust> entgegentritt. Durch den Homunkulus und durch die Umwandlung, die der Homun­kulus vollziehen kann mit dem, womit Faust spirituell zusammen lebt, wird die Helena neu geboren. Das ist es, worauf es Goethe ankommt. Deshalb hat er den Homunkulus hineingesetzt, deshalb zeigt er die Ver­wandtschaft dessen, was Faust sozusagen träumt, mit dem, was der Homunkulus schaut.

Damit aber steht Goethe auch wahrem Okkultismus sehr nahe, jenem wahren Okkultismus, auf den ich öfter hingewiesen habe, und von dem alle Denkweise wegführt, die nur in Abstraktionen sich ergeht, die nur in abstrakten Begriffen leben will. Ich habe öfter darauf aufmerksam gemacht, wie eine gewisse einseitige Ausbildung des christlichen Prinzips gerade dahin geführt hat, wesenlose, schattenhafte Begriffe zu zeitigen als Weltanschauung, die nicht imstande sind, gewissermaßen hinein-zugreifen ins reale Leben. Und unter solchen Begriffen steht die Mensch­heit heute. Die Menschheit hat auf der einen Seite das rein mechanische Naturwissen, das aber kein Wissen ist, sondern nur eine Hantierung, woraus das Lebendige herausgetrieben ist.

Encheiresin naturae nennt's die Chemie,

Spottet ihrer selbst und weiß nicht wie,

sagt der Mephisto. Das auf der einen Seite, das nur immer abschreiben will, was äußerlich geschieht. Und auf der andern Seite die abgezogenen Begriffe von irgendeinem Geistigen, das entweder pantheistisch vorge­stellt wird, oder einem Geistigen, das in irgendeinem Wolkenkuckucks­heim von schattenhaften Begriffen lebt, die nicht in der Lage sind, wirk­lich unterzutauchen ins Leben, zu erfassen das wirkliche Leben.

Deshalb habe ich darauf hingewiesen, wie Geisteswissenschaft im­stande ist, den realen, unmittelbaren Menschen wieder zu verstehen, zum Beispiel zu sagen: Dieses Haupt des Menschen ist nur auf der einen Seite dasjenige, was der Anatom daraus macht, indem er es rein äußerlich

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schildert, es ist auch nicht bloß dasjenige, was äußerlich eine abstrakt im Wolkenkuckucksheim der Begriffe segelnde Seele verkörpert, son­dern dieses Haupt muß man verstehen als hervorgegangen durch Me­tamorphose aus dem Leib der vorhergehenden Inkarnation und, wie ich in den letzten Vorträgen ausgeführt habe, aus dem ganzen Kosmos, aus der Sphäre des ganzen Kosmos heraus gebildet. - Dieses Gestalten, im Gestalten in die materielle Welt eingreifen durch die Begriffe, nicht das Schwefeln in allgemeinen abstrakten Begriffen, ist das Wesentliche, was konkrete Geisteswissenschaft anstreben muß. Denn gerade das­jenige, wovor sich manche in der Gegenwart lebende christliche Pasto­ren und sonstige ähnliche Leute in ihren wesenlosen Abstraktionen von Gott und dem Ewigen am meisten fürchten, das ist dieses lebendige Erfassen der Welt, das konkrete Erfassen des Materiellen, das auch eine Offenbarung des Geistigen ist. Dieses Untertauchen mit den Begriffen in die wirkliche Welt ist es, was die Menschen heute nicht haben wollen.

Das ist es aber gerade, auf das auch Goethe ganz energisch hinweisen will. Daher kontrastiert er diesen Geist des Homunkulus, der das wirk­liche, konkrete Geistige schaut, wie es dann in dem Bewußtsein des Faust, wenn auch von anderer Art, lebt, dieses Schauen kontrastiert er mit der Art, wie Mephisto die Welt gern haben möchte aus der Ver­einseitigung des christlichen Mittelalters heraus: die Auslöschung alles desjenigen, was spirituell an die Menschenseele herankommt. Darum sieht der Homunkulus dasjenige, was weder Wagner noch Mephisto­pheles sehen. Und daher, weil Mephistopheles sagt:

Was du nicht alles zu erzählen hast!

So klein du bist, so groß bist du Phantast.

Ich sehe nichts -,

antwortet Homunkulus:

Das glaub ich. Du aus Norden,

Im Nebelalter jung geworden,

Im Wust von Rittertum und Pfäfferei,

Wo wäre da dein Auge frei!

Im Düstern bist du nur zu Hause.

Goethe erstrebt bewußt ein konkretes Erfassen der Wirklichkeit.

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Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß selbstverständlich an der Stelle, wo der Homunkulus zu Mephistopheles spricht, durch irgend­welchen Umstand ein Vers ausgefallen ist; denn wir sehen überall den

Reim:

Das glaub ich. Du aus Norden,

Im Nebelalter jung geworden,

Im Wust von Rittertum und Pfäfferei,

Wo wäre da dein Auge frei!

Im Düstern bist du nur zu Hause.

Auf «zu Hause» fehlt der Reim.

Verbräunt Gestein, bemodert, widrig,

Spitzbögig, schnörkelhaftest, niedrig!

Also, es ist durch irgendwelchen Umstand beim Diktieren ein Vers ausgefallen, denn es fehlt der Reim - und es ist kein Grund, daß der Reim hier nicht stehen sollte -, also ein Vers, der etwa so gelautet haben muß:

Was aber soll uns die dumpfe Klause -

so daß Homunkulus, nachdem er gesehen hat, daß der Mephisto ihn nicht versteht, ihn deutlich darauf verweist, wie die Menschen entfernt worden sind von der konkreten geistigen Welt durch die Verabstrahie­rung, durch die nebelhaften Begriffe, die ausgebildet worden sind, und die ins Enge getrieben worden sind eben in solchen Verrichtungen, wie die waren, aus denen Faust herausgewachsen ist, der ihnen aber ent-wachsen ist. Aber Mephisto fühlt sich da wohl in seiner Teuflischkeit. Daher meint Homunkulus etwa:

Das glaub ich. Du aus Norden,

Im Nebelalter jung geworden.

Das Mittelalter ist hier gemeint, aber mit Anspielung an das alte Nifl­heim:

Im Nebelalter jung geworden -

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Jung geworden ist ein alter Ausdruck, der sehr gut ist. So wie man alt wird vom Physischen aus, so wird man jung vom Geistigen aus, wenn man geboren wird. Und dieses war ein alter deutscher Ausdruck; statt «geboren werden» sagte man «jung werden», womit man bezeugte, daß in der Sprache schon ein Verständnis dafür enthalten ist. Also:

Du aus Norden,

Im Nebelalter jung geworden,

Im Wust von Rittertum und Pfäfferei,

Wo wäre da dein Auge frei!

Im Düstern bist du nur zu Hause.

Was aber soll uns die dumpfe Klause?

Und nun blickt er umher in der dumpfen Klause und sieht da alles, was da ist:

Verbräunt Gestein, vermodert, widrig,

Spitzbögig, schnörkelhaftest, niedrig,

Dann:

Erwacht uns dieser, gibt es neue Not,

denn der muß in das lebendige Leben eingeführt werden, weil er nicht bloß abstrakte Begriffe will; er will nicht bloß zum Beispiel das Grie­chentum geschildert haben dadurch, daß man es zeigt, so wie es Huma­nisten oder Philologen gemacht haben, sondern er will lebendig mit diesem Griechentum leben, indem der Repräsentant dieses Griechen­tums, die Helena, leibhaftig vor ihn treten soll.

So sehen wir überall gerade in dieser Szene Goethes wunderbare Ahnung nach dem Konkreten hin. Es ist ja, man könnte sagen, bei diesen Altersdichtungen Goethes jedes Wort aus einer tiefen Welt-erfahrung heraus geschrieben. Und das gibt diesen Worten Gewicht, ungeheures Gewicht, gibt ihnen auch eine Unvergänglichkeit. Denn wie schön sind solche Worte gerade von Mephistopheles gesprochen, wo­durch sie ihre besondere Färbung erhalten:

0 weh! hinweg! und laßt mir jene Streite

Von Tyrannei und Sklaverei beiseite.

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Mich langeweilt's; denn kaum ist's abgetan,

So fangen sie von vorne wieder an;

Und keiner merkt: er ist doch nur geneckt

Von Asmodeus, der dahinter steckt.

Von dem Zwietrachtteufel, mit dem sich der Mephisto recht verwandt fühlt.

Sie streiten sich, so heißt's, um Freiheitsrechte.

Man fühlt sich fast in die Gegenwart herein versetzt, denn da heißt es auch: Sie streiten sich um Freiheitsrechte! Schon Goethe antwortet:

Genau besehn sind's Knechte gegen Knechte.

Im Ganzen möchte man sagen: 0 könnte doch die Zeit kommen, wo auch aus dem Gedichte eines solchen Strebens, wie man es gerade ge-offenbart durch diese Szene bei Goethe findet, an das ja durchaus an-geknüpft werden soll aus Geisteswissenschaftlich-Anthroposophischem der Gegenwart - o könnte doch dasjenige, was in dem Gedichte eines solchen Strebens liegt, die Leute mehr ergreifen, könnte es sich ein­bürgern in die Seelen! Wir kämen wahrhaftig als Menschen weiter.

Aber statt dessen hat seit Goethes Zeiten die Verabstrahierung alles Strebens noch unendlich weitere Fortschritte gemacht. Und hier ist der Punkt, wo gerade der, der sich geisteswissenschaftlich bestrebt, ver­suchen sollte - meinetwillen sich heraufrankend an Goethe -, sich klar-zumachen den Unterschied zwischen konkret-geistigem Streben und abstrakt-geistigem Streben. Die Beschäftigung mit Geisteswissenschaft gibt solche Begriffe, durch die man wirklich untertaucht in das Reale, in das Wirkliche, durch die man verstehen lernt dieses Wirkliche. Der Materialismus gibt gar keine wirklichen Begriffe, der gibt nur Begriffs-schatten. Wo kann denn der Materialismus so etwas verstehen, wie den von uns klargemachten Unterschied zwischen dem Haupte des Menschen und dem übrigen Leib? Oder wie kann der Materialismus zum Beispiel folgendes verstehen? Nehmen wir einen Begriff, der unendlich wich­tig ist.

Wir wissen, der Mensch hat seinen physischen Leib, seinen Ätherleib,

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seinen astralischen Leib, sein Ich. Das Tier hat seinen physischen Leib, seinen Ätherleib, seinen Astralleib. Wir sehen das Tier. Interessant ist es, Tiere zu beobachten, wenn sie so, nachdem sie auf der Weide sich reichlich vollgefressen haben, daliegen und verdauen. Es ist interessant zu beobachten. Warum denn? Weil das Tier ganz mit seinem astrali­schen Wesen in seinen Ätherleib zurückgezogen ist. Was tut denn eigent­lich die Seele des Tieres, wenn es da verdaut? Mit unendlichem Wohl­behagen nimmt die Seele teil an dem, was in dem Leibe geschieht. Es liegt da und schaut sich beim Verdauen zu. Mit unendlichem Wohl­behagen schaut es sich zu; das Wohlbehagen ist bei dem Tier ganz un­geheuer. Interessant ist es, zum Beispiel eine Kuh verdauen zu sehen, geistig, wenn sie daliegt und nun wirklich ihr innerlich sichtbar werden alle die Vorgänge, die sich da abspielen, indem die Nahrungsstoffe in den Magen aufgenommen sind und vom Magen nun in die übrigen Partien des Leibes befördert werden. Dem schaut das Tier mit innerstem Behagen zu, weil eine innige Korrespondenz zwischen seinem Astralleib und seinem Ätherleib besteht. Das Astralische lebt in dem, was der ätherische Leib spiegelt von den physisch-chemischen Vorgängen, durch die sich die Nahrungsstoffe einführen in den Organismus. Das ist eine ganze Welt, welche die Kuh sieht! Allerdings besteht diese Welt nur aus Kuh und aus den Vorgängen, die in der Kuh stattfinden. Aber wahr­haftig, wenn auch alles dasjenige, was dieser astralische Leib in dem Ätherleib der Kuh wahrnimmt, bloß die Vorgänge in dem ganzen Um­kreis, in der Sphäre der Kuh sind, so vergrößert sich das alles, so daß es so groß wird für das Bewußtsein der Kuh, wie unser menschliches Bewußtsein groß ist, indem es bis zum Firmament geht. Ich müßte Ihnen die Vorgänge, die da zwischen dem Magen und dem übrigen Organis­mus der Kuh stattfinden, als eine große Sphäre zeichnen, die sich ent­faltet, weit hinaus entwickelt, indem in diesem Augenblick für die Kuh nur der Kuh-Kosmos, aber in riesiger Größe, da ist.

Das ist kein Scherz, das ist so. Und die Kuh fühlt sich ungeheuer ge­hoben, wenn sie so ihren Kosmos sieht, sich als Kosmos sieht. Da sieht man in die konkrete Natur der Tiere hinein. Denn dadurch, daß der Mensch ein Ich hat, reißt dieses Ich den astralischen Leib von jener innigen Verbindung mit dem Ätherleibe los, in der dieser astralische

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Leib mit dem Ätherleib zum Beispiel bei der Kuh ist. Er wird los-gerissen. Und dadurch ist dem Menschen die Möglichkeit entzogen, wenn er nach dem Essen verdaut, das ganze Verdauungsgeschäft des Kosmos zu überblicken. Es bleibt für ihn das alles unbewußt. Dagegen beschränkt das Ich durch seine Tätigkeit die Impulse des Ätherleibes so, daß sie nur in dem Bereiche der Sinnesorgane von dem astralischen Leib erfaßt werden. So daß dasjenige, was beim Tier als Ganzes mit dem astralischen Leib zusammen lebt, beim Menschen nur in den Sinnes-organen konzentriert ist. Dadurch aber wird für den Menschen der Sinnesprozeß so groß, wie für gewisse Augenblicke der tierische Prozeß für das Tier wird.

Es ist in gewissem Sinne eine Unvollkommenheit des Menschen, daß er, wenn er sein Nachmittagsschläfchen eben beginnt, nicht träumend seiner Verdauung zusehen kann, denn er würde eine ganze Welt sehen. Aber dieser Welt entreißt das Ich den astralischen Leib des Menschen und läßt ihn schauen als Kosmos nur dasjenige, was in den Sinnes-organen selber erlebt wird.

Ich wollte dieses nur als Beispiel anführen. Denn man sieht daraus, daß es der konkreten Geisteswissenschaft darauf ankommt, in die Wesen wirklich hinunterzusteigen mit den Begriffen; nicht schattenhafte Be­griffe zu konstruieren, sondern Begriffe, die in die Wirklichkeit eintau­chen. Und alle Begriffe der Geisteswissenschaft sollen ja so sein, daß sie in die Wirklichkeit eintauchen. Das aber ist gerade die Begleit­erscheinung der materialistischen Zeit, daß sie diese Begriffe, die in die Wirklichkeit untertauchen, verschmäht. Sie will solche nicht haben. Für die Erkenntnis der Natur führt das bloß zu dem Mangel, daß man nichts in Wirklichkeit erkennt. Aber für das Leben führt das zu einem weit größeren Mangel. Es macht den Menschen unmöglich, Sinn zu haben für konkrete, inhaltsvolle Begriffe. Daher ist die Erziehung im Materialismus zugleich eine Erziehung zu inhaltsleeren, schattenhaften Begriffen. Die Dinge gehen durchaus parallel: nicht spirituell verstehen können die Wirklichkeit, alles für einen Mechanismus ansehen, und un­fähig sein, zu irgendwelchen Begriffen zu kommen, die wirklich in die Verhältnisse der Welt, des Menschen einlaufen können.

Und in dieser Beziehung muß man die Gegenwart verstehen, denn

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darinnen liegen gerade die Schwierigkeiten der Gegenwart. In der Ge­genwart gibt es gewiß idealistische Naturen, aber sie sind die idealisti­schen Naturen einer materialistischen Zeit, und daher reden sie in schattenhaften allgemeinen Begriffen, die nicht eingreifen können in die Wirklichkeit, die höchstens eingreifen können auf dem Umwege der Leidenschaft, auf dem Umwege, daß man sich aufbläst und sie möglichst stark in die Welt hinausposaunt. Während man also auf der einen Seite mit Bezug auf die Erkenntnis der Natur nur die Unmöglichkeit hat, die Natur zu verstehen, hat man auf der andern Seite als die notwendige Parallelerscheinung das Deklamieren von schattenhaften Begriffen. Und wenn man so redet, redet man wahrhaftig nicht von irgend etwas selber Unrealem, sondern von demjenigen, was in der schlimmsten Weise mit den leidvollen Ereignissen der Gegenwart zusammenhängt.

Zu Goethes Zeiten war die Sache noch nicht so weit gediehen, aber heute stehen wir schon vor dem Unverständnis vieler Leute, überhaupt einen Unterschied zu finden zwischen einem schattenhaften und einem wirklichen Begriffe. Der Wagner, wie ihn Goethe schildert, lebt auch in schattenhaften Begriffen, und der Homunkulus versucht es ihm sogar klarzumachen, wie er in schattenhaften Begriffen lebt, zum Beispiel durch die Worte, nachdem der Wagner in Angst gefragt hat:

Undich?

Was wird aus mir, wenn die andern fortziehen?

Eh nun,

Du bleibst zu Hause, Wichtigstes zu tun.

Entfalte du die alten Pergamente,

Nach Vorschrift sammle Lebenselemente

Und füge sie mit Vorsicht eins ans andre.

Das Was bedenke, mehr bedenke Wie?

Indessen ich ein Stückchen Welt durchwandre,

Entdeck' ich wohl das Tüpfchen auf das i.

Wenn ich diese Stelle lese, muß ich mich immer erinnern, daß sie so recht aus dem Leben ist, gerade aus dem Gelehrtenleben. Denn ich weiß von einer Doktorpromotion, wo ein junger Doktorand einem sehr gelehrten

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Herrn, der Historiker war, aber als Historiker vorzugsweise als Urkundenmensch über die historische Wissenschaft Professor war, ge­genüberstand: das war derjenige, welcher der hauptsächlichste Lehrer dieses jungen Doktoranden war. Unter den Fragen, die er ihm stellte, war diese, daß er fragte: Nun, sagen Sie mir, Herr Kandidat, in welcher päpstlichen Urkunde kommt zum erstenmal der I-Punkt vor? - Das wußte der gleich, unter welchem Papste in den Urkunden der I-Punkt vorkommt: Innozenz IV.! - Nun saß ein anderer Historiker, der nicht so war, daneben, und der wollte so ein bißchen den Mephisto spielen, und deshalb sagte er: Na, Herr Kollege, jetzt muß ich auch einmal, da ich der andere Examinator bin, an den Kandidaten eine Frage stellen. Sagen Sie mir, Herr Kandidat, wann hat denn dieser Innozenz IV. den päpstlichen Stuhl bestiegen? - Der Kandidat wußte nichts. Wann ist denn der Innozenz IV. gestorben? - Der Kandidat wußte nichts. Nun, mein lieber Herr Kandidat, dann sagen Sie mir was anderes, was Sie überhaupt über den Innozenz wissen, außer dem, daß in seinen Ur­kunden der I-Punkt zuerst vorkommt! - Der wußte gar nichts. Da sagte der Professor der Urkundenlehre, der alten Pergamente: Aber Herr Kandidat, es ist ja gerade, wie wenn Ihnen heute ein Brett vor den Kopf genagelt wäre! - Da sagte der andere, der so den Mephisto spielen wollte: Oh, Herr Kollege, er ist ja Ihr Lieblingsschüler! Wer hat ihm denn dieses Brett vor den Kopf genagelt?

Nun, so konnte auch der gute Wagner, anders als der Homunkulus, in seinem Pergamente das Tüpfelchen auf das i entdecken. Aber seit jener Zeit ist, ich möchte sagen, universell und historisch die abstrakte, rein in Begriffen lebende Denkweise gekommen. Und so sehen wir dann, daß wirklich das tief in die ganze Weltgeschichte eingreifende Schau­spiel sich vollziehen kann, daß in wichtiger Angelegenheit ein Doku­ment vor die Welt hintritt, das in lauter Schattenbegriffen lebt. Man kann sich nichts Unwirklicheres und Unrealeres denken als jene Note, die neulich Woodrow Wilson an den Senat der amerikanischen Staaten gerichtet hat! Heute, wo es nur frommt, zu versuchen, die Wirklich­keiten der Welt zu verstehen, sieht man die Ohnmacht an hervorragen­der Stelle, anderes zu fassen als nur Schattenbegriffe, Begriffsschatten.

Da darf man sich wohl fragen: Soll denn das Leid ins Unendliche

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fortgesetzt werden deshalb, weil an den hervorragendsten Stellen aus der Kultur des Materialismus heraus die Menschen die Wirklichkeit fliehen und nur noch Begriffsschatten fassen können? - Ich weiß, daß, wenn man an solche traurigen Ereignisse der Gegenwart streift, man wenig Verständnis findet, weil heute die wenigsten Menschen auch nur fassen können den Unterschied zwischen Begriffsschatten und Wirklich­keit. Denn derjenige, der ein bloßer Idealist ist - es ist ja immer an­erkennenswert, Idealist zu sein -, aber nicht versteht die spirituelle Wirklichkeit, der wird sogar schön finden, so unendlich schön, wenn so nett von Freiheit und Menschenrechten gesprochen wird und von inter­nationalen Staatenverbänden und dergleichen. Man wird gar nicht ein­sehen, worin eigentlich das Unheilbringende dieser Dinge liegt, man wird es in weitesten Kreisen gar nicht einsehen.

Man wird so wenig verstanden, daß man selbst Verständnis gewinnt für die Worte, die der Mephisto spricht, nachdem er abrückt von dem Baccalaureus. Denn schließlich, so wie der Baccalaureus redet, so redet heute mancher, der als ein großer Mann gilt, der, wenn er auch nicht die ganze Welt erschaffen will, so die ganze Welt nach dem düstersten Schattenbegriff regieren will. Und mit Bezug auf das Verständnis solcher Dinge wollen die Menschen durchaus nicht vorrücken. Sie bleiben immer Kinder, bleiben Kinder, die da glauben können, mit Begriffs­schablonen könne die Welt regiert werden. Deshalb kann man Ver­ständnis haben auch für die mephistophelischen Worte:

Ihr bleibt bei meinem Worte kalt,

Euch guten Kindern laß ich's gehen;

Bedenkt: der Teufel, der ist alt,

So werdet alt, ihn zu verstehen!

Diejenigen, die da glauben, daß man mit Begriffsschatten ,die Welt regieren kann, verstehen noch nicht einmal dasjenige, was Goethe durch den Teufel, da wo der Teufel die Wahrheit ausspricht, sagt!

Wie, ich möchte sagen, ein Kolleg zum Verständnis des Reellen, des Wirklichen in unserer von Begriffsschablonen beherrschten Zeit kann man auffassen gerade die Homunkulusszene im zweiten Teil von Goethes «Faust». Aber man muß diese Dinge wirklich in vollem Ernste

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nehmen. Und insbesondere an uns wäre es, uns recht klare Begriffe zu machen über den Unterschied all der Deklamationen, die jetzt so reich­lich durch die Welt gehen, die seit Jahrzehnten durch die Welt gegangen sind, und die endlich die Situation von heute herbeigeführt haben.

FAUST UND DIE MÜTTER Dornach, 2. November 1917

#G273-1967-SE081 Das Faust-Problem

#TI

FAUST UND DIE MÜTTER

Dornach, 2. November 1917

nach einer szenisoben Darstellung aus

II:

#TX

Die Betraditungen des heutigen Abends möchte ich anknüpfen an die Szenen, die wir eben gesehen haben. Es wird sich uns dasjenige, was in Anknüpfung an diese Szenen gesagt werden kann, recht gut einfügen in den Lauf unserer gegenwärtigen Betrachtungen.

Ich habe nun schon öff er hier über die bedeutungsvolle «Mütter»-Szene im zweiten Teil von Goethes «Faust» gesprochen. Allein diese Szene ist eine solche, auf die man immer wieder und wiederum aus dem Grunde zurückkommen kann, weil sie durch ihren bedeutungsvollen Inhalt, abgesehen von dem ästhetischen Wert, durch den sie sich in die Dichtung einfügt, eine Art Höhepunkt neuzeitlichen Geisteslebens wirk­lich in sich schließt>. Man wird leicht sagen können, wenn man diese «Mütter»-Szene auf sich wirken läßt, daß sie eine ganze Summe von Andeutungen, die Goethe machen wollte, in sich schließt. Sie ist ebenso herausgeholt aus Goethes unmittelbaren seelischen Erlebnissen, wie sie auf der andern Seite Licht wirft auf bedeutungsvolle, tiefe Erkenntnisse, die man einfach bei Goethe anerkennen muß, wenn man nur einiger­maßen versteht, was diese Szene bedeutet, in der Faust durch Mephisto­pheles die Möglichkeit geboten wird, in das Reich der Mütter hinunter­zusteigen. Fassen wir einmal ins Auge, daß der Astrologe, als Faust wieder erscheint, wieder heraufkommt von den Müttern, von Faust als Priester spricht, daß Faust sich selbst als Priester nunmehr bezeichnet. Wir müssen dann in dieser Umwandlung desjenigen, was Faust vorher war, zum Priester, etwas Bedeutungsvolles sehen. Er ist hinunter-gestiegen zu den Müttern. Eine Umwandlung ist mit ihm vorgegangen. Man braucht nur zu bedenken, ganz abgesehen von dem übrigen, was man über die Sache weiß, was wir im Lauf der Jahre über die Sache zu sagen hatten, wie die griechischen Dichter, indem sie von den Mysterien sprechen, andeuten, daß derjenige, der in die Mysterien eingeweiht wird, kennenlernt die drei Weltmütter: Rhea, Demeter und Proserpina.

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Die drei Mütter, ihre Wesenheit, dasjenige, was sie eigentlich sind, sollte durch unmittelbare Anschauung derjenige kennenlernen, der in Grie­chenland in die Mysterien eingeweiht wurde.

Wenn man die bedeutungsvolle Art ins Auge faßt, wie Goethe in dieser «Mütter»-Szene spricht, und wenn man das ins Auge faßt, was er vorgehen läßt in der nächsten Szene, dann wird man nicht mehr in Abrede stellen können, daß Faust in der Tat in Regionen, in Reiche geführt wird, die Goethe sich gleich gedacht hat den Reichen der Mütter, in die der griechische Mysterieneingeweihte geführt wurde. Damit ist aber schon angedeutet, daß Bedeutungsvollstes von Goethe gemeint ist.

Nun vergegenwärtigen Sie sich: in dem Augenblicke, wo Mephisto­pheles das Wort «Mütter» erwähnt, schaudert es Faust. Und dann spricht Faust die bedeutungsvollen Worte:

Die Mütter! Mütter! - ,s klingt so wunderlich!

Eingeleitet wird das Ganze damit, daß Mephistopheles sagt:

Ungern entdeck' ich höheres Geheimnis.

Also um ein Geheimnis, um ein Mysterium handelt es sich wirklich, um etwas, was Goethe gewissermaßen in dieser halb und halb verbor­genen Art für nötig fand, im Zusammenhange mit seiner Faust-Ent­wickelung der Welt mitzuteilen.

Wir müssen uns fragen und wir können es auf Grundlage der Be­trachtungen, die wir im Laufe der Jahre angestellt haben: Was soll denn eigentlich in diesem Augenblicke, wo höheres Geheimnis vor Faust ent­hüllt werden soll, mit Faust geschehen? In welche Welt wird er eigent­lich geführt? - Die Welt, in die er geführt wird, in die er eintreten soll, sie ist die Welt, die unmittelbar als geistige Welt angrenzt an unsere physische Welt.

Nun erinnern Sie sich wohl, daß ich gerade im Laufe dieser Betrach­tungen gesagt habe, daß das Überschreiten der Schwelle zu dieser un­mittelbar angrenzenden Welt schon gar vorsichtig aus dem Grunde ins Auge gefaßt werden muß, weil zwischen unserer Welt, die wir durch die Sinne betrachten und durch den Verstand begreifen, und jener Welt, aus der sich unsere sinnliche Welt heraus erhebt, gewissermaßen als

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Grenzland ein solches Gebiet ist, in dem man sehr leicht, wenn man nicht in genügender Reife und in genügender Vorbereitung in dieses eintritt, der Täuschung, der Illusion verfällt. Man möchte sagen: Feste Formen, feste Konturen, Grenzen gibt es eigentlich nur in der Welt, die wir durch unsere Sinne sehen. In der Welt, die angrenzt an diese Welt unserer Sinne als übersinnliche, gibt es solche feste Formen, solche feste Grenzen nicht. - Das ist gerade das, was dem materialistischen Ver­stande der Gegenwart so schwer beizubringen ist, daß in dem Augen­blicke, wo man die Schwelle übertritt, alles in Bewegung ist, daß diese Welt, die unseren Sinnen gegeben ist, nur wie Erstarrungsformen sich heraushebt aus einer durch und durch bewegten Welt.

In diese durch und durch bewegte Welt, die wir die imaginative Welt nennen, soll nun Faust versetzt werden. Aber durch einen äußeren An­laß soll er in diese Welt versetzt werden, nicht nach und nach in sorg­fältiger meditativer Art, sondern durch einen äußeren Anlaß soll er versetzt werden. Mephistopheles, also die Kraft des Bösen, die in die physische Welt hereinwirkt, soll ihn in diese Welt versetzen.

Nun muß man etwas sehr scharf ins Auge fassen, wenn man auf diesem Gebiete nicht mißverständlichen Auf£assungen sich hingeben will. Sehen Sie, wir auf anthroposophischem Gebiete suchen Erkennt­nisse der geistigen Welt. Auch dasjenige, was in dem Buche «Wie er­langt manErkenntnisse der höheren Welten?» oder in ähnlichenBüchern gesagt ist von der Praxis, um in die geistige Welt einzudringen, geht nicht weiter als bis dahin, wo vermittelt wird, Erkenntnisse dieser Welt zu gewinnen. Hier muß selbstverständlich, soweit es sich handelt um die heutige Zeit und um die Notwendigkeit, heute diese Dinge der Welt zu übergeben, Halt gemacht werden. Würde man weitergehen, so würde das Gebiet beginnen, welches man bezeichnen kann als dasjenige des Handelns in der übersinnlichen Welt. Das muß gewissermaßen jedem selbst überlassen werden. Wenn er die Sicherheit der Erkenntnis findet, dann muß ihm das Handeln selbst überlassen werden. Aber bei dem, was sich abspielen soll zwischen Faust und Mephistopheles, ist es nicht so. Faust soll wirklich die Abgeschiedenen, Paris und Helena, herauf-bringen, er soll also nicht nur in die geistige Welt hineinschauen, er soll gewissermaßen nicht nur ein Eingeweihter, er soll ein Magier werden,

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beziehungsweise er soll magische Handlungen vollziehen. Ja, hier zeigt es sich an der ganzen Art und Weise, wie Goethe die Szene behandelt, daß er gründlich vertraut war mit gewissen Geheimnissen der mensch­lichen Seele. Der Bewußtseinszustand des Faust soll umgeändert wer­den>. Aber zu gleicher Zeit soll Faust die Kraft übergeben werden, aus übersinnlichen Impulsen heraus zu handeln.

Mephisto gehört als solcher, als ahrimanische Kraft, so wie er Faust gegenübersteht, dieser Welt, in der wir mit unseren Sinnen leben, an, aber als übersinnliche Wesenheit. Er ist ja versetzt>. Er hat keine Gewalt über die Welten, in die Faust nunmehr hineinversetzt werden soll. Die sind für ihn eigentlich nicht da. In einen andern Bewußtseinszustand soll Faust übergehen, in jenen Bewußtseinszustand, der unter dem Grunde unserer sinnlichen Welt wahrnimmt das Weben und Wesen, das Wogen und Werden, das nie stillesteht und aus dem sich unsere sinnliche Welt heraus erhebt. Und mit den Kräften, die da unten sind, soll Faust bekannt werden.

Die Mütter, das ist eine Bezeichnung, die für den Eintritt in diese Welt nicht ohne Bedeutung ist. Fassen Sie ins Auge den Zusammenhang des Wortes Mütter mit allem Wachsenden, mit allem Werdenden. Im Mütterlichen schließt sich zusammen das Physisch-Sinnliche mit dem­jenigen, was nicht physisch-sinnlich ist. Stellen Sie sich das Werden des menschlichen Geschöpfes vor, das physische Werden, die Inkarnation. Sie müssen sich einen gewissen Prozeß vorstellen, der sich abspielt durch ein Zusammenwirken zwischen dem Kosmos und dem mütterlichen Prinzip, bevor eine Vereinigung des Weiblichen und des Männlichen geschieht. Der physisch werdende Mensch bereitet sich im weiblichen Wesen vor. Wir fassen jetzt diese Vorbereitung so auf, daß wir sie nur ins Auge fassen bis zu dem Augenblick hin, wo die Befruchtung ist, also vor der Befruchtung>. Es ist eine ganz mangelhafte einseitig-materiali­stische Vorstellung, wenn man glaubt, daß einfach in der Frau all die Kräfte vorgebildet liegen, die zum Menschenkeime, zum physischen Menschenkeime führen. Das ist nicht der Fall, sondern es findet eine Wirkung kosmischer, sphärischer Kräfte statt. In die Frau wirken hin­ein die Kräfte des Kosmos. Der Menschenkeim ist immer ein Ergebnis kosmischer Wirksamkeiten. Das, was die Naturwissenschaft, was der

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naturwissenschaftliche Materialismus als Eizelle beschreibt, ist gewisser­maßen nur auf dem Mutterboden erzeugt, aber ist ein Abbild, heraus­erzeugt aus dem großen Weltenei.

Fassen wir also diesen werdenden Menschenkeim vor der Befruchtung ins Auge, und fragen wir uns: Was wollten die Griechen mit ihren drei Müttern, der Rhea, Demeter und Proserpina? Unter diesen drei Müttern stellten sie sich jene Kräfte vor, die aus dem Kosmos hereinwirken und den Menschenkeim vorbereiten, aber aus jenem Teil des Kosmos, der nun nicht sinnlich, sondern übersinnlich ist. Die Mütter, Demeter, Rhea, Proserpina, gehörten der übersinnlichen Welt an. Kein Wunder, daß Faust ahnt: ein unbekanntestes Reich deutet sich ihm an, als das Wort Mütter ausgesprochen wird.

Bedenken Sie, was nun Faust eigentlich erleben soll. Würde es sich bloß um imaginative Erkenntnisse handeln, so würde er nur regelrecht meditativ eingeführt zu werden brauchen, aber, wie gesagt, er soll magische Handlungen vollziehen. Dazu ist notwendig, daß der ge­wdhnliche Verstand, der gewöhnliche Intellekt, in dem der Mensch die Sinneswelt wahrnimmt, aufhört. Dieser Intellekt beginnt, wenn die Inkarnation im physischen Leibe beginnt, hört auf mit dem physischen Tode. Dieser Intellekt soll abgedämpft, abgetrübt werden. Davor steht Faust also, daß dieser Intellekt seine Wirksamkeit einstellen soll. In eine andere Region soll er mit seiner Seele aufgenommen werden. Das ist natürlich etwas, was bedeutungsvoll in die Entwickelung des Faust eingreifen soll.

Von seiten des Mephisto gesehen - wie nimmt sich denn da die Sache aus? Nicht wahr, dadurch, daß Mephisto den Faust in diesen andern Bewußtseinszustand versetzen soll, wird die Sache gefährlich. Aber sie wird gewissermaßen auch für Mephisto höchst unbehaglich, sie wird auch für Mephisto in gewissem Sinne gefährlich. Denn, was kann passieren? Entweder Faust kommt hinüber in den andern Bewußtseins-zustand, lernt die andere Welt kennen, aus der er höhere Kräfte heraus-zaubern kann, und er kommt mit seinem vollen Bewußtsein hin und zurück, dann entwächst er dem Mephisto, denn Faust lernt eine Welt erkennen, in der Mephisto nicht zu Hause ist. Damit ist er entwachsen dem Mephisto. Oder aber das gelingt in der denkbar schlechtesten Weise,

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dann würde Faust in seinem Verstande getrübt werden. Mephisto setzt sich selber wirklich in eine höchst peinliche Situation. Aber er muß etwas tun. Er muß Faust die Möglichkeit geben, sein Versprechen zu erfüllen. Er hofft, daß in irgendeiner Weise sich die Sache applanieren lassen werde, denn er will weder das eine noch das andere. Er will nicht, daß Faust ihm entwächst, noch will er auch, daß Faust ganz und gar para­lysiert werde.

Das bitte ich Sie alles zu bedenken und dann ins Auge zu fassen, daß Goethe das alles andeuten wollte, also in dieser Szene des Faust wirklich die Welt hinweisen wollte darauf: es gibt ein spirituelles Reich, dieses ist die Art und Weise, wie sich der Mensch zu diesem übersinnlichen Reich verhalten kann. So hängen die Dinge zusammen.

Die Erkenntnis von diesen Dingen ist dem fünften nachatlantischen Zeitraum wohl eigentlich zum großen Teil verlorengegangen. Goethe, sagte ich, verwandte dasjenige, was sich ihm persönlich ergeben hatte, in den großen Augenblicken geistiger Erkenntnis. Persönlich ist Goethe dieses ganze Verhältnis zu den Müttern vor die Seele getreten aus der Lektüre des Plutarch. Plutarch, der griechische Schriftsteller, den Goethe gelesen hat, spricht von den Müttern. Insbesondere eine Szene im Plutarch scheint auf Goethe dem Gemüte nach einen tiefen Eindruck gemacht zu haben: Die Römer sind mit den Karthagern im Kriege. Nikias ist römisch gesinnt, und er will die Stadt Engyion den Kar­thagern entreißen. Er soll an die Karthager deshalb ausgeliefert wer­den. Da stellt er sich wahnsinnig und läuft auf den Straßen herum und ruft: Die Mütter, die Mütter verfolgen mich! - Sie sehen daraus, daß in der Zeit, von der Plutarch spricht, man diese Verwandtschaft der Mütter nicht mit dem gewöhnlichen sinnlichen Verstande, sondern mit einem Zustand des Menschen, wo dieser sinnliche Verstand nicht da ist, in Zusammenhang bringt. Zweifellos hat alles dasjenige, was Goethe im Plutarch gelesen hat, ihm die Anregung gegeben, den Ausdruck, die Idee der Mütter einzuführen in den Faust.

In Plutarch wird auch davon gesprochen, daß die Welt eine drei­eckige Form habe. Nun muß man natürlich sich die Dinge so vorstellen, daß dieser Ausdruck, die Welt habe dreieckige Form, nicht klotzig-räumlich gemeint ist, sondern das Räumliche ist nur ein Sinnbild für

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Unräumliches und Unzeitliches. Aber da wir im Raume leben, müssen räumliche Bilder für das Überbildliche und Überräumliche und Über-zeitliche gebraucht werden.

#Bild s. 87

Dreieckig also - so wird in Plutarch geschildert - sei die Welt. (Eine Zeichnung wird entworfen.) Das ist die Gesamtwelt: in der Mitte dieses Weltendreiecks - meinte Plutarch - befindet sich das Feld der Wahrheit. Nun unterscheidet Plutarch gegenüber dieser Gesamtwelt 183 Welten. I 83 Welten, sagt er, sind im Umkreise, sie bewegen sich ringsherum, in der Mitte das ruhige Feld der Wahrheit. Dieses ruhige Feld der Wahr­heit, abgetrennt durch die Zeit, sagt er, von den 183 Welten, die rings-herum sich drehen: überall an jeder Seite 6o, in den Ecken je eine = 183. Wenn also diese Plutarchsche Imagination genommen wird, so haben wir dreigliedrig die Welt gedacht: die Wolkenbildung ringsh>.erum, die 183 Welten wellend und wogend. Das ist zu gleicher Zeit die Imagina­tion für die Mütter. Die Zahl 183 ist von Plutarch angegeben.

Also Plutarch, der in gewissem Sinne die Mysterienweisheiten be­herrschte, gibt die merkwürdige Zahl an: 183 Welten>. Rechnen wir einmal heraus, wieviel Welten wir kriegen, wenn wir richtig rechnen bis zu der Welt des Plutarch hin. Da müssen wir so rechnen:

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Erst einmal das ganze Weltengeschehen als eine Welt 1

Dieses Weltengeschehen gliedert sich für uns so, daß wir fertige

Weltenbildungen haben: Saturn, Sonne, Mond - Sie wissen -

das sind 3

Aber jede von diesen Welten: Saturn, Sonne, Mond gliedern

wir so, wie wir auch das Irdische gliedern. Wir gliedern das

Irdische: in die polarische Zeit, in die hyperboräische Zeit,

dann haben wir die lemurische Zeit, die atlantische, die nach-

atlantische und so weiter: 7. In jeder 7 Perioden, denn wir

unterscheiden die indische, die urpersische, die chaldäisch-ägyp­

tische, die griechisch-lateinische, die gegenwärtige; zwei andere

werden folgen. Wenn wir auf Saturn, Sonne und Mond das 49

nehmen, so haben wir auf jedem 49 aufeinanderfolgende Wel- 49

ten, die sich so fortbilden. 49

Dann haben wir, wenn wir zu den drei aufeinanderfolgenden

Welten noch die Erde hinzufügen, die nicht eine fertige Bildung

darstellt, dann in der Erdenbildung: die polarische Zeit: 7; die

hyperboräische: 7; die lemurische Zeit: 7; das sind 21. Die

atlantische Zeit: 7 28

rechnen wir das einmal zusammen: 179

Nun sind wir mit der Atlantis fertig. Plutarch lebte im 4. Zeit­

alter; wir müssen also noch hinzurechnen 4

183

Sie sehen, wenn wir unsere Rechnung anwenden und richtig rechnen, die einzelnen Glieder und die ganzen Welten, wie sie sich so fort­gewälzt haben bis zu der vierten nachatlantischen Periode, in der Plutarch lebte, so konnte man wirklich sagen: diese Rechnung ergibt 183 Welten.

Außerdem aber, wenn wir unsere Erde nehmen, auf der wir uns noch entwickeln, der gegenüber wir also nicht von einem Abschluß sprechen können, und sehen hinauf zu Saturn, Sonne, Mond, haben wir dort die Mütter, die nur die griechischen Mysterien in einer andern Form aus­gesprochen haben: Proserpina, Demeter, Rhea. Denn alle die Kräfte, die in Saturn, Sonne und Mond sind, sie wirken ja nach, wirken herein

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in unsere Zeit. Und dasjenige, was physische Kräfte sind, ist immer nur die Abschattierung, die Abbildung des Spirituellen. Alles Physische ist immer nur das Bild des Spirituellen.

Der Mond, wenn Sie nicht seinen äußeren, klotzigen physischen Leib nehmen, sondern die Kräfte, die Impulse, die in ihm sind: er ist mit seinen Kräften zugleich in der Erde. Die Mondenwesenheit gehört mit zur Erdenwesenheit. Sie brauchen sich nur die Sache folgendermaßen vorzustellen, wenn Sie eine grobe Vorstellung haben wollen. Da ist die Erde (eine Zeichnung wird entworfen), da hat sie einen Stiel, da ist der Mond daran; sie dreht ihn herum auf dem Stiel; der Stiel ist nur nicht physisch. Und alles dasjenige, was Mondenimpulse sind, sind nicht nur auf dem Monde, sondern diese Sphäre durchdringt die Erde.

Sind diese Kräfte irgendwie vorhanden, die mit dem Mond zu­sammenhängen? Die Griechen haben diese Kräfte als sehr geheimnisvoll betrachtet, als recht geheimnisvoll. Es hängt mit all den Verhängnissen der neueren Zeit zusammen, daß diese Kräfte, ohne daß der Mysterien-charakter gewahrt geblieben ist, offenbar geworden sind. Wenn wir diese Kräfte ins Auge fassen, die mit dem Monde zusammenhängen

- wollen wir nur das eine ins Auge fassen -, dann haben wir die eine der Mütter. Was ist diese eine der Mütter? Wir werden uns auf die folgende Weise am besten nähern können dem, was diese eine der Mütter ist.

Nehmen Sie, um ein Bild zu haben, irgendeinen Fluß, sagen wir, den Rhein. Was ist eigentlich der Rhein? Wer nachdenkt - ich habe das schon einmal hier erwähnt -, kann eigentlich nicht sagen: Das ist der Rhein. -Man bezeichnet den Fluß als den Rhein. Aber was ist er real, der Rhein, wenn wir hinübergehen und ihn anschauen? Ist das Wasser der Rhein? Nun, das ist nächstens fort und anderes ist da, das geht in die Nordsee hinein und anderes kommt nach, das ändert sich fortwährend. W>.as ist der Rhein? Ist der Rhein die Mulde, das Bett? Daran denkt wiederum keiner. Wenn das Wasser nicht darinnen wäre, würde niemand daran denken, daß das der Rhein wäre. Eigentlich, wenn Sie das Wort der Rhein brauchen, brauchen Sie es nicht für etwas, das real da ist, son­dern für etwas, das sich fortwährend ändert, aber doch wiederum nicht sich ändert in gewisser Beziehung. Wenn Sie sich die Sache schematisch

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so vorstellen (es wird gezeichnet), daß wir annehmen, das sei der Rhein, und das sei das in ihm fließende Wasser: nun ja, einmal verdunstet dieses Wasser und kommt wiederum herunter. Wenn Sie alle Flüsse als zusammengehörig betrachten, so müssen Sie doch sich vorstellen: es verdunstet, kommt wieder herunter. In gewisser Beziehung kommt das Wasser, das vom Ursprung zur Mündung hingeht, wiederum aus den­selben Reserven des Wassers, das herauf- und hinuntergeht; der Kreis­lauf des Wassers vollzieht sich da. Nur zersplittert sich, verbreitet sich dieses Wasser in die ganze Umgebung. Natürlich können Sie nicht jedem Tropfen nachlaufen, aber man muß das Wasser, das zur Erde gehört, als eine Einheit betrachten. Die Frage nach juvenilem Wasser kommt hierbei nicht in Betracht. So ist es mit dem Wasser.

Etwas Ähnliches ließe sich auch mit der Luft machen. Aber es läßt sich etwas Ahnliches mit etwas noch anderem machen. Wenn Sie hier eine Telegraphenstation haben und hier (es wird wiederum gezeichnet) die andere Telegraphenstation, so wissen Sie, daß eine Verbindung ist nur durch einen Draht; die andere wird durch die ganze Erde her­gestellt, denn der Strom geht in die Erde. Hier: darinnen ist die Erd­leitungsplatte. Das Ganze geht durch die Erde durch.

Sie haben, wenn Sie sich diese zwei Dinge vorstellen: das Wasser, das hingeht, sich verbreitert, sich zum Kreislauf veranlagt, und wenn Sie sich vorstellen nach der andern Seite die Elektrizität, die in die Erde hinein sich so verbreitert - Sie haben zwei entgegengesetzte Dinge, ein zweifach entgegengesetzt Wesenhaftes haben Sie. Ich deute das hier nur an. Sie können sich das aus jeder elementaren Physik zusammenstellen. Aber es führt uns dies dahin, gewissermaßen in der Elektrizität das Gegenbild, das unterirdische Gegenbild zu dem zu sehen, was über der Erde vorgeht in dem Kreislauf des Wassers.

Was da unter der Erde als elektrisches Wesen waltet, das ist nun zurückgebliebener Mondenimpuls. Es gehört eigentlich gar nicht zur Erde. Das ist zurückgebliebener Mondenimpuls und wurde von den Griechen so angesprochen>. Die Griechen kannten nämlich noch die Ver­wandtschaft dieser über die ganze Erde verteilten Kraft mit den Kräften der Fortpflanzung - diese Verwandtschaft gibt es nämlich -, mit den Kräften des Wachsens, Gedeihens. Das war eine der Mütter.

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Nun können Sie sich denken: all die Ahnungen von diesen großen Zusammenhängen stehen vor Faust nicht nur theoretisch, sondern er soll sich in dieses Gebiet hineinbegeben, soll sich durchdringen mit diesen Impulsen. In den griechischen Mysterien wurde allerdings diese Kraft vor allen Dingen an die Einzuweihenden kundgegeben, diese Kraft neben den andern beiden Müttern. Die Griechen haben alles, was mit der Elektrizität zusammenhängt, mysterienhaft im Geheimen gehalten. Darinnen wird die Dekadenz liegen der Erdenzukunft, von der ich von einem andern Gesichtspunkte aus schon gesprochen habe, daß diese Kräfte nicht mehr heilig, nicht mehr mysterienhaft gehalten werden, sondern herauskommen. Eine ist während der fünften nachatlantischen Zeit herausgekommen: die Elektrizität. Die andern werden im sechsten und siebenten Zeitraum herauskommen bei der Dekadenz>.

Das alles gehört selbst noch in den dekadenten neueren Geheim-gesellschaften zu den Dingen, von denen die konservativen Mitglieder nicht sprechen wollen. Goethe hat es mit Recht angemessen gefunden, in der Art von den Dingen zu künden, in der er dazumal schon künden konnte. Aber zu gleicher Zeit haben Sie hier eine der Stellen bei Goethe, aus der Sie sehen können, daß der große Dichter nicht so dichtet wie viele, die auch dichten, sondern da steht jedes Wort geprägt und fest­gelegt an seinem Orte. Denken Sie einmal: die Mütter sind also ver­wandt mit Elektrizität. Goethe gehört zu denen, die diese Dinge wirk­lich sachgemäß behandeln:

Merkst du nun bald, was man an ihm besitzt!

Der Schlüssel wird die rechte Stelle wittern,

Folg' ihm hinab, er führt dich zu den Müttern.

Faust (schaudernd):

Den Müttern! Trifft's mich immer wie ein Schlag!

Wie wenn er vom elektrischen Schlag getroffen wird. Goethe braucht das Wort Schlag mit voller Absicht, nicht als irgendein zufälliges Wort, wie nichts in dieser Szene bei den Dingen, bei denen es sich um etwas handelt, irgendwie zufällig dasteht.

Das Bild also, das vorbildet dasjenige, was er da finden soll als die

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Impulse der 183 Welten, das gibt Mephisto dem Faust. Dieses Bild, das wirkt schon in Faustens Seele so, wie es wirken soll, denn Faust hat mancherlei durchgemacht, was ihn in die Nähe der geistigen Welten bringt. Daher wirken diese Dinge schon für ihn.

Das wollte ich heute hauptsächlich auseinandersetzen, daß Goethe Bedeutungsvollstes in dieser «Mütter» -Szene auseinandersetzen will. Daraus sehen Sie aber schon, aus welchen Welten her - aus andern Be­wußtseinswelten - Faust die Helena und den Paris zu holen hat. Weil Goethe so Bedeutungsvolles vorführte, deshalb ist auch wirklich die Sprache in diesen Szenen anders, als es auf den ersten Blick hin scheinen könnte. Dasjenige, was nun Faust heraufholt aus dieser Welt, die ich Ihnen angedeutet habe, sehen auch die andern, die sich zu einer Art von Drama versammelt haben. Aber wodurch sehen sie es? Es ist ihnen halb suggeriert. Wer suggeriert? Der Astrolog. Darum ist er auch als Astrolog gewählt. Seine Worte haben suggestive Kraft. Das ist auch deutlich zum Ausdruck gekommen. Diese Astrologen hatten die Kunst des Suggerierens schon in sich aufgenommen; nicht die beste, schon eine solche, die ahrimanisch war. Was tut denn eigentlich unser Astrolog, wenn er da so steht, und dieser Hof, der sich Ihnen, nun ja, als nicht besonders gescheit, wenn ich so sagen darf, vorstellte? Was tut denn eigentlich der Astrolog unter diesem Hofe? Er suggeriert ihnen das, was nötig ist, damit dasjenige, was durch Fausts verändertes Bewußt­sein als eine besondere Welt heraufsteigt, den andern gegenwärtig wird. Erinnern Sie sich, was ich Ihnen hier einmal dargestellt, einmal gesagt habe: Man kann heute nachweisen, daß die Worte, die man spricht, ihr Erzittern in gewissen Substanzen zeigen. - Ich habe daran zeigen wol­len, daß man heute schon experimentell das Wesen der Beschwörungs-szenen klarlegen könne. Aus dem Weihrauchnebel der entsprechenden Worte entwickelt sich wirklich dasjenige, was Faust aus einer ganz andern Welt für sein Bewußtsein herausbringt. Aber für die Hofgesell­schaft wird dieses gegenwärtig, wird wirklich gesehen dadurch, daß der Astrolog das Suggestive hinzufügt. Was tut der Astrolog? Er bläst ein, er ist der Einbläser für jedes der Ohren der Hofgesellschaft. Aber: Ein­bläsereien sind des Teufels Redekunst. Also indem das Wort gesprochen wird:

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Einbläsereien sind des Teufels Redekunst,

wird die teuflische Kunst des Astrologen bezeichnet. Das ist die eine Bedeutung dieses Satzes. Die andere ist diese unmittelbar auf die Szene bezügliche: der Teufel sitzt selber im Souffleurkasten drin und bläst ein.

Hier haben Sie das Urbild eines solchen Satzes mit absolutem Doppel­sinn. Rein szenisch: der Teufel sitzt selber im Souffleurkasten und bläst ein! Aber in Wirklichkeit: der Astrolog bläst der Hofgesellschaft ein! Und das ist eine teuflische Kunst, so wie er sie übt.

So werden Sie, wenn Sie richtig zu Werke gehen, in sehr vielen dieser Sätze, die hier gesprochen werden, Doppelsinn finden. Goethe gebraucht diesen Doppelsinn, weil er darstellen will etwas, was wirklich geschieht, und doch wiederum nicht in dem Sinne wirklich geschieht, wie das Materiell-Klotzige wirklich geschieht. Aufgeführt werden kann es ja, aber es ist nicht im sinnlichen Sinne wirklich. Aber Goethe wollte etwas darstellen, was nun wirklich in der neueren Geschichte einen Impuls, eine Rolle gespielt hat, was wirklich geschehen ist. Goethe meinte nicht etwa nur, daß da einmal so etwas aufgeführt worden ist, sondern er meinte, in die neuere Geschichte sind schon diese Impulse hineingeflos­sen, sind darinnen. Das wirkt. Er wollte eine Wirklichkeit darstellen. Er wollte gewissermaßen sagen: In dem, was sich seit dem 16>. Jahr­hundert heraufentwickelt hat, da hat schon der Teufel mitgespielt. -Und wenn Sie die Szene in diesem Sinne ernst nehmen, so haben Sie wiederum die zweite Seite der Sache, haben Goethes Erkenntnis von dem Mitspielen von übersinnlichen Wesenheiten in den historischen Vor­gängen. Und in dem Schluß haben Sie das, was ich öfter schon ange­deutet habe, daß Faust noch nicht reif ist, die Sache zu Ende zu führen, daß er nicht in der rechten Weise die Möglichkeit bekommen hat, in die andere Welt hineinzugehen, sondern durch Mephistopheles' Kraft. Da­her kommt dasjenige, was eben den Schluß der Szene bildet.

Doch an diese Dinge will ich dann morgen noch anknüpfen, um unsere Betrachtungen weiterzuführen. Aber Sie sehen, es kann uns ge­rade dasjenige, was Goethe sagen wollte, manches verdeutlichen, das gar sehr in dem Laufe unserer bisherigen Betrachtungen liegt.

FAUST UND DAS PROBLEM DES BÖSEN Dornach, 3. November 1917

#G273-1967-SE094 Das Faust-Problem

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FAUST UND DAS PROBLEM DES BÖSEN

Dornach, 3. November 1917

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Wenn wir die aufeinanderfolgenden Epochen der Menschheitsentwicke­lung auf der Erde zunächst nur für die nachatlantische Zeit charakte­risieren, so können wir zur Charakteristik dies oder jenes aus der Geistesforschung heraus für die einzelnen Epochen angeben; dadurch verschafft man sich allmählich konkrete Vorstellungen über diese einzel­nen Epochen. Heute wollen wir über die vierte, die griechisch-lateinische Zeit, und über die fünfte, unsere eigene Zeit, die ungefähr mit dem Jahr 1413 begonnen hat, einiges Besondere zu dem, was wir schon wissen, hinzufügen. Man kann sagen: Jede solche Epoche hat eine besondere Aufgabe - wobei ich Sie bitte, nicht zu denken an eine bloße theore­tische, wissenschaftliche Aufgabe, an irgend etwas, was nur mit Erkennt­nissen zu tun hat, sondern jede Epoche hat eine Aufgabe in dem Sinne, daß diese Aufgabe lebensvoll gelöst werden muß; daß im Leben selber Impulse auftreten müssen, mit denen sich die einzelnen Menschen, die in diesen Epochen leben, abzufinden haben, an denen sie zu ringen haben, aus denen heraus nicht nur ihre Vorstellung>.en entstehen, aus denen heraus ihre Gemütsbewegungen entstehen, dasjenige sich ergibt, was sie lieben, was sie hassen, aber auch sich ergibt, was sie als Willens-impuls in sich aufnehmen. Also im weitesten Umkreise können wir sagen, daß eine jede solche Epoche eine Aufgabe zu lösen hat.

Sehen wir auf die griechisch-lateinische Epoche, so finden wir, daß sie die Aufgabe zu lösen hat, die sich vorzugsweise bezieht auf das, was man zusammenfassen kann mit den Worten Geburt und Tod im Weltenall. Diese Dinge sind heute schon etwas verschwommen gewor­den, weil nicht eigentlich im tiefsten Lebenssinne, sondern nur mehr in einem theoretischeren Sinne die großen Probleme von Geburt und Tod vor dem Menschen der fünften nachatlantischen Zeit stehen. Dieser Mensch der fünften nachatlantischen Zeit hat nicht mehr eine genaue Empfindung davon, wie tief in das Gemüt des Menschen der vierten nachatlantischen Zeit die Erscheinungen der Geourt und des Todes eingriffen.

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Wir, die Menschen der fünften nachatlantischen Zeit - und wir stehen im Grunde genommen ziemlich am Anfange: 1413 hat diese fünfte nachatlantische Epoche begonnen, 2160 Jahre dauert eine solche Epoche -, haben zu lösen im weitesten Umfange lebenskräftig dasjenige Gebiet, was man nennen kann das Problem des Bösen. Das bitte ich Sie durchdringend ins Auge zu fassen. Das Böse, das in allen möglichen verschiedenen Formen herantreten wird an den Menschen der fünften nachatlantischen Zeit, so herantreten wird, daß er wissenschaftlich wird zu lösen haben die Natur, das Wesen des Bösen, daß er wird zurecht­zukommen haben in seinem Lieben und Hassen mit alledem, was aus dem Bösen stammt, daß er wird zu kämpfen, zu ringen haben mit den Widerständen des Bösen gegen die Willensimpulse - das gehört alles zu den Aufgaben der fünften nachatlantischen Zeit.

Ja noch intensiver, als Geburt und Tod dem Leben der vierten nach-atlantischen Zeit angehörte, gehört das Problem des Bösen dieser fünf­ten nachatlantischen Zeit an. Warum? Sehen Sie, so lebensintensiv, wie diese fünfte nachatlantische Zeit das Problem des Bösen wird lösen müssen, so lebensintensiv hatte zu lösen die Frage nach Geburt und Tod die atlantische Zeit. In der atlantischen Zeit selber traten die Er­scheinungen der Geburt und des Todes in viel anschaulicherer, viel un­mittelbarerer, viel elementarerer Art an die Menschen heran als jetzt, wo sich dasjenige, was sich hinter Geburt und Tod verbirgt, auch für das menschliche Anschauen und Empfinden mehr verbirgt. Und die griechisch-lateinische Zeit war im Grunde genommen nur eine ab­geschwächte Wiederholung desjenigen, was die Atlantier zu erleben hatten mit Bezug auf Geburt und Tod. Daher war das, was in dieser griechisch-lateinischen Zeit erlebt wurde, nicht so intensiv, wie intensiv werden wird das Ringen der fünften nachatlantischen Epoche, die 1413 begonnen, mit all den Mächten des Bösen, mit all dem, was aus dem Bösen herausquillt, und wovon sich eigentlich der Mensch zu befreien hat durch die entgegengesetzten Kräfte, auf deren Entwickelung daher ganz besonders angewiesen ist diese fünfte nachatlantische Epoche. Man braucht das, was ich soeben gesagt habe, nur intensiv genug ins Auge zu fassen, dann wird sich manches, das wir in diesen Wochen charak­terisiert haben, noch ganz besonders illustrieren. Manches wird wie eine

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Folgeerscheinung dieses Obersatzes wirken, daß diese fünfte nachatlan­tische Zeit zu ringen hat mit dem Lebensproblem des Bösen.

Und nun fragen wir uns: Wie hat Goethe eingesehen, daß dies so ist, als er den Menschheitsrepräsentanten, den Faust, so dramatisch charak­terisiert hat, daß er ihn in Kampf gestellt hat mit dem Vertreter des Bösen, mit Mephistopheles? - Daraus können Sie ersehen, daß dieses Faust-Drama wirklich hervorgeholt ist aus den tiefsten Interessen des Gegenwartszeitalters.

Es ist eine Eigentümlichkeit des Menschen, daß er mit solchen Dingen, mit denen er zu ringen hat, nur zurechtkommt, wenn er - wir haben das auch in diesen Betrachtungen öfters betont - sein Bewußtsein über sie ausdehnt, wenn sie nicht unbewußt bleiben. Das ist die eine Eigen­tümlichkeit. Das, was aus den Untergründen der Weltordnung an Möglichkeiten zu bösen Impulsen aufsteigen kann - dem Bewußtsein muß es sich verraten.

Aber noch eine andere Notwendigkeit liegt vor. Es genügt in der Regel nicht, bloß zu wissen, was einer Epoche angehört>. Man kann eigentlich die Dinge nur richtig durch Vergleichung beurteilen. Es ge­nügt also eigentlich nicht, zu wissen: jetzt in der fünften nachatlanti­schen Zeit hat der Mensch zu ringen mit dem Bösen in der geschichtlichen Entwickelung des Erdenseins, sondern es ist notwendig, daß hinzutritt ein gewisses Bewußtsein über die vorhergehende Epoche, in diesem Falle also über die griechisch-lateinische Epoche, daß gewissermaßen die Im­pulse, die in der griechisch-lateinischen Epoche lebten, nun auch Impulse des Menschen werden in der fünften nachatlantischen Zeit. Bedenken Sie, wie ganz wunderbar in Zusammenhang steht mit dieser aus der Natur der menschlichen Entwickelung, der historischen Entwickelung der Menschheit geholten Anschauung, was Goethe empfand. Goethe hatte Sehnsucht, die Antike aus unmittelbarer Anschauung kennenzu­lernen - so gut sie sich kennenlernen ließ in seiner Zeit -, sie in Italien gewissermaßen zu erraten aus dem, was sich ihm in Italien ergeben hatte. Daher war die Sehnsucht nach Italien wie eine Krankheit in Goethe lebend. Das hing aber damit zusammen, daß Goethe sich im eminentesten Sinne als einen Sohn der fünften nachatlantischen Zeit empfand. Goethe strebte nicht mit einem solchen Impuls nach Italien,

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wie irgendein Universitätsprofessor der Kunsthistorie, der schon glaubt, daß er gescheit ist auf jedem Gebiete, und nur sein Wissen ausdehnen will. Das war nicht das, was Goethe anstrebte. Goethe strebte geradezu eine Veränderung seines Bewußtseinszustandes an, eine andere Art des Anschauens. Und vieles könnte angeführt werden, aus dem Ihnen das hervorgehen könnte. Goethe sagte sich: Bleibe ich bloß im Norden, dann wird meine Seele eine Anschauungsform haben, die nicht umfassend ge­nug ist. Ich muß in der Atmosphäre des Südens leben, um andere An-schauungsformen, Begriffsformen, Gedankenformen, Empfindungsfor-men zu bekommen. - Auch dasjenige, was im eminentesten Sinne nordi­schen Gehalt hat, zum Beispiel die «Hexenküche», Goethe hat diese Szene in Rom geschrieben, weil er glaubte, in die Natur des geistigen An­schauens sich nur dadurch voll hineinleben zu können, daß sein Bewußt­seinszustand durch die dortige Atmosphäre umgestaltet werde. In feiner, intimer Art sich in Goethe hineinzufinden, das muß man anstreben.

Nun kann man also sehen, daß Goethe seinen Faust nicht aus irgend­einer wesenlosen Abstraktion heraus dem Mephistopheles gegenüber-stellt, sondern weil er den Repräsentanten der fünften nachatlantischen Zeit innerhalb der Menschheitsentwickelung hinstellen wollte. Aber aus dem andern Bestreben heraus, gewissermaßen innerhalb zweier Bewußt­seinszustände lebendig zu vergleichen, erstand ihm die Notwendigkeit, den Faust nicht nur erleben zu lassen Verhältnisse, Begebenheiten des fünften nachatlantischen Zeitraums, sondern ihn zurückzuführen und seine Seele untertauchen zu lassen in den vierten nachatlantischen Zeitraum, damit auch dieser seinem Bewußtseinszustand das Gepräge gibt. Das geschieht dadurch, daß Faust mit der Helena zusammen-kommt.

Mancherlei ist interessant an einzelnen Szenen zusammenzustellen im umfassenden «Faust». Es wäre zum Beispiel interessant, einmal hin­tereinander aufzuführen die «Hexenküche», die Beschwörungsszene am «Kaiserhof» und dann die Erscheinungsszene der Helena selbst; denn diese drei Szenen stellen drei aufeinanderfolgende Bekanntschaften des Faust mit Helena dar. In der «Hexenküche» sieht Faust, während sich Mephistopheles mit den Meerkatzen und mit der Hexe unterhält, im Zauberspiegel ein Bild, dem gegenüber er nur spricht von der Schönheit

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der Frau. Aber es wird schon erinnert durch die Worte des Mephisto­pheles, daß auftaucht das Helena-Bild:

Du siehst mit diesem Trank im Leibe

Bald Helenen in jedem Weibe.

Da taucht zuerst dasjenige auf, was dann hier in der Szene am «Kai-serhof» weitere Gestaltung gewinnt, und was endlich in der «Klassisch­romantischen Phantasmagorie» im dritten Akt des zweiten Teiles in seiner dritten Form auftritt. Diese drei Dinge hintereinander einmal zusammengestellt zu sehen, wäre aus dem Grunde interessant, weil dann vielleicht die Menschen sehen würden, daß dieser «Faust» gar sehr ein organisches, ein innerlich zusammengeordnetes lebendiges Ge­bilde ist.

Nicht umsonst hören wir wiederum hier am «Kaiserhof» aus dem Munde des Faust selber:

Hier wittert's nach der Hexenküche.

Wo es wiederum an die Helena geht, wittert's nach der «Hexenküche». Also es wird an die Helena erinnert. Die Sätze sind alle wohl erwogen gestellt. Goethe ist kein Dichter wie andere, sondern ein Dichter, der wirklich aus großen, weither impulsierten Notwendigkeiten heraus ge­dichtet hat.

Aber fragen wir uns einmal genauer: Warum denn diese dreifache Bekanntschaft des Faust mit Helena? Warum dieses? - Sind doch diese drei Bekanntschaften recht sehr voneinander verschieden. In der ersten Bekanntschaft, in der «Hexenküche», im Zauberspiegel, ist Faust zu­nächst auf leichte Art entrückt. Er sieht ein Bild. Derjenige, der mit den feineren Unterschieden der okkulten Wissenschaft bekannt ist, der weiß dieses Bild, welches Faust im Zauberspiegel sieht, wohl zu taxieren. Ich habe Ihnen öfter davon gesprochen, wie unsere Gedanken, unsere Vorstellungen im gewöhnlichen Leben eigentlich die Leichen desjenigen sind, was wir erleben. Hinter allen Gedanken stehen Imaginationen, aber das Imaginative töten wir. Sie können es philosophisch etwas ge­nauer sehen, wenn jetzt mein Buch erscheinen wird, das ein kleines Kapitel über die Sache enthält: «Von Seelenrätseln». Dasjenige, was

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Faust in der «Hexenküche» im Zauberspiegel sieht, ist etwas, was in ihm lebt, zur Imagination erhoben. Er hat sonst die Vorstellung nur ab­strakt; da erlebt er die Vorstellung der Helena, die Goethe aus dem ganzen Bereich des Vorstellungslebens heraushebt, zur Imagination umgestaltet. Wir haben also - ich bitte Sie, das zu beachten - erstens:

Eine imaginativ gewordene Vorstellung - «Hexenküche».

In der Beschwörungsszene am «Kaiserhof» geht die Sache weiter. Da wird mehr ergriffen als das bloße Vorstellungsleben bei Faust. Wenn Faust bloß aufgenommen hätte das Bild, das er im Zauberspiegel sieht, könnte er es nicht nach außen wiedergeben, gleichgültig, ob durch Rauch oder durch etwas anderes. Daß er es nach außen wiedergeben kann, dazu ist notwendig, daß es zusammenhängt mit seinem Gefühls- und Emotionsleben. Man kann auch wirklich nur sagen, daß Goethe das, was er da sagen will, so intensiv wie möglich andeutet. Daß Faust nicht mehr bloß die Schönheit im Vorstellungsleben bewundert, wie in der «Hexenküche» im Bilde des Zauberspiegels, das geht Ihnen daraus her­vor, daß Goethe die ganze Skala von Emotionen, von Gefühlen, von Gemütsbewegungen, durch die Faust sich mit der Helena verbunden fühlt, bei dieser Beschwörungsszene wunderbar anführt. Es ist wirklich eine wunderbare Steigerung, wo kein Wort an einer andern Stelle stehen könnte, wenn Faust ausbricht in die Worte, die sein Gemütsverhältnis zur Helena charakterisieren: Neigung, Liebe, Anbetung, Wahnsinn. Seelensachgemäßer kann man nicht schildern. Stellen Sie sich diese Steigerung vor, dann werden Sie sehen, wie Goethe das Zusammen­gekoppeltsein desjenigen, was Faust in seinem Gemütsleben erlebt, dar­stellt. Was da also auftritt in der Beschwörungsszene, das ist nicht mehr bloß imaginativ gewordene Vorstellung, das ist imaginativ gewordenes Fühlen. Und da haben Sie als zweites: Imaginativ gewordenes Fühlen -Beschwörungsszene am «Kaiserhof».

Und wenn wir dann den Übergang finden zur «Klassisch-romanti­schen Phantasmagorie», wo die Helena nicht bloß als Gespenst, son­dern als für Faust selbst vorhandene Wirklichkeit auftritt - er hat den Euphorion als Sohn -, da finden wir, daß Goethe deutlich andeutet:

diese «Klassisch-romantische Phantasmagorie» geht hervor aus Faustens Wollen, jetzt nicht mehr bloß aus dem Fühlen und der Vorstellung.

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Diese «Klassisch-romantische Phantasmagorie» ist imaginativ gewor­denes Wollen. Drittens: Imaginativ gewordenes Wollen - Dritter Akt des zweiten Teiles.

Vorstellen, Fühlen und Wollen ins Imaginative umgesetzt, Sie haben es in den drei Steigerungen der Helena-Erscheinung. Das alles ist sach­gemäß künstlerisch gestaltet>. Auch derjenige, der den «Faust» sich nicht so zergliedert, wie wir das jetzt machen, sondern ihn einfach genießt, der hat diese Dinge darinnen.

Nun hängt mit dem, daß Goethe gerade die Helena als Erscheinung für Faust wählt, wirklich etwas zusammen vom Wesen der Lebens-aufgaben des vierten und fünften nachatlantischen Zeitraums. Aller­dings berührt man dabei ein Problem, das selbst die Bibel nur zart be­rührt, Ricarda Huch in ihrem neuen Buch über «Luthers Glaube» etwas unzarter: diesen Zusammenhang des Problems der Frauenerkenntnis und der Erkenntnis des Bösen. Da gibt es einen geheimnisvollen Zu­sammenhang in der Bibel, dadurch angedeutet, daß die luziferische Versuchung im Paradiese auf dem Umweg durch die Frau geschehen ist. Die Sehnsucht nach dem Teufel wird - in so schöner Weise - jetzt in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum beschrieben in dem Buche von Ricarda Huch über «Luthers Glaube». Das ist sehr charakteristisch. Aber man kann auf diese Dinge nicht weiter eingehen, denn man würde heute noch auf sehr dünnes Eis treten, wenn man sie andeuten, ge­schweige weiterhin besprechen würde.

Aber das Griechentum und Goethe im Verein mit dem Griechentum hat aus diesem Impuls heraus die Gestalt der Helena-Erscheinung. Dabei müssen wir nur bedenken, die Helena-Erscheinung, das Helena-Problem bildete wirklich einen Inhalt der griechischen Mysterien. Und es gehörte zu einem gewissen Vorgange der Einweihung, das Wesen der Helena zu erkennen. In diesem Wesen der Helena erfuhr man etwas in den griechischen Mysterien über die Aufgabe des vierten nachatlanti­schen Zeitraums im Verhältnis zur geistigen Welt. Daher gab es in Grie­chenland eine exoterische Helena-Sage und eine esoterische Helena-Sage. Die exoterische Helena-Sage ist die bekannte. Die andere ist auch bekannt geworden, denn alles Esoterische wird nach und nach exoterisch. Exoterisch ist diese, daß durch jenen Vorgang mit den drei Göttinnen

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Paris angestiftet wurde, dem Menelaus die Helena zu rauben, daß er erschienen ist in Griechenland, die Helena mit ihrem Einverständnis entführt hat, sie nach Troja gebracht hat, daß darüber der Trojanische Krieg ausgebrochen ist, und nachdem die Griechen Troja belagert, er­obert hatten, sich Menelaus seine Helena wieder zurückgebracht hat. Das ist die exoterische Helena-Sage.

Sie wissen, Homer läßt eigentlich nur diese exoterische Helena-Sage durchblicken, weil er, obwohl er eingeweiht war in die esoterische Helena-Sage, von dieser nichts verraten wollte. Erst die Dramatiker Äschylos, Sophokles, Euripides, in einer späteren Zeit des Griechen­tums, haben sich herbeigelassen, von der esoterischen Helena-Sage etwas zu verraten, das dahin ging, Helena sei nicht einverstanden gewesen mit ihrer Entführung, Paris habe sie nicht entführt, sondern geraubt gegen ihren Willen; er fuhr mit ihr über das Meer. Hera verschlug die Schiffe, so daß Paris mit Helena in Ägypten landen mußte, wo dazumal der König Proteus herrschte. Proteus wurde von Sklaven, die den Schif­fen des Paris entlaufen waren, die ganze Sache mitgeteilt, so daß er Paris und seine Gefolgschaft und die Helena gefangen nahm. Und Paris wurde entlassen von Proteus, Helena ihm weggenommen. Sie ist nie­mals des Paris Weib geworden nach dieser Sage; seine Schätze wurden ihm abgenommen, er ohne Helena nach Troja geschickt. Aber mitneh­men konnte er auf diese Reise nach Troja statt der wirklichen Helena, die in Ägypten geblieben war bei dem Proteus, das Idol der Helena, so daß Paris in Troja nur mit dem Idol der Helena erschien. Und um das Idol haben sich die Griechen gestritten, weil sie den Trojanern nicht geglaubt haben, daß die wirkliche Helena gar nicht in Troja ist. Dann, nachdem der Trojanische Krieg beendet war, machte Menelaus selber die Reise nach Ägypten und brachte sich von dort seine unschuldig ge­bliebene Gattin nach Hause.

Sie wissen vielleicht, daß Goethe sehr wohl in der «Klassisch-roman-tischen Phantasmagorie» im dritten Akt des zweiten Teils diese esote­rische Seite der Helena-Sage andeutet. Mephistopheles-Phorkyas setzt die Rede der Helena, die sich schon nicht mehr auskennt, selber fort. Goethe stellt Helena im dritten Akt des zweiten Teils hin mit all den Zweifeln, die sie befallen. Sie ist ja geraubt. Nun hört sie alles das, was

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man von ihr erzählt. Es ist alles durcheinanderkommend. Dinge, die sich auf das Idol beziehen, nicht auf die Wirklichkeit, treten vor ihren Ohren auf. Sie weiß schließlich selber nicht mehr, wer sie ist. Aus all diesen Zweifeln heraus hören wir sie sagen:

Gedenke nicht der Freuden! Allzuherben Leids

Unendlichkeit ergoß sich über Brust und Haupt.

Mephistopheles-Phorkyas erwidert darauf:

Doch sagt man, du erschienst ein doppelhaft Gebild,

In Ilios gesehen und in Ägypten auch.

Also Goethe deutet dieses Komplizierte der Helena-Gestalt sehr wohl an und bringt dieses Komplizierte der Helena-Gestalt in seinen «Faust» hinein. Mit dem Helena-Problem ist nämlich sehr viel gesagt, und es ist doch nicht ganz ohne Bedeutung, daß im zweiten Teil des Dramas Mephistopheles so vermittelt, daß er durch den Schlüssel Faust nach den Orten weist, die für ihn nichts sind, in denen Faust das All zu finden hofft. Jedes Wort ist da wiederum von einer gewissen Bedeutung. Faust hat in sich die Möglichkeit, den Bewußtseinszustand zu ändern, ihn hinüberzuführen in das, was in der griechisch-lateinischen Vorzeit, in der vierten nachatlantischen Periode, von dem Bewußtsein erlebt worden ist. Das All soll man nicht bloß abstrakt nehmen, sondern kon­kret, in geistiger Gestaltung. In diese geistige Gestaltung kann Mephi­stopheles nicht hinein. Er gehört einer andern Region an. Er ist eigent­lich dazu da, so recht als Geist in der geistlosen Welt des materiellen Geschehens zu wirken, welche vorzugsweise ihre Impulse überliefern soll dem Menschen der fünften nachatlantischen Zeit. In dieser fünften nachatlantischen Zeit haben gewisse Menschen die Aufgabe, auf den Gesichtspunkt zu sehen, der in der geistigen Welt liegt, so daß bewußt werden kann, was zu erringen ist mit dem Impulse des Bösen.

So wenig das Auge sich selber sehen kann, sondern anderes, so wenig sieht Mephistopheles, er, der Impuls des Bösen, dieses Böse selbst. Es gehört zu dem, was Faust sehen muß, was Faust kennenlernen muß. Mephistopheles kann eigentlich die Helena nicht sehen, wenigstens nicht mit voller Aufmerksamkeit. Und ganz ohne Verwandtschaft mit der

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Helena ist er doch nicht. Die Hinlenkung zu Mephistopheles war nur möglich aus den Impulsen heraus, die das Christentum für den fünften nachatlantischen Zeitraum gab. Nicht ohne daß da eine gewisse Hin-lenkung für die Helena vorhanden ist, aber fremd bleibt doch dasjenige, was das Griechentum, besonders für seine Eingeweihten, im Helena-Problem zum Ausdruck bringen wollte. Die Christen der verflossenen Jahrhunderte kennen die Helena auch, aber in der Form der Hölle. Das Wort Hölle ist nicht ganz ohne etymologische Verwandtschaft mit Helena - die Dinge haben etwas miteinander zu tun -, wenn es auch entfernte Verwandtschaft ist. Das Helena-Problem ist kompliziert, wie es sich Ihnen schon in der esoterischen Form der griechischen Sage an­deutet.

Was in meinen Mysteriendramen an verschiedenen Stellen deutlich ausgedrückt ist: Ahriman-Mephistopheles muß erkannt und durch­schaut werden, das sagt in gewisser Beziehung das Faust-Drama. Und für Ahriman-Mephistopheles hat Goethe wiederum einen Satz geprägt, der sehr wichtig ist für den fünften nachatlantischen Zeitraum. Der Mensch dieses Zeitraums muß es dazu bringen, daß gewissermaßen Ahriman-Mephistopheles sich von ihm erkannt fühlt. Erinnern Sie sich an den Schluß meines letzten Mysteriendramas; das ist ein wichtiges Moment, wenn Ahriman-Mephistopheles sich erkannt fühlt, wenn der Impuls des Bösen weiß, diejenigen, die das Böse zu erleben haben, fin­den einen Gesichtspunkt, um nicht in dem Bösen darinnen, sondern außer dem Bösen zu stehen. Das ist sehr wichtig. Eine tiefe Bedeutung hat es, daß Mephistopheles dem Faust die Worte zuruft:

Ich rühme dich, eh du dich von mir trennst,

Und sehe wohl, daß du den Teufel kennst.

Das ist sehr wichtig. Das würde Mephistopheles zu Woodrow Witson nicht sagen! Es wäre keine Veranlassung dazu.

Diese Beziehung zwischen Faust und Mephistopheles enthält vieles von dem ganzen Problem des fünften nachatlantischen Zeitraums. Die­ser Zeitraum, sagte ich, hat gewissermaßen die Aufgabe, nach dem Kampfe sich hinzubewegen, der mit den mannigfaltigsten Formen des Bösen notwendig ist. Ja, scharf müssen die Impulse der Menschheitsentwickelung

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wieder werden. Solche Impulse müssen entstehen, die im Kampfe mit dem Bösen entstanden sind, und viel intensiver, sagte ich, ist dieses Erleben als das des vierten nachatlantischen Zeitraums, weil dieser in gewissem Sinne eine Wiederholung des atlantischen Zeit­raums ist.

Worin besteht ein erstes Erleben im Laufe der menschheitlichen Erden-entwickelung? Denn ein solches erstes Erleben haben wir hier. Nicht wahr, der vierte nachatlantische Zeitraum hatte das Problem von Ge­burt und Tod zu durchleben, aber als Wiederholung des atlantischen Zeitraums. Ein erstes Erleben ist jetzt im fünften nachatlantischen Zeit­raum wiederum eingetreten. Das besteht darinnen, daß von neuem herausgeschöpft wird aus der Maja, aus der Illusion. Der Mensch muß mit der Illusion Bekanntschaft machen, mit der Maja, mit der großen Täuschung.

Ich habe zu wiederholten Malen von ganz andern Gesichtspunkten aus auf die Sache hingewiesen, einmal in meinem Buche «Vom Men­schenrätsel», wo ich das Freiheitsproblem zusammenbrachte mit der Tatsache, daß im Bewußtsein vorgehen zunächst Spiegelbilder, Maja; dann in dem demnächst erscheinenden Aufsatz über Christiani Rosen­creutz' Chymische Hochzeit 1459, wo ich die Aufgabe der Täuschung für das Bewußtsein hervorgehoben habe. Diese Dinge können eigentlich jetzt zum ersten Male nur in der unmittelbaren Form gesagt werden. Aber diese Dinge gehören nicht einer abstrakten Theorie an, nicht irgendeiner abstrakten Phantastik, sondern der unmittelbaren Wirk­lichkeit. Und es ist wirklich wunderbar, wie Goethe in diese Dinge ein­geweiht war. Dieser fünfte nachatlantische Zeitraum muß vieles aus der Illusion heraus schaffen. Goethe stellt den Menschen dieses Zeitraums in Faust dar. Als Faust in die große Welt eintritt, schafft er das Papier­geld, das charakteristisch ist für die ahrimanische Natur des Verkehrs im fünften nachatlantischen Zeitraum, dieses Papiergeld, welches nur der reale volkswirtschaftliche Beweis dafür ist, daß das Imaginäre, das Unreelle, das Illusorische im Verkehr darinnen waltet, seine Rolle spielt.

In den Zeiträumen der menschlichen Entwickelung, in denen Geld nicht die Hauptsache war, sondern Warenaustausch, Tauschhandel -

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wenn auch Geld vorhanden war, so basierte die Volkswirtschaft nicht auf dem Geld -, konnte man nicht davon sprechen, daß das äußere volkswirtschaftliche Leben durchsetzt ist von einem Netze von Illusio­nen, wie das im fünften nachatlantischen Zeitraum der Fall ist>. Aber Goethe bringt den Faust selbst mit dieser volkswirtschaftlichen Illusion in Zusammenhang. Was will er eigentlich damit sagen, daß er das zweite Erscheinen der Helena just nach dem «Kaiserhof» hin versetzt? Womit haben wir es eigentlich zu tun? Mit Einbläsereien des Astro­logen, mit dem, was suggestiv ist. Ich habe es gestern schon erwähnt, mit Täuschung, mit Illusion. Sie lebt - das wollte Goethe sagen - in der äußeren geschichtlichen Wirklichkeit, sie lebt dadrinnen geistig. Die Begriffe, die Vorstellungen - wie oft haben wir in diesen Betrach­tungen davon gesprochen -, die so sehr zu Irrtümern führen. Die Irrtümer, die ich Ihnen angeführt habe, sie sind alle aus der Illusion entsprungen. Erinnern Sie sich, ich nannte Ihnen als einen charakteristi­schen Irrtum - aber man könnte Hunderte anführen von dieser Art -, daß gewisse Volkswirtschafter, die sich besonders gescheit dünkten, 1914 gesagt haben aus ihren volkswirtschaftlichen Gesetzen heraus: Dieser Krieg kann nicht länger als höchstens vier bis sechs Monate dauern, das geht gar nicht anders. - Er dauert jetzt aber bald so viele Jahre! Warum ist das? Warum leben die Menschen in solchen Vorstellungen, die durch die Wirklichkeit ad absurdum geführt werden? Weil in dieses Vor­stellungsleben jenes Gespenst-Gespinste hineinspielt, das Goethe durch seinen Faust am «Kaiserhof» eingreifen läßt, und weil die Menschen nicht durchschauen, was in ihren Vorstellungen als Gespenst-Gespinste lebt. Sogleich als der fünfte nachatlantische Zeitraum heraufkam, wurde die Imagination derjenigen, die so etwas empfinden konnten, hingelenkt nach dem Aufnehmen der Wirklichkeit gegenüber solchen Gespenst­Gespinsten. Denn gerade für diese Erscheinung am «Kaiserhof» hatte Goethe ein Vorbild in der schönen Sachsschen Darstellung, wie ein Nekromant am Hofe Kaiser Maximilians die Helena erscheinen läßt. Da ist es nicht Faust, da ist es der Kaiser selber, der die Erscheinung fassen will, und der ihr verfällt, paralysiert wird. Dieses Hineinspinnen von Gespenst-Gespinsten in die Realität des historischen Werdens - ich möchte fragen: Wo ist sie noch so großartig dargestellt und so sach­gemäß,

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so aus der Fülle der spirituellen Wirklichkeit heraus, wie in diesem Faust? Und ineinandergreifen müssen, sagte ich, das Bewußtsein des fünften nachatlantischen Zeitraums und des vierten nachatlantischen Zeitraums. Faust entwächst dem Mephistopheles. Für Mephistopheles kommt nichts anderes dabei heraus als das Fazit:

Mit Narren sich beladen,

Das kommt zuletzt dem Teufel selbst zu Schaden.

Faust ist von Apoplexie befallen, ist paralysiert. Getrennt hat sich sein Seelisches von seinem Leiblichen. Aber es folgt die Szene, die wir im vorigen Jahre hier dargestellt haben: der Traum des Faust, den der Homunkulus durchschaut.

Woher kommt denn, wenn sie auch bloß ein Gespenst ist, die Helena dieser zweiten Erscheinung? Das wird sehr deutlich angedeutet. Der Astrolog ist es, der sie vermittelt, wenn auch nur aus der Suggestion, aus dem Takt der Sterne heraus. Verbinden Sie das, was sich uns da ergibt aus dem Takt der Sterne heraus, mit dem, was ich von dem Makrokosmischen sagte, was in der Frau vor der Befruchtung wirkt. Diese Helena, sie kommt aus den Sternen, aber sie führt die Impulse in Faustens Seele zu einer andern Helena. Homunkulus sieht es, wie in Faustens Vision auftaucht die Geburt der Helena: Zeus, Leda mit dem Schwan, die ganze Szene. Da wird Faust hinübergeleitet, da haben Sie die Hinüberleitung zu dem Problem der vierten nachatlantischen Zeit, das Problem der Geburt zu lösen. Das taucht auf in dem Augenblicke, als Faust wirklich dem Mephistopheles entwächst, als Mephistopheles nichts hat von Faust als den äußeren physischen Leib. Da taucht auf in Faustens Seele der Impuls zum Hinübergehen in den vierten nachatlan-tischen Zeitraum.

Wunderbar verketten sich da die Motive. Man sieht das Ineinander-spielen desjenigen, was in uns lebt vom vierten und fünften nachatlan-tischen Zeitraum, im eminentesten Sinne von Goethe verwendet. Aber Goethe wußte noch mehr, denn er deutet auf die esoterische Helena-Sage, wie in Troja bloß das Idol war, dasselbe, was in den Sternen begründet, was kosmischen Ursprungs ist. Das andere, das Individuelle der Helena ist nach Ägypten hinüber zu Proteus gerückt. In dem untergehenden

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Troja verblieb nämlich das von der Helena, was dem dritten nachatlantischen Zeitraum angehört, was dieser dritte Zeitraum ausge­stoßen hat, was Ägypten entließ. Was aber Ägypten aufbewahrte für den vierten nachatlantischen Zeitraum, das holte sich Menelaus wie­derum von Ä gypten und brachte es nach Griechenland zurück.

So spielt in der esoterischen Helena-Sage, die Goethe wohl benützte, auch der dritte und der vierte nachatlantische Zeitraum herein in den fünften. So hat Goethe wunderbarerweise dieses Helena-Problem ver­wendet.

Nun, davon wollen wir morgen noch weitersprechen, das Helena-Problem nicht nur in bezug auf den Faust behandeln, sondern wir wollen dann einiges noch von dem Helena-Problem angeben, was uns wirklich über vieles in uns aufklären kann, was als Frage entstehen kann aus den Betrachtungen, die in dieser Zeit durch unsere Seele gehen müssen.

DIE HELENA-SAGE UND DAS FREIHEITSRÄTSEL Dornach, 4. November 1917

#G273-1967-SE108 Das Faust-Problem

#TI

DIE HELENA-SAGE UND DAS FREIHEITSRÄTSEL

Dornach, 4. November 1917

#TX

Ich habe Sie gestern darauf aufmerksam gemacht, wie in der Entwicke­lung der Menschheit Zusammenhänge sind, spirituelle Zusammenhänge, die ihre Wirkungsweise durch die Menschenseele hindurchschicken. Ich habe das getan im Zusammenhange mit den Bestrebungen Goethes in seiner Faust-Dichtung, Faust in Zusammenhang zu bringen mit dem, was der Impuls der fünften nachatlantischen Zeit ist, dadurch, daß er ihn mit Mephistopheles zusammenführt, einer ahrimanischen Macht. Dann habe ich versucht zu zeigen, wie Faust untertauchen soll in die Impulse der vierten nachatlantischen Zeit, die ich Ihnen in ihrem Wesen zu charakterisieren versuchte, damit sich in Fausts Seele ein Ineinander-arbeiten desjenigen bewußt vollzieht, was unbewußt in den Menschen­seelen durch die Entwickelungsgesetze waltet.

Nun sagte ich Ihnen, daß der fünfte nachatlantische Zeitraum, unser Zeitraum, mit der großen, bedeutungsvollen Lebensfrage des Bösen, der Bewältigung des Bösen nach allen Seiten zu tun haben wird. Die Men­schen werden kennenlernen müssen, was alles die Seele aufbringen muß, um die Gewalten des Bösen teils zu überwinden, teils in gute Impulse zu verwandeln. Das alles entwickelte sich auf der Grundlage der Im­pulse des vierten nachatlantischen Zeitraumes, der es zu tun hatte ins­besondere mit dem Problem der Geburt und des Todes, das er schon wie eine Erbschaft aus der atlantischen Zeit übernommen hatte. Man braucht nur auf den Christus-Impuls selbst seine Blicke zu wenden, wie er ein­trat im ersten Drittel der vierten nachatlantischen Periode. Diese be­ginnt 747 mit der Begründung Roms, so daß also von den 2160 Jahren im Zeitraum, wie wir ihn betrachten als Kulturzeitraum, 747 Jahre ver­gehen mußten, bis der Hauptimpuls, der Christus-Impuls, gerade in diesen vierten nachatlantischen Zeitraum hereinspielte. Hat es nicht dieser Christus-Impuls mit der großen, bedeutungsvollen Frage zu tun, die hereinruft in die Entwickelungsgeschichte der Menschheit Fragen nach Geburt und Tod in ihrer übersinnlichen Bedeutung? Wieviel ist auf

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christlichem Boden diskutiert worden, gedacht, empfunden worden über die Geburt des Christus. Welch unendlich bedeutungsvolle Rolle spielt der Tod Christi>. In der Geburt und in den Tod Christi sehen wir an besonders prägnanten Punkten auftreten dieses Ringen in der Seele des Menschen mit dem Problem der Geburt und des Todes. Es war ein Ringen in der Seele aus dem Grunde, weil, ich möchte sagen, in einer elementareren, physischeren Gestalt dieses Ringen schon in dem großen atlantischen Zeitraum vorhanden war. Da waren gerade im vierten atlantischen Zeitraum, in der Mitte der atlantischen Zeit - damit auch noch in dem fünften als Nachwirkung - im Menschen selber Kräfte tätig, die im Zusammenhang standen mit Geburt und Tod. Einiges davon habe ich schon charakterisiert. Da waren Kräfte in jenen Menschen, in jenen Atlantiern, die entwickelt werden konnten, die Einfluß hatten auf Geburt und Tod, in ganz anderem Maße als in bloß natürlichem Maße. Da wirkten die guten und die bösen Kräfte im Menschen auf Gesundheit und Krankheit der Mitmenschen im weiten Maße, damit auch auf Geburt und Tod. Da sah man einen Zusammenhang zwischen dem, was man in der atlantischen Zeit tat als Mensch, und dem, was sich im sogenannten Naturlaufe als Geburt und Tod vollzieht.

Später, im vierten Kulturzeitraum der nachatlantischen Zeit, war dieses Problem von Geburt und Tod mehr hereinverlegt in die mensch­liche Seele. Aber jetzt in unserem fünften Zeitraum werden die Men­schen so elementar zu ringen haben mit dem Bösen, wie elementar in der atlantischen Zeit gerungen worden ist mit Geburt und Tod. Da werden namentlich durch die Beherrschung der verschiedenen Natur­kräfte die Antriebe und Impulse zum Bösen in einer großartigen Weise, in gigantischer Weise in die Welt hineinwirken. Und im Widerstand, den die Menschen aus geistigen Untergründen heraus werden bringen müssen, werden die entgegengesetzten Kräfte, die Kräfte des Guten zu wachsen haben. Insbesondere wird es schon während des fünften Zeit-raums sein, wo durch die Ausbeutung der elektrischen Kraft, die noch ganz andere Dimensionen annehmen wird, als sie bisher angenommen hat, es den Menschen möglich sein wird, Böses über die Erde zu bringen, wo aber auch direkt aus der Kraft der Elektrizität selber heraus Böses über die Erde kommt.

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Diese Dinge sind nur notwendig, sich vor das Bewußtsein hinzu­halten. Denn derjenige, der spirituelle Impulse aufnehmen will, findet die Angriffspunkte des Widerstands, findet die Ausgangspunkte für jene Impulse, die sich gerade am Widerstand des Bösen entwickeln sollen. Allerdings ist es schwierig, heute schon in dieser Beziehung über Einzelheiten zu sprechen, da diese Einzelheiten zumeist noch in wei-testem Umfange Interessen der Menschen berühren, welche die Men­schen nicht berührt haben wollen. In dieser Beziehung sind die Menschen geteilt auf der einen Seite in solche, welche schwer leiden dadurch, daß sie sich nicht klarmachen können, wie sie in das Weltkarma verstrickt sind und dies oder jenes mitmachen müssen, ohne daß sie im Hand-umdrehen abstrakt fromm werden können; auf der andern Seite in Menschen, die vielfach verstrickt sind in dasjenige, was das Welten-karma dieses fünften nachatlantischen Zeitraums ist, die nicht hören wollen, was eigentlich in den Impulsen liegt, die durch die Welt gehen, weil die Menschen vielfach ein Interesse daran haben, gerade diejenigen Impulse, die zerstörerisch sind, als aufbauende hinzustellen. Wir haben dargestellt, wie seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter den Menschen diejenigen Wesenheiten wirken, die ich bezeichnet habe als abgefallene Geister der Finsternis, Wesen aus der Hierarchie der An-geloi. Diese Wesen waren noch dienende Glieder der guten, fortschrei­tenden Mächte in der vierten nachatlantischen Periode. Da dienten sie noch in der Herstellung jener Ordnungen, die - wie ich Ihnen charak­terisiert habe - aus der Blutsverwandtschaft der Menschen herausgeholt sind>. Jetzt sind sie im Reiche der Menschen, und als zurückgebliebene Angeloiwesen wirken sie hinein in die Impulse der Menschen, um das­jenige, was mit Bluts-, Stammes-, Nationalverwandtschaft, Rassen-verwandtschaft zusammenhängt, in einer nachhinkenden Weise und dadurch in einer ahrimanischen Weise geltend zu machen, zu beeinträch­tigen diejenigen andern sozialen Menschheitsstrukturen, die sich aus ganz andern Unterlagen heraus bilden sollen als zum Beispiel aus den Blutsbanden der Familie, der Rassen, der Stämme, der Nationen, so daß heute ein beträchtlicher Anfang der Arbeit dieser Geister gerade in dem abstrakten Betonen des Nationalitätsprinzips besteht. Dieses abstrakte Betonen des Nationalitätenprinzips, dieses Programmemachen auf

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Grundlage eines Nationalitätsprinzips, das gehört in die Bestrebungen der Geister der Finsternis hinein, die den Menschen viel näherstehen werden, die viel intimer an die Menschen herankommen als die zurück­gebliebenen Geister der vierten nachatlantischen Periode, die in die Hierarchie der Archangeloi gehörten. Das wird gerade das Bedeutungs­volle dieses fünften nachatlantischen Zeitraums sein, daß diese Wesen, die unmittelbar über der Hierarchie der Menschen stehen, die Angeloi-wesen, recht intim an den einzelnen Menschen herankommen können, nicht bloß an die Gruppen, so daß der einzelne glauben wird, er ver­träte aus seinem eigenen persönlichen Impuls heraus die Dinge, während er - man kann schon sagen - besessen ist von solcher Art von Angeloi­wesen, von denen gesprochen worden ist.

Machen wir uns noch einmal klar, welcher Art die Bestrebungen der zurückgebliebenen Geister der Finsternis in der vierten nachatlantischen Zeit waren, um dann besser verstehen zu können, welcher Art diese Bestrebungen in unserer fünften Epoche sind. Ich habe schon darauf hingewiesen: in der vierten nachatlantischen Zeit war es normal, alle Menschheitsstruktur aufzubauen auf den Blutsbanden, auf den Bluts­verwandtschaften. In dieser Zeit, also in der griechisch-lateinischen Kulturepoche, lehnten sich die ahrimanisch-luziferischen zurückgeblie­benen Wesenheiten gerade gegen die Blutsbande auf. Sie waren die Ein-geber jener Rebellenschaft, welche die Menschen aus den Blutsverwandt­schaften herauslösen wollte. Insbesondere - das können Sie ja schon aus dem Allgemeinen der Geisteswissenschaft entnehmen - waren es in ge­wisser Beziehung die Nachkommen der in der atlantischen Zeit noch auf magische Weise wirksamen Individualitäten, welche als sich aufleh­nende Individualitäten, als Rebellen, Heroen wurden, gerade in der Wiederholung der atlantischen Zeit in der vierten nachatlantischen Zeit. In einer besonderen Art und Weise kam diese griechisch-lateinische Zeit diesen Rebellen entgegen. In der damaligen Zeit, wo eine kluge Mysterienführung der Menschen doch noch vorhanden war, hat man den Menschen nicht gesagt, meidet die Rebellennaturen, meidet die ahrimanischen, die luziferischen geistigen Wesenheiten! Das hat man ihnen nicht gesagt. Sondern man wußte, im Plane des weisheitsvollen Weltenganges liegt es, diese Wesenheiten an ihre Stelle zu setzen, sie

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zu benützen. Es ist heute eine Schwäche vieler Menschen, wenn sie von Luzifer und Ahriman hören, zu empfinden, um Gottes willen, den mei­den wir! - Als ob sie sie meiden könnten! Ich habe darüber öfter gespro­chen. So wie die Erkenntnis sein mußte in der vierten nachatlantischen Zeit, so brachte man sie heran an die Menschen dieser Zeit. Und die Wir­kung der guten Götter, wenn ich so sagen darf, lag schon in den Bluts-banden, der gaben sich die Menschen hin dazumal - heute muß sie vergeistigter sein -, der gaben sich die Menschen hin in jener gegenseiti­gen Liebe, die durch die Blutsverwandtschaft begründet wird. Um weiterzukommen, mußten immer Auflehnungen stattfinden. Diesen Gang der Weltenentwickelung mußte man, so wie man es den Leuten eben klarmachen konnte, in Mythen, in Sagen, in Legenden ihnen klar­machen. Den Eingeweihten wurden die Dinge dann noch anders mit­geteilt, schon in einer Form, die ähnlich war derjenigen, die heute an den Menschen herantritt. Aber es wären die Menschen im weitesten Umkreise des Lebens nicht reif gewesen, Erklärungen für die Mythen aufzunehmen. Da wurden ihnen die Mythen erzählt, die exoterischen Mythen, in denen aber tiefe, bedeutungsvolle Entwickelungswahrheiten verborgen sind.

Betrachten wir einen solchen hervorragenden Mythus, der gerade mit dem zusammenhängt, was ich jetzt vor Ihre Seele hingeführt habe, be­trachten wir den Mythus, der da erzählt, wie ein Orakel dem Laios von Theben bei seiner Vermählung mit Jokaste weissagte, daß aus seiner Ehe mit Jokaste hervorgehen werde ein Sohn, welcher der Mörder seines Vaters werden wird, der mit seiner Mutter in Blutschande leben wird. Laios hat sich zwar nicht abhalten lassen, die Vermählung zu vollziehen, aber als aus der Ehe doch der Sohn hervorging, ließ er ihm die Fersen durchbohren und ließ ihn aussetzen auf dem Kithäron. Einem Hirten wurde dieser Sohn übergeben. Die Gemahlin des Hirten nannte ihn Ödipus, von den durchlochten Fersen. Sie wissen, wie die Sache weiter­erzählt wurde. Sie wissen, daß der Knabe Ödipus heranwuchs, daß sich seine Talente entwickelten, daß er sich früh von Zweifeln in seiner Seele beunruhigt fand wegen seiner Abstammung, weil Jugendgenossen ihn auf verschiedenes aufmerksam machten; daß dann das delphische Orakel einen bedeutsamen Ausspruch tat. Ihn heute zu studieren, ist

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eine schmerzliche Angelegenheit, wenn man ihn in seinem ganzen Zu-sammenhange studieren kann. Er heißt ja einfach: Meide die Heimat, sonst wirst du deines Vaters Mörder und deiner Mutter Gemahl. - Das war also dem Ödipus gesagt.

Nun war er aber in einer vollkommenen Illusion darinnen. Er wußte nicht, wer sein Vater wirklich war und seine Mutter. Er mußte Korinth für seine Heimat halten, wo er aufgewachsen war. Schließlich wanderte er von Korinth fort, um dort nicht Unheil zu stiften, seinen Vater zu töten und seine Mutter zu heiraten. Aber gerade, daß er fortwanderte, daß er den Weg nach Theben antrat, gerade das wurde ihm zum Ver­hängnis. Auf dem Wege traf er ein Gefährt, in dem sein Vater Laios fuhr mit einem Wagengefährten. Er kam in Streit, tötete den Vater, setzte den Weg fort nach Theben, und seine erste Tat, die er verrichtete, war ja, wie Sie wissen, die Lösung des Rätsels der Sphinx. Dadurch haben wir Ödipus so recht hineingestellt in den ganzen Entwickelungs­zusammenhang des vierten nachatlantischen Zeitraums. Denn in einer gewissen Beziehung gehörte das Rätsel der Sphinx, das Menschenrätsel, diesem Zeitraume an. Also Ödipus war einer von denjenigen, die Be­scheid wußten. Er sagte zur Sphinx nicht: «Ungern entdeck' ich höheres Geheimnis», sondern er löste das Geheimnis. Damit war etwas in den vierten nachatlantischen Zeitraum hineinversetzt als ein Impuls, der weiter wirkte, an dem Ödipus beteiligt war. Man könnte Stunden über Stunden reden über die Lösung des Rätsels der Sphinx durch Ödipus. Aber das ist heute nicht nötig. Wir wollen uns nur klarmachen, daß das­jenige, was da Ödipus tut, ihn so recht zeigt als einen Helden des vierten nachatlantischen Zeitraums.

Nun ging er nach Theben, heiratete seine Mutter, die er natürlich nicht für seine Mutter hielt, war verhältnismäßig glücklich, bis eine Pest auftrat. Der Seher Teiresias war es, welcher zuletzt die Wahrh>.eit von dem Ganzen herausbrachte. Jokaste, die sich plötzlich als die Gemahlin des eigenen Sohnes wußte, tötete sich. Ödipus blendete sich und wurde vertrieben von seinen eigenen Söhnen, wurde von einem andern dann im Haine von Attika, von Theseus, geschützt bis zu seinem Tode, ruhte dann in attischer Erde. Nur soweit brauchen wir das Ödipus-Drama vor unsere Seele zu führen.

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Was stellt es uns denn dar? Es stellt uns dar, wie eine Individualität, die Ödipus-Individualität, herausgenommen wird aus dem Blutszusam-menhang, herausversetzt wird, sich entwickelt außerhalb der Bluts-bande und dann zu seinem Verderb wiederum hineinversetzt wird. Nicht nur einen subjektiven Rebellen gegen die Blutsbande haben wir vor uns, sondern einen Menschen, der durch die, man möchte sagen, Naturgesetze selber zur Auflehnung gebracht wird gegen die Bluts-bande, und diese gerade dadurch gegen sich wachruft.

Versuchen Sie die griechische Mythologie auf solche Menschen hin durchzusehen, auf solche Heroen, die auf eine gewisse Weise hinein­gestellt sind in den Blutszusammenhang, die ausgesetzt werden, daß sie ihre Entwickelung außerhalb des Blutszusammenhanges durchmachen und dann gerade andere Entwickelungsimpulse hereinbringen dadurch, daß sie aus der alten, der normalen Ordnung hinausversetzt werden. Ein solcher ist Ödipus, ein solcher ist auch Theseus, der ihn schützt im Haine von Attika.

Es ist kein Wunder, daß man in Griechenland dem Volke nicht sagen konnte, was eigentlich hinter diesen Heroen steckte, daß das die großen Rebellen sind, die aber notwendig sind im ganzen weisheitsvollen Gang der Weltenentwickelung. Theseus selber, denken Sie doch nur daran -auch da war es ein Orakelspruch, der an den Vater herangetreten ist, so daß er den Sohn fern von sich hat erziehen lassen. Der Mutter, die ihn fern von der Heimat geboren hat, wurde gesagt, wenn der Jüngling heranwächst, so daß er ein gewisses Schwert gebrauchen kann, dann möge er zurückkommen. Wiederum hinausversetzt ist Theseus aus dem Blutszusammenhang. Auch er - Sie kennen die Sage, wie er Athen be-freit hat von jener Tributszahlung von Jünglingen, die dem Minotaurus geopfert werden mußten, wie er mit Hilfe des Ariadne-Fadens sich ge­rettet hat -,auch er löst wichtige Rätsel der vierten nachatlantischen Zeit. Und er wurde der Schützer des Ödipus. Aber Theseus ist derjenige, der die Helena, als sie zehnjährig ist, entführt und sie verborgen hält. Also gerade Theseus wird mit der Helena in Zusammenhang gebracht.

Hinter diesen Dingen stecken tiefe Entwickelungsrätsel des vierten nachatlantischen Zeitraums. Die Hofdame des 16. Jahrhunderts macht sich freilich von diesen Dingen nicht mehr kund als:

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Vom zehnten Jahr an hat sie nichts getaugt.

Aber damit deutet Goethe wiederum auf etwas sehr Bedeutungs­volles. Goethe wußte wohl, eigentlich müßte dasjenige, was hinter der Helena steckt, so verehrt werden, wie Faust die Helena verehrte. Aber gerade in bezug auf die Helena sind die schlimmsten Kräfte der Ver­leumdung im Spiel gewesen. Die Menschheit könnte lernen an solchen Dingen, wie gerade dasjenige, was anerkannt werden sollte, was viel­leicht am höchsten steht, am meisten verleumdet werden kann.

Ich wollte dieses nur andeuten, um Ihnen zu zeigen, wie die Helena in einem geheimnisvollen Zusammenhange steht mit denjenigen Indi­vidualitäten, welche die Rebellenindividualitäten waren des vierten nachatlantischen Zeitraums, die dazumal im Sinne der weisheitsvollen Weltenlenkung die Aufgabe hatten, den Blutszusammenhang zu durch­brechen.

Wie steht es mit Paris, der uns von Goethe - verzeihen Sie das triviale Wort, aber es ist nicht so trivial gemeint - in der Geisterbeschwörungs-szene ja eigentlich als Konkurrent des Faust vorgeführt wird, als der Nebenbuhler des Faust, wie steht es um Paris? Ja, da wird uns auch erzählt: er war der Sohn des Priamos und der Hekuba. Und das Merk­würdige wird uns erzählt, daß seine Mutter, als sie mit ihm schwanger war, einen Traum hatte. Hier ist es zunächst nicht ein Orakelspruch, sondern ein Traum, der aber tiefere Weisheit enthält. Dieser Traum kündigte der Mutter des Paris vor der Geburt an, daß sie gebären werde eine brennende Fackel, welche die Stadt Troja in Brand stecken werde. Deshalb spricht die Sage, die parallel geht, auch von einem Orakel­spruch, der dem Vater Nachricht davon gegeben habe, daß dieser Sohn zum Unheil von Troja dienen werde. Sei es der eine, sei es der andere Grund, der Vater setzte den Paris auch aus. Paris ist also auch einer der Ausgesetzten, einer der aus der Blutsgemeinschaft Herausgesetzten. In Parion wird er erzogen, fern von den Blutsbanden. Und da spielt sich dasjenige ab, was nun von der Sage erzählt wird, daß die Eris den Apfel der Schönsten bestimmt habe, daß Paris aufgerufen worden sei von den Göttinnen Hera, Pallas und Aphrodite, zu bestimmen, welche die Schönste sei. Es wurde sogar gesagt, daß dem Paris versprochen

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worden ist von Hera Asien, das heißt also die Herrschaft über die Erde, denn Asien bedeutete dazumal überhaupt die Erdenherrschaft; von Pallas Athene kriegerischer Ruhm; von Aphrodite die schönste Frau. Paris hat Aphrodite den Preis der Schönheit zuerkannt.

Wie bedeutungsvoll er damit eingegriffen hat in den Gang der grie­chischen Angelegenheiten, das schildert Ihnen der Gesang, der große, bedeutungsvolle Gesang Homers. In Paris selbst also haben wir eine solche gegen die Blutsbande sich auflehnende Individualität. Er nimmt die Helena heraus aus den griechischen Blutsbanden, will sie hinüber-versetzen nach Troja. Er will die Blutsbande brechen. Immer hängen die Dinge so zusammen, daß wir sehen, wie in den griechischen Heroen-sagen in die Entwickelung dasjenige hineingestellt wird, was die Bluts-bande durchbrechen soll. Denn die Blutsbande, die an sich stark, mächtig und gewaltig sind, sind das die ganze soziale Struktur eigentlich Be­wirkende.

Eine Frage, die uns in diesem Falle besonders deutlich vor Augen treten kann, soll uns auch ein paar Minuten jetzt beschäftigen. Es könnte leicht jemand die folgende Frage aufwerfen: Ja, wie steht es noch mit der menschlichen Freiheit, wenn bedeutungsvolle Handlungen, wie der Raub der Helena durch Paris, dadurch vollzogen werden, daß sich oben in der geistigen Welt so etwas vollzieht wie der Streit der Göttinnen? Der Mensch sieht dann aus wie das bloße Werkzeug, durch das voll­zogen wird dasjenige, was sich oben in den geistigen Regionen nicht nur vorbereitet, sondern auswirkt. Ja, man muß in einer gewissen Weise wirklich sagen: Dasjenige, was hier unten durch den Menschen geschieht, das alles ist das Spiegelbild dessen, was in der geistigen Welt geschieht. -Da pocht die Frage der Freiheit gewaltig an die Tore der menschlichen Erkenntnis. Sind wir wirklich Automaten, die durch ihre Handlungen das Spiegelbild desjenigen zeigen, was da oben in der geistigen Welt vor sich geht? Und wiederum, wie stünde die geistige Welt da, welche die Lenkerin und Leiterin desjenigen ist, was überhaupt vorgeht, wenn sie gewissermaßen gar nichts zu tun hätte, wenn sie tatenlos wäre? Zweierlei ist notwendig zu verstehen. Erstens, daß der Weltengang wirklich von geistigen Kräften und geistigen Mächten gelenkt und geleitet wird und nichts geschieht, was nicht aus der geistigen Welt herunter

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geschieht; zweitens, daß der Mensch einen freien Willen hat. Die beiden Dinge scheinen sich diametral gegenüberzustehen. Und in der Tat ist damit ein Problem, ein Rätsel berührt, das den Menschen unge­heuer viel zu schaffen macht, über das die Menschen kaum leicht hinaus­kommen, denn es ist so. Schauen wir hinauf in die geistige Welt - das­jenige, was die Götter tun, sind der Götter Handlungen, und die Menschen hier unten führen die Impulse der Götter aus>. So ist es. Wie können da die Menschen frei sein dabei?

Lassen Sie mich Ihnen - natürlich kann man von diesem Problem nur immer einiges geben - andeutend dieses Problem mit ein paar Strichen hinstellen. Nehmen wir also an: da oben (es wird gezeichnet) seien die drei Göttinnen mit ihrem Streit, der sich unter ihnen abspielt. Das Resultat dieses Streites ist, daß auf die Erde herunterkommt der Impuls, der aus diesen Taten der drei Göttinnen hervorgeht. Wie die wiederum zusammenhängen mit den übergeordneten Hierarchien, das braucht uns bei dieser Frage nicht zu berühren. Das, was da oben ge­schieht, geschieht mit absoluter Notwendigkeit. Was der Paris tut, tut er also, weil oben die drei Göttinnen ihre Sache getan haben. Sie sagen:

Wie ist da noch eine Freiheit bei Paris möglich? - Es ist fast ausgeschlos­sen! Aber der Strahl fällt herunter gewissermaßen auf die Erde, und da, auf der Erde, ist nicht einer, den er treffen kann, sondern da sind viele, die er treffen kann. Nehmen Sie an, da unten seien hundert. Neun­undneunzig tun die Sache nicht, der Hundertste tut sie! Hier spielt nämlich wiederum das Geheimnis der Zahl eine Rolle. Man verwech­selt immer den Umstand, daß Paris die Sache tut, damit, daß der Paris erst zum vollen Paris wird dadurch, daß er sich bereit findet, sich dahin-zustellen, wo der Impuls hat stattfinden können. Die Götter hätten eben einen andern gefunden, wenn es der Paris nicht getan hätte>. Dann würde man das von einem andern erzählen.

Auf dem Umwege durch die Zahl kommen Sie nämlich zur Lösung dieses Freiheitsrätsels. Und wenn sich in irgendeinem Zeitpunkte unter den hundert Untenstehenden keiner findet, dann warten die Götter, bis einer kommt; der vollzieht das, was die Götter ihm vorlegen. Er ist dadurch nicht im geringsten in seiner Freiheit beeinträchtigt, weil er die Sache ja auch unterlassen könnte. Denken Sie nur nach über diesen

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Teil des Problems der Zahl, dann werden Sie finden, daß göttlich-not­wendige weisheitsvolle Weltenlenkung in keinem Widerspruche steht mit der menschlichen Freiheit. Natürlich umfaßt das nicht das ganze Problem der Freiheit, aber wiederum einen Teil.

Sie sehen, daß diejenigen Heroen des Griechentums schon in der gesamten Entwickelung der Menschheit etwas bedeuten, die so hinein­gestellt werden, daß sie ausgesetzt werden>. Erinnern Sie sich: Sie wer­den in einem meiner Vorträge finden - ich weiß nicht, ob ich es öfters gesagt habe -, daß eine solche Sage des Ausgesetztwerdens sich auch an Judas anlehnt, daß auch von Judas erzählt wird, daß er in seiner Jugend ausgesetzt worden ist; von dem Judas Ischariot wird das erzählt. Dieses Ausgesetztwerden ist dasjenige, was in der Sprache des Mythus, in der Sprache der Sage das Hineingesteiltsein der rebellischen Mächte, die sich auflehnen gegen die Blutsbande der vierten nachatlantischen Zeit, an­betrifft.

Die Region, von der diese Dinge im vierten nachatlantischen Zeit­raum impulsiert sind, ist die Region, in der die Erzengeiwesen herr­schen. Daher müssen die Erzählungen so gehalten werden, daß schon immer der Mensch ferner steht den Einflüssen, die aus der geistigen Welt geschehen. Es wird immer erzählt, wie es entweder ein Orakel ist, das die Kunde aus der geistigen Welt bringt, oder wie es der unmittel­bare Einfluß ist der Götterwelt selber. Sie wissen, Helena ist eine Toch­ter der Leda mit dem Zeus, also da wirkt die geistige Welt herunter. In unserer Zeit, wo es zurückgebliebene finstere Engelwesen sind, wir­ken diese natürlich, ich möchte sagen, aus viel intimerem Umgang mit den Menschen heraus. Und ich habe schon gestern gesagt: Will man ver­schiedene Dinge, die sich an dieses Wirken der finsteren Mächte seit dem -letzten Drittel des 19. Jahrhunderts anknüpfen, auch nur andeutend besprechen, so tritt man auf sehr, sehr dünnes Eis. - Aber aus dem gan­zen Zusammenhange können Sie entnehmen, daß dasjenige, was gerade die richtige, normale Entwickelung für den vierten nachatlantischen Zeitraum war, das Struktursuchen durch die Blutsbande' daß das in der Zurückgebliebenheit für den fünften nachatlantischen Zeitraum einer der Impulse ist, mit denen die Menschen in diesem Zeitraum wer­den zu kämpfen haben. Dazu muß man allerdings hinzufügen, was ich

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auch schon gestern getan habe, daß etwas völlig Neues auftritt, während der vierte nachatlantische Zeitraum in seinem Ringen mit Geburt und Tod eine Wiederholung der atlantischen Zeit ist. Jetzt tritt etwas ganz Neues auf, welches unmittelbar aus der Maja' der Illusion heraus ge­schaffen wird. Aber diese Illusion, die müssen wir nun auch wiederum nur in der richtigen Weise verstehen. Maja war immer da, selbstver­ständlich. Denn alles Bewußtsein entsteht aus der Täuschung, wie ich in meinem Aufsatze, den Sie demnächst lesen werden im «Reich», in Anknüpfung an die Chymische Hochzeit des Christian Rosencreutz ausgeführt habe. Aber seit dem fünften nachatlantischen Zeitraum ist die Illusi ion, die Täuschung noch in einem ganz besonderen Maße vor­handen, weil sie immer mehr und mehr auftreten wird in der Form, daß die Menschen sich Illusionen hingeben werden. Und diese Illusionen waren immer da, waren aber verbunden mit andern Mächten, im drit­ten nachatlantischen Zeitraum mit den Kräften der Wahlverwandt­schaft, im vierten mit den Kräften von Geburt und Tod, im fünften werden die Kräfte der Illusion verbunden sein mit den Kräften des Bösen, die Illusion, die Maja selber wird von dem Bösen ergriffen wer­den. Und alles das wird durchsetzt sein von dem, was ich auch schon besprochen habe, von der Gescheitheit, von der Intelligenz.

Es klingt paradox, wenn man sagt: Es ist gut für die Menschen, daß sie das alles kennenlernen können, denn nur dadurch, daß der Mensch am Widerstande wachsen muß, kann er wirklich zur Freiheit kommen>. -Das kann man leicht einsehen. Aber eben dasjenige, was mit der Zahl Fünf zusammenhängt, hängt immer zusammen in dieser Weise mit der Entfaltung, mit der Entwickelung des Bösen. Und die Menschen wer­den sich an eines gewöhnen müssen, das Hereinbrechen der Kräfte des Bösen wie das Hereinbrechen von Naturgesetzen, von Naturkräften aufzufassen, um sie kennenzulernen und zu wissen, was auf dem Unter­grund der Dinge waltet und webt. Nicht das Böse betrachten von vorn­herein so, daß man nur in vollem Egoismus sich fluchtartig davon weg­bringen will; das kann man nicht. Man muß es mit dem Bewußtsein durchdringen, aber man muß es auf der andern Seite wirklich kennen­lernen, richtig kennenlernen. Vor allen Dingen in unserer Zeit schon breitet sich im Reiche der Menschen eine Kraft aus, die darauf hinausläuft,

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Illusionen zu erzeugen, die schädigend, störend sind. Ein kleines Beispiel für eine solche Illusion. Indem ich dieses Beispiel angebe wie­derum, will ich durchaus nicht nach der einen oder nach der andern Richtung auch nur im geringsten Partei ergreifen, sondern ich will nur ein Beispiel für das Hereinbrechen der Illusion, des Illusionären an­geben.

Nehmen Sie an, ein Politiker trete heute auf und wolle sich aus­sprechen nach seinem innersten Impulse über seine Stellung zu dem Weitrat, zu den verschiedenen Dingen, die man von da und dort geltend macht. Dieser Politiker würde veranlaßt werden, sich auszusprechen über dasjenige, was der Anteil - also mit den Völkern haben wir es dabei gar nicht zu tun - des britischen Staatswesens mit den entspre­chenden Hintermächten, von denen wir ja oft gesprochen haben, ist an den gegenwärtigen Ereignissen. Ein Politiker würde sich veranlaßt fühlen, sich einmal auszusprechen darüber und klarzumachen, wie er meint, daß ein richtiges Verhältnis zu den britischen Impulsen einzu­richten ist.

Wenn ein solcher Politiker nun das Folgende sagen würde: Es wäre eine unfreundliche Handlung gegen die Macht, die das Meer beherrscht, ihre Überlegenheit zu lähmen. - Was würden Sie sagen? Dieser Poli­tiker konstatiert: Es ist da eine Macht, die das Meer beherrscht; man muß Stellung nehmen. Es ist aber eine unfreundliche Handlung, diese Macht, da sie doch das Meer beherrscht, in ihrer Entfaltung zu lähmen. Also unterlasse man diese unfreundliche Handlung. - Was könnte man von einem solchen Politiker sagen? Ich glaube, das Geringste, was man sagen könnte, wäre, er vertritt eine Machtpolitik. Wo die Macht ist, da wendet man sich hin, nicht wahr. Das scheint doch zum mindesten aus seinen Worten hervorzugehen. Heute tut man das nicht>. Man stellt sich nicht hin in einem solchen Fall und sagt: Ich vertrete eine Machtpolitik, ich schließe mich derjenigen Macht an, welche eben die Macht hat -, sondern heute sagt man, wenn man dieses so definiert: Ich trete ein für Recht und Freiheit und Unabhängigkeit der Völker.

Diese zwei Dinge sagt man nebeneinander: Man trete ein für Recht und Freiheit der Völker - und man sagt daneben: Man soll nur ja sich anschließen und keine unfreundliche Handlung begehen gegenüber derjenigen

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Macht, die eben die Macht hat. - Sehen Sie, wie sich die Men­schen hineinverstricken in die Illusionen! Ich habe Ihnen das Beispiel des schwedischen Politikers ßranting vorgeführt, denn das ist der Mann, der so gesprochen hat, ein neutraler Politiker. So treibt man Neutra­litätspolitik natürlich. Darinnen liegt kein Vorwurf, darinnen liegt keine Parteinahme, sondern darinnen liegt nur eine Charakteristik, wie die Dinge heute gehen müssen. Man ist selbstverständlich enthu­siasmiert für Recht und Freiheit der Völker, aber man vertritt eine solche Politik. Aber man gesteht nicht, man vertritt diese Politik, weil man eben nicht anders kann - das wäre ja die Wahrheit -, sondern man sagt, man vertritt diese Politik aus den Impulsen des Rechts und der Freiheit der Völker heraus.

Mit solchen Dingen muß man sich heute schon befassen. Es genügt nicht, daß irgend jemand die Märchen, die durch die Welt gehen, auf sich wirken läßt, sondern die Dinge müssen heute ins Bewußtsein her­eingenommen werden. Sie müssen ins Bewußtsein aufgenommen wer­den. Nur dadurch ist es möglich, den Anschluß zu gewinnen an die Entwickelungsimpulse, wie wir sie dargestellt haben. Denn sehen Sie, kein Zeitalter eigentlich war so wenig über sich selbst aufgeklärt wie dieses jetzige, und kein Zeitalter hat so nötig Aufklärung über sich selbst wie dieses jetzige! Denken Sie doch nur einmal, dieses jetzige Zeit­alter war sehr stolz auf seine großen Fortschritte in allen möglichen menschlichen Gedanken. Man hatte es endlich dahin gebracht, aus der Naturwissenschaft heraus Impulse zu finden auch für die Sozialwissen­schaft. Ich habe Ihnen über die Sozialwissenschaft öfter gesprochen.

Gehen Sie aber hin und suchen Sie sich dasjenige, was heute von offiziellen Stätten oftmals noch gesagt wird über Erziehungsfragen, über soziale Fragen, über Rechtsfragen und so weiter. Versuchen Sie sich zu versetzen in die Gesinnung, mit der die Menschen glauben ihre unfehlbaren Wahrheiten vorzubringen, mit der sie alles, alles zu Boden treten wollen, was aus irgendeinem andern Winkel heraustönt. Ein Teil desjenigen, was die moderne Menschheit geglaubt hat, hat dazu geführt, daß durch die Impulse dieser modernen Menschheit, durch die Illusions­impulse auf der einen Seite - die Illusionsimpulse auf der einen Seite, will ich nur sagen -, durch die Nationalitätsimpulse auf der andern

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Seite, das eingetreten ist, was bereits nach zwei Jahren - jetzt sind es schon über drei Jahre - in Europa fünf Millionen Tote gebracht hat und drei bis dreieinhalb Millionen unheilbar Verwundete. Das war nach zwei Jahren, jetzt sind es weit über drei Jahre. Und das ist nur die Kon­sequenz desjenigen, was erst an falschen Gedanken gelebt hat, an Ge­danken, in denen sich verbindet die Illusion mit der zerstörenden Macht. Aus mancherlei anderem, was über Erziehung gesprochen wird, was über Rechtsfragen gesprochen wird, wird sich ein Ähnliches entwickeln, wenn es in der vom spirituellen Wesen unbeeinflußten Weise weiter-rollt. Alles kommt darauf an, daß dieser fünfte nachatlantische Zeit­raum notwendig hat ein Entfachen der spirituellen Kräfte im Mensch-heitsbewußtsein. Die Kritik der entgegengesetzten materialistischen Meinung ist nur ein Teil des Eifers' mit dem wir die spirituellen Impulse in uns wachrufen. Und das ist die Hauptsache. Denn dasjenige, was unter Menschen geschehen soll, muß durch Menschen unternommen werden. Haben wir uns reif gemacht, uns hinzustellen da, wo der Strahl herunterfällt, er wird schon kommen, dessen können Sie sicher sein! Aber dies Reifmachen kann nur auf dem Wege der Gemeinsamkeit ge­schehen. Das wird im fünften nachatlantischen Zeitraum nur in bezug auf die Idee die Sache der einzelnen Menschen sein. Auf das Verständnis, das die Gemeinschaften diesen Ideen entgegenbringen, darauf wird es ankommen.

Halten Sie an diesem Gedanken fest. meine lieben Freunde!

GEISTESWISSENSCHAFTLICHE AUSFÜHRUNGEN IN ANKNÜPFUNG AN DIE «KLASSISCHE WALPURGISNACHT» Dornach, 27.September 1918

#G273-1967-SE123 Das Faust-Problem

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GEISTESWISSENSCHAFTLICHE AUSFÜHRUNGEN

IN ANKNÜPFUNG AN DIE «KLASSISCHE WALPURGISNACHT»

Dornach, 27.September 1918

#TX

Eigentlich wollte ich heute nach der Aufführung einige Bemerkungen daran knüpfen, die in der Art einer künstlerischen Betrachtung sich hätten anschließen sollen an die aufgeführten Szenen des «Faust». Da aber die Aufführung wegen einiger Erkrankungen nicht stattfindet und der Vortrag daher für sich stehen kann, so werde ich die Sache etwas anders einrichten. Ich werde anknüpfen an die Szene, die dann am Sonntag, einhalb sieben Uhr, hier aufgeführt werden soll, aber ich werde - das bemerke ich ausdrücklich - nicht über die Szene vom künst lerischen Standpunkt aus sprechen, sondern ich werde von einem andern Gesichtspunkte aus über diese Szene sprechen, mehr in Anknüpfung an diese Szene, indem ich an das Vorliegen dieser Szene als Goethesche Leistung einige geisteswissenschaftliche Ausführungen anknüpfe' die sich wiederum in einer gewissen Beziehung anschließen an das schon in diesem Herbst hier Gesagte. Gerade um Mißverständnisse nach dieser Richtung zu vermeiden, bitte ich, das ausdrücklich ins Auge zu fassen, daß ich nicht vom künstlerischen Standpunkt aus sprechen, sondern an diese Szene geisteswissenschaftliche Bemerkungen anknüpfen werde.

Wer diese Szene, um die es sich dann handeln wird, an seiner Seele vorüberziehen läßt, hat Gelegenheit, recht tief in Goethes Seele hinein-zuschauen, insofern als diese Szene und auch die nächstfolgende, die dann zur Helena-Phantasmagorie hinüberführt, ganz besonders zeigen, wie Goethe fühlte und ahnte - wenn er das auch noch nicht in aus­gesprochenen Ideen hatte - geisteswissenschaftliche Wahrheiten. Ein Dichter, der nicht mit seinem Erkennen in geisteswissenschaftliche Wahr­heiten hineinragt, hätte diese Szenen ganz gewiß so nicht gemacht. Es würde zu weit führen, wollte ich auch nur einleitend - was ein anderes Mal geschehen kann - darüber sprechen, auf welchem Wege Goethe zu seinen geisteswissenschaftlichen Einsichten gekommen ist. Ich will ein­fach dasjenige an die Szene anknüpfen, was Ihnen ersichtlich machen

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kann, wie Goethe gewisse Dinge der geistigen Welt ansehen mußte, um die Szene so zu gestalten, wie sie ist. Das, was ich vor einigen Tagen hier ausgeführt habe über die Entwickelung des Menschen als zeitlich-leib­liches Wesen, kannte Goethe in ausgesprochenen Ideen allerdings nicht. Man kann nicht sagen, daß sich irgendwie in Goethes Entwickelungs-gang nachweisen ließe ein ausgesprochenes Wissen davon, daß der Mensch in seiner Lebensmitte erst aus seinem Leibesorganismus heraus die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis erhält. Wir wissen das aus den Be­trachtungen, die wir in diesen Wochen hier angestellt haben, daß in einer gewissen Weise der Mensch erst etwa mit dem Ende der Zwanziger-jahre fähig wird, durch die Kräfte, die er aus seiner eigenen Leibes-Organisation heraus entwickelt, Selbsterkenntnis zu erringen. Man muß, wenn man über diese Dinge sich sachgemäß unterrichten will, ins Auge fassen, daß der Mensch wirklich ein kompliziertes Wesen ist. Man ver­steht ihn nur, wenn man zunächst sich klarmacht, inwiefern er - wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, der heute vielfach von der Wissen­schaft angefochten wird - ein Geschöpf ist, und daß dieses Geschöpf zurückweist auf seine Schöpfer, auf seine geistigen Schöpfer.

Nun kann man - ich möchte sagen gewissermaßen geistig-chemisch, wenn ich den pedantischen Ausdruck gebrauchen darf - herausheben aus dem Menschen dasjenige, was dieser Mensch rein dadurch ist, daß er in einer gewissen Abhängigkeit von seinen ihm ureigenen geistigen Schöpfern ist, von denjenigen Wesen unter den Hierarchien der Welten-ordnung, deren besondere Mission im Weltenall gipfelt in der Schöp­fung des Menschen, von denjenigen Wesen, mit denen sich daher der Mensch als Mensch ganz besonders verwandt fühlen muß. Wenn man den Menschen so loslöst, kann man schematisch die Sache so darstellen. Denken wir, in irgendeinem Punkte seiner Entwickelung würde der Mensch durch diesen Kreis hier dargestellt werden. Verfolgt man dann die menschliche Wesenheit, die ich durch diesen Kreis darstellen will, rücklaufend in ihrem Hervorgehen aus ihren geistigen Schöpfern, so würde das diese Strömung darstellen, die ich hier also - orange - an­deuten will. Wenn man zurückgehen, prüfen würde, wie der Mensch durch die Monden-, Sonnen-, Saturnzeit und später durch die Erdenzeit sich entwickelt, würde man die Eigenheiten der einzelnen Wesenheiten

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der höheren Hierarchien finden, so wie sie Ihnen aus meiner «Geheim-wissenschaft im Umriß» bekannt sind. Man würde finden das Zusam­menwirken, die Wechselbeziehungen dieser Hierarchien, und man würde, wenn man durchschaute den Zusammenhang des Menschen mit den Hierarchien, zu einer Anschauung darüber kommen, wie derMensch gewissermaßen das Ziel der Götterschöpfung ist in der Art, wie ich das in dem zweiten Mysteriendrama in einem Gespräche, das Capesius gleich in der ersten Szene zu führen hat mit dem Hierophanten, zur Darstellung gebracht habe. Ich habe dort auch auf die bedenkliche Seite einer solchen Erkenntnis für den unreifen Menschen hingewiesen.

Aber gerade, wenn man sich nun frägt: Was würde der Mensch im Laufe seiner physischen Lebensentwickelung zwischen Geburt und Tod, wenn er nur dem Einflusse dieser seiner Schöpfer unterworfen wäre, was würde er dann? Er würde dann jenes Wesen für die physische Welt, das gewissermaßen erst für die Selbsterkenntnis am Ende der Zwan­zigerjahre reif wird. Denn diese schöpferischen Wesenheiten haben sich die Aufgabe gestellt, den Menschen so zu gestalten, daß er innerhalb

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seiner irdischen Entwickelung das erlangt, was er erlangt auf der Grundlage seiner Leibesorganisation, derjenigen Organisation, die selbst aus dem Irdischen genommen ist, die also verwandt ist mit den irdischen Stoffen, verwandt ist mit dem Wechselspiel der irdischen Kräfte. Ich möchte sagen: Von ihren Intentionen aus geben diese gött­lichen Wesenheiten dem Menschen Gelegenheit, sich gesund allseitig vor­zubereiten durch seine Leibesorganisation bis zu dem Ende der Zwan­zigerjahre zur Selbsterkenntnis und zur Welterkenntnis, welche von der Selbsterkenntnis ausgeht. - Und dann würden sie ihm Gelegenheit geben in der zweiten Lebenshälfte, diese Selbsterkenntnis in einem ganz an­dern Maße zu treiben, als der Mensch sie jetzt als Erdenmensch, so wie er ist, betreiben kann. Der Mensch würde, wenn er wirklich erst auf­wachte, wie es in den Intentionen der zu ihm gehörigen Geister der Hierarchien lag, dann zwar spät, mit dem Ende der Zwanzigerjahre, zur Selbsterkenntnis und der damit verbundenen Welterkenntnis auf­wachen, aber er würde diese Selbsterkenntnis und damit verbundene Welterkenntnis in einem hohen Glanze erlangen. Er würde wirklich sich innerlichst Aufschluß geben können über die Frage: Was bin ich als Mensch? - was er in der Gegenwart unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht kann. Er würde diese Selbsterkenntnis auch als Anschauung haben, würde sie nicht durch abstrakte Begriffe erwerben müssen. Beides ist nicht vorhanden. In der ersten Hälfte des Lebens ist nicht jener herab-geminderte Bewußtseinszustand vorhanden, welcher, ich möchte sagen, nicht durch ein Schlafleben, aber durch ein Dämmerleben, in dem der Mensch dann von höherer Intelligenz, nicht von seiner eigenen, durch-strahlt wäre, in ganz anderer Weise seine leibliche Organisation aus­bilden würde, um dann zur Selbsterkenntnis zu erwachen. Weder ist dieser Dämmerzustand vorhanden, sondern es tritt verhältnismäßig früh für den Menschen eine gewisse, wenn auch nicht durchaus jene glanzvolle Selbsterkenntnis auf, welche in den Intentionen seiner Schöp­fer liegt, noch tritt dann wiederum nach der Lebensmitte jene Selbst­erkenntnis auf, welche auftreten könnte wiederum nach den Intentionen dieser Schöpfer. Und wenn wir fragen: Was ist eigentlich schuld daran, daß dies nicht so ist? - dann kommen wir zu den andern Strömungen, welche Einfluß haben auf den Menschen. Wir kommen dann zu jener

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Strömung, die nicht eigentlich in seinem Wesen liegt, sondern die sich gewissermaßen zeitlich mit ihm vereinigt hat, wir kommen zu der luzi­ferischen Strömung - gelb-, zu jener Strömung, die ihm möglich machte, daß er in der ersten Lebenshälfte schon eine gewisse, wenn auch nicht die geschilderte glanzvolle Selbsterkenntnis hat.

Und eine andere Strömung - blau - vereinigt sich mit ihm zeitlich, wie Sie wissen, etwas später. Es ist die ahrimanische Strömung, diejenige Strömung, welche verhindert, daß der Mensch, so wie er jetzt ist als Erdenmensch, in der zweiten Lebenshälfte zur glanzvollen Selbst­erkenntnis kommt, welche ihm von seinen Schöpfern zugedacht ist. Das Bewußtsein des Menschen ist gewissermaßen nach den Intentionen sei­ner Schöpfer für einen viel helleren Zustand veranlagt als den, in den es eintritt in der zweiten Lebenshälfte. Es wird herabgedämmert durch die ahrimanische Strömung. Natürlich dürfen wir nicht glauben, daß die luziferische Strömung nur in der ersten Lebenshälfte und die ahri-manische Strömung nur in der zweiten Lebenshälfte vorhanden wären; sie dauern durch das ganze Leben hindurch. Aber, ich möchte sagen, zu tun machen sich diese Strömungen in den angegebenen Zeiten des menschlichen Lebens mit dem, was ich angedeutet habe. In andern Zei­ten haben sie mit etwas anderem zu tun. Darauf kommt sehr viel an, daß man in diesen Dingen nicht etwa falsche Schlüsse zieht aus dem, was gesagt wird>. Also es darf niemals etwa jemand sagen, es wäre hier ausgesprochen worden, der Mensch sei in der ersten Lebenshälfte luzi­ferisch, in der zweiten Lebenshälfte ahrimanisch; das wäre total falsch. Solche Mißverständnisse entstanden oft, und es ist sehr wichtig, daß man sich solchen Mißverständnissen nicht hingibt. Deshalb betone ich immer wieder und wiederum, in der Geisteswissenschaft wird ange­strebt, genau zu sprechen. Und in der Geisteswissenschaft wird viel gesündigt dadurch, daß das genau Gesprochene in einer beliebig ab­geänderten Form, nachlässig abgeänderten Form dann in die Welt hin­ausgetragen wird.

So steht der Mensch in einer, man möchte sagen, dreigliedrigen Strö­mung darinnen, wovon nur die eine diejenige ist, zu der er eigentlich gehört. Die andern beiden Strömungen liegen nicht ursprünglich in der menschlichen Entwickelung, sondern sie vereinigen sich, wenn wir so

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sagen dürfen, zeitlich mit ihr. Wir können sogar den Zeitpunkt angeben, und Sie finden ihn in meiner «Geheimwissenschaft» verzeichnet: die luziferische Strömung in der sogenannten lemurischen Zeit, die ahrima-nische Strömung in der sogenannten atlantischen Zeit.

Nun kann man nicht sagen, daß Goethe ganz ausgesprochen irgend etwas gewußt hat von jener eigentümlichen Entwickelungsphase des Menschen, die in der Lebensmitte für diesen Menschen eintritt. Aber er hat gefühlt, geahnt und sehr deutlich geahnt, daß der Mensch durch Impulse, die in der Weltenordnung liegen, in seiner zweiten Lebens-hälfte im Grunde doch ein anderes Wesen ist als in der ersten Lebens­hälfte. Und wenn man mit einem Blick ins Seelenleben, der tiefer blicken kann, als die heutige Oberflächlichkeit oftmals will, Goethes ganze Sehnsucht ansieht, aus der südlichen Kultur, aus Italiens Kultur für sein eigenes Leben etwas ganz Besonderes zu gewinnen, wenn man dann verfolgt, was für einen Einfluß er über diesen Gewinn durch seine italienische Reise für sein Erkennen, für sein Künstlertum bei sich selbst verzeichnet, dann bekommt man auch eine Empfindung davon, wie Goethe das Hinübergehen in die zweite Lebenshälfte für sich fruchtbar machen wollte durch einen tiefgehenden, intensiven Einfluß, von dem er glaubte, daß er ihn nicht finden könne, wenn er in seinen alten Ver­hältnissen bleibe. Goethe war sich also bewußt, daß in den Vierziger-jahren etwas eintritt für die menschliche Seele, was in ganz anderer Weise Aufschluß geben muß über das Wesen des Menschen, als in der ersten Lebenshälfte durch eigene menschliche Kräfte ein solcher Auf­schluß zu gewinnen ist. Und diese ahnende, aber sehr deutlich ahnende Erkenntnis ist eingeflossen in die Schöpfung des zweiten Teiles des Goetheschen «Faust». Für Goethe war es immer eine ganz besondere Schwierigkeit, sich der Frage zu nähern: Wie gewinnt man Selbst­erkenntnis? - Das Ringen nach Selbsterkenntnis ist zu bemerken in der allerinteressantesten, in der allerbedeutsamsten Weise, wenn man Goe­thes Entwickelung im rechten Lichte verfolgt. Und nach und nach - nicht schon, als er die Jugendpartien des «Faust» schrieb -, sondern nach und nach nahm die Schöpfung seiner Faust-Gestalt und der ganzen Faust-Dichtung ein solches Gepräge an, daß das Ringen nach menschlicher Selbsterkenntnis in dem Faust sich besonders ausdrücken sollte.

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Im Zusammenhange damit hat Goethe ersonnen die Figur des Ho­munkulus. Wie gesagt, ich spreche heute nicht vom künstlerischen Stand­punkte, sondern ich knüpfe geisteswissenschaftliche Bemerkungen an Goethes «Faust» an. Also die Figur des Homunkulus hat Goethe er­sonnen im Zusammenhange mit dem Streben, in Faust den nach Selbst­erkenntnis ringenden Menschen darzustellen. Was wurde unter dem Einflusse dieses Sinnens nach der Selbsterkenntnis des Faust die Homun­kulus-Gestalt? Sie wurde dasjenige, was repräsentiert die Menschen-erkenntnis durch den Menschen. Was kann man wissen über den Men­schen, wenn man das Wissen zusammennimmt, das man über die Stoffe, über die Kräfte der Erde hat? Wie kann man sich denken, daß dasjenige, was uns sonst in den Reichen der Natur umgibt an Ingredienzien des Erdendaseins, sich zusammengestaltet und den Menschen bildet? Wie kann man sich das vorstellen? Das wurde für Goethe eine brennende Frage.

Bedenken Sie nur: als Schiller seine Freundschaft mit Goethe schloß, da schrieb er einen bedeutungsvollen Brief an Goethe. Ich habe diesen Brief oftmals zitiert, weil er sowohl charakteristisch ist für Goethes und Schillers Freundschaft wie auch für Goethes ganzen Seelencharakter. Da schreibt Schiller: Ich habe lange, obzwar aus ziemlicher Ferne, dasWesen und den Gang Ihres Geisteslebens angesehen, mit immer erhöhter Be­wunderung betrachtet, und ich habe gesehen, daß Sie sich bemühen, alles dasjenige, was die Natur sonst darbietet, gewissermaßen zusam­menzufassen und aus der Totalität des ganzen Naturwirkens im Geiste sich zuletzt den Menschen zusammenzusetzen. Ein heldenmäßiges Unter­nehmen - schreibt Schiller -, vor dem jeder andere Intellekt scheitern müßte>. Wären Sie als ein Grieche geboren oder nur als ein Italiener

- meint Schiller -, so wäre schon von Ihrer frühesten Jugend ab die imaginative Kraft in Ihnen gelegen, aus den einzelnen Ingredienzien der Natur sich den Menschen zusammengestellt zu denken. Da Sie aber in dieser nordischen Natur geboren sind, waren Sie genötigt, in Ihrer Seele geistig ein Griechenland zu gebären und durch die Imagination dasjenige zu ersetzen, was nicht in Ihrer Natur lag.

Also Schiller schreibt Goethe zu dieses Streben nach Menschenerkennt­nis durch Zusammenfügung aller Einzelheiten, welche man aus der Erkenntnis der Reiche der Natur gewinnen kann. Und vor Goethe

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stand in der Tat als Ideal des Erkennens ein solches Erkennen des Men­schen. Was kann man vom Menschen wissen? Da kamen ihm doch in gewissen Stunden die Gedanken, daß es im Grunde mit irdischem Wissen wenig ist, was man als Menschenerkenntnis erwirbt, daß kein Mensch wird in dieser Menschenerkenntnis, daß nur ein Menschlein wird, ein Homunkulus. Und oftmals stand vor Goethe der brennend-quälende Gedanke: Nun sind wir in der Welt als Menschen, fühlen, denken, wollen als Menschen, aber wir wissen eigentlich nur etwas, nicht von dem Homo, sondern von dem Homunkulus. Das, was wir uns an Ideen bilden über den Menschen, das ist wirklich im Verhältnis zu dem, was der Mensch in Wahrheit ist, wie ein kleines Menschlein in einer gläsernen Phiole.

Und zu dieser brennend-quälenden Frage gesellte sich für Goethe die andere: Wie kann das, was in der Erkenntnis so gar nicht entspricht dem Natur-, dem kosmischen Dasein, auferweckt, belebt werden, so daß es in der Erkenntnis wenigstens annähernd auch das werde, was der Mensch in Wirklichkeit ist, und wovon er so wenig weiß, daß er eigentlich nicht von einem Homo, sondern nur von einem Homunkulus weiß. Deshalb läßt er durch Wagner nun dieses Menschlein, diesen Homunkulus, erzeugen. Und er unternimmt es dann, in der weiteren Entwickelung seiner Dichtung solches aufzuzeigen, was der Mensch er­leben kann, damit sich seine Menschenkenntnis erweitert, damit aus dem Homunkulus wenigstens annähernd ein Homo wird.

Nun war es ein Goethescher, ich will sagen, Glaube, daß die Vor­stellungen, die man nur in der - also in der Goetheschen - Gegenwart gewinnen kann, die man aus der nordischen Welt heraus gewinnen kann, nicht eigentlich biegsam und schmiegsam genug sind, um das Homunkuluswissen über den Menschen zu erweitern>. Es war Goethes Glaube, daß man besser fährt, wenn man versucht, dasjenige, was dem Menschen doch möglich ist in seinem Seelenleben an Erkenntnis über den Menschen zu erwerben, in solche Vorstellungen zu kleiden, wie sie eine der Natur noch näherstehende Zeit, wie sie die griechische Zeit hatte. Es war Goethes unablässiger Glaube, daß man einen bedeut­samen, tiefen, erfrischenden Eindruck bekommt, an Wahrheitswert ge­winnt für seine Vorstellungen, wenn man in die Art und Formung des

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griechischen Gedankenlebens sich einfügt. Diese Empfindung liegt dem zugrunde, daß er Faust der griechischen Welt entgegenführt, daß er Faust nach Griechenland führen will, um dort als Mensch menschlich zu leben und Kultur zu erwerben. Würde man Goethe - ich will das etwas radikal ausdrücken - aufs Gewissen gefragt haben: Was halten Sie eigentlich von dem, was die Menschen Ihrer Umgebung über die Griechen gedacht und empfunden haben oder denken und empfinden? -so würde er wahrscheinlich geantwortet haben: Ach, das halte ich doch alles für törichtes Zeug. Da reden die Menschen über das griechische Leben, aber sie haben gar keine Vorstellungen, um dieses griechische Leben zu erfassen. Was so unsere Pedanten - so würde Goethe ungefähr geantwortet haben - über die griechische Helena schreiben, denken und drucken lassen: philiströses Zeug! Denn sie lernen doch nicht kennen diese Helena und auch keinen andern Griechen und keine andere Grie­chin, so wie die Griechen waren. - Aber das war gerade Goethes Streben, Griechenland wirklich in der Seele näherzukommen>. Daher sollte auch sein Faust in der Dichtung Griechenland näherkommen, menschlich unter griechischen Menschen leben. Die Helena bot nur den Anknüp­fungspunkt dazu eben als eine Griechin, als die schönste Griechin, als eine hervorstechende Griechin, um die sich soviel Zank und Streit erhoben hat und so weiter. Erhöhung und Erweiterung, Verstärkung von Menschenerkenntnis und Menschenanschauung, das ist dasjenige, was sich in Faust ausbilden soll.

Nun müssen wir ins Auge fassen, daß Goethe, indem er sich eine solche Frage mehr oder weniger deutlich ahnend vorlegte - aber in diesem ahnenden Erkennen wurde sie für ihn brennend, quälend -, sich bewußt war, daß der abstrakte, der philosophische, der naturwissen­schaftliche Erkenntnisweg, welchen manche für den einzig richtigen halten, doch nur eine Erkenntnisströmung ist, und er ahnte, daß es viele Erkenntnisströmungen gibt. Und wer glaubt, daß Goethe ein rationa­listischer Philister war, wie im Grunde genommen alle Vertreter moder­ner Wissenschaft sein müssen - sonst würde Wissenschaft nicht im moder­nen Sinne echte Wissenschaft sein, denn sie ist im modernen Sinne selbst pedantisch, philiströs und rationalistisch -, wer glaubt, daß Goethe solch ein pedantischer rationalistischer Philister war, versteht nichts von

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Goethe. Der versteht tatsächlich nichts von Goethe, welcher glaubt, daß Goethe nur einen einzigen Augenblick angenommen habe, man könne durch gewöhnliches wissenschaftliches Nachdenken sich über die Men­schennatur in ihrer Fülle und in ihrer Totalität irgendwie unterrichten. Goethe hat gut gewußt, daß die menschliche Seele nicht bloß auf dem Wege des Denkens oder auch auf dem Wege derjenigen Betätigung, die auf dem physischen Plane liegt, die Wahrheit finden kann, sondern daß die menschliche Seele auf verschiedenen Wegen sich hineinfinden muß in die Wirklichkeit und in die Wahrheit. Goethe hat gut gekannt jene An­näherung an die Wahrheit, welche erfolgt gewissermaßen eine Schichte tiefer, als das gewöhnliche tagwache Bewußtseinsleben verläuft. Dieses tagwache Bewußtseinsleben, in dem sich unsere gescheiten Vorstellungen tummeln, das von allen Pedanten so hoch geschätzt wird, liegt im Grunde genommen recht weit ab von alldem, was in der Welt webt und west als Grundlage für das Dasein. Der Mensch nähert sich in einer gewissen Beziehung schon mehr dem, was webt und west unter der Oberfläche dieses Daseins, wenn er - man muß das nur nicht mißver-stehen - aus seinem Unterbewußtsein, wenn auch noch so chaotisch, wenn auch noch so sporadisch, sinnvolle Träume heraufkommen fühlt und schaut. Ich habe es öfter ausgeführt im vorigen Jahre: auf den Inhalt der Träume kommt es wenig an, aber auf die innere Dramatik der Träume, auf den Zusammenhang des Traumlebens mit der tiefe­ren menschlichen Wirklichkeit kommt es an. Ein Philosoph, Johannes Volkelt, hat in den siebziger Jahren in einem Büchelchen. «Die Traum-phantasie» nur leise gewagt, daran zu rühren, daß der Mensch in seinen Träumen sich dem Welträtsel nähert. Oh, wenn er nicht später diesen furchtbaren Professorenfehler verbessert hätte durch gut pedantische erkenntnistheoretische Werke, wäre er sicher nicht der Professor Johan­nes Volkelt geworden, der in Basel, Würzburg, Jena und Leipzig Philo­sophie lehren durfte! Denn das ist eine große Sünde wider die moderne Wissenschaft, auf so etwas hinzuweisen, daß der Mensch untertaucht in eine wirkliche, wesenhafte Weltenströmung, wenn er im Schlafesleben ist, und daß dann aus diesem Erleben Dinge herauftauchen, die sich allerdings nur bildhaft, chaotisch zeigen, so daß man sie nicht in ihrer unmittelbaren Gestalt hinnehmen darf, die aber doch verraten, daß

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der Mensch im Schlafesweben in einer Sphäre ist, in der er dem voll inhaltlichen Weben und Wesen, aus dem das Sichtbare, das Sinnlich-Sichtbare auch herauswächst, näher ist, als er es ist vom Aufwachen bis zum Einschlafen.

Wenn man in diese Sphäre untertaucht, die der heutige Mensch nur dadurch kennenlernt, daß er Träume hat, die, wenn auch schlechte, aber doch eben Interpreten sind, wenn der Mensch untertaucht in diese Welt, deren Interpreten die Träume sind, dann steht er in der ganzen Welten-ordnung in einer andern Weise darinnen, als er darinnensteht, wenn er im gewöhnlichen tagwachen Bewußtsein ist. Natürlich kann man aus dem bloßen Traumleben nicht merken, wie der Unterschied ist zwischen dem Leben im tagwachen Bewußtsein und dem Leben, das man durch­läuft, wenn man da unten ist in dem Gebiete, aus dem die Träume herauf weben und wesen. Aber Geisteswissenschaft kann uns hinunter-führen in dieses Gebiet. In diesem Gebiete, da hört selbst die mensch­liche Sprache auf, ihre rechte Bedeutung zu haben. Deshalb ist die Verständigung so schwierig. Da unten in diesem Gebiete beziehen sich die Worte, die wir hier für die sinnenfällige Welt gebildet haben, nicht mehr in der richtigen Weise auf das, was dort vorgeht. Man kann nicht recht ausdrücken durch Worte, wie sie heute gebraucht wer­den von dem tagwachen Bewußtsein, das, was sich da unten abspielt. Nehmen Sie nur einmal die gewöhnlichen Elemente, so wie sie früher genannt wurden; heute nennt man das Aggregatzustände und bezeich­net sie etwas anders, aber wir können uns verstehen, wenn wir die alten Ausdrücke gebrauchen. Man sagte: Erde, Wasser, Luft, Feuer oder Wärme. Wir kennen diese Dinge aus der «Geheimwissenschaft». Wir können dasjenige, was fest ist, festen Aggregatzustand hat, das Erdartige nennen; dasjenige, was den flüssigen Aggregatzustand hat, das Wasser nennen; dasjenige, was den Aggregatzustand so hat, daß, wenn es nicht eingeschlossen ist, es sich stark ausdehnt, Luft nennen, und dasjenige, was diese drei Substanzen durchdringt, Wärme oder Feuer. Ja, das können wir, wenn wir hier vom Gesichtspunkte des tag-wachen Bewußtseins aus über unsere Umgebung sprechen, weil die Dinge da sind, wenn ich mich so ausdrücken darf, die mit diesenWorten:

Erde, Wasser Luft, Feuer bezeichnet werden. Aber tauchen wir unter

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in diejenige Welt, aus der die Träume heraufwirken, dann gibt es da nicht Erde, Wasser, Luft, Feuer. Das gibt es da nicht; da hat es keinen Sinn mehr, diese Worte in derselben Weise anzuwenden, wie hier für die Welt, in der wir mit unserem tagwachen Bewußtsein sind. Daraus sehen Sie schon die Relativität dieser Dinge, sobald man in ein anderes Gebiet des Daseins eintritt, das durch ein anderes Bewußtsein aufgefaßt werden muß. Da sind diese Dinge gar nicht mehr vorhanden, die das gewöhnliche materialistische Bewußtsein für absolute Dinge hält. Erde ist da nicht Erde. Überhaupt hat es keinen Sinn, davon zu reden, wenn man in die Welt untertaucht, die nun auch eine Wirklichkeit ist, aber die mit einem andern Bewußtsein aufgefaßt werden muß. Wohl aber ist da unten etwas, wovon man sagen kann, es ist ein Mittelding zwi­schen Luft und Wasser. Man erlebt es in diesem andern Bewußtsein durch ganz andere Gedankenformen, als man sonst erlebt. Luft ist nicht Luft, und Wasser ist nicht Wasser, aber ein gewisses Mittelding von Luft und Wasser, man möchte sagen eine Art wässeriger Rauch, wie es noch die alte hebräische Sprache «Ruach» nannte. Aber es ist damit nicht der jetzige physische Rauch, es ist schon dieses Mittelding zwischen Wasser und Luft gemeint.

Und ein anderes Mittelding ist da zwischen Erde und Feuer, das, möchte ich sagen, was Sie sich so vorstellen müßten, daß unsere Metalle allmählich glühend und so feurig würden, daß sie eigentlich schon nichts mehr sind als Feuer, daß sie durch und durch Feuer sind. Und dieses Mittelding zwischen Erde und Feuer und zwischen Luft und Wasser, das ist da unten, das ist unten in einer Welt, aus der die Träume herauf-wirbeln. Wir könnten, wie Sie es leicht begreiflich finden werden, in dieser Welt mit unserem physischen Leib nicht sein. Wir müssen mit unserer Seele vom Einschlafen bis zum Aufwachen hineingehen, denn mit unserem physischen Leib könnten wir in dieser Welt nicht atmen, denn darinnen gibt es keine Luft. Ich habe ein Wesen geschildert, das in dieser Welt atmen kann, aber das ist ein Wesen - Sie kennen es aus mei­nen Mysterien-, das nicht Luft zum Einatmen braucht, sondern das Licht atmet. Also solche Wesen kann man, wenn man sie kennt, wohl schil­dern. Aber der Mensch darf seinen physischen Leib nicht in diese Welt hineintragen, denn er könnte nicht atmen und würde verbrennen darinnen.

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Dennoch ist der Mensch vom Einschlafen bis zum Aufwachen mit dieser Welt verbunden, und dieTräume sprudeln aus dieser Welt herauf.

Diese Welt, die da der Mensch antrifft, von der man sagen kann, sie liegt unter der Schwelle seines Bewußtseins, ist zwar recht unähnlich derjenigen Welt, die wir heute sehen vom Aufwachen bis zum Ein­schlafen, aber sie ist nicht so unähnlich den früheren Welten, aus denen sich die jetzige herausentwickelt hat. Frühere Welten, schon die Sonnen-welt - Sie können das entnehmen aus meiner Darstellung in der «Ge­heimwissenschaft» - ist auch als physische Welt so gestaltet, daß in ihr, wenn ich sagen darf, Feuererde, Erdfeuer und Wasserluft miteinander brodeln, nicht dasjenige, was heute so hübsch getrennt ist. So daß wir also, wenn wir historisch, kosmisch-historisch die Weltenentwickelung auffassen, das schon so tun müssen, daß wir uns vorstellen: Gehen wir zu früheren Entwickelungszuständen unseres Daseins zurück, dann müssen wir uns diese früheren Entwickelungszustände ähnlich dem vor­stellen, was wir erreichen heute, wenn wir in die Welt untertauchen, zu der wir gehören zwischen dem Einschlafen und Aufwachen.

Aber an diese Welten, die heute nur schlafend erlebt werden, früher so physisch da waren, wie jetzt unsere Welt physisch da ist, kann man nicht herankommen, ohne daß man das, was in unserer heutigen Welt nicht mehr sichtbar ist, als sichtbar, als offenbar sich denkt. Sie können sich nicht vorstellen die Wasserluft in derselben Weise, wie Sie sich vor­stellen müssen heute nebeneinander Wasser und Luft. Heute stellen Sie sich nebeneinander Wasser und Luft vor. Das ist entstanden dadurch, daß sich differenziert hat die Wasserluft, die früher substantiell einheit­lich war. Die Wasserluft hat sich in diese zwei polarischen Gegensätze Wasser und Luft auseinandergelegt. Sie war früher eine Einheit, die Wasserluft, dafür aber war sie mit einem andern Pol durchsetzt. Heute ist der Mensch gewissermaßen heruntergestiegen und hat den andern Pol, den die Wasserluft hatte, ganz verloren. Dafür ist die Wasserluft selbst in die zwei Pole Wasser und Luft auseinandergetreten. Will man eine Vorstellung gewinnen über dasjenige, was der andere Pol zur Wasserluft war, so muß man sich gewisses Wesenhaftes vorstellen, das man auch in der Welt erlebt, in welcher der Mensch ist zwischen dem Einschlafen und Aufwachen, aus der die Träume heraufspielen. Man

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muß sich aber auch, wenn man zum alten Sonnendasein zurückgeht, vor­stellen, daß die Wasserluft neben sich etwas hatte, was geistig wesenhaft war, was von der Wesenheit der Elementargeister war>. Und die Ele-mentargeister, die zu der Wasserluft gehören, haben sich in der Mythe noch erhalten, wie sich in der Mythe, der Mythologie Anklänge an alte Wahrheiten noch erhalten haben. Und zu den Wesenheiten, die zu der Wasserluft gehören, gehört dasjenige, was die griechische Mythologie oder überhaupt die alte Mythologie Sirenen genannt hat. So daß man von der Welt, auf die wir jetzt hinweisen, ebenso spricht, wenn man sagt: Es sind in ihr Wasserluft und Sirenen. - Wie man von unserer Welt äußerlich sachgemäß spricht, wenn man sagt: Es ist Wasser und Luft. -Es ist Wasserluft und sind Sirenen. Die Sirenen gehören also zu den­jenigen Elementarwesen, welche der andere Pol der Wasserluft sind. Das andere, wofür wir heute Erde haben, das ganz herabgerückt ist unter das Wasser, und droben Feuer oder Wärme, das war wiederum eines: das war Erdfeuer oder Feuererde. Wiederum gehört zu denjenigen Wesenheiten, welche sich so wie die heutige Wärme und das heutige Feuer zu der Erde polarisch entgegengesetzt verhalten, unter andern Elementargeistern derjenige, den Goethe mit den Griechen Seismos nennt. Indem Goethe auftreten läßt in der Szene, um die es sich da han­delt, die Sirenen, deutet er zu gleicher Zeit, ich möchte sagen recht hand­greiflich darauf, wie sie mit dem Wasser zusammenhängen, aber nicht eigentlich mit dem Wasser von heute, denn das ist schon dichter gewor­den, das ist nur ein Pol der alten Wasserluft. Die Sirenen fühlen sich auch nur geistig zum Wasser gehörig, sie sind, wenn man cias Wasser so denkt wie die alte Wasserluft, dasjenige, was zu diesem Wasser gehört wie die Luft zum heutigen Wasser. Und wie die Luft im Winde ihre Klänge entwickelt in chaotischer Weise, so entwickelt das geistige Ele­ment in den Sirenen dasjenige, was zum Wasser gehört, respektive der Wasserluft, das geistige Element, das mit dieser Wasserluft so zusam­menhängt wie die Luft mit unserem Wasser. Und die Tätigkeit des Seismos, als kosmische Kraft gedacht, ist dasjenige, was als Feuer wirt­schaftet im Haushalte der Natur. Darauf deutet die griechische Mythe, darauf deutet Goethe. Und so wie Goethe die Sache darstellt, fühlt jeder, der mit der Wirklichkeit bekannt ist, daß Goethe ein ahnendes

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Erkennen von diesen Dingen hatte. Er wußte, so verhält es sich mit der Welt, die wir betreten vom Einschlafen bis zum Aufwachen, und die wir wiederfinden, wenn wir erkennend den Blick zurückwenden in Ur-sprungszustände unseres jetzigen Daseins.

Aber bedenken Sie, welche Angst Sie kriegten, wenn Sie plötzlich bewußt versetzt würden, nicht so, wie es in den bloßen Träumen ge­schieht, sondern wenn Sie plötzlich bewußt versetzt würden in ein Ele­ment, eine Sphäre, wo Sie keine feste Erde unter sich haben. Denn die hört auf. Das ist alles feurig, was Erde sein da können Sie be­liebig selbst schmelzen und kalt und warm werden im Elemente des Feuers. Und in der Wasserluft, wo Sie nicht atmen können, sondern wo Sie nur abwechselnd Licht- und Finsterniszustände erleben - denken Sie, welche Angst Sie zunächst kriegen müßten über dieses Unsichere, in das Sie da untertauchen, in dieses Wogende und Wirbelnde! Was ist denn in den Menschen gefahren in derjenigen Epoche der Weltenord­nung, wo er sich, wie es ja einmal gewesen sein muß - denn er ist in alten Zeiten in diesem wogenden und webenden Elemente gewesen, wie ich Ihnen gesagt habe -, was ist denn in den Menschen gefahren, daß er fest stehen konnte mit der Bildung der festen Erde zugleich? Was hat den Menschen ergriffen? Die Sphinx-Natur! Die gibt in dem wogenden Ele­mente den festen Gleichgewichtspunkt. Gleichzeitig mit demjenigen, was der Erde jene Form gegeben hat, wodurch sie dieser feste Planet ist, auf dem man stehen kann, webte dieselbe Kraft dem Menschen das ein, was charakterisiert oder repräsentiert werden kann durch die Sphinx-Natur.

Nun führt Goethe in dieser Szene etwas vor, was eigentlich nur vom Einschlafen bis zum Aufwachen erlebt werden kann. Und er glaubt, daß er es am besten charakterisieren kann, indem er nicht unsere heu­tigen, nur vom Tagwachen hergenommenen Begriffe nimmt, sondern griechische Begriffe; die findet er biegsamer und passender. Daher ver­setzt er die ganze Sache nach Griechenland, wo er glaubt, eher fertig zu werden mit den Vorstellungen, die von der griechischen Natur her genommen werden. Da glaubt er, besser charakterisieren zu können all dasjenige, was der Mensch erlebt heute vom Einschlafen bis zum Auf­wachen, was er erlebt hat in alten Zeiten, wo dem Wasser nicht die Luft,

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der Erde nicht das Feuer, sondern der Wasserluft die Sirenen, dem Erd-feuer oder der Feuererde so etwas wie der Seismos entgegenstehen.

Und nun läßt er die Welt auftreten in seinem «Faust». Warum läßt er sie auftreten? Es handelt sich ihm darum, daß man vom Homun­kulus zum Homo kommt, daß der Homunkulus eine Aussicht bekomme, nicht bloß Homunkulus zu bleiben, sondern Homo zu werden, so viel zu verstehen, daß er Mensch werden kann. Er soll also in seinem Welt­bild eine Erweiterung erfahren. Und so sachgemäß macht das Goethe, daß, indem er nun in diese kosmisch-alte Welt einführt, er die Sphinxe gleich aufstellt:

Sphinxe haben Platz genommen.

Und die Sphinxe bilden das feste Element. Rundherum wogt es, wie es jetzt nicht wogen darf, weil die Menschen heillose Angst bekommen würden davor. Ringsum wogt es. Aber mag auch die ganze Hölle los­gehen, wenn die Geister sich so benehmen wie die Sirenen, wie der Seis­mos, es wird zurückgewiesen darauf, daß der Mensch den Stützpunkt, die Gleichgewichtslage gefunden hat:

Welch ein widerwärtig Zittern,

- es wird geschildert diese Welt, von der ich eben gesprochen habe.

Häßlich grausenhaftes Wittern!

Welch ein Schwanken, welches Beben,

Schaukelnd Hin- und Widerstreben!

Das würden Sie schon empfinden, dieses Hin- und Widerstreben, wenn Sie in diese Welt untertauchen würden!

Welch unleidlicher Verdruß!

Aber nun die Besinnung:

Doch wir

- die Sphinxe -

ändern nicht die Stelle,

Bräche los die ganze Hölle.

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Nun fließt in die menschlichen Vorstellungen immer etwas von sol­cher Anschauung ein. Die Menschen wissen es nicht, aber ihre Vor­stellungen werden beeinflußt von dem, was in den Untergründen des Daseins lebt. Und dadurch entstehen mehr oder weniger phantasievolle Theorien. Die Theorie, daß die Gebirge sich durch Feuer gebildet haben, was für ältere Zeiten der kosmischen Entwickelung ganz richtig ist, aber durch das Erdfeuer - nicht durch das heutige Feuer, durch die Feuererde -, mischt sich hinein in die heutigen Vorstellungen. Dadurch entstehen konfuse Vorstellungen, und die meisten heutigen Vorstellungen sind konfus vom höheren Standpunkte aus. Man kann sie nur verstehen, wenn man - so paradox das klingt, es ist so-, wenn man sie übersetzt>. Sie erklingen in der gewöhnlichen landläufig philiströsen täglichen Menschensprache. Übersetzt man sie in die Sprache, die man eigentlich vom Einschlafen bis zum Aufwachen sprechen müßte, da gewinnen diese Theorien erst einen Sinn, denn da zeigt sich, daß man in diesen Theorien doch leise Hindeutungen auf frühere Erdepochen hat. Und man kann die ganze Szene, wie sie anfängt hier, nicht anders verstehen, als indem man sich darüber klar ist, Goethe wollte dasjenige auftauchen lassen, was der Mensch erlebte, wenn er vom Einschlafen bis zum Aufwachen bewußt würde, was er so erlebte, daß er dadurch ein Bewußtsein von einem früheren kosmischen Zustand der Erde entwickelt.

Denken Sie, wie stark Goethe ahnen mußte geisteswissenschaftliches Erkennen, daß er so sachgemäß diese Dinge hinstellt. Aber das geht weiter. In diese Welt soll der Homunkulus geführt werden. Goethe will gleichsam sagen, wenn ich das wiederum radikal ausdrücken darf: Nun, wenn ich mich an die Vorstellungen der philiströsen Wissenschaft wende, da kriege ich natürlich nichts zustande, was den Homunkulus zu einem Homo machen könnte, da wird nichts daraus. Aber wenn ich solche Vorstellungen zu Hilfe nehme und sie aufnehme in die Menschenseele, sie einverleibe der Faust-Szene, Vorstellungen, wie sie gewonnen wer­den können, wenn der Mensch bewußt erlebt die Welt vom Einschlafen bis zum Aufwachen, da geht es vielleicht schon eher, daß man erweiterte Menschenkenntnis gewinnt, daß der Homunkulus zum Homo wird. -Daher läßt Goethe den Homunkulus untertauchen nicht in die phili­ströse wissenschaftliche Welt, in das, was der Mensch gegenwärtig erfährt,

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sondern in eine andere Welt, die er hier vorführt, und die der Mensch erlebt vom Einschlafen bis zum Aufwachen. In dieser Welt er­fährt man aber auch so manches; kurioserweise erfährt man da auch etwas darüber, wie ungleich eigentlich in ihren Entwickelungsstadien die Wesen sind, die so neben uns im Weltenall wohnen. Man versteht nichts, aber auch schon gar nichts von dieser Welt, wenn man diese Wesen so nebeneinander betrachtet und sie, ich möchte sagen, gleich­wertig nebeneinander stehen läßt. Wenn man Ameisen betrachtet, Bie­nen betrachtet, überhaupt dieses ganze eigentümliche Insektenvolk be­trachtet, dann kommt man zu der Anschauung - ich habe sie an andern Orten und zu andern Zeiten als unsere geisteswissenschaftlichen An­schauungen ausgeführt -, das sind zurückgebliebene Formen aus frühe­ren Zeiten, oder auch Formen, welche schon vorausnehmen das, was in späteren Zeiten kommen soll, wie die Bienen respektive der Bienen­stock; das sind Wesen, die eigentlich einer andern Zeit in ihren Formen angehören, die hereinragen in unsere Zeit.

Wenn die wissenschaftlichen Nichtwisser kommen und diese Welt beschreiben, wie zum Beispiel Forel, der sich so viel mit Ameisen be­schäftigt hat, dann geschieht es, daß die Leute allerlei Staunenswertes über die Ameise erzählen. Aber wenn sie bei der wissenschaftlichen Tapsigkeit bleiben, nicht zur Geisteswissenschaft kommen, dann ist es natürlich, daß sie nichts Wesenhaftes sagen können, warum man zu stau­nen hat über diese Welt, die überall durchdrungen ist von einer Ver­nunft. Nicht über die einzelne Ameise, aber über das Ganze des Ameisen­haufens und der Ameisenwelt selbst, der Bienenwelt, ist kosmische Vernunft, die viel gescheiter ist als unsere Hirnvernunft, ausgegossen; die gehören alle eigentlich in einer gewissen Beziehung einer früheren Welt an. Denken Sie, wie sachgemäß Goethe schildert. Indem er eine frühere Welt schildert, läßt er darin die Ameisen auftreten, die Imsen. Und indem er einen Berg so entstehen läßt, wie er in früherer kosmischer Ent­wickelung erstanden ist, wie man ihn wieder sieht für eine andere Wirk­lichkeitssphäre in der Zeit vom Einschlafen bis zum Aufwachen, läßt er Ameisen auftreten, die sich dann mit dem beschäftigen, was der Berg mit ans Dasein gebracht hat. Aber zu Genossen dieser Ameisen macht er besonders andere Wesen>. Die Ameisen, überhaupt fast das ganze Insektenvolk,

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sind eigentlich eine Rasse, die nicht recht hereinpaßt in die Gegenwartserde. Diese Welt der Ameisen fühlt sich eigentlich anachro­nistisch in der gegenwärtigen Welt. Sie haben nicht viel damit zu tun, sie haben keine rechten Genossen. Die andern Tiere sind von ganz anderer Artung. Es sind furchtbar große Unterschiede zwischen der seelisch-geistigen Artung des Insektenvolkes, solchen Volkes zum Beispiel wie das Ameisenvolk und anderer Tiere. Die Genossen der Ameisen sind eigentlich nicht die gegenwärtigen physischen Tierformen, sondern die geistigen Elementarwesen, die Goethe als Pygmäen auftreten läßt, als Zwerge, als Daktyle; denen stehen sie in verwandtschaftlicher Bezie­hung, trotzdem die Ameisen eine physische Natur sich errungen haben in diesem Erdendasein, viel näher als diesen Gegenwartswesen. Also von dieser zu einer alten kosmischen Epoche gehörigen Art des Ameisen-volkes weiß Goethe, und er geheimnißt es hinein in diese Szene.

Nun, wie ist denn eigentlich diese unsere Welt entstanden? Nicht wahr, sie hat ihren gegenwärtigen Zustand aus dem alten Zustand her-ausentwickelt. Wir haben jetzt gesprochen von dem alten Zustand, und auf den gegenwärtigen braucht man nur hinzuweisen, denn er ist das­jenige, was in der physischen Erdenumgebung ist. Aber ohne Kampf ist das nicht abgegangen. Das gab einen mächtigen kosmischen Kampf, indem das Alte sich zum Neuen entwickelte. Die Frage entsteht: Kann man auch diesen Kampf beobachten? - Man kann auch diesen Kampf beobachten! Man beobachtet ihn dann, wenn man erfassen kann das Aufwachen aus einem sehr deutlich erschauten Traum zu einem noch nicht ganz Wachsein, sondern zu einem halb Wachsein. Also wenn man aus einem tieferen Schlafzustand zu einem weniger tiefen herauf auf­wacht, wenn man noch nicht aufwacht, sondern auf dem Wege des Auf­wachens ist. Da nähert man sich der Sinnenwelt, und man hat noch nicht ganz verlassen diese Welt da unten, und da gerät man hinein in einen Kampf, der ganz ähnlich ist dem Kampfe, der sich abgespielt hat, als die alte Welt in die neue sich verwandelte. So sachgemäß geht Goethe wieder vor, daß er, indem er hier einen Traum als Ausdruck für die alte Weltenordnung auftreten läßt, auch das Erwachen aus diesem Traum darstellt, das einen Kampf im Kosmos zum Ausdruck bringt. Dasjenige, was der Gegenwart angehört, kommt in Kampf mit dem, was der alten

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Zeit angehört: die Pygmäen, die zu der alten Welt gehören, mit den Reihern, die zu den gegenwärtigen Wassern gehören. Dieser Kampf spielt sich ab. Und dieses Erblicken des Kampfes ist zu gleicher Zeit ein Aufwachen. Und daß es sich um das Aufwachen handelt, das drückt Goethe so deutlich aus, daß er das andeutet, was oftmals das Aufwachen bewirkt. Man hört irgend etwas, das noch geistig im Traume erscheint, imaginativ-bildlich, und das dann übergeht in die äußere Wirklichkeit:

das Herannahen der Kraniche des Ibykus, die ja auftreten in dieser Szene. Das zeigt uns Goethe im ersten Teil dieser Szene, was man im Traumbewußtsein, wenn es voll entwickelt ist, erleben kann, und was auf frühere Erdzustände hinweist, was er glaubte, mit griechischen Vor­stellungen besser durchdringen zu können als mit Gegenwartsvorstel-lungen.

Und nun der Homunkulus. So weit geht es doch nicht! Denn für den Gegenwartsmenschen ist es - das deutet Goethe nun ganz klar an -nicht möglich, zu voller, klarer Bewußtheit das zu bringen, was da unten sich abspielt. Furcht, Angst hindert den Menschen, wenn auch unbewußte Angst. Ich habe das oft dargestellt. Der Homunkulus wagt sich nicht hinein in diese Welt, das spricht er auch ganz deutlich aus. Als er wieder erscheint, da erklärt er, nein, da will er nicht hinein, er will zwar ent­stehen, das heißt, es soll ein Homo daraus werden, aber in diese Welt, da will er nicht hinein.

Ich schwebe so von Stell' zu Stelle

Und möchte gern im besten Sinn entstehn,

Voll Ungeduld, mein Glas entzwei zu schlagen;

Allein, was ich bisher gesehn,

Hinein da möcht' ich mich nicht wagen.

Also, es ist eine gefährliche Welt, in die der Homunkulus noch nicht untertauchen will. Er möchte doch in einer weniger gefährlichen Welt seinen Weg vom Homunkulus zum Homo antreten.

Nun, hätte man Goethe gefragt: Ja, also mit der Traumwelt, respek­tive mit der Schlafeswelt, da glauben Sie nicht, daß viel zu machen ist, wenn Sie im Menschenkopf den Homunkulus zu einem Homo werden lassen wollen. Aber wie wäre es mit der Philosophie? Die Philosophen

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denken ja über die Weltenrätsel nach. Wie wäre es mit der Philosophie? Wie wäre es, wenn man anfrägt über das wahre Menschentum bei Leibniz oder bei Kant? Da würde Goethe ein recht skeptisches Gesicht gemacht haben, ein recht ungläubiges Gesicht! Den modernen Philo­sophen hat er alles mögliche Gute zugeschrieben, aber daß sie in das Wesen des Menschen eindringen können, daß sie irgend etwas beitragen können, so daß der Homunkulus zu einem Homo im Menschenleben wird, das glaubte er nicht. Auch da glaubte er, daß man schon näher-komme, wenn man griechische Vorstellungen verwende. Von den Grie­chen namentlich der älteren Zeit, in der Anaxagoras und Thales lebten, wußte Goethe. Die standen mit ihren Anschauungen noch näher jenen alten Mysterienanschauungen, welche noch etwas von jener geistigen Welt gewußt haben, aus der dem Menschen nur die Träume herauf­fluten. Deshalb läßt er den Homunkulus begegnen zwei uralten grie­chischen Philosophen, von denen der eine, Anaxagoras, sehr viel noch weiß von der alten Mysterienweisheit, namentlich viel von den Geheim­nissen der Feuererde. In das Denken, in die vernünftige Philosophie des Anaxagoras ragen hinein noch diejenigen Vorstellungen, welche die alten Mysterien gehabt haben, und die anknüpften an die Geschehnisse innerhalb der Feuererde.

Bei Thales waren zwar auch noch Reminiszenzen an alte Vorstellun­gen vorhanden, Anknüpfungen an die Geheimnisse der Wasserluft; aber zu gleicher Zeit macht es Goethe klar, daß die Anschauungen des Anaxa-goras untergehende sind, wenn auch die höheren, und daß mit Thales die neuere Zeit beginnt. Mit Recht - ich habe es sogar in meinen «Rätseln der Philosophie» ausgesprochen - beginnt die Geschichte der neueren Philosophie, die Geschichte der Philosophie überhaupt, mit Thales. Thales ist gewissermaßen der Urphilister, als den ihn Goethe hier hin­stellt, der die philiströse Weltanschauung der fünften nachatlantischen Periode einzuleiten hat, die zwar in einer gewissen, aber nur dunklen Weise anknüpft an die Geheimnisse der Wasserluft.

So charakterisiert Goethe im ersten Teil dieser Szene, wo er noch aus den Erfahrungen der Traumeswelt heraus schildert, die Welt des Seis­mos, zu dem die Pygmäen gehören, all dasjenige, was zusammenhängt mit den schöpferischen Kräften des Seismos auf der einen Seite. Und

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das Element des Wassers, das er in die Gegenwart schon überführen läßt, daher nicht als Wasserluft, sondern als Wasser charakterisiert mit den Reihern und so weiter, das stellt er dem Feuer entgegen: Wasser, Feuer, eigentlich Wasserluft, Feuererde. Und zwischen Wasser und Feuer kommt es zum Kampf: die Pygmäen mit den Reihern. Und nur in anderer Weise in den Verstand herübergetragen spielt sich derselbe Kampf, der sich zuerst abspielt zwischen den Pygmäen, als den Re­präsentanten der Erde oder des Erdfeuers, und den Reihern, als den Repräsentanten des Wassers, der Wasserluft, dann im Verstande ab zwsschen Anaxagoras, dem Philosophen des Feuers, und Thales, dem Philosophen des Wassers.

So schön ist der Parallelismus, daß in dieser zweiten Stufe seiner Darstellung Goethe richtig zur Anschauung bringt, wie nunmehr, da sich der Homunkulus zum Homo -Werden nicht hinuntergewagt hat ins unterbewußte Element, er jetzt ins Bewußte hinauf sich flüchtet. Und bei denen, die im Bewußtsein noch so manches sich bewahren wollen von dem, was man aber im Unterbewußten erfahren würde, bei den Philosophen, möchte Homunkulus erfahren, wie man zum Homo wird. Da stellt es sich heraus, daß, weil die Philosophen ihre Impulse von verschiedenen Gebieten des Erlebens hernehmen, sie nicht einig sind und selbst in solche Kämpfe kommen, in solche Ideenkämpfe, die sich auf Grundlage der Kämpfe im Kosmos abspielen! Wie zwischen den Pygmäen und Reihern, so zwischen den Begriffen des Anaxagoras und den Begriffen des Thales: derselbe Kampf!

Was tut Goethe? Er schildert also zuerst dasjenige, was sich da unten abspielt in der unterbewußten Welt, führt dann herauf in die Welt des Bewußtseins, aber knüpft an die Reminiszenzen an, die aus dem Unter-bewußten heraufkommen, die namentlich bei Anaxagoras deutlich sind, daher wird Anaxagoras auch von dem Thales für einen Phantasten ge­halten.

Aber wir haben es schon mit einer zweiten Schichte des Menschen-lebens zu tun, mit derjenigen Schichte, die das tagwachende Bewußtsein auch hat, wenn auch der eine oder andere in mehr geistiger Weise, oder auch mehr oder weniger - wie ich es dargestellt habe - wachend-schla­fend, schlafend-wachend es hat. Man kann es auch wachend-schlafend

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und schlafend-wachend haben. Das ist die zweite Schichte des Erlebens, die da dargestellt wird. Und sehr bedeutsam ist das Folgende. Was da erlebt wird, das läßt Goethe in einer andern Form erleben, als er das erste erleben läßt. Mit den Sirenen läßt er einfach beginnen. Die begin­nen die Szene. Man ist in der Schlafeswelt, in der Traumeswelt, man hat nicht nötig, irgend etwas dazu zu tun, um in dieser Welt zu sein, daher führt sie Goethe einfach vor. Nun wacht man aber auf aus dieser Welt. Indem man aufwacht, kommt man in das gewöhnliche Bewußtsein. Goethe hat aus einem gewissen Grunde Luzifer und Ahriman in dem einen Mephistopheles zusammengefaßt. Dieses Aufwachen zeigt er in dem Erlebnisse des Mephistopheles. Und interessant ist es, indem Me-phistopheles gewissermaßen repräsentiert das noch nicht voll Auf-gewachtsein, da ist er noch unten, er erlebt es durch die griechischen Lamien; dann geht es ins bewußte Leben herauf. Aber soll es nun ins vollbewußte Leben heraufgehen, soll wirklich der Homunkulus-Me-phisto eintreten in das vollbewußte Leben, in das Verstandesleben, da muß sich der Mensch gleichsam aufrütteln, da muß er sich fassen, da muß er aus dem Traum in die Wirklichkeit erwachen. Daher begegnet der Mephisto bei diesem Erwachen der Oreade, der Oreas, die sehr deut­lich in Goethes Sprache andeutet, daß es sich um das handelt, was ich gesagt habe.

Herauf hier! Mein Gebirg ist alt,

Steht in ursprünglicher Gestalt.

Verehre schroffe Felsensteige,

Des Pindus letztgedehnte Zweige.

Schon stand ich unerschüttert so,

Als über mich Pompejus floh.

Daneben das Gebild des Wahns

Verschwindet schon beim Krähn des Hahns.

Die Oreas, sie macht, indem aufgerüttelt wird das Schlafbewußtsein ins Wachbewußtsein, gewissermaßen darauf aufmerksam, daß man jetzt aus der Welt, die man sonst die Welt des Wahns nennt, wenn sie auch in der Weise eine Wirklichkeit ist, wie ich geschildert habe, her-überkommt in die Welt, wo die Gebirge feststehen, wo nicht alles auf

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und ab wogt. Und Goethe geniert sich eigentlich nicht, sehr deutlich darauf hinzuweisen, wie man aus dieser Welt erwacht. Denken Sie nur, wie oft man aus der Welt, aus der die Träume heraufsprudeln, erwacht beim Krähn des Hahns. Also Goethe macht das sehr deutlich. Jetzt geht es in die wache Welt hinauf, wo die Philosophen zu reden haben, wo durch die Reden der Philosophen der Homunkulus zu einem Homo werden soll.

Nun wäre viel zu sagen - vielleicht morgen. Ich will nur noch darauf aufmerksam machen, daß, nachdem diese Welt absolviert ist, Goethe auch noch auf eine dritte hinweist. Und wie es erst die Bergnymphe Oreas war, die hingewiesen hat auf diese Welt des Wachens, des Tag-wachens, so ist es eine Nymphe wiederum, das heißt, ein Elementar-wesen, welches stark aufrüttelt: die Baumnymphe, die Dryade, die Mephistopheles zu einer dritten Schichte des Bewußtseins führt, zu einer dritten Schichte, in der man Vernunft und Hellsichtigkeit vereinigt:

Unterbewußtes, Bewußtes, Überbewußtes. Auch auf diejenige Welt, auf die wir gerade durch die Geisteswissenschaft hinweisen wollen, deutet Goethe in einer gewissen Beziehung schon hin. Nur deutet er in einer sehr eigenartigen Weise darauf hin. Die Wesen, welche Mephisto­pheles zunächst findet, sind die Phorkyaden.

Aus unseren Darstellungen übermorgen werden Sie sehen, was für angenehme, schöne Wesen diese Phorkyaden sind, und namentlich, was für eine eindringliche, Herzenstöne anschlagende Sprache diese Phorky­aden führen! Und dennoch, wer da weiß, welchen Erlebnissen der Mensch die Stirne bieten muß, wenn er in bewußter Art in die geistige Welt einzudringen hat, der versteht die Begegnung des Mephistopheles mit den Phorkyaden.

Doch davon will ich dann morgen weiter sprechen, weil sich die Sache doch nicht in einer Auseinandersetzung erledigen läßt.

GEISTESWISSENSCHAFTLICHE AUSFÜHRUNGEN IN ANKNÜPFUNG AN DIE «KLASSISCHE WALPURGISNACHT» Fortsetzung: Dornach 28. September 1918

#G273-1967-SE147 Das Faust-Problem

#TI

GEISTESWISSENSCHAFTLICHE AUSFÜHRUNGEN

IN ANKNÜPFUNG AN DIE «KLASSISCHE WALPURGISNACHT

Fortsetzung: Darnacb 28. September 1918

#TX

Daß der Menseh in seinem Wesen umfassender ist, mehr ist, als was erkennbar ist, was durehdringbar ist mit dem Verstande und den an­dern Seelenkräften, die der Menseh hat, das wollte ieh hauptsäthlith gestern in Anknüpfung an das Goethesche Faust-Werk zunäthst klar­machen. Goethe selber fühlte tief, daß man mit den Geisteskräften, die man im heutigen bewußten Leben entwickeln kann, nicht so weit gehen kann, wie der Mensch seinem Wesen nach reicht. Diejenigen, welche glauben, daß das, was man heute Wissenschaft nennt, nur erweitert zu werden brauche, um gewissermaßen das Mögliche und Unmögliche zu erkennen, sagen einfach: Nun ja, mit demjenigen, was die Wissen­schaft heute bietet, kommt man allerdings nur zu einer sehr einge­schränkten Erkenntnis vom Menschen. Aber diese Wissenschaft wird sich erweitern, diese Wissenschaft wird immer mehr und mehr vor-dringen, und dann wird man auch immer mehr und mehr zu der Er­kenntnis des Menschen kommen.

Dies ist sehr kurzsichtig gesehen, denn es ist einfach unrichtig. Nicht daran hängt es, daß die wissenschaftliche Anschauung, die man gegen­wärtig als solche gelten läßt, sich immer mehr und mehr erweitert, um den Menschen zu erkennen, sondern darauf kommt es an, daß man zu andern Erkenntniskräften und Erkenntnisfähigkeiten seine Zuflucht nimmt, als sie überhaupt diese heutige Wissenschaft verwendet. Diese heutige Wissenschaft kann noch so weit kommen auf ihren Bahnen, das­jenige, was Goethe so empfand, daß es nicht erkannt werden kann innerhalb der Wesenheit des Menschen, kann mit dieser Wissenschaft in keinem Falle jemals durchdrungen werden. Denn alle Wissenschaft, die wir haben als offiziell gültige Wissenschaft, bezieht sich nur auf irdische Wesenheit, auf die Wesenheit des Erdenplaneten. Niemals kann durch dasjenige, was man heute Wissenschaft nennt, über etwas anderes ent­schieden werden als über die Vorgänge des Erdenplaneten. Der Mensch

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aber ist nicht nur Erdenmensch, sondern er hat als Erdenmensch hinter sich die Saturn-, Sonnen- und Mondenentwickelung, und er hat in sich die Keimanlage zu der Jupiter-, Venus- und Vulkanentwickelung. Uber diese andere planetarische Lebensform außerhalb des Irdischen kann die Wissenschaft nichts wissen, denn diejenigen Gesetze, die diese Wissen­schaft hat, gelten nur für das Irdische. Den Menschen in seiner Totalität also kann man mit diesen Gesetzen nicht erkennen, weil man ihn nur erkennen kann, wenn man seine Erkenntnis über das Irdische hinaus-dehnt.

Nun habe ich gestern darauf hingewiesen, wie der Mensch in Bewußt­seinszuständen lebt, die gewissermaßen unter der Schwelle des gewöhn­lichen Bewußtseins und über der Schwelle des gewöhnlichen Bewußtseins liegen. Unter der Schwelle des gewöhnlichen Bewußtseins liegt vieles von dem, aus dessen Regionen die Traumerlebnisse heraufsprudeln. Unter dieser Bewußtseinsschwelle liegt aber allerdings auch sehr, sehr vieles von dem, was der Mensch im wachen Tagesleben erfährt vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Denn eine einigermaßen hinreichende Besonnenheit kann Ihnen zeigen, daß die Menschen über den Traum viel mehr wissen würden, wenn sie sich anstrengen würden, einiges mehr zu wissen, als sie es tun, über das Wachen. Wenn die Menschen mehr sich anstrengen würden, über das Wachen etwas zu wissen, so würden sie nämlich finden, daß sie während dieses Wachens viel mehr träumen, als sie eigentlich glauben. Es ist wirklich nur scheinbar, daß eine sichere, feste Grenze besteht zwischen Wachen und Schlafen. Nicht nur träumen, kann man sagen, viele Menschen während des Wachens, sondern audi schlafen, schlafen mit Bezug auf sehr, sehr viele Dinge. Und in wahrhaft wachem Zustande sind wir nur, wie wir wissen, mit Bezug auf unsere Vorstellungen und einen Teil unserer Gefühle, während ein großer Teil des Gefühlslebens und vor allen Dingen des Willenslebens, wie wir wissen, eigentlich immer verträumt und verschlafen wird. Das Schla­fensieben ragt durchaus in das wache Leben herein. Der Mensch würde sich viel mehr aufklären können über das Traumleben, wenn er ver­suchen wollte, anzuschauen, welcher Unterschied besteht zwischen den Vorstellungen, die so auf und ab wogen, die gewissermaßen kommen und gehen, die alles Mögliche anrufen, und die zum Verwechseln ähnlich

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sind dem Traumleben, und denjenigen Vorstellungen, bei denen man mit seinem vollen Willen tätig ist. Man wird nur einen kleinen Teil der Vorstellungswelt des Menschen finden, bei dem man mit seinem vollen Willen eine Vorstellung an die andere reiht, während der Mensch gar oftmals in seinem Tagesleben auch diejenigen Augenblicke hat, wo er sich dem Vorstellungsablauf so hingibt, wie es dieser Vorstellungs­ablauf selber haben will. Bedenken Sie einmal, wie, wenn Sie sich so Ihrem Vorstellungsablauf hingeben, die eine Vorstellung die andere heraufruft, wie Sie sich an längst Vergangenes dadurch erinnern, daß Sie eine Gegenwartsvorstellung angeschlagen haben und diese Gegenwarts­vorstellung längst vergangene Erlebnisse in Ihnen heraufruft. Das ist ein Vorgang, der oftmals nicht stark verschieden ist von dem Träumen. Weil man so wenig, ich möchte sagen, innere technische Denkkraft hat, um das wache Tagesleben richtig zu verfolgen, deshalb haben auch die wenig­sten Menschen heute schon die richtige Begabung, das Schlafesleben mit dem heraufsprudelnden Traumesleben richtig zu taxieren. Erleben wir es doch, daß es sich wissenschaftlich dünkende Theorien gibt, die etwa das Folgende über das Traumleben behaupten. Die Freudsche und an­dere Schulen, gewisse Anhänger, nicht alle, der Psychoanalytiker, sagen von den Träumen, daß sie dadurch hervorgerufene Vorstellungen sind, daß dem Menschen gewisse Wünsche nicht in Erfüllung gehen im Leben. Der Mensch durchläuft das Leben, er wünscht das Allerallerverschieden­ste, aber es ist unleugbar, sagen diese Leute, daß uns im Leben viele Wünsche nicht in Erfüllung gehen. Da treten, wenn das Bewußtsein herabgedämmert ist, diese Wünsche vor die Seele. Und weil der Mensch sich diese Wünsche nicht in Wirklichkeit erfüllen kann, erfüllt er sie sich im Vorstellen, so daß die Träume nach der Anschauung mancher Leute heute in der Phantasie erfüllte Wünsche sind. Ich möchte nur, daß die Menschen, die solches behaupten, einmal nachdenken würden, wie sie dazukommen, den Traum zu haben, daß sie geköpft werden! Diese Dinge alle, die heute vielfach den Inhalt von Theorien ausmachen, sind furchtbarste Einseitigkeiten. Und diese Einseitigkeiten müssen ganz not­wendig die Köpfe der Menschen durchdringen, wenn die Menschen nicht an die geisteswissenschaftlichen Untersuchungen über die der äußeren Sinnenwelt und dem äußeren Verstandesdenken unbekannten Welten

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sich wenden, die Aufschluß geben über das, was der Mensch noch außer dem ist, was seine Sinne und sein Verstand begreifen.

Aber aus dem gestern Gesagten werden Sie eines über die Träume mit voller Bestimmtheit entnehmen können. Sie werden daraus entnehmen können, daß im Traumesleben etwas webt und lebt, was zusammen­hängt mit unserer menschlichen Vergangenheit, mit jener Vergangen­heit, in der wir ein Dasein hatten, das noch Bezug hatte zum Erdfeuer und zu der Wasserluft. Gewissermaßen rufen wir, während wir un­bewußt im Schlafe sind, unsere Vergangenheit wiederum zurück. Wir sind heute nicht in der Lage, mit dem, was unser Gehirnbewußtsein ist, und unser gewöhnlicher freier Wille ist, uns bewußt zu versetzen in diese Welt. Wir waren auch unbewußt oder unterbewußt, als wir in früheren Stadien unsere Entwickelung durchgemacht haben. Doch es ist eine Beobachtung verhältnismäßig gar nicht so besonders schwierig zu ma­chen. Wenn Sie Ihr Traumleben verfolgen, so werden Sie allerdings fin­den, daß Sie die Bilder der Träume in außerordentlich schwieriger Weise sinnvoll sich deuten können. Wie sich so ein Traumbild an das andere reiht, das hat doch zumeist einen recht chaotischen Charakter. Aber dieser chaotische Charakter ist nur an der Oberfläche. Unter dieser Oberfläche lebt der Mensch in einem Elemente, das durchaus nicht chao­tisch ist, aber es ist anders, total anders, als das Erleben im wachen Tagesleben ist. Man braucht sich nur in einem Falle klarzumachen, in­wiefern das Traumesleben anders ist als das wache Tagesleben, und man wird gleich den radikalen Unterschied sehen. Im wachen Tagesleben wäre es sehr unangenehm, wenn mit Bezug auf das Verhältnis zu an­dern Menschen auch das vorhanden wäre, was im Traume vorhanden ist. Denn im Traume erlebt der Mensch fast zu allen Menschen, mit denen er irgendwie in karmischer Beziehung steht, ein Band; er erlebt das Zusammensein mit all den Menschen, mit denen er in irgendeiner karmischen Beziehung steht. Von da an, wo Sie anfangen einzuschlafen, bis Sie wieder aufwachen, geht von Ihnen eine Kraft zu unzähligen Men­schen, und von unzähligen Menschen gehen Kräfte zu Ihnen. Sie - ich kann nicht sagen - sprechen, weil man das Sprechen erst lernt im wachen Tagesleben, aber wenn Sie mich nicht mißverstehen und mit Bezug auf diejenigen Kommunikationen, die wir im Schlafe haben, das denken,

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was ich jetzt sage, dann werden Sie auch verstehen, wenn ich sage, im Schlafe sprechen Sie mit unzähligen Menschen, und unzählige Men­schen sprechen mit Ihnen. Und was Sie in Ihrer Seele erleben während des Schlafes, sind die Mitteilungen unzähliger Menschen; und was Sie tun während des Schlafes, das ist, daß Sie Ihre Gedanken an unzählige Menschen hinsenden. Dieses Verbinden der Menschen, dieses Verbun­densein der Menschen untereinander ist während des Schlafes ein sehr, sehr inniges. Es wäre im höchsten Grade peinlich, wenn während des wachen Tageslebens sich das fortsetzte. Das ist ja das Wohltätige des «Hüters der Schwelle», daß er dem Menschen das verbirgt, was unter der Schwelle seines Bewußtseins ist. Im Schlafe wissen Sie es in der Regel, wenn Sie einer anlügt; Sie wissen in der Regel, wenn einer recht böse an Sie denkt. überhaupt die Menschen kennen einander im Schlafe verhältnismäßig recht gut, aber in einem dumpfen Bewußtsein. Das alles wird durch das wache Bewußtsein überdeckt, und es muß über­deckt werden, aus dem einfachen Grunde, weil der Mensch nie zu dem­jenigen selbstbewußten Denken kommen würde, das er gerade durch die Erdenmission lernen soll, und auch zur Handhabung des freien Willens, den er wiederum durch die Erdenmission gewinnen soll, wenn er so fortgelebt hätte, wie er während der Saturn-, Sonnen- und Mon­denzeit, namentlich während der Mondenzeit gelebt hat. Da hat er auch in dem äußeren Leben so gelebt, wie er jetzt lebt vom Einschlafen bis zum Aufwachen.

Nun kommt aber etwas anderes, das bedeutsam ist. Aus diesem Le­ben, das der Mensch unbewußt wirklich durdamacht vom Einschlafen bis zum Aufwachen, tauchen die Träume herauf. Warum sind die nicht ein wahres Abbild des Lebens da unten? Oh, diese Träume wären, wenn sie wahre, unmittelbare Abbilder wären, alles mögliche. Sie wären erst bedeutsame Mitteiler über unsere Beziehungen zu der Welt und zu den Menschen, sie wären auch bedeutsame Mahner. Sie würden uns un­geheuer stark ins Gewissen reden über diese oder jene Dinge, über die wir uns so gerne im Leben Illusionen hingeben. Daß wir - ich möchte schon fast sagen - nicht ausgesetzt sind dem, was die Träume mit uns beginnen würden, wenn sie wahre Abbilder des Lebens unter dem Be­wußtsein wären, das kommt davon her, daß unser waches Tagesleben

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uns so stark mit Kräften durchdringt, daß es, ich möchte sagen, seine Schatten wirft über das ganze Traumleben hin. Und so tragen wir die Vorstellungen, die Bilder des wachen Tageslebens in das Traumesleben, respektive in das Schlafesleben hinein, und dadurch entstehen die Träume. Nehmen wir zum Beispiel an, Sie träumen, oder sollten träumen von einer Persönlichkeit, welche sich zur Aufgabe stellt, Ihnen klarzu­machen, daß Sie wiederum etwas recht Ungeschicktes, etwas recht Un­gehöriges getan haben. Das kommt vor. Auch andere Persönlichkeiten könnten Mahner sein, könnten uns ins Gewissen reden während des Schlafes. Sie haben aus den Erfahrungen und aus den Gewohnheiten des tagwachen Lebens den Wunsch oder die Begierde - könnte ich auch sagen -, solches Gerede nicht anzuhören. Sie wollen nichts hören von dem, was Ihnen diese Persönlichkeit während des Schlafes sagt. Gut, der Wunsch setzt sich um in eine Verdunkelung des Erlebnisses; aber wenn zu gleicher Zeit eine so rege Seelentätigkeit vorhanden ist, daß das Bild heraufsprudelt, dann legt sich Ihnen aus dem wachen Tages-leben über dasjenige, was Sie eigentlich als Bild erleben sollten, das andere, daß Ihnen irgendein guter Freund, den Sie lieber anhören als den Mahner, sagt: Ach, was bist du doch für ein außerordentlich feiner, immer nur das Beste, Netteste wollender und tuender Mensch! Gerade das Entgegengesetzte kann manchmal aus dem wachen Tagesleben und seiner Reminiszenz in Bildform hinübergehängt werden über dasjenige, was eigentlich erlebt wird. Im Grunde ist doch das wache Tagesleben die Veranlassung für alle Illusionen und Täuschungen, die während des Traumlebens entstehen.

Ein weiteres ist dieses, daß nun der Mensch heute im gegenwärtigen Entwickelungszyklus an die Geisteswissenschaft herankommen kann. Nun gibt es, ich weiß es, sehr viele, die an die Geisteswissenschaft heran­kommen und sagen: Jetzt befasse ich mich jahrelang mit der Geistes­wissenschaft, sie bringt mich nicht vorwärts. Sie sagt mir, daß man das oder jenes durch die Geisteswissenschaft erlangen könne, aber sie bringt mich nicht vorwärts. - Ich habe es oft betont: dieser Gedanke ist kein richtiger. Geisteswissenschaft bringt, auch wenn sie nicht esoterisches Leben entfaltet, jeden Menschen vorwärts, denn die Gedanken der Geisteswissenschaft selbst sind vorwärtsbringend. Aber man muß achtgeben

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auf die subjektiven Erlebnisse, die sich in der Seele wirklich ab­spielen. Denn es ist das Eigentümliche, daß dasjenige, was neu auftritt bei jemandem, der in die Bahn der Geisteswissenschaft einmündet, sich zunächst gar nicht in bezug auf den Bildcharakter von der Traumeswelt unterscheidet. Dasjenige, was man erlebt, wenn man Geisteswissen­schafter wird, sieht sehr ähnlich der übrigen Traumeswelt aus, aber bei feinerer Unterscheidung läßt sich doch ein gewaltiger Unterschied be­merken zwischen den gewöhnlichen Träumen und denjenigen Wahr­nehmungen, die durch bewußt in Gedanken aufgenommenes geistiges Leben verlaufen. Auch bei den Traumesbildern, welche der Geistes-wissenschafter in seiner Seele erlebt, mag manches chaotisch erscheinen. Analysiert man sie aber nach den Anleitungen, die man doch aus der Geisteswissenschaft gewinnen kann, dann wird man finden, daß sie in der Tat immer treuere und treuere Abbilder, namentlich in ihrem Ver­laufe Abbilder werden des inneren Erlebens des Menschen. Und man muß schon Rücksicht nehmen auf diese dem gewöhnlichen Verstande und dem gewöhnlichen Sinnesleben verborgene Schichte des Erlebens, das so verläuft wie ein Sinnen, wie ein sinnendes Träumen, und das doch sinnvoll ist, und das, wenn man es in der richtigen Weise ins Auge faßt, aufschluß gebend ist über geistige Geheimnisse. Man muß achtgeben, wie sich allmählich, ich möchte sagen, einnistet in das gewöhnliche Vorstel­lungsleben dieses Leben, das sehr ähnlich den Träumen aussieht, aber gerade durch seinen sinnvollen Verlauf, wenn man nicht auf die einzel­nen Bilder schaut, sondern auf den sinnvollen Verlauf der Bilder, hin­eingeleitend ist in die geistige Welt. Man kommt, wenn man auf solche Dinge achtgibt, durchaus zu jener Unterscheidung von drei Bewußtseins-schichten, von denen Goethe, wie ich Ihnen gestern ausführte, so schöne, ahnende Erkenntnisse hatte.

Eine Bewußtseinsschichte ist diejenige, die gewissermaßen ohne unser Zutun so auftritt, daß wir die gewöhnlichen Träume haben. Wenn wir nicht Traumdeuter sind, wenn wir nicht abergläubisch sind, sondern wenn wir versuchen, das Jenseits der Traumbilder zu suchen, dann wird uns diese Traumeswelt doch auch verraten können, daß wir als Men­schen durch frühere Entwickelungsstadien gingen, als diejenigen des Erdenlebens sind.

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Dann haben wir das gewöhnliche tagwachende Bewußtsein, das wir kennen oder wenigstens zu kennen glauben. Wir kennen es der Tatsache nach, die Menschen lassen sich nicht immer ein darauf, es sich voll zu erklären, aber man kennt es der Tatsache nach.

Die dritte Schichte ist das Hereinragen der wirklichen übersinnlichen Erkenntnis. Diese übersinnliche Erkenntnis ist natürjich etwas, was der Mensch der heutigen Zeit und gegen die Zukunft hin aus cien Gründen anstreben muß, die wir oft genug besprochen haben.

Ich habe nun gestern gezeigt, wie Goethe in dem ersten Teile der Szene des zweiten Teils des «Faust», die für uns zunächst in Betracht kommt, das Traumleben in seiner Eigentümlichkeit verkörpert. Und von dem Momente an, wo die Oreade redet zu Mephistopheles, wo dann die Philosophen auftreten, haben wir es mit der Welt der gewöhn­lichen tagwachenden Wirklichkeit zu tun. Von dem Momente an, wo die Dryade den Mephistopheles hinweist auf die Phorkyaden, haben wir es zu tun mit einem Hinweis auf bewußte übersinnliche Erkenntnis. Diese drei Schichten des Bewußtseins sind es, auf die Goethe sein Den­ken und sein Vorstellen richtet, indem er sich die Frage vorlegt: Wie wird aus diesem Homunkulus, der zunächst dem menschlichen Erkennen zugänglich ist, ein Homo? - Durch die gewöhnliche Wissenschaft des Verstandes und der Sinne nicht, sondern nur dadurch, daß man zu an­dern Schichten des Bewußtseins seine Zuflucht nimmt. Denn der Mensch ist weiter als die Erde in ihrem Sein, und der Verstand und die Sinne sind nur für Erden dinge geeignet.

Wir haben aber gestern bereits auseinandergesetzt, wie die Gleich­gewichtslage der Sphinx noch fehlt, wenn der Mensch untertaucht in die Welt seiner Vorzeit, wie der Mensch sich darinnen eigentlich un-sicher fühlt, der Homunkulus sich unsicher fühlt. Denn der Mensch weiß von sich - verzeihen Sie, aber es ist schon so - nicht viel mehr als von einem Homunkulus; er weiß ja nicht von einem Homo in Wirklichkeit. Und der Homunkulus wagt sich bei Goethe nicht in das Getriebe hinein der Sirenen, des Seismos und so weiter, weil er sich fürchtet vor dem wogenden, stürmischen Elemente, in das der Mensch untertaucht, wenn er die Sinneswelt verläßt, und in die Welt eintaucht, aus der sonst die Träume heraufsprudeln. Da wagt sich Homunkulus nicht hinein.

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Homunkulus möchte einen bequemeren Weg zum Homo-Werden einschlagen. Er ist zwei Philosophen, dem Anaxagoras und dem Thales, iuf der Spur. Er möchte von ihnen erfahren, wie man mehr in seine Wvenschenwesenheit hereinbringen kann, als einem so ein Wagner im Laboratorium geben kann. Das möchte er erfahren. Wir wissen schon, von neueren Philosophen versprach sich Goethe nicht, daß man so etwas erfahren kann; da will er gar nicht erst «geduldig Volk am Seile führen» und etwa den Homunkulus nach Königsberg in die Nähe Kants brin­gen, um Auskunft an ihn heranzubringen, wie man entstehen kann als Mensch, wie man sein Menschenwesen erweitern kann, sondern Goethe versuchte gerade, sich in die Welt der Griechen aus dem Grunde ein­zuleben, weil er glaubte, daß man durch Einleben in die noch biegsamen, weicheren Vorstellungen der Griechen das Menschenleben auch eher er-Fassen kann aus den andern Bewußtseinsschichten heraus als durch das­jenige, was die neueren Philosophen doch nur aus Verstand und Sinnes-bewußtsein herausholen. Und so bringt er denn den Homunkulus nicht in die Gesellschaft von Kant oder Leibniz oder Hume oder Locke, son­dern er bringt ihn in die Gesellschaft von solchen Philosophen, die nodi den älteren Anschauungen der Menschen, den alten Mysterienanschau­ungen nahegestanden haben, wo aus zwar nicht so hellen Bewußtseins-erlebnissen wie heute, aber aus umfassenderem Bewußtseinserleben etwas über das Wesen des Menschen gewußt werden konnte. Aber im Grunde genommen sind Anaxagoras und Thales nur noch Nachzügler der alten Mysterienweisheit. Anaxagoras weiß noch mehr von dem alten Mysterienwissen. Das zeigt uns alles dasjenige, was Anaxagoras in der Szene vorbringt. Thales ist eigentlich der Inaugurator, der Initia­tor, der Anfänger der neueren wissenschaftlichen Richtung, und er weiß nur noch wenig von dem, was alte Mysteriengeheimnisse sind. Natürlich weiß er deshalb mehr, weil er doch noch nähersteht den alten Mysterien-geheimnissen als seine späteren philiströsen Nachzügler, aber er weiß weniger als der Anaxagoras. Thales, man sieht das aus seinen Reden, weiß eigentlich nur Auskunft zu geben über dasjenige, was in seiner sinnlichen Umwelt geschieht, wie sich da nach und nach - man glaubt, daß Lyell redet, der moderne Geologe - durch langsame Vorgänge Gebirge und sonstige Verhältnisse der Erde bilden. Anaxagoras will

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das Gegenwärtige aus dem Vergangenen erklären, das Irdische aus dem erklären, was vorgegangen ist, wie die Erde noch nicht Erde war. Ana­xagoras will erklären aus jenen Zeiten heraus, welchen mit ihrem Wesen, wie ich Ihnen gestern ausgeführt habe, die Ameisen, die Imsen angehören, aber auch die Pygmäen angehören. Anaxagoras lebt ganz in dieser Welt, die heute eine übersinnliche oder meinetwillen unter-sinnliche ist, ohne deren Kenntnis man aber die sinnliche nicht ver­stehen kann. Anaxagoras gibt damit im Grunde eine tiefe Überzeugung Goethes wieder. Denn Goethe hat in einem seiner Sprüche in schöner Weise gerade über diesen Punkt sich ausgesprochen. Er hat gesagt:

«Was nicht mehr entsteht, können wir uns als entstehend nicht denken. Das Entstandene begreifen wir nicht.» Und er sagt an einer andern Stelle seiner Schriften: «Die Vernunft ist auf das Werdende, der Ver­stand auf das Gewordene angewiesen...»

Das Gewordene, das ist dasjenige, was Thales um sich herum sieht. Anaxagoras geht auf das Werden, das dem Gewordensein voran­gegangen ist, auf das Entstehen. Goethe unterscheidet deshalb streng zwischen Verstand, der auf dasjenige gerichtet ist, was man heute Gegenstand der Wissenschaft nennt, und der Vernunft, die über das Sinnenfällige und Verstandesmäßige hinausgeht, und die auf das Über-sinnliche geht, also auch auf dasjenige Übersinnliche, was sich abge­spielt hat, bevor der heutige Erdenzustand gekommen ist. Es ist Ana­xagoras, in dem Goethe den Repräsentanten sieht eines Wissens, einer Erkenntnis, die auf das Entstehen geht, heimisch in alldem, was die Pygmäen treiben. In alldem, was solche Wesen treiben, die zwar ein physisches Dasein in der Gegenwart entwickeln, aber ihrem Wesen nach eigentlich der Vorzeit angehören wie die Imsen und so weiter.

Und nun möchte Anaxagoras, als der Wunsch, die Bitte des Homun­kulus an ihn herantritt, dem Homunkulus die Gelegenheit geben, durch sein Wissen das Menschenwesen zu bereichern. Er will den Homun­kulus führen in die Welt der Pygmäen, der Imsen und so weiter, er will ihn darinnen sogar zum König machen. Das ist Anaxagoras schon klar, daß man in der Welt, von der Thales redet, die nur die Welt der gegenwärtigen Verhältnisse ist, nicht viel gewinnen kann, um vom Homunkulus zum Homo zu gelangen, aber wenn man eintritt in die

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Werdewelt, in die Welt, die der unseren vorangegangen ist, da könnte man etwas gewinnen, um vom Homunkulus zum Homo zu gelangen. Aber Homunkulus ist unschlüssig:

Was sagt mein Thales?

Er hat noch in sich den Gedanken des Sich-nicht-Hineinwagens in die Welt. Als sie ihm entgegengetreten ist als Traumeswelt, da wagte er sich nicht hinein. Jetzt, wo sie ihm in den Gedanken des Anaxa­goras entgegentritt, wagt er sich auch nicht recht hinein, wenigstens will er noch den Rat des Thales. Und der hält ihn ab, in diese Welt der Anaxagoras-Gedanken unterzutauchen. Was ist das für eine Welt, die Welt der Anaxagoras-Gedanken? Es ist im Grunde genommen die Welt der alten Mysterien, aber abgeflacht und abgeplattet bis zur mensch­lichen Verständigkeit. Es sind die Schattenbegriffe aus den alten Myste­rien heraus. Daher können sie nicht bestehen gegenüber der Welt. Hat man die wirklichen, lebendigen Begriffe vom Werden, dann kommt man schon zum Verständnis dieser Welt, dann ist man ihr gewachsen. Aber mit den schattenhaften Begriffen, die der Anaxagoras hat, ist Homunkulus nun den Einwänden des Thales nicht gewachsen, denn die Einwände des Thales sind aus der gegenwärtigen Sinneswelt. Und geradeso wie die flüchtigen Träume, die der Abglanz sind hoher Geisteswelten, vor dem Menschen verglimmen, wenn der Hahn kräht, oder wenn einer die Tür zuschlägt, so verglimmt überhaupt dasjenige, was da lebt wie in der Gedankenwelt des Anaxagoras sehr leicht, wenn sich die andern Gedanken geltend machen, die aus der gegen­wärtigen Sinneswelt genommen sind. Thales braucht nur darauf auf­merksam zu machen, daß doch die gegenwärtige Sinneswelt da ist. Er weist in sehr kräftiger Art darauf hin. So wie die Gegenwartswelt die Vorwelt, die uns im Traume wiederersteht, totschlägt, so schlagen die Kraniche die Pygmäen und die Imsen tot. Es ist nur ein Abbild davon. Anaxagoras hat sich an die Welt zuerst gewendet, die dem Menschen wiederum in der Traumeswelt in einer unsicheren Kunde erscheint. Nachdem er es hat erleben müssen, daß aus dieser Welt heraus dem Homunkulus kein Segen erwuchs, wendet er sich nach der oberen Welt. Und er fleht zunächst an in einer wunderbaren Rede das Überbleibsel

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der irdischen Vorzeit unter den Himmelserscheinungen, er fleht den Mond an. Nachdem er sich zuerst verbreitet hat in seinen Ideen und Gedanken über dasjenige, was aus der Mondenzeit zurückgeblieben ist:

Imsen, Pygmäen, das Untere, - nachdem ihm das mißglückt ist gegen­über dem Homunkulus, wendet er sich nach oben, wo der Mond zurück­geblieben ist aus jener alten Mondenzeit.

Denken Sie einmal, wie klar Goethe gerade in dieser Szene eigentlich hinweist auf alle diese Geheimnisse, die dem irdischen Werden zugrunde liegen. Er läßt nun auch noch den Anaxagoras aus der alten Mysterien-weisheit sein Hinfiehen zu dem Monde vornehmen. In einer wunder­schönen Rede wendet sich Anaxagoras an den Mond. Diese Rede zeigt so recht, wie Goethe in Anaxagoras schildern wollte eine Persönlichkeit, die darinnensteht in der geistigen Welt, aber die in dieser geistigen Welt nur noch mit ihrem Verstande darinnensteht, jenem Verstande, der, wenn er nur das Gegenwärtige beobachtet, überhaupt an das Geistige nicht kommen kann, der aber bei Anaxagoras das Geistige aus den alten Mysterien noch bewahrt hat. Anaxagoras sagt:

Konnt' ich bisher die Unterirdischen loben,

So wend' ich mich in diesem Fall nach oben...

Du! droben ewig Unveraltete,

Dreinamig-Dreigestaltete,

Dich ruf' ich an bei meines Volkes Weh,

Diana, Luna, Hekate!

Du Brusterweiternde, im Tiefsten-Sinnige,

Du Ruhig-Scheinende, Gewaltsam-Innige,

Eröffne deiner Schatten grausen Schlund,

Die alte Macht sei ohne Zauber kund!

Aber er hat nur noch die Schatten. Statt daß er etwas erreicht für Homunkulus, nimmt er wahr, wie aus dem Monde Verheerung her­unterfällt auf die Erde, wie nun auch dasjenige, was noch am Leben übriggeblieben war, zerstört wird durch eine Elementarerscheinung. Be­deutsam aber ist für die Charakteristik des Anaxagoras, wie er den Mond, dieses Überbleibsel der Erdenvorzeit, anruft: «Diana, Luna, Hekate.» Für Anaxagoras ist also der Mond nicht eine Einheit, sondern

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eine Dreiheit. Der Mond, insoferne er am Himmel oben seine Kreise vollendet, ist Luna. Als Luna wirkt er von außen herein auf die Erde ein.

Insoferne er auf der Erde selbst tätig ist, ist er Diana. Diejenigen Kräfte, die als kosmische Kräfte wirken durch den am Himmel kreisen-den Mond, sie haben, ich möchte sagen, ihre Geschwister auch in irdischen Kräften. Nicht nur kosmisch ist der Mond vorhanden, sondern er ist auch irdisch vorhanden. Dieselben Kräfte, die kosmisch an den am Himmel kreisenden Mond gebunden sind, sie durchweben und durch-leben auch das Irdische und gehören zu wichtigen unbewußten Kräften des Menschen. Sie wirken in der menschlichen Natur, gehören zu wich­tigen unterbewußten Kräften. Dasjenige, was innerhalb der Erde wirkt, indem vom Unterbewußten herauf in dem Menschen ein gewisses Ver­hältnis, das nicht ganz zum Bewußtsein kommt, zur Natur waltet, das nannte der Grieche Diana. Man sagt gewöhnlich, Diana sei die Göttin der Jagd. Gewiß, das ist sie auch, weil in der Jagdlust auch dieses Unter-bewußte waltet, was aber in zahlreichen andern menschlichen Gefühlen und Willensimpulsen waltet. Diana ist nicht nur die Jagdgöttin, sondern sie ist die schaffende und wirkende Göttin in alldem, was so angestrebt wird, halb unbewußt und halb unterbewußt wie das Jagdvergnügen. Solches tut der Mensch sehr vieles im Leben. Das ist das Mittlere.

Dann lebt im Menschen aber auch und vor allen Dingen in der Erde eine dritte Gestalt, die Gestalt der Hekate, die unterirdische Gestaltung des Mondes. Auch vom Erdeninneren, vom Unterirdischen wirken her­auf die Kräfte, die im Monde von oben hinunterwirken, insofern der Mond eine Himmelserscheinung ist. Der heutige Mensch kennt von die­sem Mond eigentlich nur noch die abstrakte mineralische Kugel, von der er glaubt, daß sie da draußen in vier Wochen die Erde umkreist. Der Grieche kannte den dreifachen Mond: Luna, Diana, Hekate. Und indem der Mensch ein Mikrokosmos ist, ist er ein Abbild von allen möglichen Dreiheiten, also auch ein Abbild des dreifachen Mondes, von Luna, Diana, Hekate. Haben wir nicht kennengelernt den dreifachen Men­schen? Wir haben kennengelernt den Hauptesmenschen, den Kopfmen­schen. Der Kopfmensch kann, indem er das Ergebnis von Saturn-, Son­nen- und Mondenzeit ist, das Ergebnis der Vorzeit überhaupt, in

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Zusammenhang gebracht werden mit dem himmlischen Reste, mit der Luna. So daß der Kopf im Menschen entsprechen würde als ein Mikro­kosmos der makrokosmischen Luna. Der Mittelmensch, der Brustmensch würde der Diana entsprechen. Im Herzen entstehen auch diejenigen unterbewußten Impulse, deren Göttin die Diana ist. Und alles das­jenige, was in dem Extremitätenmenschen mit seiner Fortsetzung im Sexualmenschen spielt, das rührt her von der unterirdischen Macht der Hekate: alle die dunklen, rein organischen, leibesartigen Gefühle und Impulse, die im Menschen walten. Und Goethe läßt alles anklingen, um die Sache für den, der sie erkennen will, recht deutlich zu machen. Zum Reich der Hekate zum Beispiel gehört die Empuse, die unter den Lamien erscheint um den Mephistopheles herum in dieser Szene, neben den Lamien, bei denen das nicht so ausgesprochen ist, bei denen nur dasjenige ausgesprochen ist, was mehr zu der Diana neigt. In der Empusa wirkt aber mehr dasjenige, was im Unterirdischen des Irdischen, was mikro­kosmisch in der niederen Natur des Menschen lebt und in Mephisto­pheles wachgerufen werden soll. Das läßt Goethe anklingen. Anaxa­goras will gewissermaßen stärker geltend machen seine Wissenschaft, als er sie schon vorher geltend gemacht hat, indem er nur auf das Irdische, aber auf das zurückgebliebene Irdische hingewiesen hat, auf die Imsen, auf seine Myrmidonen, wie er sich ausdrückt. Er wendet sich an den dreifachen Mond, der makrokosmisch dasselbe ist wie mikrokosmisch der Mensch. Hatte Goethe davon eine Ahnung, daß in dem dreifachen Mond makrokosmisch-wirklich Hauptesmensch, Brustmensch, Unter­leibsmensch oder Extremitätenmensch vorhanden war? Nun, lesen wir die folgenden Zeilen:

Du Brusterweiternde - Diana -,

Im Tiefsten-Sinnige - Luna -,

Du Ruhig-Scheinende, Gewaltsam-Innige - Hekate -.

Hier haben Sie die drei Prädikate von Luna, Diana, Hekate, inso­ferne sich diese drei Prädikate auch auf den dreigliedrigen Menschen beziehen, von Goethe voll ausgesprochen und handgreiflich gemacht dadurch, daß er das Mittlere sogar mit dem Ausdruck Brusterweiternde bezeichnet.

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Sie sehen, derjenige, der behauptet, daß Goethe ahnendes Wissen tief untertauchte in geisteswissenschaftliche Wahrheiten, hat gute Gründe dazu. Nur muß dasjenige, was in einem solchen Werke steht wie Goethes «Faust», in seiner wahren Gestalt gelesen werden. Gerade wenn Sie bei Goethe dieses eigentümliche Stehen mit einem ahnenden Erkennen in dem Geisteswissenschaftlichen in Erwägung ziehen, dann werden Sie es begreiflich finden, wie Goethe, ich möchte sagen, in einer gewissen Be­ziehung immer wieder und wiederum das Geistige, das Übersinnliche als etwas doch Unheimliches empfand. Er stand in seiner nordischen Welt einmal darinnen, wie ich gestern gesagt habe, und fühlte mit dem, was diese Umwelt an Begriffen, an Vorstellungen darbietet. Wenn man das größte Genie ist - man kann nur dieselben Begriffe haben wie die andern. Man kann sie anders verbinden, aber man kann nur dieselben Begriffe haben. Da kommt man den andern zwei Schichten des Bewußt­seins nicht bei: dem Untersinnlichen und dem Übersinnlichen; man kommt ihnen nicht bei. Der gewöhnliche Philister macht sich nichts dar­aus, ist froh, wenn er nicht beizukommen braucht den andern Schichten des Bewußtseins. Aber Goethe, der mit allen Fasern seiner Seele danach strebte, menschliches Wesen zu durchdringen, empfand es oftmals als etwas recht, recht sehr die menschliche Natur Einschränkendes, daß er keine Vorstellungen, keine Begriffe hatte, um hineinzuschauen in die­jenige Welt, aus welcher der Mensch doch auftaucht, und in die er mit seinem Verstand und mit seiner gewöhnlichen Wissenschaft nicht hinein­schauen kann. Und da entstand in Goethe aus alldem, was er durch natürliche Anlagen gefühlt hat, was ihm auch sonst zugänglich war, oder was er namentlich in Italien beobachtet hatte an der griechischen Kunst, der Gedanke: Wenn man sich erfüllt mit griechischen Vorstellungen, griechischem Leben, dann kommt man näher dem Übersinnlichen als mit den modernen Vorstellungen. - Und es war das so tief gewurzelt bei Goethe, daß er seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts immer da­nach strebte, seine Vorstellungen so biegsam zu machen, wie die Vorstel­lungen der Griechen waren. Er hoffte dadurch beizukommen der über­sinnlichen Welt. Was aber war damit verbunden? Damit war verbun­den, daß er in der Tat große Anstrengungen machte, nicht um durch die Anschauung des griechischen Lebens die übersinnliche Welt zu erkennen,

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aber um Vorstellungen zu gewinnen, um die übersinnliche Welt in das Seelenleben herein fassen zu können. Es ist interessant, wie Goethe, gerade als er an diesen Szenen geschrieben hat, sich vertieft hat in alles mögliche, um das griechische Leben vor seiner Seele lebendig erstehen zu lassen. Heute ist man nicht näher dem griechischen Leben, als man zu Goethes Zeiten war. Und Goethe fand immerhin an einem Werke, wie zum Beispiel Schlossers «Universalhistorische Übersicht der Ge­schichte der alten Welt und ihrer Kultur», das 1826 erschienen ist und das Goethe gleich gelesen hat neben vielen andern Werken, die ihn in das griechische Leben versetzten, er fand immerhin die Möglichkeit, indem er sich kongenialisch verhalten wollte zum griechischen Leben, das grie­chische Leben in seiner Seele lebendig zu machen. Aber mit welchen Ge­danken versuchte er das? Denken Sie, da schreibt er: Es fordert uns auf, in das Allgemeinste, Vergangenste, Nichtheranzubringende der Ur­geschichte unser Schauen hinzuwenden und von da an die Völkerschaften nach und nach zu unserem Blick heranquellen zu lassen.

Goethe beschäftigt sich schon in den letzten zwanziger Jahren, in denen gerade diese Szenen seines «Faust» entstehen, intensiv mit solchen Studien, die das Längstvergangene vor seinem Geiste lebendig machen und ihm zeigen, wie es heranquillt in die Gegenwart. Goethe ist kein solcher Dichter wie viele andere, die gewissermaßen aus dem Hand­gelenk heraus dichten, sondern er ist ein Dichter, der untertauchen will in diejenige Welt, die ihn in das Übersinnliche führt, damit er als Dichter Kunde bringen könne von diesem Übersinnlichen. Und weil er an die griechische Welt glaubte, so verwandelte sich für ihn in einer gewissen Beziehung die Vorstellung. Der Wahrheitsbegriff und der Be­griff der Güte rückten für ihn, weil er griechisches Leben suchte in der Seele, dem Schönheitsbegriff nahe. Und der Begriff des Bösen rückte dem Häßlichkeitsbegriff nahe. Das ist für die heutige Menschheit schon schwer verständlich. Im griechischen Denken war das anders. Kosmos ist ein Wort, das auch ebensogut die schöne Weltenordnung wie die wahre Weltenordnung bedeutet. Die heutige Menschheit denkt nicht mehr so nahegerückt die Schönheit an die Wahrheit und die Häßlichkeit an das Böse, wie der Grieche das tat. Dem Griechen verschmolzen sich noch Schönheit mit Wahrheit, Häßlichkeit mit Irrtum und mit dem

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Bösen. Und Goethe bekam durch sein Verhältnis zum Griechentum ge­wissermaßen die Empfindung, wer so organisiert ist, wie die Griechen waren, die der übersinnlichen Welt noch näherstanden, empfindet das Unwahre und das Böse als häßlich, wendet sich aus Schönheitsgefühl davon ab, und die Wahrheit empfindet er als schön. Diese Empfindung bildete Goethe aus. Und er glaubte, er komme vielleicht dem Übersinn­lichen näher, wenn er sich durchdringe mit einer Empfindung für die Schönheit der Welt. Dann aber, wie man das Licht nur an seinen Schat­ten kennenlernen kann, muß man sich auch durchdringen mit einer Emp­findung für die Häßlichkeit der Welt. Das suchte Goethe.

Aus diesem Grunde bringt er den Mephistopheles, der ja nur eine andere Seite des Faust-Lebens ist, in die Nähe der Urbilder der Häß­lichkeit, der Phorkyaden, welche die Urbilder der Häßlichkeit sind. Damit rührt Goethe an ein großes Geheimnis des Daseins. Sie werden aus meinen Vorträgen, die ich im Verlauf der Zeit hier an diesem Orte gehalten habe, ersehen haben, daß schon auch in der Gegenwart gewisse Leute im Besitze gewisser Geheimnisse sind. Vor allen Dingen ist zum Beispiel die Führerschaft des römischen Katholizismus - die Führer­schaft - im Besitze gewisser Geheimnisse. Es kommt dabei darauf an, wie man diese Geheimnisse anwendet. Aber auch gewisse Eingeweihte der englisch sprechenden Bevölkerung sind im Besitze gewisser Geheim­nisse. Aus einem gründlichen Mißverständnis heraus bewahren nicht nur die römisch-katholische Kirche - die Führer - vor ihren Gläubigen diese Geheimnisse, sondern auch gewisse esoterisch Eingeweihte der englisch sprechenden Bevölkerung. Die haben nun verschiedene Gründe, und von einem der Gründe will ich nun sprechen.

Die Erde hat eine Vergangenheit: Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit; eine Gegenwart: Erdenzeit; eine Zukunft: Jupiter-, Venus-, Vulkanzeit. Es gibt in der Entwickelung ein Gutes und ein Böses. Aus dem Kosmos, aus der kosmischen Entwickelung ist das Gute nur zu erkennen aus der Vergangenheit, aus der Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit und aus der halben Erdenzeit. Weisheit und das Gute hängen mit dem Rückblick in die Vergangenheit zusammen. Weisheit und das Gute impfen jene Mit­glieder der höheren Hierarchien, die zu den Menschen gehören, in der Zeit der menschlichen Natur ein, in welcher diese menschliche Natur

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noch nicht so wie auf der Erde zum vollen Bewußtsein erwacht ist. Für die folgende Zeit, für die Jupiter-, Venus-, Vulkanzeit und auch für die jetzige Erdenzeit schon - es beginnt schon -, für die halbe Erdenzeit noch muß der Mensch bewahren das Gute, wenn er zum Guten gelangen will, muß die Impulse dieses Guten aus seiner Natur heraus entwickeln, denn es offenbaren sich aus dem Umkreise, aus dem, was neu herantritt, die Kräfte des Bösen. Ohne daß sich diese Kräfte des Bösen offenbaren wür­den, würde der Mensch nicht zum freien Willen kommen. Und diejeni­gen Eingeweihten, die ich meine, wissen dieses bedeutsame Geheimnis und wollen es, weil sie die Menschheit nicht reif machen wollen, der Menschheit nicht mitteilen. Sie wissen dieses Geheimnis. Wenn dasselbe, was als Menschennatur auf dem alten Saturn entstanden ist, durch Saturn, Sonne und Mond sich entwickelt hat und nun weitergeht, wenn dieses selbe, was für uns Menschen sich auf dem Saturn entwickelt hat und eine Vergangenheit hat, jetzt entstehen würde aus den Bedingungen der Erde heraus, so würde es ein radikal Böses werden, würde es nur das Böse aufnehmen können. Aus den äußeren Bedingungen ergibt sich nur die Möglichkeit, das Böse aufzunehmen. Diesem dem Bösen Ausgesetzt-sein verdankt es der Mensch, daß er zum freien Willen kommen kann, daß er wählen kann zwischen dem Bösen, das an ihn herantritt, und dem Guten, das er aus seiner Natur heraus entwickeln kann, wenn er sich vertrauensvoll hingibt an dasjenige, was durch seine Vorzeit in seine Natur gelegt worden ist. Daher sagen diese Eingeweihten denjenigen, die sie auch einweihen wollen: Es gibt drei Schichten des Bewußtseins. -Das ist eine standige Formel, die man in diesen englisch sprechenden Einweihungsschulen haben kann. Taucht der Mensch in dieses Unter-bewußte hinunter, aus dem die Träume heraufquellen, dann erlebt er eine innige Verwandtschaft mit andern Wesen - ich habe Ihnen vorhin charakterisiert: auch mit andern Menschen -, die nicht heraufragen kann in die gegenwärtige Welt. Lebt der Mensch, wie es in der Gegenwart der Fall ist, mit seinem Tagesbewußtsein in der sinnenfälligen oder ver­ständigen Welt, so ist das die Welt, in der er durch Geburt und Tod geht. Und lebt sich der Mensch hinauf in die Welt, die er als physischer Mensch betreten wird in der Zukunft, die er durch übersinnliche Erkenntnisse erringt, dann ist das die Welt, in der er zunächst das Böse erlebt. Denn

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gerade darinnen muß des Menschen Stärke bestehen, daß er dem Bösen gewachsen ist, daß er gegenüber dem Bösen sich aufrechterhalten kann. Er muß das Böse kennenlernen können.

Es ist natürlich die wahre Folge dieser Tatsache diese, daß die Not­wendigkeit besteht für die gegenwärtige Menschheit, Licht zu verbrei­ten über die Vergangenheit, was nur durch Geisteswissenschaft geschehen kann, damit der Mensch gewachsen ist dem notwendigen Entgegen­kommen des Bösen. Auf diese drei wird gerade bei den Eingeweihten der englisch sprechenden Bevölkerung immer wieder und wiederum hingewiesen. Darauf wird jener Kampf begründet, der da sehr, sehr be­deutsam ist, wenn auch die äußere Zeit wenig davon weiß, zwischen gewissen Leuten, die da wollen, daß das Notwendige geschehe und dem Menschen solche Geheimnisse mitgeteilt werden, und denjenigen, die den Menschen unreif lassen wollen. Bis jetzt haben noch die letzteren ge­siegt. Das ist sehr wichtig, daß man diese Dinge kennt. Welches Unheil angerichtet würde, wenn geisteswissenschaftliche Wahrheiten der Welt vorenthalten würden, das können Sie daraus ersehen, denn dem Bösen wird der Mensch schon ausgesetzt. Geschützt wird er vor dem Bösen nur dadurch, daß er sich in das spirituelle Leben des Guten vertieft. Enthält man ihm das spirituelle Leben des Guten vor, dann wirkt man nicht als Menschenfreund, ganz gleichgültig ob man Mitglied irgend­eines Freimaurerordens ist, oder ob man Jesuit ist, man wirkt nicht menschenfreundlich. Dann liefert man die Menschen durch die Vor­enthaltung der spirituellen Weistümer dem Bösen aus. Und man kann dabei einen gewissen Zweck haben. Man kann den Zweck haben, im engen Kreise selber nur das Gute zu wissen, um mit Hilfe dieses Guten die hilflose Menschheit, die durch das Böse sich in die Lebensabsurdität hineinführt, zu beherrschen.

Sie können sich denken, daß derjenige, der - wie Goethe - eine ahnende Erkenntnis hat von diesen Dingen, nur zögernd an diese Dinge herantritt. Sie werden eine Vorstellung haben aus mancherlei, was ich schon gesagt habe in Ihrer Gegenwart über die ganz eigentümliche Geistesart Goethes, und werden sich daraus einen Begriff bilden können, daß Goethe nur mit der Sache wirklich kongruenten Vorstellungen an diese subtilen, aber welterschütternden Dinge herantritt. Daher wollte

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er sich auch nicht der Vorstellung aussetzen, indem er seinen «Faust» konzipierte, geradezu aufmerksam zu machen, wie der Mensch, wenn er vorwärtsdringen will in der Kultur, furchtlos sich dem Anblick des Bösen aussetzen muß, sondern er kleidet auch das in die griechischen Vorstellungen, indem er Mephistopheles aussetzt dem Anblick der Ur­häßlichkeit, dem Anblick der Trinität der drei Phorkyaden, der urhäß­lichen Phorkyaden. Statt die Menschen in rückhaltloser Weise, wie es die Geisteswissenschaft muß, auf die Realität des Bösen hinzuweisen, weist Goethe auf die Realität der Häßlichkeit neben der Schönheit hin. Daher das eigentümliche Verhalten des Mephistopheles gegenüber den Phorkyaden. Würde Mephistopheles in seiner nordischen Heimat ge­blieben sein, das heißt also in einer Welt, die doch gegenüber der grie­chischen fortgeschritten ist in der Weltenordnung, dann würde er der bitteren, aber notwendigen Welt, aus welcher das Böse der Zukunft quillt, entgegentreten müssen. Statt dessen läßt ihn Goethe in der Welt der Antike den Urbildern der Häßlichkeit entgegentreten, den Phor­kyaden. Damit stellt er ihn gewissermaßen noch in die Vorgeschichte der Geschichte des Bösen hinein. Er stellt, indem er mit griechischen Begriffen spricht, eine grundernste Wahrheit in einer den Menschen noch sym­pathischeren Weise vor diese Menschen hin. Und auch hier erweist sich Goethe wiederum als ein gründlicher Kenner der Sache. Wir wissen

- lesen Sie das in meiner «Geheimwissenschaft» -, die Zukunft ist in einer gewissen Weise die Wiederhervorbringung des Vergangenen auf einer höheren Stufe. Jupiter in einer gewissen Weise die Wiederholung des Mondes, Venus die Wiederholung der Sonne, Vulkan die Wieder­holung des Saturn. Auf einer höheren Stufe in Späterem tritt auf das Frühere. So ist es auch mit Bezug auf das Böse, das auftritt, damit der Mensch sein Gutes aus seiner eigenen Natur heraus möglichst stark ent­falten kann. Aber dieses Böse, das wird Zerrbilder, Karikaturen von Bildungen der Urzeit zeigen.

So wie wir jetzt sind, sind wir vieles nur dadurch, daß wir symme­trisch gestaltet sind, daß in uns der Linksmensch und der Rechtsmensch zusammenwirken. Die Physiker und Physiologen denken immer nach, warum wir eigentlich zwei Augen haben, und was uns diese zwei Augen nützen. Wenn sie wüßten, warum wir zwei Hände haben, und was uns

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diese zwei Hände nützen, wüßten sie auch, warum wir zwei Augen haben, und was uns diese zwei Augen nützen. Wenn man nämlich nicht mit der rechten Hand die linke befühlen könnte, würde man nicht zum Ich-Bewußtsein kommen. Dadurch, daß wir imstande sind, mit dem rechten Menschen den linken zu umfassen, daß wir in uns selber die Erkenntnis des rechten Menschen durch den linken anstellen können, kommen wir zum Selbstbewußtsein und zum Bewußtsein, daß das Ich dabei ist. Wenn wir einen Gegenstand anschauen, ist notwendig, daß der Mensch nicht nur ein Auge hat. Wenn der Mensch durch Geburt oder Anlage oder Unglücksfall nur ein Auge hat, zufällig, so hindert das nicht, es kommt auf die Veranlagung an, auf die Kräfte, nicht auf die äußere Erscheinung. Wenn wir einen Menschen anschauen, so kreuzen sich die Augenachsen; dadurch ist das Ich verbunden mit diesem An­schauen: durch diese Kreuzung der linken Richtung mit der rechten Richtung. Und je weiter man zurückgeht, je größer wird die Verwandt­schaft, desto mehr gemeinsam aber auch das Bewußtsein. Daher läßt Goethe den drei Phorkyaden ein Auge und einen Zahn gemeinschaftlich sein, eine sehr sachgemäße Darstellung. Also die drei haben ein Auge und einen Zahn. Das haben sie, weil noch nicht die Sinne zusammen­wirken sollen, sondern noch isoliert dastehen sollen. Die Verwandtschaft wird dadurch auf der einen Seite ausgedrückt, und auf der andern Seite wird aber auch ausgedrückt, daß noch nicht die Elemente zusammen­wirken, daß nicht eintreten kann, was zum Beispiel bei uns durch den Links- und durch den Rechtsmenschen eintritt. So präzis drückt Goethe dasjenige aus, was er ausdrücken will. Es weist das auf sehr, sehr vieles hin.

Und wenn Sie gar bedenken, wie Sie aus der «Geheimwissenschaft» wissen, daß die gegenwärtige zweigeschlechtliche Menschheit aus der eingeschlechtlichen hervorgegangen ist! Das Männliche und Weibliche hat sich erst im Laufe der Entwickelung gebildet. Eine Rückentwicke­lung wird stattfinden. Indem Mephistopheles dem Bösen in der Form des Häßlichen entgegentritt und sich ihm anschließt, mit den Phor­kyaden geht, sagt er ja:

Da steh' ich schon...

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- nachdem er Gemeinschaft geschlossen hat mit den Phorkyaden -

Da steh ich schon,

Des Chaos vielgeliebter Sohn!

Phorkyaden:

Des Chaos Töchter sind wir unbestritten.

Und Mephistopheles:

Man schilt mich nun, o Schmach! Hermaphroditen.

Selbst Hermaphrodit wird er, indem auf diesen Umstand hinge­wiesen werden soll, auf den ich jetzt als den der Zweigeschlechtlichkeit vorangehenden Zustand hingewiesen habe. Ganz sachgemäß schildert wirklich Goethe. Aus dieser Szene kann man schon erkennen, wie tief Goethe ahnend in den Wahrheiten der Geisteswissenschaft darinnen-gestanden hat.

Und nun erinnern Sie sich einmal, daß ich vor kurzem gesagt habe:

Der kann nicht zu einer irgendwie befriedigenden Weltanschauung kommen, der, verführt durch das, was der Mensch nun einmal ist und sein muß, auf der einen Seite zum Beispiel zu abstrakten Idealen kommt, die dann keine Kraft haben - wie Naturkräfte, die in der physischen Weltenordnung nicht eingreifen können, die daher wie Nebel zerstieben müssen, wenn die Erde an ihrem Ziele, das heißt bei ihrem Grabe an­gelangt sein soll, - der kommt zu keiner befriedigenden Weltanschau­ung, der entweder ein solcher abstrakter Idealist ist, oder der Materialist ist. - Man muß beides sein, habe ich gesagt. Man muß sich erheben können zu geistgemäßen Ideen, und man muß das, was materiell ist, materiell anschauen können und materialistische Vorstellungen davon bilden können. Man muß eine materialistische und eine idealistische Weltanschauung bilden können und nicht durch abstrakte Begriffe eine Einheit herstellen, sondern, indem man auf der einen Seite die natur-wissenschaftlichen Begriffe hat und auf der andern Seite die idealisti­schen Begriffe, muß man die beiden sich ineinanderleben lassen. Wie sich Geist und Materie ineinanderleben, so muß man im Erkenntnisprozesse

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selbst, wie ich Ihnen sagte, das Materielle durch das Ideelle. das Ideelle durch das Materielle beleuchten und durchdringen.

Auch darauf kam Goethe. Er kam darauf, wieviel Einseitiges dar­innen ist, wenn die Menschen in abstrakten Begriffen entweder eine mehr dem Stoff oder eine mehr dem Geist zugeneigte Weltanschauung suchen. Und er war daher nicht geneigt, in solchen abstrakten Begriffen eine Weltanschauung zu suchen, sondern suchte anders zu verfahren. Und dieses andere charakterisiert er so: Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimen Sinn den Aufmerkenden zu offenbaren.

Nun, wie kann man klarer ausdrücken, daß man nicht Idealist oder Realist ist, sondern Idealist und Realist, und die beiden Weltanschau­ungen sich ineinander spiegeln läßt! Goethe sucht, von den verschie­densten Seiten der Welt nahezukommen und durch gegenseitige Spiege­lungen der Begriffe zur Wahrheit zu kommen. Es steckt also auch schon in den Goetheschen Impulsen der Weg, der eingeschlagen werden muß durch die Geisteswissenschaft, um die Menschheit der Zukunft, der heil­samen Zukunft entgegenzuführen.

Man möchte, daß in dieser Art an Goethe angeknüpft würde. Dann aber muß so etwas wie der «Faust» vor allen Dingen gelesen werden! Aber die Menschheit hat sich mehr oder weniger das Lesen abgewöhnt. Es ist so, daß die Menschen höchstens sagen, wenn da steht: Luna, Diana, Hekate, die Brusterweiternde, die im Tiefsten-Sinnige, die Ruhig-Scheinende, aber Gewaltsam-Innige - na: dichterisch. Da braucht man nicht sehr weit zu gehen, man braucht sich nicht einzulassen darauf, über jedes Wort nachzuspintisieren. Die Menschen trösten sich heute, wenn ihnen irgend etwas geboten wird, woran sie eigentlich nicht zu glauben brauchen, denn sie möchten so über die Dinge obenhin gehen. Aber das läßt die Welt nicht zu. Wenn Sie an die ernste Wahrheit den­ken, die ich in Anknüpfung an die Begegnung des Mephistopheles mit den Phorkyaden eben aussprechen mußte, und die doch bewahrt wird, wenn auch schlecht bewahrt wird, in manchen okkulten Schulen der Gegenwart, dann werden Sie neben vielem andern, aus dem Sie Gelegenheit

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haben, den großen Ernst des geisteswissenschaftlichen Strebens zu erkennen, den Ernst, der in diesem geisteswissenschaftlichen Streben liegen muß, schon verstehen lernen. Manchmal dringt, man möchte sagen, halbbewußt nur aus Menschen, die in die Nähe desjenigen kamen, was für den Menschen der Zukunft erforderlich ist, so ein Stoßseufzer herauf, wie bei Nietzsche, als er sein Mitternachtslied dichtete: «Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht.»

Man muß schon sagen: der Tag gibt dem Menschen das Tagesbewußt­sein, aber der Mensch gelangt nicht zu mehr von sich selbst als zu einem Homunkulus, nicht zu einem Homo, wenn er sich nur an das hält, was der Tag bringt. Denn die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht. Und da Goethe den Faust nicht bloß in das einführen wollte, was der Tag bringt, sondern in das, was Ewigkeiten bergen, so mußte er ihn den Weg nehmen lassen in Gemeinschaft mit dem Homunkulus und mit dem Mephistopheles, der dem Übersinnlichen entgegengeht. Dem glaubte wiederum Goethe dadurch nahezukommen, daß er sich in griechische Vorstellungen vertiefte und sie in sich belebte.

DAS SEELENLEBEN GOETHES VOM GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN STANDPUNKTE Dornach, 29. September 1918

#G273-1967-SE171 Das Faust-Problem

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DAS SEELENLEBEN GOETHES

VOM GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN STANDPUNKTE

Dornach, 29. September 1918

#TX

Wir haben durch die vorgestrigen und gestrigen Betrachtungen sehen können, wie Goethesches Schaffen durchdrungen ist von einer gewissen, wenn auch vielleicht als geahnt zu bezeichnenden geisteswissenschaft­lichen Anschauung. Und es ist außerordentlich wichtig und bedeutsam, sich darauf einzulassen, einmal solch ein interessantes Faktum zu durch­schauen, wie es das Goethesche Geistesleben ist. Erst dann erscheint ein solches Geistesleben richtig im Zusammenhange mit der ganzen Ent­wickelung der Menschheit, wenn man es in vertiefter Betrachtung mit alle dem, was es enthält, sich vor die Seele führt. Nun möchte ich aber zu all dem Gesagten noch etwas anderes hinzufügen. Ich möchte Sie näm­lich darauf hinweisen, daß man Goethes ganze Geistesstruktur, die ganze Art des Goetheschen Geisteslebens eigentlich doch nur richtig erfassen kann, wenn man dies wiederum von geisteswissenschaftlichem Standpunkte aus tut. Nicht nur, daß ein ungeistiger Standpunkt natür­lich dasjenige nicht finden kann in Goethes Schaffen, was wir durch eine geisteswissenschaftliche Betrachtung vorgestern und gestern haben finden können, sondern es wird auch nur erklärlich, wie ein solches Seelenleben innerhalb der Menschheitsentwickelung möglich ist, wenn man dieses Seelenleben vom geisteswissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet. Ich habe in verschiedenen Zusammenhängen Sie auch auf andere Offen­barungen des Goetheschen Seelenlebens aufmerksam gemacht, auf Offenbarungen, die vielleicht dem allgemeinen Menschenleben ferner zu liegen scheinen, aber nur scheinen, als dasjenige, was sich in der um­fassenden Faust-Dichtung, die eigentlich jeden Menschen im höchsten Grade interessieren sollte, dargestellt findet. Ich habe Ihnen gesprochen davon, daß Goethe eine besondere Art von Naturwissenschaft gepflogen hat. Und dies, daß Goethe eine besondere Art von Naturwissenschaft gepflogen hat, ist etwas außerordentlich Wichtiges und Bedeutsames. Man kann sagen, daß gerade die besondere Denkweise Goethescher

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Naturwissenschaft etwas in den weitesten Kreisen gegenwärtig noch recht Unverstandenes ist. Dennoch erscheint mir gerade für die ver­schiedensten Zweige des Geisteslebens der Gegenwart, nicht zum wenig­sten auch für das religiöse Leben der Gegenwart von ganz besonderer Bedeutung, daß man einen Einblick gewinne in diese besondere Kon­figuration, in diese besondere Art, wie Goethe die Natur angesehen hat. Sie wissen, er versuchte zu begründen für die Welt des Unlebendigen eine Naturwissenschaft, die er aufbaute nach seinem eigenen Ausdrucke auf die Urphänomene, und er begründete eine Pflanzenlehre, die er auf-baute auf die Metamorphose.

So gut es ganz populär geht, möchte ich über diese beiden Seiten, über die Urphänomenenlehre und über die Metamorphosenlehre Goethes, ein paar Worte auch heute charakterisierend zu Ihnen sprechen.

Was beabsichtigt Goethe, indem er für eine Naturerklärung nur zu den sogenannten Urphänomenen, zu keinen Hypothesen und Theorien übergehen will? Ich bemühe mich jetzt seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, von den verschiedensten Seiten her, die Mensch­heit darauf hinzuweisen, was das eigentliche Grundwesen des Urphäno­mens ist. Man kann aber nicht sagen, daß von der Sache eigentlich bis jetzt in weiteren Kreisen viel verstanden worden ist. Man kommt viel­leicht am besten hinein in eine Anschauung darüber, was Goethe unter dem Urphänomen in der unlebendigen Natur verstand, wenn man sich vor Augen führt, wie er dazugekommen ist, gerade eine besondere Farbenlehre auszubilden. Er erzählt das selbst. Ich weiß, daß dasjenige, was ich nun zu sagen habe, für die gegenwärtige naturwissenschaftliche, physikalische Anschauung ein Greuel und eine Ketzerei ist. Das macht aber nichts. Was die gegenwärtige Physik nicht anerkennt, wird sich die zukünftige Physik genötigt finden, schon anzuerkennen. Die gegen­wärtige Physik ist für die Goethesche Farbenlehre wirklich noch nicht reif.

Goethe glaubte so wie andere Menschen - wie gesagt, er erzählt das selber - bis zum Beginn der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts an die sogenannte Newtonsche Farbenlehre, welche auf einer gewissen Hypo­these, auf einer Theorie aufgebaut ist. Es besagt diese Theorie, daß dem Lichte zugrunde liegt irgend etwas - nun, darauf braucht man nicht

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einzugehen -, irgend etwas, was nicht wahrgenommen wird. Ob es, wie von Newton selbst, in Stoffströmungen vorgestellt wird, oder ob es als Schwingungen oder irgendwelche elektrischen Impulse vorgestellt wird, das ist schon schließlich gleichgültig. Es wird so vorgestellt die Farben-entstehung, daß das Licht gewissermaßen ungetrennt die verschiedenen Farben wie neutralisiert enthalte in einer Art übersinnlicher Wesenheit, und daß sich durch das Prisma oder durch andere Vorgänge die Farben herausdrängen lassen aus dem einheitlichen weißen Licht.

Goethe hat sich genötigt gefunden, in einer Weise, wie es selbstver­ständlich für den heutigen Physiker primitiv und töricht erscheinen muß, diese Vorstellung, die er mit den andern auch geteilt hat, eines Tages zu verlassen. Er hat diese Newtonsche Optik studiert, war Gläubiger der­selben geworden, wie es selbstverständlich ist, wenn man nichts Besseres kennt, hat aber gefunden, wenn er nun diese Newtonsche Optik, diese Farbenlehre anwenden will, um etwas künstlerisch, malerisch zu durch­denken, da kann man nichts damit anfangen. Für eine materialistische physikalische Vorstellung taugt diese Newtonsche Physik zur Not, aber man kann künstlerisch nichts mit ihr anfangen. Das störte Goethe immer mehr, und das veranlaßte ihn, wenigstens nachzusehen, wie es sich mit den Farbenerscheinungen physikalisch verhält. Da ließ er sich von dem Hofrat Büttner, der Professor in Jena war, Apparate kommen, um zu sehen, was er durch eigene Untersuchungen, eigene Experimente in bezug auf die Farbenentstehung sich für Anschauungen bilden könnte. Der Hofrat Büttner hat Exzellenz von Goethe selbstverständlich bereit­willigst alles zur Verfügung gestellt. Aber die Sachen verstaubten zu­nächst bei Goethe zu Hause. Er kam lange nicht dazu, die Untersuchun­gen zu machen, bis der Hofrat Büttner vorstellig wurde, daß er jetzt seine Apparate brauche und daß er sie gern zurückhaben möchte. Goethe stellte sie zusammen, um sie dem Mann zurückzusenden. Vorher wollte er aber doch noch rasch durch ein Prisma schauen, und da glaubte er -wie gesagt, für den heutigen Physiker höchst primitiv und töricht -, wenn er durch ein Prisma schaut, dann müßte er die weiße Wand, weil sie sich doch in sieben Farben spaltet, in allen sieben Farben hintereinan­der sehen. Aber nichts! Sie blieb weiß! Das störte ihn. Es war töricht nach den üblichen Voraussetzungen; nur war es - ein gesundes Denken.

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Er guckte da durch das Prisma - die Wand blieb weiß. Das bewirkte, daß er noch einmal den Hofrat Büttner ersuchte, die Instrumente, die Apparate behalten zu dürfen. Und da hat er denn doch seine weiteren Untersuchungen angestellt. Und aus diesen Untersuchungen heraus ist ihm erwachsen: erstens seine Farbenlehre und zweitens seine Anschau­ung über die physikalischen, das heißt die unlebendigen Erscheinungen der Natur überhaupt, eine solche Anschauung, die alle Hypothesen und alle Theorien ablehnt, die gar nichts ausdenkt über die Naturerscheinun­gen, sondern diese zurückführt wiederum auf Erscheinungen, nur auf Urerscheinungen, auf Urphänomene.

Und so wurde er sich klar darüber: Wenn man irgendeine Farbe schaut, so liegt auf irgendeine Art zugrunde ein Zusammenwirken von Licht und Finsternis, die übereinandergeschoben werden. Wird das Licht über die Einsternis geschoben, erscheinen die dunklen Farben: blau, violett und so weiter. Wird über das Helle, über das Licht, die Finsternis geschoben in irgendeiner Weise, also verfinsterte Materie und derglei­chen oder das Prisma selber, so erscheinen die hellen Farben: rot, gelb und so weiter. - Da ist gar keine Theorie dabei. Dunkles und Helles wirkt in der unmittelbaren Wahrnehmung. Nur sind es einfach Wahr­nehmungen. Wenn Dunkles und Helles zusammenwirkt, entstehen Far­ben. Darin ist nichts ausgesprochen von einer Hypothese, von einer Theorie, sondern es ist nur ein Einfaches, Wahrnehmbares ausgesprochen.

Und nun handelt es sich für ihn nicht darum, Hypothesen zu erfinden, wie etwa die Undulationshypothese oder die Emissionshypothese und dergleichen, um zu sagen, so und so entstehen Farben, sondern lediglich um die Frage, wie Licht und Finsternis zusammengestellt werden müs­sen, damit Gelb oder Rot oder Blau oder Violett erscheine. Also wQrauf es Goethe ankam, das ist, nichts hinzuzudenken an Hypothesen und Theorien zu den Erscheinungen, sondern ganz streng die Erscheinungen für sich selber sprechen zu lassen. Goethe brachte auf diesem Wege eine Farbenlehre zustande, die in einer wunderschönen Art in die künst­lerische Auffassung des Farbigen führt. Denn das Kapitel über die sinnlich-sittliche Wirkung der Farben, worin sich so viele auch für den Künstler bedeutungsvolle Andeutungen finden, gehört zu dem Schön­sten der Goetheschen Farbenlehre.

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Das war nun Goethes Grundlage für die Gesamtauffassung der un-lebendigen Natur, nirgends Theorien oder Hypothesen zu suchen. Die können, meint er, aufgestellt werden, um Gerüste zu haben. Aber wie man die Gerüste nicht stehen läßt, wenn der Bau fertig ist, sondern sie abnimmt, so verwendet man auch Hypothesen nur, um einen Weg zu finden, wie man sie zusammenstellt; nachher aber werden sie abgerissen, wenn man bis zu dem Urphänomen, zu dem einfachsten Phänomen ge­kommen ist.

Das versuchte Goethe auch für die gesamte Physik wenigstens zu skiz­zieren. Und Sie finden in der großen weimarischen Ausgabe in dem Bande, wo von mir veröffentlicht sind die Goetheschen allgemeinen naturwissenschaftlichen Aufsätze, auch ein Schema, in dem Goethe eine ganze Physik schematisiert gegeben hat von diesem Gesichtspunkte aus. Besonders interessant ist in diesem Schema die Tonlehre zum Beispiel, die im Einklange mit seiner Farbenlehre, allerdings nur schematisiert ist. Aber es wäre interessant, einmal eine Tonlehre, die ebensogut in das Musikalische einmünden würde, wie die Goethesche Farbenlehre in das Malerische einmündet, zu schaffen. Sie konnte natürlich noch nicht ge­schaffen werden, weil die moderne Naturwissenschaft ganz andere Wege geht, als sie in der Goetheschen Weltanschauung, respektive in der Goetheschen Naturanschauung begründet sind. Das versuchte Goethe mit Bezug auf die unlebendige Natur.

Ein Ahnliches versuchte er mit Bezug auf das lebendige Pflanzen­leben durch die Metamorphosenlehre, wo er auch nicht Theorien und Hypothesen aufstellte, sondern verfolgte, wie das Laubblatt sich um­wandelt, metamorphosiert die verschiedensten Gestalten annimmt und nachher zum Blumenblatt wird, so daß die Blüte nichts anderes ist als das umgewandelte Laubblatt. Wiederum eine Anschauung, die keine Hypothesen will, die keine Theorie aufstellen will, sondern die rein bleiben will bei dem, was die Anschauung darbietet. Nur braucht man dann bewegliche Begriffe, Begriffe, die ebenso beweglich sind wie die Natur selber. Wie die Natur im Schaffen lebt, das ist, daß sie an den Gestalten nicht festhält, sondern die Gestalten verwandelt. Man muß also solche Begriffe haben, wie sie die Mehrzahl der Menschen zu be­quem ist auszubilden, Begriffe, die sich selbst innerlich wandeln, um

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von Gestalt zu Gestalt, wie sie sich in der Natur wandeln, wirklich mit den Begriffen mitfolgen zu können. Aber dann bleibt man ohne Hypo­thesen und ohne Theorien nur im rein Sinnenfälligen stehen.

Es ist dieses Eigentümliche, daß Goethe gerade dadurch charakteri­siert ist, daß er für die Naturerscheinungen jegliche Theorie ablehnt und eigentlich das Denken nur dazu verwenden will, um die Phäno­mene in der richtigen Weise zusammenzustellen, daß sie sich selbst aus­sprechen in ihrem Wesen. Ja, man kann das Paradoxe sagen, ich bitte Sie, das wohl ins Auge zu fassen: Gerade dadurch wird Goethe in der richtigen Weise so in das Geistgebiet hineingetrieben, wie wir das vorgestern und gestern charakterisieren konnten, daß er für die Er­scheinungen der äußeren Natur sich nicht durch allerlei Theorien und Hypothesen die Naturerscheinungen verunreinigt, sondern daß er die Naturerscheinungen so auffaßt, wie sie sich dem sinnenfälligen Dasein darbieten.

Das hat aber eine weitere Folge. Wenn man Newtonsche oder Spen­cersche oder ähnliche Theorien bildet, also das, was die Natur selbst bietet, verunreinigt durch Theorien und Hypothesen, so denkt man über die Natur so, daß man im physischen Menschenleben so denken kann, aber der Atherleib des Menschen nimmt die Sache nicht auf. Und sie übertragen sich, alle diese Theorien, die nicht durch die reine Natur-betrachtung gewonnen werden. Alle diese Theorien und Hypothesen machen erst den menschlichen Atherleib zur Karikatur, ja, dadurch auch den astralischen Leib zur Karikatur und stören dadurch im übersinn­lichen Gebiet das Menschenleben.

Gegen diese Zerstörung der Formen, die der Atherleib für sich for­dert, wandte sich die gesunde Natur Goethes. Das ist gerade - und deshalb sage ich: man kann Goethe nur geisteswissenschaftlich ver­stehen - das Bedeutsame für Goethe. Er hatte einen Instinkt für das, was nicht aus der unmittelbaren Wirklichkeit stammt, weil er verspürte, wenn er solche Begriffe bildete, wie die Newtonschen waren, da zwickt es und zwackt es im Ätherleib. Bei den andern zwickt es und zwackt es nicht, weil sie gröber organisiert sind. Goethe war so organisiert, daß es ihn zwickte und zwackte im Atherleib, während er so hindurch-schaute. Und weder eine Theorie noch die kostbarste Hypothese verhindern,

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daß es in ihm zwickt und zwackt, als nur das Weiß erscheint, und er denken muß, die Wand ist trotzdem weiß, obwohl stufig die sieben Farben erscheinen sollten. Es ist nicht geschehen. Und es ist ein Beweis für die durch und durch gesunde, das heißt, als Mikrokosmos dem Makrokosmos eingepaßte Natur Goethes, daß er in dieser Weise emp­fand.

Und noch eine andere Seite dieser Sache ist hervorzuheben. Wir wissen, der Mensch ist nicht nur dieses Wesen, das da lebt zwischen der Geburt und dem Tod, sondern der Mensch ist auch das Wesen, das lebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. In diesem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt hat man diejenigen inneren Kräfte-zusammenhänge, die man sich ausgebildet hat im physischen Leib. Und wenn man sich nach ein paar Tagen vom Ätherleib getrennt hat, sieht man auf diesen Ätherleib hin. Es handelt sich darum, daß man diesen Ätherleib so behandelt hat als Mensch, daß man auf ihn hinschauen kann, ohne daß er einen als Karikatur beirrt. Nun ist das Eigentümliche, wenn man die Natur rein naturgemäß anschaut, so wie sie Goethe an­geschaut hat, wenn man Theorien und Hypothesen ablehnt und nur Urphänomene gelten läßt, dann ist dieses Auffassen, dieses Anschauen der Urphänomene so, daß sie in uns gesunde Empfindungen und Ge­fühle auslösen, diejenigen Empfindungen, die Goethe in dem Kapitel « Sinnlich-sittliche Wirkungen der Farben» beschreibt. Selbstverständ­lich, die Anschauung der sinnlichen Phänomene fällt ab mit unserem Leben. Was aber durch die reine Anschauung, die Goethe als Natur­wissenschaft allein gelten läßt, in unserem Geistig-Seelischen verbleibt, das ist gesund und paßt auch zur geistig-seelischen Welt. So daß man sagen kann: Die Goethesche Naturwissenschaft ist, trotzdem sie sich beschränkt auf die Phänomene, auf das Sinnliche, gerade eine geist­gemäße, weil sie nicht durch eine ahrimanische oder luziferische Be­einflussung des Geistes hier die reine Naturanschauung durch Theorien verunreinigt. - Solche Theorien verdunkeln für das Geistig-Seelische die reinen Anschauungen des Irdischen.

Nun habe ich Ihnen gestern gesagt, der Mensch lebt nicht nur auf der Erde, sondern er hat, bevor er die Erde betrat, eine Saturn-, Sonnen-und Mondenentwickelung durchgemacht. Er wird, nachdem er die Erde

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verlassen wird, oder besser gesagt, die Erde ihn verlassen wird, eine Jupiter-, Venus- und Vulkanentwickelung durchmachen. Aber ich habe Ihnen gesagt: Unsere naturwissenschaftlichen Begriffe können nur auf die Erdenentwickelung Bezug haben. - Und in der Tat, wenn wir eine gesunde Naturwissenschaft ausbilden, haben wir gerade den Trieb, nicht die Erdenentwickelung so darzustellen, daß wir alles Mögliche hinein­konfundieren, was auf den Saturn, die Sonne und den Mond nur paßt, die natürlich in Wirklichkeit mit der Erdenentwickelung verquickt sind, sondern eine gesunde Naturwissenschaft will die Erde herausheben und die Erde als Erde darstellen in ihrer Gesetzmäßigkeit. Das tut Goethe. Und deshalb können die Menschen so wenig aufrücken zu einer gesun­den Auffassung der Monden-, Sonnen- und Saturnentwickelung, weil sie auch keine gesunde der Erdenentwickelung haben. Wenn auch Goethe selbst noch nicht zu dieser Anschauung gekommen ist von der Monden-, Sonnen- und Saturnentwickelung - wer sich vertieft in seine Natur­wissenschaft, die eine von allem andern gereinigte ist, die sich nur auf die Erde bezieht, der bereitet gerade dadurch seinen Geist vor, das Irdische herauszusondern durch eine gesunde Erdenwissenschaft, und dadurch sich bereit zu machen zu einer gesunden Anschauung desjenigen, was nur im Übersinnlichen gesehen werden kann: Saturn-, Sonnen- und Monden­entwickelung und überhaupt das Geistige. So daß man sagen kann:

Gerade durch seine rein auf das Sinnliche gerichtete Anschauung ist Goethe veranlagt worden, daß er dieses, wie wir gestern und vorgestern gesehen haben, in seinem «Faust» verarbeitet hat. - Deshalb stand Goethe für dasjenige, was geistige Auffassung ist, so im Geiste darinnen, weil er nicht irgendwelche konfuse Theorien oder Hypothesen aus dem Geiste heraus auf die Naturerscheinung anwandte. Das eine bedingt das andere.

Worauf ich Sie gestern am Schlusse aufmerksam machte, ist, daß Goethe nicht auf der einen Seite Idealist und auf der andern Seite Realist war, sondern die äußeren Erscheinungen realistisch, dasjenige, was idealistisch aufzufassen ist, idealistisch auffaßte, aber nicht glaubte, durch das eine oder das andere eine Weltanschauung begründen zu kön­nen, sondern die beiden Anschauungen sich gegenseitig spiegeln ließ in seinem Seelenleben, wie sie sich auch in der äußeren Wirklichkeit spiegeln.

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Wenn auch Goethe das wiederum nicht selbst so verfolgt hat, so führt es dazu, daß, wenn man sich so recht tief hineinversetzt in die Goethesche Art des Vorstellens, man in ganz gesunder Weise dazu kommt, nun auch die beiden Lebensarten, die der Mensch durchzumachen hat, richtig vor­stellen zu können.

Wodurch kommt es denn, daß die gewöhnliche heutige menschliche Anschauung so wenig geneigt ist, das Geistige zuzugeben? Und wenn sie sich über die geistige Welt Begriffe macht, so sind sie so abstrakt, daß mit ihnen wiederum die äußere Natur nicht zu fassen ist. Woher kommt es denn, daß den gegenwärtigen Menschen Idealismus und Realismus so auseinanderfallen, daß sie entweder nur einen lahmen Monismus daraus begründen, der doch nichts besagt, oder überhaupt nicht zu Rande kom­men mit einer Weltanschauung? Woher kommt das? Das kommt davon her, daß die Menschen in einer ganz bestimmten Weise heute ihre Welt­anschauung begründen wollen. Man wird heute entweder Naturwissen­schafter, lernt die Natur kennen und versucht sie zu durchsetzen mit allerlei Theorien und Hypothesen. Denn dasjenige, was die Natur­wissenschaft heute als Vererbung denkt und so weiter, sind nicht Ur­phänomene, sondern Theorien und Hypothesen. Man sucht die Natur­erscheinungen mit solchen Hypothesen zu durchtränken, oder auch man wird Theologe oder Philosoph, versucht aus den Traditionen gewisse Begriffe, Ideen über das Geistige zu gewinnen. Die sind dann so dünn und schattenhaft, daß man wiederum nicht die Natur begreifen kann, dadurch, daß sie nicht hinreichend Kraft haben, um die Natur richtig damit anzufassen.

Sehen Sie sich heute einmal um in den theologischen und philosophi­schen Erörterungen der Gegenwart, wo finden Sie einen gesunden An­haltspunkt darinnen, um aus ihnen heraus auch richtig die Natur zu beleuchten! Und wo finden Sie im Ernst innerhalb der Vertreter der heutigen Naturwissenschaft, wenn sie nicht monistische Schwadroneure sind, wo finden Sie eine Möglichkeit, aus der Naturwissenschaft heraus aufzustei gen zu den göttlich-geistigen Daseinsformen und Daseinsgebie­ten in Wirklichkeit? Das ist heute nicht möglich, wenn man gesundes Denken entwickelt, die beiden Gebiete, so wie sie heute sind, miteinan­der zu vereinigen. Die beiden Gebiete vereinigen sich nur, wenn man

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die Fähigkeit hat, sich der Naturbetrachtung und einer Wissenschaft so hinzugeben, wie sich Goethe der Natur hingegeben hat: rein den Blick auf das Phänomen, auf die Erscheinungen gerichtet, nicht Theorien anders hineinmischen, als um aufzubauen die Phänomene, das Denken nur den Diener sein lassen, der mittut, aber nicht in die Resultate, in die Ergebnisse das Denken hineinmischen. Das ist es, was wir der Natur gegenüber müssen, der Natur die Macht zuerkennen, daß sie sich selbst interpretiere. Nicht spintisieren über die Natur, sondern gerade voll materialistisch sein, indem man die materiellen Erscheinungen für sich selber sprechen läßt, das ist dasjenige, was wir einer gesunden Natur­wissenschaft gegenüber als Aufgabe haben. Kommen wir mit einer sol­chen gesunden Naturwissenschaft zu Rande, so begreifen wir das menschliche Leben wirklich zwischen Geburt oder sagen wir Empfängnis und Tod. Aber wir müssen nun, indem wir auf der einen Seite so in die Natur hineinschauen, unbehelligt durch unmögliche Theorien und Hy­pothesen, auch in den Geist hineinschauen können. Dann bleiben wir nicht bei abstrakten Theologien oder Philosophien stehen, sondern dann ergeben sich uns geistige Anschauungen. Und gerade durch die Kraft, welche in uns die reine Naturbetrachtung auslöst, die Goethesche Natur-betrachtung, können sich geistige Anschauungen, Anschauungen des rei­nen Geistes ergeben. Wer seine Begriffe und Ideen in konfuser Weise hineinmischt in die Naturerscheinungen, an dem rächen sich diese Be­griffe, lassen ihn nicht zur Geistesanschauung kommen. Wer die Natur rein anschaut, erschaut sie in seiner eigenen Seele so, daß er auf den Geist auch in einer wirklichen Weise hinschauen kann. In dieser Beziehung kann die Goethesche Weltanschauung eine großartige Erzieherin sein für die moderne Menschheit.

Dann aber muß man getrennt für sich entwickeln Naturanschauung, Geistesanschauung. Aber man muß sich auch bewußt sein, man kann mit der einen für sich und mit der andern für sich nichts anfangen. Wenn Sie bloß Theologe oder Philosoph bleiben wollen, dann ist es, wie wenn Sie irgendeine Sache, die nach zwei Seiten hin ganz verschieden ist, nur von der einen Seite photographieren wollten; ebenso wenn Sie bloßer Naturwissenschafter bleiben wollen. Sie sollen beides ganz sein können, und das eine in dem andern sich spiegeln lassen, das heißt, nicht durch

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abstrakte Begriffe die Vereinigung suchen, sondern die Dinge sich selbst vereinigen lassen, indem Sie zuerst für jedes Gebiet gesondert reinliche Anschauungen entwickeln. Dann spiegeln sich die beiden Gebiete in­einander. Dann aber bekommen Sie durch die Fähigkeit eines solchen Spiegelns auch eine gesunde Anschauung über das Gesamtmenschen­leben. Dann sehen Sie die Naturerscheinungen draußen außer dem Men­schen im Sinne einer Goetheschen Naturwissenschaft. Sie sehen aber, wenn Sie den Menschen betrachten, daß dasjenige, was für die äußere Natur vorhanden ist, nicht ausreicht für seine Erklärung. Da kommen Sie nur zu einem Homunkulus, zu keinem Homo.

Sie sehen, wie gerade für die Menschenerfassung notwendig ist, daß man von Gegenseiten herankommt, mit Naturwissenschaft und mit Geisteswissenschaft, und sichdie beiden spiegeln laßt. Dann passen sie auf den Menschen. Dann spiegelt sich in dem Menschen das Leben zwischen der Geburt oder Empfängnis und dem Tod in demjenigen, was einem erscheint als Leben zwischen dem Tod und einer neuen Ge­burt, und umgekehrt: das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt spiegelt sich in dem Leben zwischen der Geburt und dem Tode. Nicht eine einzige Theorie ersinnen, welche das eine oder das andere erklären soll, sondern zwei Anschauungen, nicht Theorien, zwei reine Anschauungen, und diese nicht in Begriffen vereinigen, sondern in der Anschauung sich selbst gegenseitig spiegeln lassen.

Daß Goethe durch seine gesunde Seelenentwickelung zu solchen An­schauungen von der gegenseitigen Spiegelung desjenigen, was wesenhaft in der Wirklichkeit draußen ist, kam, bezeugt, wie er wirklich auf dem Wege in die neuere Geisteswissenschaft hinein war. Und wenn Goethe auch für seine Zeit in einer gewissen Beziehung noch unsicher war, weil

- wie ich immer wieder betonen muß - sein geisteswissenschaftliches Erkennen ein ahnendes war, so hat er doch so viel gesundes Urteil ab­gegeben auch über das geistige Leben, das verfolgt werden kann in unse­rer Zeit bis zu Gebieten, wo Goethe noch nicht hingekommen ist, was Goethe aber veranlagt hatte.

Ich tadle nicht, daß der Goetheanismus so wenig verstanden worden ist, denn derjenige, welcher die Dinge durchschaut, tadelt nicht und kritisiert nicht, sondern er weiß, daß man nur positiv zu sprechen hat.

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Ich tadle nicht das, was geschehen ist, ich stelle nur dasjenige hin, was die Forderung für die Zukunft hin ist. Und Forderung für die Zukunft ist es, daß die Menschheit sich vertieft, ob sie es nun Goetheanismus nennt oder nicht, in solche Vorstellungen, die im Goetheschen Denken schon veranlagt waren. Und das Goethesche Denken wirkt überhaupt ungeheuer wirklich und wirklichkeitsgemäß. Das ist auch sehr bedeut­sam zu beachten.

Ich muß Sie darauf hinweisen, um in diesem Punkt Sie zum richtigen Verständnis zu weisen, wie der Mensch sich gewöhnlich verhält, wenn er sich enträtseln will die eine oder die andere Erscheinung der Natur oder des Lebens. Betrachten wir jetzt so einen richtigen Durchschnitts­menschen, aber einen Durchschnittsmenschen, der gescheit ist - heute sind ja die Gescheiten gerade die Durchschnittsmenschen -, also, be­trachten wir einen Durchschnittsmenschen, der gescheit ist. Nicht wahr, der Durchschnittsmensch lebt von der Geburt bis zum Tode. Sagen wir in seinem fünfunddreißigsten oder auch fünfundvierzigsten oder zwei­undvierzigsten Jahre, in irgendeinem Lebensjahr, vielleicht auch früher, da will er sich irgend etwas enträtseln, vielleicht sogar eine Welt­anschauung begründen, will sich über irgend etwas aufklären Was tut er? Ja, da murkst solch ein Mensch in das Vorstellungsmaterial hinein, das er, nehmen wir an, als Zweiundvierzigjähriger in sich hat. Nehmen wir an, er will sich meinetwillen die Kopernikanische Weltanschauung richtig erklären, dann nimmt er alle diejenigen Begriffe und Vorstel-lungen zusammen, die er so finden kann. Wenn er nun in sein Seelen-leben hineinmurkst und dann etwas finden kann, was mit sich selbst zusammenstimmend ist, wenn er sich eine Reihe von solchen Begriffen zusammengestellt hat, in denen er, wie er sagt, keinen Widerspruch findet, dann ist er fertig, dann versteht er die Geschichte. Das ist so der Durchschnittsmensch. Das ist aber nicht Goethe!

Goethes Seele wirkt in ganz anderer Weise. Wenn man das nicht berücksichtigt, dann mag man Goethe-Biographien schreiben, es wird etwas herauskommen, was in Frankfurt im Jahre 1749 geboren ist und in Weimar 1832 gestorben ist, was aber nicht G9ethe ist. Goethes Seele wirkte ganz anders. Wenn Goethe in seinem zweiundvierzigsten Jahre irgendeiner Erscheinung sich gegenüberstellte, dann wirkte nicht bloß

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jenes abstrakte Gebilde, das man herausbekommt, wenn man alle Be­griffe, die man in sich hat, zusammentut zu einer widerspruchslosen Anschauung, wie man sagt, sondern wenn Goethe in seinem zweiund-vierzigsten Jahre eine Pflanze anschaute oder irgend etwas anderes, worüber er Aufklärung gewinnen wollte, da wirkte real sein ganzes Seelenleben in ihm, nicht bloß die abstrakten Begriffe, sondern real das ganze Seelenleben wirkte. Also, wenn Goethe zweiundvierzig Jahre alt war und sich überlegen wollte, sagen wir, ein Pflanzenleben, so wirkten in ihm auch diejenigen Impulse, die er nicht bloß zusammenholte, son­dern die auch in seiner Kindheit gewirkt haben, zum Teil auch unbe­wußt; es wirkte das gesamte Seelenleben, die Totalität, immer zusam­men. Das will der moderne Mensch immer ausschalten, er will zu einer vorurteilslosen Anschauung kommen. Das geht aber nicht weiter als zu ein paar zusammengerafften Begriffen, die man leicht und bequem an­schauen kann. Deshalb kann man gerade über Goethe diese großen Auf­schlüsse gewinnen, wenn man auch wieder zusammenschaut, wie die verschiedenen Phasen seines Lebens sind.

Ich habe zum Beispiel versucht, Spätestes in Goethes Auffassung da­durch zu verstehen, daß ich immer wiederum hinweise auf jenen Prosa­hymnus «Die Natur», den er Anfang der achtziger Jahre gedichtet hat, und in dem in unreifem Zustande das Spätere enthalten ist. Aber das wirkte, was dazumal in unreifem Zustande enthalten war. Und ich habe auch früher öfter darauf hingewiesen, wie Goethe als siebenjähriger Knabe Mineralien sammelt, sich ein Notenpult nimmt von seinem Vater, die Mineralien darauf aufbaut, oben ein Räucherkerzchen daraufstellt und nun eine Art Gottesdienst unternimmt, dem «Großen Gotte», der durch die Naturerscheinungen selbst wirkt, ein Opfer darbringen will. Er fängt morgens - denken Sie, als siebenjähriger Knabe! - den Son­nenstrahl auf, läßt ihn durch ein Brennglas gehen, daß er ihm das Räucherkerzchen entzünde. Ein Naturfeuer zündet er über den Mine­ralien an. Darinnen liegt in einer kindlichen Weise all das schon vor­gebildet, was da nachwirkt in reifsten Anschauungen. Man versteht Goethe nur, wenn man ihn so aus der Totalität seines Wesens heraus richtig aufzufassen in der Lage ist. Und dann, wenn man ihn so auffaßt, kommt man auch dazu, das, was Goethe noch wenig pflegen konnte aus

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den Voraussetzungen seiner Zeit heraus, die Anschauungen der geistigen Welt, erst in einer Weise zu treiben, die man auch gemäß der Goetheschen Weltanschauung finden kann. Denn bedenken Sie, man kann gar nicht anders, wenn man Goetheisch über die Natur denkt, wenn man im Sinne der Urphänomenlehre und im Sinne der Metamorphosenlehre wirklich denkt, als durch dieses Denken solche Kräfte in seiner Seele auszulösen, die einen zur Anschauung der geistigen Welt führen, und die einen zu­letzt auch zur Anschauung desjenigen Lebens führen, das der Mensch führt, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist. Gerade mit der Goetheschen, auf die reine Natur hingewendeten, reinen Naturanschau­ung ist eine wahre Unsterblichkeitslehre im selbstverständlichen Sinne veranlagt. Man bekommt gerade dadurch die Kraft für jene entgegen­gesetzten Vorstellungen, die man braucht, damit das Übersinnliche, das der Mensch durchlebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, in die Anschauung hereinkommt; man bekommt die Kraft für solche An­schauung dadurch, daß man sich den Blick zuerst schärft für dasjenige, was reine Natur ist, was nicht durch Theorie und Hypothese in der Natur verdorben ist.

Dadurch machen die Menschen die größten Fehler, daß sie für die äußere Welt immer glauben, die Dinge müssen einlinig gehen und ein­strömig. Wenn jemand in dem Sinne einem Menschen, der die Sache durchschaut, von Monismus redet, wie es sehr viele gegenwärtige Men­schen tun, indem sie einen abstrakten Monismus begründen, wenn solch ein abstrakter Monismus also einem Menschen, der die Dinge durch­schaut, vorgetragen wird, so kommt dem das gerade so vor, als wenn ein Mensch dasteht, linke und rechte Seite wohl ausgebildet, und ein anderer sagt ihm: Das ist aber falsch, das ist ein falscher Dualismus, der Mensch muß monistisch gebaut sein, das ist unrecht, daß der eine rechte Hälfte hat, da muß irgend etwas nicht richtig sein daran.

Geradeso muß unsere Anschauung gegenüber der Welt sein. Wie wir nicht deshalb falsch sind, weil wir zwei Hände haben und die rechte durch die linke unterstützen können, so ist es auch nicht falsch, zwei Weltanschauungen zu haben, die sich gegenseitig ineinander spiegeln und sich gegenseitig beleuchten. Und wer das für falsch hält, daß zwei Weltanschauungen gefordert werden, der sollte auch sagen: Man muß

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irgendwelche künstlichen Verrichtungen einmal ersinnen, damit nicht so schrecklich getrennt die linke und rechte Hand und das linke und rechte Bein durch die Welt marschieren und handeln, sondern daß end­lich einmal durch eine Errungenschaft die rechte Hand in die linke, das rechte Bein in das linke hineingesteckt werden kann, damit man moni­stisch ist, ein Monon ist, und dann der Mensch auf diese Weise sein Leben fortfristen kann!

Für den, der die Dinge durchschaut, der die Wirklichkeit im Auge hat und nicht vertrackte abstrakte Theorien, für den ist, wie gesagt, das Anstreben des abstrakten Idealismus auf der einen Seite, des groben Realismus auf der andern Seite als Monismus, gerade so einseitig, wie etwas einseitig wäre, was mit der grotesken Sache verglichen werden kann, mit der ich eben die Sache verglichen habe. Und es liegt wirklich im Sinne der Goetheschen Weltanschauung, wenn in der heute noch sehr, sehr angefochtenen Weise von mir immer wieder und wiederum hingewiesen wird auf der einen Seite auf eine reine Naturanschauung, nicht auf eine von Hypothesen durchsetzte, sondern auf eine Anschau­ung, die als Anschauung lebt, nicht gedacht ist, wo das Denken nur ver­wendet wird, um die Anschauung herbeizuführen, auf der andern Seite auf eine Geistanschauung, wo wiederum das Denken nur verwendet wird, um die geistige Anschauung herbeizuführen, die uns dann wirk­lich hineinführt in das Gebiet, in dem wir zu suchen haben den Men­schen, wenn er auf der andern Seite seines Lebens ist zwischen dem Tod und einer neuen Geburt.

Wenn man solch eine geisteswissenschaftliche Weltanschauung den Menschen vorträgt, so finden sie heute noch wahrhaftig logisch klin­gende Theorien, gescheite Theorien, um die Sache zu widerlegen. Ich habe oft gesagt: Widerlegungen der Geisteswissenschaft, oh, sie sind sehr leicht auszudenken. - Ich habe in Prag einmal den Versuch gemacht, bei zwei hintereinander folgenden öffentlichen Vorträgen, einen zu hal­ten, in dem ich die Geisteswissenschaft widerlegt habe, und einen andern zu halten, in dem ich sie begründet habe, was mir einzelne Leute übel­genommen haben. Aber ich habe einmal den Versuch gemacht, eben einen Vortrag zu halten zur Widerlegung der Geisteswissenschaft und einen zur Begründung der Geisteswissenschaft. Man kann ganz gut die

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Geisteswissenschaft selbstverständlich widerlegen, man kann sie wider­legen. Wie soll man sie nicht widerlegen können? Derjenige, der glaubt, daß man Geisteswissenschaft nicht widerlegen kann, der ist ungefähr auf demselben Standpunkt, wie einer, der sagt, er kann sich mit einer Nadel, die er in der rechten Hand hält, nicht in die linke stechen. Ganz selbstverständlich kann man das, aber es besagt das alles nichts. Und man muß sagen: Dieser Gegnerschaft, die so scheinbar mit recht logischen Theorien arbeitet, liegt im Grunde eigentlich etwas ganz, ganz anders in ihrem Inneren. Man spricht auch von Unbewußtem und Unterbewuß­tem. Man mißversteht, namentlich bei den Psychoanalytikern, aber auch sonst, dasjenige, was eigentlich das unterbewußte Seelenleben, Geistes­leben für eine Bedeutung für den Menschen hat. Ich habe darüber öfter schon hier gesprochen. Nun, wirklich wie der Blinde von der Farbe, so reden die heutigen analytischen Psychologen von dem unbewußten Gei­stesleben. Sie werden nur darauf gestoßen durch die wissenschaftlichen Forderungen der Gegenwart, aber sie haben eine Wissenschaft, wie ich sie genannt habe im vorigen Jahre in Zürich und auch hier, die mit un-zulänglichen Mitteln arbeitet. Denn man muß wirklich die Fähigkeit haben, für dasjenige, was im Bewußtsein vorgeht, immer das darunter liegende Unterbewußte richtig zu finden.

Bewußtsein logische Glaube an

Gründe Erkenntnisgrenzen

Unterbewußtsein Furcht Interesselosigkeit

vor dem Geistigen für das Geistige

Sehen Sie, die Sache liegt so, daß wir sagen können: Hier ist das Bewußtsein - siehe das Schema - und darunter liegt das Unterbewußt­sein. Nun, wie ist die Sache heute? Heute ist die Sache so, daß ungefähr seit dem 16. Jahrhundert sehr starke ahrimanische Einflüsse auf den Menschen und sein ganzes Denken sich geltend machen.Das hat sein Gutes, das hat sein Schlimmes. Das hat für die Naturwissenschaft vor allen Dingen die Folge, daß sie in einer ganz bestimmten ahrimanischen

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Weise sich ausbildet. Dieser ahrimanischen Naturwissenschaft hat Goethe die seinige entgegengesetzt, die ich Ihnen eben charakterisiert habe. Aber nichts geht vor in der menschlichen Seele - das können Sie gerade aus den Vorträgen entnehmen, die ich vor acht Tagen hier gehalten habe -, nichts geht vor in dem Geiste des Menschen, ohne daß im Unterbewuß­ten auch etwas vorgeht. Indem man die heutige Form des Naturdenkens ausbildet, entwickelt man im Unterbewußten zwei ganz besondere Ge­fühle: Furcht vor dem Geistigen und Interesselosigkeit für das Geistige. Man kann gar nicht im Sinne des heutigen Denkens Naturwissenschaft ausbilden, wenn man nicht gerade Goethesche Naturwissenschaft aus­bildet, ohne daß man ausbildet zu gleicher Zeit unterbewußte Furcht gegenüber der spirituellen Welt und unterbewußte Interesselosigkeit gegenüber der spirituellen Welt. Man fürchtet sich vor dem Geistigen. Das ist die notwendige Folge der heutigen naturwissenschaftlichen Ein­drücke. Aber eine unterbewußte Furcht, von der man nichts weiß. Und diese unterbewußte Furcht zieht sich an, und erst angezogen mit allerlei Flitter und Gaukelgewand erscheint sie dem Menschen im Bewußtsein. Sie zieht nämlich logische Gründe an. Die Furcht verwandelt sich in logische Gründe. Und mit diesen logischen Gründen geht nun der Mensch herum.

Wer die Sache durchschaut, hört, wie die Menschen sehr gescheite logische Gründe vorbringen, aber er weiß auch, unten, im Unterbewußt­sein sitzt die Furcht vor dem Spirituellen, wie das Unbekannte immer Furcht einjagt - die Wasserscheu der Hunde ist auch zurückzuführen darauf -, und die Interesselosigkeit, die sich insbesondere darinnen zeigt, daß man, wenn man eine richtige Naturerkenntnis entwickelt, den Geist mit Fingern greifen kann. Denn ich möchte einmal einen Menschen, der nun wirklich restlos erkennen will, auffordern, zu sagen, aus welchen irdischen Naturerscheinungen heraus, ohne zum Geiste seine Zuflucht zu nehmen, er die Form des menschlichen Kopfes erklären kann. Die reine, richtige naturwissenschaftliche Erklärung des menschlichen Kopfes führt zurück zu dem, was man nur geisteswissenschaftlich erkennt, wie ich auseinandergesetzt habe. Hat man Interesse für das, was wirklich da ist in der menschlichen Natur, dann drängt es natürlich zum Geiste hin. Nur Interesselosigkeit verführt einen dazu, zu sagen, darinnen weise

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nichts auf den Geist hin! Nun, wenn Sie zuerst alles, was zum Geiste hinführt, ausschließen - man achtet es nicht, man macht sich zuerst leere Hypothesen und Theorien zurecht -, flugs zeigen sie auch nichts, wenn man sie anführt, wenn man sie zuerst so recht präpariert hat! Der Naturforscher heute verfährt größtenteils so wie einer, der zuerst sorg­fältig den Fisch putzt, so daß keine Schuppen mehr daran sind, und nachher behauptet, der Fisch habe keine Schuppen. So putzt der heutige Naturforscher von den Erscheinungen erst alles dasjenige, was zum Geiste hinweist, weg, weil er kein Interesse daran hat. Aber er weiß ebensowenig von der Interesselosigkeit als von der Furcht. Daher kann auch die Interesselosigkeit sich Flitter- und Gaukelkleider anziehen, und diese Flitter- und Gaukelkleider sind Glaube an Erkenntnisgrenzen. Und im Bewußtsein redet man von Erkenntnisgrenzen - Ignorabimus. Dasjenige, was man da redet, ist eigentlich im Grunde genommen ganz gleichgültig. Man könnte, wenn man wollte, ganz andere Wortzusam­menstellungen erfinden für dasjenige, was zum Beispiel Du Bois-Rey-mond geredet hat in seinem Vortrag über die Grenzen der Natur­erkenntnis - sie wären geradeso wertvoll, denn das, was er will, ist im Grunde genommen ganz gleichgültig. Bewirkt wurde es von seiner unterbewußten Interesselosigkeit gegenüber den abgeschuppten Fischen, die keine Schuppen haben - nun als Vergleich gebraucht.

Sie sehen, es würde schon sehr dienlich sein, wenn sich die gegenwär­tige Menschheit orientieren wollte an geisteswissenschaftlichen Begriffen, denn sie würde dadurch eine richtige Natur- und eine richtige Geist-Erkenntnis, wenigstens in die Vorstellungen herein, vor das Seelenauge bekommen können. Die braucht die Menschheit. Beide Anschauungen braucht die Menschheit. Man findet heute eigentlich recht häufig schon Hinweise darauf, daß die Menschheit in der Gegenwart etwas Neues an Weltanschauungen, an Welterkenntnis brauche. Aber unterbewußte Furcht, unterbewußte Interesselosigkeit, die wirken sehr stark. Und daraus ergeben sich heute die auf diesem Gebiete merkwürdig zutage tretenden Erscheinungen. Ein ernst zu nehmender Mann hat in einem der letzten Hefte der Zeitschrift «Wissen und Leben» merkwürdige Worte gesprochen, die man doch ein wenig ins Auge fassen muß, wenn man Unterlagen gewinnen will für die Art, wie man sich eigentlich zu

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dem Denken auch der ernst zu nehmenden Menschen, die aber betroffen sind durch die geschilderte Furcht und Interesselosigkeit in sich selber, zu stellen hat.

Im Verlaufe eines Aufsatzes, der heißt «Der internationale Kitt», wird da in der folgenden Weise gesprochen:

«Es gehört zu den größten weltgeschichtlichen Enttäuschungen, daß auch diese geistige Macht» - die geistige Macht des Christentums - «ver­sagt hat dem Kriege gegenüber und keinen Damm aufwarf gegen die sich heranwälzende Flut von Haß und Zerstörung. Ja, gerade im Christentum sind während der Völkerentzweiung noch ganz besonders häßliche Erscheinungen zutage getreten, wie zum Beispiel die Kriegs-theologie mit ihrem Versuch, auch die höchsten absoluten Werte herab-zuziehen in die Relativität unseres Weltgeschehens. In dem Bestreben, dieses zu rationalisieren und auf irgendeine Formel zu bringen, kam man dazu, auch das Schreckliche, das radikale Böse durch den ethischen Gott der Liebe irgendwie rechtfertigen zu wollen, anstatt im Angesicht des furchtbaren Unterganges von Liebe und Leben demütigst stehen zu bleiben bei Luthers Deus absconditus, dem verborgenen Gott, der in der ethisch indifferenten Dynamik der Welt auch in die Erscheinung tritt. Durch die religiös-ethische Verklärung des Krieges wurden dem politische Ziele untergeschoben, die denen der Machthaber und Kabinette verzweifelt ähnlich sehen.»

Nun, wer ein wenig die zeitgenössische Literatur verfolgt, der wird wissen, daß dies sehr richtig ist, daß von allen Seiten her dem Gotte die Absichten der Machthaber als göttliche Absichten untergeschoben wer­den, so daß der Mann hier wirklich manche unerfreulichste Erscheinung der Gegenwart in nicht unrechter Weise charakterisiert. Dann sagt er weiter:

«Nicht nur das. Auch die gegenseitigen Spannungen unter den christ­lichen Kirchen wurden verschärft. Der historische Gegensatz zwischen Luthertum und Kalvinismus wurde neu ausgegraben. Die extremen Anglikaner rückten soweit von dem festländischen Protestantismus ab, daß sie ihm kaum noch den Namen des Christentums zugestehen woll­ten. Gar nicht zu reden von dem Zerreißen der internationalen christ­lichen Bande in der Missionsarbeit. So scheint das national beschränkte

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Völkerideal den Sieg über das internationale Gemeinschaftsideal des Christentums errungen zu haben.

Aber wo das geschah, hat das Christentum einen Verrat am Evan­gelium begangen. Judas, der Christus verrät. Denn das Wesen des Christentums weist auf eine umfassende menschliche Gemeinschaft hin und kann sich nur in einer solchen auswirken.»

Nun, und so weiter. Ja, der Mann redet manches Gescheite, aber er kommt nicht dazu, zu fragen: Ja, wir haben nun dieses Christentum ge­pflegt durch nahezu zwei Jahrtausende. Woran liegt es denn, daß es, obwohl es seinem Wesen nach einen solchen Zustand wie den gegen­wärtigen ausschließen würde, daß es ihn nicht ausgeschlossen hat? -Damit sagt man nichts, daß man sagt: Die Menschen sind schlechte Christen, sie sollen bessere Christen werden, wenn man damit meint, sie sollen solche Christen werden, wie es sie schon gegeben hat! Ich könnte Ihnen Hunderte von gegenwärtig erscheinenden Äußerungen sonst ganz ernst zu nehmender Menschen vorführen, und Sie würden aus diesen sehen, daß schon da und dort auftaucht ein gewisser, wenn auch ganz unterbewußter Impuls, daß etwas notwendig ist wie eine neue Weltanschauung. Aber in dem Augenblick, wo nun diese Menschen wirklich herankommen sollen an das, was nötig ist, an eine geistes-wissenschaftliche Weltanschauung, da umnebeln sie sich selber ihre Be­griffe, und da schlagen diese Begriffe sofort in die Furcht und Interesse­losigkeit um. Sie fürchten sich vor der Geisteswissenschaft. Das kann man bei den einzelnen Persönlichkeiten ganz genau nachweisen aus ihren Äußerungen und aus ihrem Leben. Oder sie zeigen die Interesse­losigkeit. Ihr Geist faßt es nicht, sie können es überhaupt nicht, auf das einzugehen. Dann kommt man zu so merkwürdigen Widersprüchen, die natürlich der heutige Leser nicht sieht, weil heute so gelesen wird, wie ich das schon gestern und auch sonst andeutete. Dieser Mann, der den Artikel schrieb, der, wie gesagt, durchaus ernst zu nehmen ist, schreibt in einer richtigen Weise so, wie er da geschrieben hat. Aber, sehen Sie einmal, er sagt, es muß wieder etwas geschehen, damit das Christentum seine internationale Bedeutung und Wirksamkeit entfalten kann. Da macht er allerlei Vorschläge. Er sagt: Warum sollte denn das nicht mög­lich sein, daß das Christentum die internationalen Impulse, die Haß und

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Zerstörung verhindern, pflegt? - Da kommt er darauf, auch folgenden Satz zu schreiben:

«Noch im August 1914 haben die freien britischen Kirchen an Pro-fessor Harnack geschrieben: »

Da haben wir doch, sagt er, eine ganz erfreuliche Erscheinung, da haben wir es, wie die britischen Theologen den deutschen Theologen ein Kompliment machen von wunderbarster Art. Könnte es nicht so in der Zukunft sein?

Ja, aber wirklichkeitsgemäß gedacht: die Sache ist im August 1914 geschrieben, wo gerade diese Zerstörung ausgebrochen ist! Der wirk­lichkeitsgemäße Schluß wäre also: trotzdem die britischen Theologen dieses geschrieben haben, konnte es nichts irgendwie zur Verhinderung des Zerstörungswerkes beitragen. Also, Sie sehen statt von links nach rechts, denkt der Mann von rechts nach links ode'r umgekehrt, je nach­dem die Sache liegt; während der wirklichkeitsgemäße Gedanke sagt:

man muß untersuchen, was nicht richtig ist, was fehlt, trotzdem sich die Leute so schöne Komplimente gemacht haben. Da sagt er: Wenn wir es nur so machen, wie wir es im August 1914 gemacht haben, da werden wir schon weiterkommen

Ja, da können wir wieder anfangen! Denn das kann nicht helfen, das hat die Wirklichkeit gezeigt! Also, der richtige Gedanke wäre dieser, daß man sagt: Es muß irgend etwas nicht stimmen! Das Christentum muß irgend etwas unberücksichtigt lassen. - Was es unberücksichtigt läßt, ist gerade, daß es sich nicht hineinfindet in das, was die Zeit durch ihre eigene Notwendigkeit fordert. Und das ist, was solchen Menschen fehlt: das willige Eingehen auf dasjenige, was gerade durch die Impulse unserer Zeit gefordert wird - So kann man sehen, daß die Leute er-kennen, die alte Weltanschauung hat Schiffbruch gelitten. Aber sie wol­len keine neue, sie wollen die alte wieder, damit man noch einmal Schiff­bruch leiden kann. Das aber bleibt natürlich in ihrem Unterbewußten stecken. Sie wollen selbstverständlich das Beste, sie sind nur zu bequem, um dasjenige, was das Notwendige ist, wirklich aufzusuchen.

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Das ist es, was einem immer wieder und wiederum im Hintergrunde liegt, wenn man von so etwas sprechen muß wie von der Bedeutung des Goetheanismus für die Gegenwart, oder auch von der Bedeutung dessen, was natürlich größer ist als der Goetheanismus, der ganzen geistigen Welt und ihrer Erkenntnis. Auch da braucht man nicht kritisch zu sein. Man braucht nicht zu sagen, wie grundschlecht die Menschen sind, die das nun nicht tun, was da getan werden sollte, sondern man sollte sich darauf beschränken, einzusehen, was geschehen muß. Man sollte auf das Positive sehen. Vielleicht kann man sich dann sagen: Ja, wenn ich nur nicht so furchtbar wenig tun könnte, ich kann so furchtbar wenig tun. -Man kann vielleicht auch die Frage stellen: Ja, was soll denn der ein­zelne eigentlich tun? - Solche Fragen werden oftmals gestellt unter der Voraussetzung, als ob es sich zum Beispiel in meinen Auseinandersetzun­gen darum handeln könnte, ein bestimmtes konkretes Rezept für den einzelnen zu geben, das wiederum, wenn es allgemein gegeben würde, natürlich dadurch abstrakt und inhaltslos würde. Heute handelt es sich überhaupt für sehr viele Menschen zunächst darum, einzusehen, wie gerade bei denjenigen, in deren führender Hand viel gelegen ist, sei es auf diesem, sei es auf jenem Gebiete, Unendliches verfehlt wird, weil sich gerade die führenden Menschen der Gegenwart sträuben gegen das­jenige, wogegen sie sich nicht sträuben dürften. Und das ist wichtig, daß wir nicht von falschem Autoritätsgefühl angefressen werden, daß wir nicht einen riesigen Respekt haben, weil wir nicht prüfen. Darum han­delt es sich, daß wir nicht ohne weiteres heute den historischen Autori­täten einfach verfallen, sondern gerade um Aufmerksamkeit und um Aufpassen handelt es sich, sich ein Urteil darüber zu bilden, wie auf den verschiedensten Gebieten das Leben durch die heutigen führenden Persönlichkeiten oftmals mißgeleitet wird. Das geschieht doch nicht in genügender Schärfe und vor allen Dingen oftmals nicht in genügender Besonnenheit. Denn gerade in Besonnenheit und nicht in Unbesonnen­heit sollte es geschehen. Das ist von einer ungeheuren Wichtigkeit, selbst zu prüfen in dem Unterbewußten, wieviel man verkehrten Autoritäts­glauben noch in sich trägt, zu erkennen auch, daß gerade Geisteswissen­schaft wirklich einen vom Autoritätsglauben wegführt, einen zu einem freien, urteilenden Menschen machen kann, wenn man sich lebendig von

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ihren Urteilen durchdringen läßt. Man denkt immer, die Welt müsse eindeutig gradlinig verlaufen. Wenn man sich gewöhnt, die Natur in einer gewissen naturwissenschaftlichen Weise anzuschauen, will man alles naturwissenschaftlich anschauen. Wenn man sich gewöhnt, die Welt nach abstrakten Theorien anzuschauen, wie man oft sagt, idealistisch, so will man wieder alles in dieser Weise anschauen. Aber das Leben ver­läuft nicht in dieser gradlinigen, eindeutigen Weise, sondern das Leben fordert von uns Beweglichkeit, Vielgestaltigkeit, Mannigfaltigkeit des Denkens. Das ist es, was wir uns im Grunde nur aus dem richtigen Be­treiben der Geisteswissenschaft aneignen können, und was so ungeheuer notwendig ist, um sich in der Gegenwart in der richtigen Weise zu orien­tieren.

Aus diesem Grunde wollte ich diesmal etwas ausführlicher an Goethe anknüpfen. Ich wollte nicht eigentlich etwas Besonderes über Goethe sagen - das hat sich, wie Sie gesehen haben, wie von selbst gegeben -, sondern ich wollte auf wichtige geisteswissenschaftliche Wahrheiten hin­weisen, die sich anknüpfen lassen an dasjenige, was sich gerade in der Szene, die nun vorgeführt werden soll, von Goethe künstlerisch ver­arbeitet findet. Gar manche gehen über Goethe hochmütig hinweg, weil sie ihn nicht wissenschaftlich finden, wie sie die Geisteswissenschaft selbst nicht wissenschaftlich finden. Aber es würde vielen schon nützen, wenn sie sich ein wenig versenken wollten gerade in solch einen Geist, in solch eine Seele, wie die Goethesche ist, denn sie bringt ab von dem falschen Glauben, der eigentlich ein Aberglaube ist, daß man immer mit eindeutigen Begriffen, mit eindeutigem Leben wirklich vorwärts kommt. Wo eine Entwickelung ist, ist auch eine Rückentwickelung, ist auch die entgegengesetzte Entwickelung. Und wo eine Rückentwickelung ist, ist auch eine Entwickelung. Wenn Sie die Seele auf der einen Seite rein auf die Urphänomene und Metamorphosen der Natur richten und sich nicht verderben Ihre Naturanschauung durch verdunkelnde Theorien, dann entwickelt sich nicht bloß einseitig diese reine Naturanschauung, sondern dann entwickelt sich in der Seele die andere Anschauung, die nach dem Geiste hingeht. Und wenn Sie entwickeln die Anschauung, die nach dem Geiste hingeht in wahrer Weise, dann können Sie nicht mehr falsche Theorien in die Natur hineintragen, sondern dann drängt es Sie, die

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Natur in ihren materiellen Erscheinungen rein durch sie selbst sich inter­pretieren zu lassen.

So auch ist es, wenn man auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft genötigt ist, Bedenkliches, wie das gestern Ihnen über das Böse in An­knüpfung an die Phorkyaden-Erscheinung zu Sagende zum Ausdruck zu bringen, oder wenn man genötigt ist, davon zu sprechen, daß im Unterbewußten des Menschen vieles sitzt, wovon er in seinem Bewußt-sein nichts weiß. So etwas nehmen einem oftmals die Menschen übel, weil sie einen verkennen. Denken Sie doch nur, wenn jemand sachgemäß davon spricht: Du hast in deinem Unterbewußtsein so manches -, da denkt der andere, der ist mein Feind, wenn er auch so etwas unbewußt sein läßt, der denkt, in meinem Unterbewußten führe ich allerlei im Schilde. So können nun auch unsere Zeitgenossen denken: Dieser An­throposoph schimpft uns, daß wir unterbewußte Furcht und unter-bewußte Interesselosigkeit haben, er setzt uns eigentlich herunter. -Aber die Welt ist nicht eindeutig. Ich sage ja nicht bloß, daß die Leute in ihrem Unterbewußten Furcht und Interesselosigkeit haben, sondern ich sage auch: Ihr habt in eurem Unterbewußtsein die ganze geistige Welt, erfaßt ihr sie nur. Die ist auch da unten. - Das ist die andere Seite. Man stellt geisteswissenschaftlich keine Behauptung auf, ohne daß diese Behauptung involviert eine andere Behauptung. Und wem ich sage:

Du hast unterbewußte Furcht und unterbewußte Interesselosigkeit, der sollte sich bewußt sein, daß ich ihm auch sage: Zwar bist du dir deiner Furcht und Interesselosigkeit nicht bewußt, du verbrämst sie durch allerlei Lügen und durch deinen Glauben an Erkenntnisgrenzen, aber du hast deine ganze unterbewußte Welt zu umfassen, wenn du nur in deine unterbewußte Welt untertauchen willst. - Ich sage ihm nicht nur einen Tadel, wie er es auffaßt, sondern ich sage ihm auch über seine unterbewußte Welt etwas Gutes. Das ist das, woraus Sie sehen, daß das Leben nicht einseitig ist, daß aber Geisteswissenschaft es auch nicht ein­seitig darstellen kann.

Und so wird auf der einen Seite so gesprochen, wie oftmals gesprochen werden muß. Wenn man dann den Menschen Abneigung, Aversionen, Furcht und Interesselosigkeit für eingeflößt erklären muß, hat man auch den Menschen zu sagen: Ihr müßt gewisse Gefahren überwinden, wenn

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ihr zur geistigen Welt kommen wollt, ihr müßt gewisse Unbequemlich­keiten überwinden. - Gewiß, das ist die eine Seite, die man geltend machen muß. Aber bedenken Sie, welche Summe von seelenbeglücken-den Empfindungen darinnen liegt, daß eine geisteswissenschaftliche An­schauung uns den Blick eröffnet von dem Leben, das wir hier vollbringen mit andern Menschen zwischen Geburt und Tod, welche weltbeglücken-den Empfindungen eröffnet werden dadurch, daß man weiß, man lebt noch inniger mit denjenigen, die durch des Todes Pforte gegangen sind. Und denken Sie sich, wenn einmal dieser Gedanke der Zweiseitigkeit richtig erfaßt wird, wenn richtig diese Welt einmal angesehen wird im Sinne der Geisteswissenschaft, so wird nicht nur dasjenige, was Geistes­wissenschaft zu sagen hat, ausgießen die Forderung von unbequemem Eindringen in die geistigen Welten, sondern es wird auszugießen haben diese Geisteswissenschaft über die Herzen der Menschen ungeheure Sum­men von Trostesempfindungen, ungeheure Summen von andern seelen­beglückenden Empfindungen, die dadurch die menschliche Seele ergrei­fen, daß diese menschliche Seele immer mehr und mehr fähig sein wird, nicht nur mit denen zu leben, die in der sinnenfälligen Welt sie umgeben, sondern mit all den Menschen zu leben, mit denen irgendein Lebensband eingegangen worden ist in dem physischen Leben, zu leben mit ihnen über des Todes Pforte hinaus. Können wir denn nur verlangen, wenn wir vernünftig sind, daß eine Wissenschaft, welche unsere Seelen er-lebend hinausträgt über des Todes Pforte, eine bequeme Wissenschaft sein soll? Nein, das können wir, wenn wir verständig und vernünftig sind, ohnedies nicht verlangen. Durch die Unbequemlichkeit auch zu einer gewissen Weltbeglückung wird die Menschheit der Zukunft ent­gegengehen müssen. Dazu wird sie sich entschließen müssen, Wissen­schaft zu suchen von geistigen Welten.

DIE SAMOTHRAKISCHEN KABIREN-MYSTERIEN. DAS GEHEIMNIS DER MENSCHWERDUNG Dornach, 17. Januar 1919

#G273-1967-SE196 Das Faust-Problem

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DIE SAMOTHRAKISCHEN KABIREN-MYSTERIEN

DAS GEHEIMNIS DER MENSCHWERDUNG

Darnach, 17. Januar 1919

nach einer Darstellung der

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Wer sith intimer auf Goethe und Goethes Weltansdiauung einläßt, wird in der Szene, die wir jetzt hier zur Vorführung bringen, die den zweiten Akt des zweiten Teiles des «Faust» absdiließt und den Übergang bildet zum Eintritte Fausts in das alte Griechenland, sehen, wie tief Goethe durch seine Weltanschauung eingedrungen ist in das Geistige des Welten-alls und in das Menschengeheimnis, insofern dieses Menschengeheimnis zusammenhängt mit dem Eindringen in das Geistige des Weltenalls. Zunächst darf betont werden, daß auf der einen Seite gerade den tief­sten, den bedeutsamsten Szenen des zweiten Teiles gegenüber gilt, was Goethe einmal dadurch aussprechen wollte, daß er sagte, er habe viel in den zweiten Teil des «Faust» hineingeheimnißt. Es ist viel Weisheit, allerdings von vollkommenem Künstlertum verarbeitete Weisheit, im zweiten Teil des «Faust». Aber auf der andern Seite ist alles so, daß es, auf der Bühne dargestellt, durch seine unmittelbar sinnliche, anschau­liche Bildlichkeit anziehen kann.

Diese zwei Seiten in der Betrachtung namentlich des zweiten Teiles des Goetheschen «Faust» muß man sich, wenn man Verständnis dieser Dichtung sucht, immer vor Augen halten. Wer - so meint Goethe - mit naiven Sinnen diesen «Faust» ansehen will, soll Freude, soll ästhetische Lust haben an der Bilderfolge; der Eingeweihte soll aber tiefe Lebens-geheimnisse darinnen anschauen können. Nun ist, wenn man zunächst ausgeht von dem Bildhaften, diese Szene die Darstellung eines Meeres-festes, zu dem Homunkulus durch Thales geführt wird. Aber dieses Meeresfest enthält allerlei in dasselbe Hineingeheimnißtes. Dieses Meeresfest soll eigentlich darstellen die das Meer bewohnenden dämoni­schen, das heißt geistigen Gewalten. Warum greift Goethe_in seinem «Faust» zu solchen dämonischen Gewalten, wie sie sich ihm darboten in der griechischen Welt, indem er seinen Faust durch die menschliche Entwickelung

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zu höchstem Ziel der Selbsterkenntnis und der Seibsterfas­sung hinaufführen will? Man kann sagen, daß Goethe sich vollkommen klar war darüber, daß der Mensch unmöglich zu der wirklichen An­schauung seines eigenen Wesens jemals dadurch kommen könne, daß er bloß die Erkenntnis seiner Sinne und des an diese Sinne gebundenen Verstandes sich erwirbt. Wirkliche Menschenerkenntnis kann nur ver­mittelt werden durch wirkliche Geistesanschauung, so daß alles das­jenige, was an Menschenerkenntnis und Menschenanschauung durch die bloße äußere physische Welt erstrebt wird, auf welche die Sinne und der sinnliche Verstand gerichtet sind, keine wirkliche Menschenerkenntnis ist. Das will Goethe dadurch andeuten, daß er in seine Dichtung den Homunkulus einführt.

Homunkulus entsteht durch dasjenige, was Wagner an Erkenntnis über den Menschen erreichen kann, erreichen kann mit ideal gedachten physischen Mitteln, so ideal gedachten physischen Mitteln, daß sie natürlich von der gewöhnlichen Naturerkenntnis höchstens als ein Ziel angesehen werden können, aber daß nicht daran gedacht werden kann, mit ihnen irgend etwas heute oder in der Erdenzukunft zu erreichen. Goethe setzt gewissermaßen als Hypothese, es sei möglich, einen Ho­munkulus in der Retorte zu erzeugen, das heißt, den Zusammenhang der Naturkräfte bis zu einer solchen Vollkommenheit erkannt zu haben, daß man aus den verschiedenen Ingredienzien den Menschen verstandes­mäßig zusammensetzt. Aber es kommt eben kein Mensch dabei heraus, selbst nicht, wenn das, was der Mensch in der physischen Welt erreichen kann, im höchsten Maße der Vollkommenheit gedacht wird, es kommt kein Mensch, kein Homo heraus, sondern nur ein Homunkulus. Dieser Homunkulus ist also dramatisch gedacht im Grunde nichts anderes als das Bild, das der Mensch sich von sich selbst machen kann mit Hilfe seines physischen Verstandes, mit Hilfe seiner gewöhnlichen irdischen Erkenntnis. Dieses Bild, das sich der Mensch machen kann, das also ein Homunkulus ist, wie kann es dahin kommen, wirkliche Men­schenanschauung zu vermitteln? Wie kann es dahin kommen, daß der Mensch in dieser Anschauung nicht beim bloßen Homunkulus bleibt, sondern zum Homo vorrückt? Da ist sich Goethe klar, daß dieses nur erreicht werden kann durch jene Erkenntnisse, die im leibfreien

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Zustand von dem Geistig-Seelischen des Menschen erlangt werden können.

Nun versucht Goethe in der verschiedensten Weise nahezukommen jenem Reiche, in das der Mensch sich versetzen muß, wenn er völlige Menschenerkenntnis, das heißt, Erkenntnis im leibfreien Zustande sich erwerben will. Also Goethe will wirklich zeigen, daß es möglich ist, aus seinem Leib herauszugehen, Erkenntnisse zu gewinnen, die dann als Erkenntnisse etwas über das Wesen des Menschen ausmachen. Nun war Goethe keineswegs eine derjenigen Persönlichkeiten, welche leichtfertig in Erkenntnisfragen vorgegangen sind. Goethe strebte sein ganzes Leben hindurch, um die Seele immer mehr und mehr zu vertiefen. Denn er war sich klar darüber, daß man, wenn man alt wird, nicht umsonst lebt, sondern daß auch die Erkenntniskräfte immer zunehmen und zunehmen, und daß man im Alter mehr wissen kann als in der Jugend. Er war sich aber auch klar darüber, welch problematischer Art der Aufenthalt des Geistig-Seelischen außerhalb des Leibes ist. Daher versuchte er in der verschiedensten Weise, die bildhafte Erkenntnis, die wir die imaginative nennen, an den Menschen, an seinen Faust heranzubringen. So schon in der «Romantischen Walpurgisnacht» des ersten Teiles des «Faust», und so wieder in der «Klassischen Walpurgisnacht», wo er die Imaginationen vom alten Griechenland her nimmt, in das er den Faust versetzen will. Man könnte etwa so sagen: Goethe denkt sich, wenn man zur Verwand­lung des Homunkulus in den Homo, in den Menschen, aus dem Leibe herausrückt, so bekommt man Imaginationen, die für den einen so, für den andern anders aussehen. - In der Anschauung der alten Griechen waren diese Imaginationen noch so, daß sie gewissermaßen an die gei­stige Wirklichkeit herankamen. Man kann, wenn man sich die Dämo­nenwelt der alten Griechen vor die Seele rückt, durch die Anschauung dieser überlieferten Mythenwelt sehen, wie in hochgebildetem, atavisti­schem Hellsehen der Mensch wirklich die Natur geschaut hat, deren Schoß er selber entquillt, wenn er geistig-seelisch außerhalb seines Leibes ist. Also ich möchte sagen: Goethe zieht, weil er nicht selber erfinden will eine imaginative Welt, die griechische Welt heran, um sagen zu können, was auch der Mensch ersinnen mag aus seiner gewöhnlichen Erkenntnis, es bleibt ein Homunkulus, mit dem muß man erst einrücken in die imaginative,

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inspirierte Welt und so weiter, wenn ein Mensch daraus wer­den soll. - Das ist die Anschauung eines Menschen natürlich zunächst.

Warum wählt Goethe gerade das Meeresfest, ich möchte sagen, den Traum vom Meeresfest? Man muß, um die Empfindungen, die da Goethe beseelten, zu verstehen, sich wirklich ein wenig zurückversetzen in die Anschauungsweise der alten Griechen, in die sich Goethe selber zurückversetzt hat, als er an die Darstellung dieses «heiteren Meeres-festes» ging. Man muß sich da nämlich klar sein darüber, daß bei den Griechen das noch etwas bedeutete, wenn der Mensch das Land verließ und in das freie, offene Meer hinausfuhr. Der Grieche lebte noch mit der äußeren Welt wie die alten Völker überhaupt. Wie für die alten Völker innerlich etwas vorging, wenn sie den flachen Erdboden, die Ebene verließen und hinaufstiegen auf den Berg, was der gegenwärtige Mensch in abstrakt prosaischer Weise erlebt, so ging auch in der mensch­lichen Seele Gewaltiges vor, wenn sie das Land verließ und hinaus­schiffte ins freie Meer. Diese Empfindung, daß das freie Meer besonders loslöst das Geistig-Seelische vom Leibe, diese Empfindung hatten alle Menschen der älteren Völker. Mit dieser Empfindung hängt mancherlei zusammen.

Erinnern Sie sich bitte, welche große Rolle in den verschiedenen Ver­bildlichungen des Erkenntnisweges die Säulen des Herkules in der alten Mythe spielten. Da wird immer gesagt: Wenn der Mensch verschiedene Erkenntnisstufen durchschritten hat, schifft er hinaus durch die Säulen des Herkules. - Man meinte, er schifft hinaus ins unbegrenzte, freie Meer, wo er sich nicht mehr in der Nähe von Küsten weiß. Heute be­deutet das für den Menschen kaum noch etwas. Für den Griechen bedeu­tete es, daß er eigentlich eine ganz andere Welt betrat, und er fühlte, wenn er über die Säulen des Herkules hinausschiffte, daß er dann frei wurde von alldem, was ihn mit der Erde zusammenhielt, vor allen Dingen mit den Kräften seines Leibes. Das Seefahren ins freie Meer hin­aus wurde schon empfunden in diesen älteren Zeiten, wo man Alltäg­liches noch in einer geistig-seelischen Weise erfühlte, als eine Befreiung vom Körperlichen.

Goethe dichtete nicht wie andere Dichterlinge, sondern er dichtete aus Weltenempfinden heraus, und wenn er von etwas spricht, das er in die

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griechische Welt versetzt, dann versetzt er sich mit seiner ganzen Seele da hinein. Das ist dasjenige, was man immerzu den Menschen zurufen möchte, die Goethe auch so lesen wie irgendeinen andern beliebigen Dichter, die gar keine Empfindung dafür haben, daß, wenn sie Goethe lesen, sie dann wirklich in eine andere Welt eingeführt werden.

Nun sehen wir, indem die Szene beginnt, die lockenden Sirenen. Äußerlich bildlich stellt Goethe eine Szene dar, die auch eine alltägliche Szene sein könnte. Die lockenden Sirenen sammeln Strandgut, das sie den Nereiden und Tritonen verschaffen. Aber dabei sind zu gleicher Zeit, von der andern Seite gesehen, diese lockenden Sirenen jene Stim­men nicht nur des menschlichen Inneren, sondern auch des Äußeren, Stufen der Welt, weil auf diesen Stufen der Anschauung Inneres und Äußeres zusammenfließt, wie ich das öfters angeführt habe. Es sind die Sirenenklänge diejenigen, welche die Seele des Menschen herauslocken aus der Leiblichkeit und versetzen in die Weiten des geistig-seelischen Kosmos.

Und nun nehmen wir zusammen: erstens läßt Goethe ein Meeresfest sich abspielen, also Träume, die erweckt werden durch das Meeresfest. Zweitens spielt sich dieses Meeresfest unter dem Einfluß des Mondes in der Nacht ab. Alles wird veranstaltet von Goethe, um zu zeigen, es handelt sich darum, Anschauung zu gewinnen, die unabhängig vom Leibe gewonnen wird, Anschauung zu gewinnen, die der Mensch ge­winnen würde, wenn er vom Einschlafen bis zum Aufwachen außerhalb des Leibes bewußt würde und die Bilder jenes Seins wahrnehmen würde, in das er dann versetzt ist außerhalb des Leibes. Und nun sehen wir gleich, während Goethe auf der einen Seite die Triviallinge befriedigen will - das ist jetzt gar nicht im absprechenden Sinne gesagt -, indem er die Sirenen die Sammler des Strandgutes für die nach solchem Strandgut begehrenden Nereiden und Tritonen sein läßt, wir sehen, wie diese Nereiden und Tritonen auf dem Wege sind nach Samothrake, um die Kabiren aufzusuchen, ja, zu holen zu diesem Meeresfeste. Indem Goethe die Götter des uralten samothrakischen Heiligtums hier in dieser Szene auftreten läßt, deutet er wirklich an, daß er an höchstes menschliches und Weltengeheimnis hier rühren will. Was muß denn eigentlich ge­schehen, wenn der Homunkulus Homo werden soll, die Anschauung

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vom Homunkulus die Anschauung des Homo werden soll? Was muß denn eigentlich geschehen?

Nun, die Idee des Homunkulus, die innerhalb der Sinneswelt gefaßt ist, muß aus der Sinneswelt herausgenommen und hineinversetzt werden in die geistig-seelische Welt, in welcher der Mensch vom Einschlafen bis zum Aufwachen ist. Da hinein muß der Homunkulus getragen werden, in die Bilderwelt, die dann der Mensch durchlebt, wenn er leibfrei zu­sammen ist mit jenem Dasein, das ein geistig-seelisches ist. In diese Bilderwelt hinein muß Homunkulus getragen werden.

Wenn der Mensch zuerst sich mit Hilfe seiner gewöhnlichen physi­schen Anschauung das Homukulusbild verschafft, so muß er dann dieses Homunkulusbild in die andere Welt, in die imaginative, inspirierte Welt und so weiter hineintragen. Dadrinnen kann erst die abstrakte Homun­kulusidee ergriffen werden von den realen Kräften des Daseins, von jenen Kräften, die nimmermehr an die menschliche Erkenntnis heran-treten, wenn der Mensch beim bloßen Sinnesverstand bleibt. Da wird alles wirklich, wenn man mit der Homunkulusidee herauskommt aus dem Leibe und sie hineinträgt in die geistig-seelische Welt. Da wird es ernst mit der Wirklichkeit. Da muß man also herantreten an diejenigen Kräfte, welche dem Menschenentstehen, dem Menschenwerden gegen­über die wirklichen Kräfte sind.

Damit aber zeigt Goethe, daß er eine tiefe und bedeutungsvolle Auf­fassung von den Kabiren von Samothrake hatte, daß er eine Empfin­dung dafür hatte, daß diese Kabiren im uralten Altertum verehrt wur­den als die Hüter jener Kräfte, die mit dem Menschenwerden, mit der Menschengenesis zusammenhängen. Also an Höchstes rührt Goethe, indem er aufruft aus der Zeit des atavistischen Hellsehens die Bilder jener Götterkräfte, die mit dem Menschenwerden zusammenhängen.

Die griechische Anschauung verwies selbst schon auf sehr Altes, wenn sie von den Mysterien von Samothrake sprach. Und man darf sagen:

Gegenüber allem, was die Griechen an verschiedenen Göttervorstellun­gen und an Vorstellungen des Zusammenhanges des Menschen mit diesen Göttern hatten - die Vorstellungen über die Gottheiten von Samo­thrake, über die kabirischen Gottheiten durchzogen alles. Und der alte Grieche war davon überzeugt, daß er durch dasjenige, was als Vermächtnis

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der samothrakischen Mysterien in das griechische Bewußtsein hineingekommen war, eine Vorstellung, eine Idee bekommen hat von der menschlichen Unsterblichkeit. Der Grieche dachte sich, daß er ver­dankt die Idee der menschlichen Unsterblichkeit, das heißt, der Zu­gehörigkeit des Menschen zum geistig-seelischen Weltenall, dem Ein­fluß der samothrakischen Kabiren-Mysterien

So will also Goethe zu gleicher Zeit sagen: Vielleicht kommt die ab­strakte Menschenidee des Homunkulus mit den wirklichen Menschen­werdekräften zusammen, wenn im leibfreien Zustande erfaßt werden die Impulse, die sich der Grieche verbunden dachte mit seinen Kabiren von Samothrake. - Daß schließlich im griechischen Bewußtsein etwas war, was gewissermaßen in Goethe wieder so lebendig werden konnte gerade da, wo er an ein solches tiefstes Geheimnis rührte, das kann man etwa daraus sehen, auch aus vielem andern, aber auch daraus sehen, daß sich die Griechen sagten: Philipp von Macedonien fand Olympias beim Anblicke der samothrakischen Mysterien. - Und es war im griechischen Bewußtsein, daß dazumal der große Alexander beschlossen hat, zu diesem Elternpaar hinunterzutauchen in die Erdenwelt, als sich vor den Kabirengöttern Seele an Seele Philipp von Macedonien und Olympias gefunden haben. Man muß an solche Vorstellungen rühren, um all den Schauer in die Seele hereinzubekommen, den der Grieche wirklich empfand und Goethe nachempfand, wenn es sich handelte um die Kabiren.

Äußerlich betrachtet sind sie wiederum einfache Meeresgötter. Samo­thrake - die Griechen wußten es - war in verhältnismäßig gar nicht alter Urzeit von den furchtbarsten, erdbebenartigen Stürmen umbrandet, zerklüftet, durcheinandergeworfen. Also die Naturdämonen hatten hier in ganz ungeheuerlicher Weise so gewaltet, daß das noch wie in einer historischen Erinnerung für die alten Griechen war. Und in den Wäl­dern, in den dichten, damals dichten Wäldern von Samothrake war ver­borgen das Mysterium der Kabiren. Unter den mancherlei Namen, die die Kabiren tragen, sind auch die, wo der eine Kabir genannt wird Axieros, der zweite Axiokersos und der dritte Axiokersa, Kadmilos der vierte. Dann hatte man so ein unbestimmtes Gefühl, daß es noch einen fünften, sechsten und siebenten gab. Aber im wesentlichen war der Menschen

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geistiger Blick hingerichtet auf die drei ersten Kabiren. Es handelte sich bei den alten Vorstellungen von den Kabiren nun wirklich um das Menschenwerde-Geheimnis. Und eigentlich sollte derjenige, der in die heiligen Mysterien von Samothrake eingeweiht wurde, zu der Anschau­ung kommen: Was entspricht in der geistigen Welt, geistig angeschaut, demjenigen, was hier auf Erden geschieht, wenn für eine auf der Erde sich verkörpernde Seele der Mensch entsteht, der Mensch wird in der Generationsfolge? - Gewissermaßen das geistige Korrelat des mensch­lichen Geborenwerdens sollte geschaut werden in der geistigen Welt.

Durch diese Schauung glaubte Goethe den Homunkulus zu einem Homo in der Idee bekommen zu können. Aber in dieses Schauen sollte auch der Eingeweihte der samothrakischen Mysterien eingeführt wer­den. Nun kann man nicht den Menschen in seinem Wesen wirklich schauen, wenn man ihn eingeschlossen sich denkt in seine Haut, wenn man der Täuschung unterliegt, daß das nur mit dem Menschen etwas zu tun hat, was da in äußerer physischer Gestalt vor einem steht, wenn man einen Menschen mit Augen schaut. Wer einen Menschen wirklich kennenlernen will, der muß aus diesem herausgehen, was innerhalb der Haut eingeschlossen ist, und das menschliche Wesen als ausgebreitet im ganzen Weltenall ansehen. Er muß die geistige Fortsetzung außer der Haut wirklich ins Auge fassen.

Nun hingen mit diesem Impuls der Griechen, das Menschenwesen außerhalb der Haut zu schauen, mancherlei Göttervorstellungen zusam­men. Aber von allen diesen Göttervorstellungen gab es gewissermaßen eine exoterische und eine esoterische Seite. Die exoterische Seite des Menschenwerdens, aber im Zusammenhange mit dem ganzen Natur-werden, also des Menschenwerde-Geheimnisses mit dem Naturwerde­Geheimnis, diese ganzen Vorstellungen wurden angeschlagen, wenn der Grieche sprach von Demeter, später, wenn gesprochen wurde von Ceres, Kersa. Die esoterische Seite der Ceres, der Demeter, der Werdewelt, waren gewissermaßen die Kabiren. Aber man muß den Menschen in der richtigen Weise anschauen, wenn man irgendwie hinter sein Geheimnis kommen will.

Den Menschen so anschauen, wie seine Gestalt hier in der physischen Welt ist, das hieße eigentlich, sich über den Menschen täuschen. Denn

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dieser Mensch ist zusammengeflossen zunächst aus einer Trinität. Und wie wenn drei Lichter ihren Schein nach einem Punkte, nach einem Kreise meinetwillen hinwerfen, und man den Zusammenfluß der drei Lichter sieht, und man nicht dazu übergehen will, zu sehen, wie das eine, meinetwillen ein gelbes, das andere ein blaues, das dritte ein rötliches Licht zusammenfließen in einem, wenn man nicht dieses Zusammen-klingen sehen will, wie man da glauben kann, das, was da als Mischlicht entsteht, sei eine Einheit, so täuscht man sich, wenn man dieses Misch­produkt, das man vor sich hat in dem, was als Mensch innerhalb seiner Haut vor uns steht, für eine Einheit hält. Es ist keine Einheit. Und nie kann man hinter das Menschengeheimnis kommen, wenn man das für eine Einheit hält. Jetzt ist es den Menschen nicht bewußt, daß das keine Einheit ist. Aber als das atavistische Heilsehen die Menschenerkenntnis durchglühte, da waren die Menschen sich dessen bewußt. Und so setzten die samothrakischen Eingeweihten den Menschen zusammen gewisser­maßen aus dem, was in der Mitte steht: Axieros, und aus dem, was Extreme sind: Axiokersos und Axiokersa, deren Kräfte sich mit der Kraft des Axieros verbanden. Man könnte sagen: Drei sind da - Axie­ros Axiokersos, Axiokersa. Diese drei Kräfte fließen zusammen, bilden eine Einheit. Die höhere Wirklichkeit ist die Dreiheit. Aber die Einheit entsteht dadurch. Das tritt vor das Menschenauge.

Man könnte auch so sagen: Der samothrakische Eingeweihte lernte den Menschen kennen, wie er vor ihm stand im sinnlichen Anschauen, und ihm wurde gesagt: Du mußt von diesem Menschen zwei Extreme abziehen; Axiokersa, Axiokersos, die strahlen nur herein. Dann kannst du eventuell zurückbehalten Axieros. - So daß man auch die Sache so darstellen konnte, daß von den dreien Axieros gewissermaßen darstellt den menschlichen Mittelzustand, und die andern, die beiden Unsicht­baren, bestrahlen ihn nur.

Also als eine Trinität stellte man sich in den samothrakischen Myste­rien den Menschen dar. Goethe fragte sich: Kann man vielleicht den abstrakten Homunkulus zu dem völligen Homo in der Idee umbilden, wenn man sich anlehnt an dasjenige, was in den samothrakischen Myste­rien als ein Geheimnis des Menschen selbst, als die menschliche Trinität, angeschaut worden ist? Er sagte sich: Man kann zu dieser Trinität nur

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dadurch kommen, anschauungsgemäß, wenn man mit dem Geistig-Seeli­schen aus dem Leibe herausrückt. - So sagte er sich.

Aber man muß immer betonen, Goethe lebte mit Bezug auf die geistige Anschauung gewissermaßen in einem Anfangszustande. Das ist gerade das Wunderbare am Goetheanismus, daß er, wie ich neulich sagte, nur richtig vorgestellt wird, wenn man ihn so vorstellt, daß er fortgesetzt, ausgebildet, daß er entwickelt werden muß, daß er zu immer höheren und höheren Höhen hinanführt, daß man bei Goethe einfach die Metamorphosenlehre hat von Blatt zu Blatt, vom grünen Laubblatt zum farbigen Blumenblatt und so weiter, oder etwa vom Rückenwirbel zu den Kopfknochen, daß aber dieses Geheimnis von einer Inkarnation zur andern Inkarnation, von einem Erdenleben zum andern Erdenleben führt, wenn man das richtig versteht, wie ich Ihnen öfter ausgeführt habe. Daher kann man ganz innerhalb der Goetheschen Weltanschauung stehenbleibend sagen: Wie würde denn das samo­thrakische Mysterium sich heute verbildlichen lassen für die Gegen­wart? - Das samothrakische Mysterium als solches, mit seinen Kabiren­verbildlichungen des Menschengeheimnisses, ist ganz und gar ent­sprechend der alten atavistisch - hellseherischen Weltanschauung, aber dasjenige, was in irgendeiner Menschheitsperiode lebt an Erkenntnis-inhalt, kann in rechtmäßiger Weise fortgesetzt, muß umgebildet werden. Es ist unberechtigt, zu den alten Anschauungen, die für ganz andere Menschheitsepochen da waren, einfach wieder zurückkehren zu wollen; sie müssen umgebildet werden. Das samothrakische Geheimnis hat natürlich nur einen historischen Wert. Heute würden wir sagen: Wir stellen dar, wie in der Mitte der Menschheitsrepräsentant steht, Axieros, wie der Menschheitsrepräsentant umkreist wird von Axiokersa, wie Axiokersos heute wiederum mit dem Irdischen in Zusammenhang ge­bracht werden muß, und wir haben den Menschheitsrepräsentanten, Luzifer, Ahriman. Wir haben darinnen die für das heutige und das kom­mende Zeitalter angemessene Umgestaltung des heiligen samothraki­schen Mysteriums.

Man möchte sagen: Goethe, wenn er heute unter uns treten würde und mit dem, was die Menschheit sich mittlerweile hat erringen können, das sagen wollte, was seinen Homunkulus zum Homo umgestaltet, so

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würde er hinweisen auf den Menschheitsrepräsentanten, umkreist und im Kampfe mit Luzifer, Ahriman. Nur bitte ich Sie, diese Dinge nicht in abstrakter Weise zu nehmen, ja nicht die beliebte Methode von heute anzuwenden, diese Dinge als Symbol zu nehmen, diese Dinge mit ein paar abstrakten Begriffen abtun zu wollen. Je mehr Sie fühlen, daß auch bei der Darstellung des Menschheitsrepräsentanten im Zusammenhang mit jeder Linie des Luzifer und Ahriman eine ganze Welt verborgen liegt über das Menschheitsgeheimnis, je mehr Sie verleugnen den Hoch-mut, den unbegründeten, kindischen Hochmut des modernen Menschen auf seine abstrakten naturwissenschaftlichen Begriffe, und je mehr Sie erweitern die Seele zu einer Welt im Anblicke dieser Verbildlichung des Menschengeheimnisses, desto näher kommen Sie dadurch dem Men­schengeheimnis.

Heute hat Geisteswissenschaft mannigfaltige Gegnerschaft. Aber einer ihrer stärksten Feinde ist die Sehnsucht des Menschen nach Abstraktion, die Sehnsucht der Menschen, alles mit ein paar Begriffen überkleistern zu wollen. Goetheanismus ist auch empfindungsgemäß das gerade Gegenteil dieses modernen Unfuges, alles mit ein paar Begriffen über­kleistern zu wollen. Man macht in dieser Beziehung besondere Erfah­rungen. Die Menschen kommen zunächst aus den verschiedensten Moti­ven in eine geisteswissenschaftliche Bewegung hinein. Viele gibt es, die fangen dann an, möglichst alles verabstrahieren zu wollen. Sieben Prin­zipien hat der Mensch - ich habe es einmal erlebt, oh, schauderhaft, ganz schauderhaft, wie jemand den Hamlet dadurch erklärt hat, daß er das eine Prinzip zum Buddhi, das andere zum Manas und so weiter gemacht hat. Das ist etwas, was viel schlimmer ist als aller äußere Materialismus. Diese ganzen abstrakten Erklärungen, diese ganze Symbolisierung ab­strakter Natur ist viel schlimmer, innerlich angeschaut, als aller äußere Materialismus. Jedenfalls aber sehen wir, daß Goethe zunächst wirklich an ein höchstes Menschliches heranführen will die Idee des Homunkulus, indem er seine Nereiden und Tritonen auf dem Wege zeigt nach Samo­thrake, um die heiligen Kabiren zu bringen.

Und so werden wir denn bei den Kabiren empfinden müssen, was gerade Urvölker bei ihren Göttergestalten empfunden haben. Diese Göttergestalten der Urvölker kommen den heutigen Menschen primitiv

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vor: Götzen. Als Götzen erscheinen dem heutigen Menschen diese Götterbilder der Urvölker, weil der heutige Mensch kein Verständnis hat für dasjenige, was aus den Elementarkräften hervorquillt. Der heu­tige Mensch erhebt sich nicht einmal in der Kunst zu einem wirklich Schöpferischen. Er hält sich ans Modell, oder beurteilt irgend etwas, was ihm in der Kunst dargestellt wird, so, daß er sagt: Ist das ähnlich? -Ja, man hört oftmals sogar den Einwand gegen irgendeine Darstellung:

Das ist nicht natürlich -, weil heute wirklich wenig künstlerische Emp­findung unter den Menschen ist. Wer allerdings zum Verständnisse vor­rücken will der vielleicht grotesk ausschauenden alten Götterbilder, muß versuchen, sich von jenen Wesenheiten eine Vorstellung zu machen, die der dritten elementarischen Welt angehören, aus der erst unsere Welt hervorquillt in ihren mineralischen Produkten auf der einen Seite, und auf der andern Seite in ihren organischen Produkten.

Sie wissen, wie die Szene damit beginnt, daß die Nereiden und Trito­nen auf dem Wege nach Samothrake sind, um die Kabiren heranzubrin­gen, unter die Homunkulus zum Homo-Werden versetzt werden soll. In der Zwischenzeit, während die Nereiden und Tritonen auf der Reise nach Samothrake sind, begibt sich Thales, der den Homunkulus zum Menschwerden führen soll, zum alten Meergreis Nereus. Thales, der alte Naturphilosoph, ist es, den der Homunkulus zunächst aufgesucht hat. Nun, Goethe ist weder Mystiker im schlechten Sinne des Wortes noch bloßer Naturphilosoph, wenn es ihm darauf ankommt, die Wirk­lichkeit zu finden. Daher kann der Thales selber dem Homunkulus nicht zum Homowerden verhelfen. Gerade die Weltanschauung des Thales verehrte Goethe sehr, aber er schreibt dem Thales nicht das Vermögen, die Kraft zu, dem Homunkulus den Rat zu geben, wie man es zum Menschen, zum wirklichen Menschen bringen kann. Da soll man sich also schon zu einer dämonischen Macht begeben - außerhalb des Leibes -, zum alten Nereus. Goethe bringt die verschiedensten Dämonengewalten an den Homunkulus heran. Was ist denn der Nereus eigentlich für eine Gewalt? Nun, das sieht man aus der Art und Weise, wie dieser Meer­greis spricht in der Goetheschen Dichtung. Man möchte sagen: Dieser Nereus ist im gewissen Sinne doch der allerdings weise, prophetische, aber etwas philiströse Bewohner der dem Menschen nächsten geistigen

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Welt, in die der Mensch eintritt, wenn er aus seinem Leibe heraus­kommt. - Ob der nun etwas weiß, wie der Homunkulus Homo werden kann? Ja, sehen Sie, Verstand, sogar bis zur prophetischen Hellseher-gabe, hat der Nereus schon; er handhabt zwar diesen Verstand groß­artig, aber so, wie er ihn handhabt, gelangt er wirklich nicht an das Innere des Menschen damit heran. Daher empfindet er, wie die Men­schen ihn nicht hören, auf seinen Rat nicht hören. Er hat gewissermaßen keinen Zugang zu der Seele des Menschen. Er hat den Menschen geraten, von Verschiedenem abgeraten, hat einstmals Paris abgeraten, die ganze Misere über Ilion zu bringen. Nichts hat es gefruchtet. Es hat also ein­fach dieser Nereus den menschlichen Verstand, den die Menschen in einem sehr minderen, ich will sagen, in einem sehr hohen Grade schon auf dem physischen Plane ausgebildet haben, aufs Höchste ausgebildet, weil er gar nicht beschränkt ist auf einen physischen Leib. Aber es hilft doch mit diesem Verstande nicht recht weiter vom Homunkulus zum Homo. Es langt nicht dazu, was der Nereus zu sagen hat, es wird da­durch für die Aufgabe des Homunkulus nichts eigentlich gewonnen.

Aber es sagt der Nereus, daß er, während er sich nicht beschäftigen will mit dem Ratgeben zum Menschwerden des Homunkulus, seine Töchter erwartet, die Doriden, und namentlich die auserlesenste von ihnen, Galatee, die zu diesem Meeresfeste heute kommen soll, die der Vater erwartet. Galatee: eine Imagination gewaltigster Art.

Zusammenhänge zu sehen in der Welt, das ist dasjenige, auf was es ankommt. Es ist sogar gar nicht leicht, über diesen Punkt zu sprechen, weil die heutige Seele die Sehnsucht hat, alles zu verabstrahieren. Wer sich in diesen Dingen umschaut, erfährt gar manches. Gewiß, es gibt gut­willige Leute, die sprechen davon, daß sie an den Geist glauben. Es ist nicht übel, wenn die Menschen wenigstens an den Geist glauben. Aber wie ist es, wenn man nachgeht und so recht aufs Herz hin die Menschen frägt: Was stellt ihr eigentlich euch unter dem Geist vor, an den ihr glaubt? Was ist das, der Geist? - Nicht wahr, die Spiritisten verzichten überhaupt darauf, vom Geist etwas zu erfahren, indem sie sich allerlei Ungeistiges vormachen. Es ist die materialistischste Lehre, die überhaupt existieren kann, der Spiritismus. Gewisse feiner gestimmte Seelen spre­chen wohl vom Geist, aber was ist denn eigentlich das, was sie im Kopfe

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haben, wenn sie vom Geist sprechen? Das ist es ja, warum skeptische, so recht moderne Gemüter den Geist am liebsten aufgeben - nein, ich meine natürlich nur in Gedanken -, den Geist am liebsten aufgeben gegenüber dem, was man im modernen Sinne wissen kann. Lesen Sie den Artikel «Geist» im philosophischen Wörterbuch von Fritz Mauthner, dann wer­den Sie wahrscheinlich Zustände Ihres Leibes erhalten können, die nicht Zustände des Kopfes sind.

Alles dieses abstrakte Gerede, selbst wenn es das Gerede vom Geist ist, sollte überwunden werden gerade in wahrer Geisteswissenschaft. Verfolgen Sie, wie aufsteigend im Fortgange unserer geisteswissenschaft­lichen Arbeiten eigentlich gesprochen wird. Es wird alles herangezogen, was nach und nach wirklich in die geistige Welt hineinführen kann. Es wird nicht bloß mit Worten gesprochen, sondern es wird gewissermaßen eine vergleichsweise Methode herangezogen. Denken Sie doch, daß wirklich begreiflich wird durch die Art, wie Geisteswissenschaft hier vertreten wird, daß der Mensch einen Lebensweg durchmacht hier im physischen Leibe. Lesen Sie zum Beispiel die zusammenfassenden Dar­stellungen im letzten Hefte «Das Reich». Es wird da angedeutet, wie und durch welche Kräfte der Mensch, wenn er ein ganz kleines Kind ist, am meisten der materiellen Welt ähnlich ist, wie er dann mehr seelisch wird in der Mitte seines Lebens, wie er aber geistig wird - nur daß er diesen Geist oftmals nicht erfaßt, weil er sich nicht vorbereitet dazu -, wie er geistig wird dann, wenn der Leib verfällt, wenn der Leib trocken und sklerotisch wird, wie da der Geist sich dann befreit, auch im wachen Zustande. Nur wird der Mensch sehr selten sich bewußt dessen, was er da erleben kann, wenn er mit einiger Begabung alt wird, ich meine jetzt mit spiritueller Begabung alt wird, wenn er nicht einfach hinfällig wird im Leibe, sondern wenn er dann die sich verjüngende, zum Geist ver­jüngende Seele erlebt.

Dies zeigt, daß man aufmerksam wird darauf, daß man natürlich den Geist nicht anschauen kann im Greis oder in der Greisin, daß er unsichtbar ist. Man sieht den verfallenden Leib, sieht nicht den Geist, der jung und frisch wird; man sieht die Runzeln auf den fleischlichen Wangen und sieht nicht die Pausbacken des Geistes, die dann entstehen; die sind übersinnlich. Aber man weist wenigstens darauf hin, wo man

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finden kann hier in der Welt, in der wir unseren gewöhnlichen Umgang haben, das Geistige. Und wenn man dann sagt, die ganze Natur ist durchdrungen vom Geiste, dann verlangt man eigentlich, daß man sich vorstellt, da draußen in der Natur, wo die Mineralien, wo die Pflanzen die äußere Welt offenbaren, lebt etwas von derselben Kraft, in die man hineinwächst, wenn man ein alter Mann oder eine alte Frau wird. Sehen Sie, da ist anschaulich ausgedrückt die Sache. In pantheistischer Weise zu reden: Da draußen ist Geist - das ist gar nichts, weil da Geist ein bloßes Wort bleibt. Wenn man aber nicht in direkt abstrakter Weise, sondern in den verschiedensten Umschreibungen, die dazu notwendig sind, darauf aufmerksam macht, die Kraft, die in dir immer größer wird, wenn du alt wirst, suche als die innigste, schärfste Naturkraft auf, dann sagt man etwas. So eine Kraft neben die andere stellen und auf­merksam machen, wo die eine und die andere Kraft ist, das ist das Wesentliche. Und so kann inan, wenn man den Blick hinwendet auf diejenigen Kraftimpulse, die da leben im ganzen Zusammenhange von der Empfängnis durch das Embryonalleben bis zu der Geburt, wenn ein physischer Mensch hier auf der Erde entsteht, sich diese Dinge vergegen­wärtigen. Der trockene Naturforscher, der besser ein Naturschleicher genannt werden könnte, bleibt stehen bei dieser Kraft, die er auf alle mögliche Weise untersucht, aber er untersucht sie auf seine Art; er bleibt stehen dabei. Derjenige aber, der sich einen geisteswissenschaftlichen Überblick über die Welt zu verschaffen vermag, weiß, daß diese Kraft auch an andern Orten vorhanden ist. Ganz dieselbe Kraft, nur rascher wirksam, macht sich geltend, wenn Sie des Morgens aufwachen, genau dieselbe Kraft, die von der Empfängnis durch das Embryonalleben bis zu der Geburt führt, gewissermaßen verdünnt, macht sich geltend, wenn Sie vom Schlafen ins Aufwachen übergehen. Es ist genau dieselbe Kraft. Aber diese Kraft ist nicht nur in Ihnen, im Inneren in Ihnen, sondern diese Kraft ist durch das ganze äußere Kosmische ausgedehnt, lebt überall in den Dingen und Vorgängen.

Diese Kraft ist die Tochter des kosmischen Verstandes. Man muß an mancherlei heute recht Ungewohntes rühren, wenn man diese Dinge charakterisieren will. Was tut denn eigentlich der heutige Naturforscher, wenn er dem physischen Geheimnis des Keimens nahekommen will? Er

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mikroskopiert, er untersucht im Mikroskop, wie der Keim ist, wenn er unbefruchtet ist, wenn er befruchtet ist und so weiter. Er hat keine Ahnung davon, daß er, was er da im Kleinsten darinnen in dem Mi­kroskop untersucht, im Makrokosmischen fortwährend vor sich sieht. Genau derselbe Vorgang, der sich zum Beispiel im Leibe der Mutter ab­spielt vor der Empfängnis, während der Konzeption, nach der Kon­zeption, dann im Embryonalleben, genau derselbe Prozeß spielt sich makrokosmisch ab, indem die Pflanze dem Samen nach in die Erde ge­senkt wird, die Erde den Pflanzenkeim herausschickt. Die Uteruswärme. die Gebärmutterwärme ist genau dasselbe, was die Sonne draußen ist für die gesamte Weltvegetation. Es ist schon sehr bedeutsam, anerken­nen zu können, daß dasjenige, was der Mikroskopiker im Kleinsten sieht, fortwährend makrokosmisch überschaut werden kann draußen in der Welt. Wir gehen gewissermaßen, indem wir unter der werdenden Pflanzenwelt herumgehen, eigentlich in dem Weltenuterus herum in Wahrheit. Kurz, die Kraft, die dem Menschenwerden zugrunde liegt, ist draußen in der makrokosmischen Welt, durchwallt und durchwebt die ganze makrokosmische Welt. Denken Sie sich diese Kraft personifiziert, diese heilige Kraft des Menschenwerdens in ihrem geistigen Korrelat draußen erfaßt außerhalb des menschlichen Leibes, geistig-seelisch, und Sie haben Galatee, verwandt mit alledem, was zu ihr gehört, ihren Schwestern, den Doriden. In diesen Imaginationen werden wir schon hineingeführt in eine geheimnisvolle, aber durch und durch wirkliche Welt. Es ist eine der tiefsten Szenen, die Goethe geschrieben hat. Und er war sich dessen bewußt, daß man im höchsten Alter eine Ahnung haben kann von diesen tiefsten Naturgeheimnissen.

Es hat etwas ungeheuer Bedeutungsvolles, wenn man sich vergegen­wärtigt: Goethe hat als Jüngling seinen «Faust» begonnen, und kurz vor seinem Lebensende sind solche Szenen geschrieben wie diejenigen, die wir jetzt vorführen. Gestrebt hat er durch sechzig Jahre hindurch, den Weg zu finden, um das auszugestalten, was er in frühester Jugend kon­zipiert hat. Alles zieht er heran, da es sich ihm darum handelt, die Ho­munkulus-Idee zur Homo-Idee zu erheben, alles zieht er heran, da es sich ihm darum handelt, das Geheimnis der Menschwerdung außerhalb des Leibes darzustellen. Er zieht heran das Kabiren-Geheimnis, er zieht

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heran das Geheimnis vom Menschwerden, wie es sich im Bilde der Ga­latee abspiegelt. Und er weiß, daß dasjenige, was die Wirklichkeit ist, so umfassend und so tief ist, daß ihm gegenüber die Imaginationen, zu denen man kommen kann, die erweckt werden durch die Kabiren-Impulse, durch den Galatea-Impuls, doch vorüberhuschen, daß das Ge­heimnis noch größer ist als dasjenige, das so festgehalten werden kann.

Goethe hat selbst wirklich alles versucht, um in lebendiger Art dem Geheimnis des Lebens nahzukommen. So hat er seine Metamorphosen-lehre ausgebildet, wo er die verschiedenen Formen in der Natur ver­folgt, wie eine Form aus der andern wird. Diese Metamorphosenlehre Goethes darf auch nicht abstrakt vorgestellt werden. Daß sie das nicht darf, zeigt uns Goethe, der mit dieser Metamorphosenlehre, die doch nur konzipiert werden kann in leibfreier Weltanschauung, an dasjenige herantritt, was atavistisch empfunden wurde in der alten Proteus­Mythe. Vielleicht kann Proteus, der in seinem eigenen Werden verschie­dene Gestalten annimmt - Sie wissen, er führt ihn vor, oder wir stellen ihn dar in der Szene als Schildkröte, als Mensch, als Delphin: diese Ge­stalten stehen nebeneinander, treten nacheinander auf -, vielleicht kann man durch dasjenige, was Proteus erlebt, von ihm erfahren, wie Ho­munkulus zum Homo werden kann.

Aber Goethe empfand das doch noch Eingeschränkte seiner Meta­morphosenlehre. Ja, meinen Sie, ein so gründlicher, ein so tiefer Er­kenntnismensch, wie Goethe war, hat das nicht empfunden, was ihm da folgte aus der Tatsache: Du kannst, wenn du die Metamorphosenlehre hast, Pflanzenblatt nach Pflanzenblatt bis zum Blütenblatt verfolgen, wie sie sich verwandeln, du kannst auch den Rückenwirbelknochen ver­folgen, wie er sich verwandelt in den Kopfknochen, Schädelknochen. -Aber Goethe - das weiß der, der Goethes eigene Anschauung durch­gearbeitet hat, wie Goethe ringt auf diesem Gebiete - wußte: Da kann ich nicht weiter. Er empfand: Da gibt es etwas darüber hinaus. - Wir wissen, was es gibt! Der Kopf des gegenwärtigen Menschen ist die Meta­morphose des Leibes des früheren Menschen, des Menschen im früheren Erdenleben. Der übrige Leib des Menschen in diesem Erdenleben wird zum Kopf im nächsten Erdenleben. Da haben wir die Metamorphose, die Krönung der Metamorphose für das Menschenleben. Das empfand

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Goethe, daß er einen großen Anfang gemacht hat mit der proteischen Metamorphosen-Idee, daß sie aber ausgebildet werden muß, wenn man von Homunkulus zum Homo kommen will. Er zieht heran, was er emp­findet beim Proteus. Aber das kann nicht dazu führen, die Idee des Homunkulus zu der Idee des Homo zu bringen. Goethe stellt in ehr­licher Weise dichterisch dar, was er kann und was er nicht kann. Man sieht schon tief in die Seele Goethes hinein. Bequemer ist es freilich, sich einen abstrakten, vollkommenen Goethe vorzustellen, um sich dann zu sagen: Der hat alles gewußt. - Nein, Goethe wird gerade dadurch groß, daß man auch seine Grenzen kennenlernt, sintemalen er diese Grenzen so ehrlich selbst gestanden hat, wie das geschehen ist, indem er auch den Proteus, wie er ihn fassen konnte, das heißt die Metamorphosenlehre, wie er sie fassen konnte, nicht ratgeben läßt über das Werden des Ho­munkulus zum Homo.

Goethe hat allerdings in der verschiedensten Richtung gestrebt, die­sem Werden, welches das Menschenwerden ist, näherzukommen. Für ihn war auch die Kunstanschauung nicht das, was sie so vielen ist, im Grunde auch etwas Abstraktes. Für Goethe ging dasjenige, was im Kunstwerke sich ausdrückte, zusammen mit alldem, was schöpferisch in der Welt lebte. All das, was ihn hat führen sollen nach seinen Sehnsuchten, das Geheimnis des Menschenwerdens zu ergründen, führt Goethe in dieser Szene vor. Wie er vor den griechischen Kunstwerken, vor den ihm die griechische Kunst vergegenwärtigenden italienischen Kunstwerken stand und sich sagte: Ich bin auf der Spur, wie die Griechen verfahren sind, indem sie ihre Kunstwerke geschaffen haben; sie verfuhren nach den­selben Kräften, nach denen die Natur schafft -, da hat Goethe empfun­den: Ja, wenn der Künstler ein wirklicher Künstler ist, dann vermählt er sich mit denselben Kräften, die in der Natur schaffen, schafft seine Formen, schafft alles dasjenige, was künstlerisch zu schaffen ist, aus dem­selben heraus, was da wirkt im Pflanzen-, im Tier-, im Menschenwer­den. - Aber es bleibt doch ohne das innere Wissen. Das ist dann das­jenige, was Goethe sich auch gestehen mochte: Die schöpferischen Kräfte, sie lassen sich anschauen, sie lassen sich fühlen, aber man steht nicht darinnen in der Metamorphose. - Die Telchinen von Rhodus treten auf; sie sind so große Künstler, daß natürlich jede äußere Menschenkunst

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klein dagegen erscheint. Sie haben Neptunen den Dreizack geschmiedet, sie haben es zuerst versucht, Götter in Menschengestalt darzustellen, also den Menschen wirklich aus den kosmischen Kräften heraus nachzuschaf­fen. Man ist auf dem Wege damit, wenn man diese Telchinenkunst aus­führt, das Menschenwerden nachzubilden, aber man kommt doch nicht an es heran. Das will Goethe sagen. Er spricht es aus durch den Proteus, der zuletzt sagt: Auch das führt nicht zum wirklichen Menschengeheim­nis heran.

So recht will Goethe die Empfindung hervorrufen, wie das doch zwei Welten sind: die wache Tageswelt und die, in welche man eintritt, wenn man leibfrei wird, und die man schauen würde, wenn man aus dem Leibe aufwachte im leibfreien Zustande im Schlafe, die Welt, die man schaut, wenn man nicht im Leibe herinnen ist. All das, was er da sagen will, deutet Goethe in dieser Szene so fein, so großartig an. Bitte, neh­men Sie nur den Teil der Szene, wo die Doriden herbeiführen die Schifferknaben, und lesen Sie diese Worte. Lesen Sie die Worte, wie da die Welt charakterisiert ist, wie zusammenkommt die physische Welt mit der geistigen, in die man eintritt, wenn man leibfrei ist: die Doriden mit dem Physischen, mit den hier in der Welt herinnen stehenden Schifferknaben. Sie haben sich gefunden und doch nicht gefunden; Men­schen und Geister finden sich und finden sich doch nicht, nähern sich und bleiben sich fremd. Dieses Verhältnis der physischen Welt zur geistigen Welt ist in diesem Teil der Szene wunderbar angedeutet. Überall das Bestreben bei Goethe, zu zeigen, wie notwendig es ist, in die geistige Welt sich zu versetzen, wenn das erreicht werden soll, was aus dem Homunkulus einen Homo macht, und zugleich die Andeutung, die feine, intime Andeutung des Zusammen- und Getrenntseins der physischen Welt und der geistigen Welt.

Man möchte sagen: Goethe sieht oder läßt in seiner künstlerischen Darstellung sehen, wie der Homunkulus zum Menschen werden könnte für die Seele, wenn sie sich nähert dem intimen Mysterium der Kabiren, demjenigen, was Nereus heraufruft in seiner Tochter Galatee, dem­jenigen, was in der wahren, aus dem Kosmos heraus wirkenden Kunst wirkt. Aber ach, es ist, wie wenn man im Traume eine Wirklichkeit ergreift, und der Traum gleich wieder vorbeihuscht, es ist, wie wenn

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man halten möchte dasjenige, was zusammenschmiedet die geistige Welt und die physische Welt. Aber: «Die Götter wollen's nicht leiden.» Es geht wieder auseinander.

Diese Schwierigkeit des Geist-Erkennens steht als die Grundempfin­dung, als der Grundimpuls vor der Seele dessen, der diese Szene mit wirklichem Verständnisse schaut. Das ist es, was dann Goethe dazu führt, den gewaltigen Abschluß dieser Szene herbeizuführen: das Zer­schellen des Homunkulus am Muschelwagen der Galatee, jenes Zerschel­len, das zugleich ein Entstehen ist, jenes Entwerden, das zu gleicher Zeit ein Werden, jenes Aufgehen in den Elementen, das zu gleicher Zeit ein Sich-Finden in der Wirklichkeit ist. Davon wollen wir dann morgen sprechen, von diesem Schluß der Szene im Anschlusse an die Vorstellung.

DAS WIRKLICHKEITSSCHAUEN IN DEN GRIECHISCHEN MYTHEN Dornach, 18. Januar 1919

#G273-1967-SE216 Das Faust-Problem

#TI

DAS WIRKLICHKEITSSCHAUEN

IN DEN GRIECHISCHEN MYTHEN

Dornach, 18. Januar 1919

nach einer Darstellung der #TX

Gestern habe ich versucht, über die eben zur Aufführung gekommene Szene aus dem zweiten Teil des «Faust» zu Ihnen zu sprechen. Ich möchte die Hauptgedanken kurz wiederholen, die gestern hier zur Gel­tung gebracht worden sind, denn wir haben es mit dieser Szene in der Tat als mit einer der bedeutsamsten Schöpfungen Goethes zu tun, mit einer Szene, die Goethe seinem «Faust» eingefügt hat, nachdem er etwa sechzig Jahre mit dem Faust-Problem gerungen hatte. Wir haben es außerdem zu tun mit einer Szene, durch die man wirklich in intensivster Weise hineinschauen kann in Goethes Seele, insofern in dieser Seele wal­tet Erkenntnisdrang und vor allen Dingen Ernst des Erkenntnisdran­ges, Größe des Erkenntnisdranges. Nur muß man niemals, wenn man «Faust» gewissermaßen als Erkenntnisdichtung auffaßt, aus dem Auge verlieren, daß alles, was in höchster Weisheit sich durch den «Faust» offenbart, nirgends, wie das bei geringeren Dichtern, die derlei ver­suchen, so häufig der Fall ist, die künstlerische Gestaltungskraft, das rein Künstlerische, beeinträchtigt. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß Goethe selbst zu Eckermann betont hat, daß er in seinen «Faust» vieles hineingeheimnißt hat, und daß der Eingeweihte viele Menschenrätsel darinnen finden werde, daß er aber sich bemüht hat, dabei alles so zu gestalten, daß rein von der Bühne aus das Bildmäßige angeschaut, auch dem naiven Gemüte ein Eindruck werden kann.

Nun wollen wir die Hauptgedanken des gestern Mitgeteilten über das Hineingeheimnißte noch einmal vor unsere Seele führen, um dann übergehen zu können zu dem, was gestern noch nicht berührt werden konnte, zu dem Schlusse dieser Szene. Ich sagte gestern, daß diese Szene so recht beweist, wie Goethe nachging dem Problem der menschlichen Selbsterkenntnis und der menschlichen Selbsterfassung. Denn niemals war für Goethe das Erkennen - das Ergreifen der Wahrheit war für Goethe wissenschaftlicher Drang - etwa nur etwas Abgezogenes, Theoretisches,

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sondern stets war, wie es beim Vollmenschen immer mehr und mehr werden muß in der zukünftigen Menschheitsentwickelung, für Goethe dasjenige, was er als Erkenntnis in seiner Seele suchte, etwas, was Impuls werden mußte zum vollen Sich-Hineinstellen in das Leben, zum Erfühlen alles desjenigen, was das Leben an Glück und Unglück, an Freuden und Schmerzen, an Schicksalsschlägen und Entwickelungs­möglichkeiten den Menschen bringen kann. Aber auch zu alledem soll der Erkenntnisdrang Bezug haben, was sich als Forderungen stellt durch das Leben an den Menschen mit Bezug auf sein Verhalten zum sozialen Ganzen, mit Bezug auf sein Tun und Schaffen. Faust soll nicht bloß als ein nach höchster Erkenntnis Strebender dargestellt werden, sondern als ein Mensch, der mit allem, was das Leben vom Menschen fordert und dem Menschen bringt, in innigster Weise verbunden ist. Dazu sucht Goethe für seinen Faust Selbsterkenntnis, also Menschheitserkenntnis und Selbsterfassung, Erfassung der Kräfte, die im Menschen zur Tat schlummern. Aber ebenso klar ist sich Goethe, daß das gewöhnliche, an die Sinne gebundene, vom Verstand bedingte Erkennen zu solcher Selbsterkenntnis nicht führen kann. Deshalb läßt Goethe auftreten in der «Klassischen Walpurgisnacht» den Homunkulus, jenes Produkt, welches dem mittelalterlichen Forscher eine Nachbildung des Menschen sein sollte aus den Naturkräften und den Naturgesetzen heraus, welche der physische Verstand innerhalb der äußeren Natur fassen kann. Fassen wir jetzt alles das in der Homunkulus-Idee - ich habe gestern ge­nauer darüber gesprochen, was Goethe mit seinem Homunkulus gemeint hat, abgesehen von allem Aberglauben, der mit dem Homunkulus ver­bunden war -, fassen wir ins Auge, was Goethe damit meint. Goethe wollte in seiner Homunkulus-Idee dasjenige vom Menschen darstellen, was der Mensch hier in der physischen Welt von sich selbst durchschauen kann. Derjenige, der sich nur jener Erkenntnisse bedient, die physische Naturwissenschaft oder physische Lebenserkenntnis liefern können, ge­langt niemals nach Goethes Anschauung zur Menschheitserkenntnis und zur Menschheitserfassung. Er wird niemals den Homo, den Menschen erkennen, er wird nur einen Homunkulus, einen auf dem Wege zur Menschwerdung stehengebliebenen, elementaren Geist sich vor die Seele stellen können.

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Damit rang nun Goethe als mit einem Erkenntnisproblem. Wie kann aus diesem Gedanken des Homunkulus der Gedanke des Homo werden? Da war sich Goethe klar, das zeigt die ganze Haltung, die ganze Stim­mung, die künstlerische Gestaltung der «Klassischen Walpurgisnacht», daß nur in einer solchen Erkenntnis die Frage nach dem Menschenwesen beantwortet werden kann, die hergenommen ist aus der Forschung, die das Geistig-Seelische des Menschen vollführt außerhalb des physischen Menschenleibes. Das wollte Goethe durchaus als sein Bekenntnis aus dem «Faust» herausleuchten lassen, daß über den Menschen jemand nur Auskunft geben kann, der Erkenntnisse gelten läßt, die außerhalb der physischen Leibeswerkzeuge gewonnen werden. Also nur wirkliche Geisteswissenschaft oder, wie wir es auffassen, Anthroposophie kann zur Erkenntnis des Menschen, des Homo führen, während alle übrige in der physischen Welt sich betätigende Erkenntnis bloß zum Gedanken des Homunkulus führen kann. Goethe war auch sein ganzes Leben hin­durch unablässig bemüht, soweit es ihm möglich war, aufzusteigen zu solch übersinnlicher Erkenntnis. Er suchte sie auf verschiedenen Wegen. Die Wege, die sich ihm dargeboten haben, versuchte er künstlerisch aus­zugestalten in seinem «Faust». Faust sollte ihm sein der Repräsentant eines Menschen, der nun zu wirklicher Menschenerkenntnis und Men­schenerfassung kommt.

Nun war zu Goethes Zeiten anthroposophisch orientierte Geistes­wissenschaft noch nicht vorhanden, konnte nicht vorhanden sein. Goethe versuchte deshalb anzuknüpfen an jene Zeitkulturen, in denen noch die Nachklänge atavistischer Geistanschauung vorhanden waren. Und ihm lag es nahe, nachdem er gezeigt hat alles Ungenügende für die Menschen-erkenntnis in der «Romantischen Walpurgisnacht» des ersten Teiles des «Faust» - wir haben öfter über Goethe gesprochen und können deshalb ermessen, von welchen Untergründen aus ihm das nahelag -, zu den Imaginationen der griechischen Mythe seine Zuflucht zu nehmen. Das fühlte, das empfand Goethe, mit den Begriffen des physischen Verstan­des ist Menschheitserfassung nicht zu gewinnen. Zu eigenen Imaginatio­nen wollte er noch nicht übergehen. Er versuchte daher wieder zu ge­stalten griechische Imaginationen So daß, wenn wir genauer sprechen, wir gerade die Szene, die sich vor unseren Augen eben abgespielt hat,

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so ansprechen können: Goethe wollte darstellen, wie ein Mensch, Faust, dem nahegetreten ist - es ist ihm von außen nahegetreten, das tut aber nichts - die Idee des Homunkulus, die einzig und allein in der physischen Welt zu gewinnen ist, wie ein solcher Mensch dadurch, daß sein Be­wußtseinszustand sich umändert, daß er aus seinem Leibe herausgeht, sich anders nun verhält, daß der Mensch sich so verhält, wie wenn er des Nachts, wenn er schläft, außerhalb des Leibes in die Möglichkeit versetzt würde, wahrzunehmen, was dann geistig-seelisch um ihn herum ist. Und dann, wenn er gewissermaßen bewußt einschläft und bewußt weiter sich verhält im Schlafe, wie ein solcher Mensch, wenn er mitnimmt in den Erkenntnisschlaf hinein die im physischen Leben gewonnene Homun­kulus-Idee, sie so umgestalten kann, daß sie menschliche Wirklichkeit ergreift. Das wollte Goethe darstellen, und dazu nahm er zu Hilfe die Bilder der griechischen Mythe. Er war in seiner Empfindung wenigstens weit hinaus über jenen Gelehrtenaberglauben - er hat es gerade in dieser Szene mehrfach angedeutet -, daß in solchen Mythen wie der griechi­schen Mythe nur vorhanden seien Dichtungen, Phantasiegeschöpfe. Sie wissen, ich habe es oftmals besprochen, daß Gelehrtenaberglaube sogar zustande gebracht hat, zu sagen, daß die Legenden, die Sagen, die Mythen, die im einfachen Volke leben, durch die Phantasie umgewan­delte Naturanschauungen seien. Solcher Gelehrtenaberglaube hat näm­lich keine Ahnung, wie wenig die Phantasie im naiven Gemüte Anteil hat an dem, was geschaffen wird, wie aber Anteil hat ein gewisses ata­vistisches Wirklichkeitssehen, das im Traume stattfindet. Nun, in den Mythen, die der griechische Geist ausgebildet hat, ist nicht bloß Dich­tung, ist Wirklichkeitsanschauen.

Goethe führte erstens dasjenige Element vor, in dem alle alten Völker gesehen haben den Impuls, der auf die Seele so wirkt, daß sie sich vom Leibe trennt. Der Zusammenhang mit der Welt war für die Menschen der alten Zeit ein viel intensiverer, als er für den heutigen abstrakten, rationalistischen Menschen ist. Wenn der Mensch der alten Zeit auf den Berg hinaufstieg, so war das nicht bloß ein physisches, kaum bemerk­bares Verändern der Dichtigkeit der Atmungsluft oder eine Verände­rung der Perspektive, die das Auge übersieht, sondern es war für ihn der Übergang aus einem Seelenzustande in einen andern Seelenzustand.

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Viel lebendiger erlebten bei einem Aufstieg auf den Berg die alten Leute als der neuere, abstrakt gewordene Mensch. Und insbesondere erlebten diese Leute intensiv dasjenige, was grob und ins Barbarische umgesetzt heute noch einige Seeleute auch erleben, daß sich ein gewisses Herausbegeben des Geistig-Seelischen aus dem Leibeswerkzeuge wirk­lich vollzieht. Tiefer angelegte Seefahrernaturen kennen die Sache noch. Aber für die alten Menschen war das etwas ganz Selbstverständliches, daß sie empfanden, wenn ich hinausschiffe in das weite Meer und nicht mehr meinen Zusammenhang mit der festen Erde habe, die alles mit festen Konturen versieht, dann löst sich die Seele vom Leibe, und man sieht mehr vom Übersinnlichen, als man, wenn man fest verknüpft ist mit den festen Konturen des Irdischen, von diesem Übersinnlichen ahnt. Daher läßt Goethe da, wo der Homunkulus in den Homo um­gewandelt werden soll, ein heiteres Meeresfest spielen. Thales, der Naturphilosoph, führt den Homunkulus in dieses heitere Meeresfest ein.

Die Sirenen sehen wir. Ich will heute nicht wiederholen - gestern habe ich es getan -, wie das alles äußerlich, bühnenmäßig, bildhaft gestaltet ist. Ich will aber aufmerksam machen auf das tiefere Geheimnis, das Goethe doch auch darinnen gesehen haben will, das tiefere Geheimnis des Gesanges der Sirenen, dieser dämonischen Wesenheiten, die auf der einen Seite Meeresdämonen sind, aber als Meeresdämonen nur lebendig werden, wenn der Mond das Meer bescheint. Das mondbeglänzte Meer lockt hervor die Sirenen, und die Sirenen locken wiederum des Menschen Seele aus seinem Inneren hervor. Das Aufrufen also zu einem solchen Bewußtseinszustand, in dem die übersinnliche Welt wahrgenommen werden kann in Imaginationen, in Bildern, das führen die Sirenen her­bei. Zunächst werden herbeigelockt die Nereiden und Tritonen. Sie sind auf dem Wege nach Samothrake zu den heiligen Mysterien der Kabiren.

Warum läßt Goethe gerade die Kabiren auftreten? Weil sein Homun­kulus Homo werden soll, Mensch werden soll, und weil in den heiligen Mysterien der Kabiren in Samothrake vor allen Dingen die in diese Mysterien Einzuweihenden bekanntgemacht werden sollten mit dem Geheimnis der Menschwerdung. Dasjenige, was in den Kabiren sich dar­stellte, war das Geheimnis der Menschwerdung. Hier in der physischen Welt vollzieht sich das physische Menschwerden, aber dieses physische

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Menschwerden hat ein geistig-seelisches Gegenbild, und dieses geistig-seelische Gegenbild kann nur außerhalb des Leibes geschaut werden in Imaginationen Ohne daß die abstrakte Idee des Homunkulus in Zu­sammenhang gebracht wird mit dem, was da geschaut werden kann, kann aus dem Homunkulus kein Homo werden. So glaubte Goethe, in alledem, was der Grieche gefühlt hat, wenn er an seine Kabiren in Samothrake dachte, darinnen etwas zu finden, was hinzukommen könne zu dem abstrakten Homunkulusgedanken, damit dieser Homunkulus­gedanke zum Homogedanken werde. Sprechen wir einmal unbefangen aus, um was es sich dabei eigentlich handelt.

Goethe sah in dem, was der Mensch durch gewöhnliches Wissen über sich selbst erfahren kann, was also nur ein Homunkulus ist, mit Bezug auf die Erkenntnis etwas, was sich vergleichen läßt mit einem unbe­fruchteten Menschenkeim. Wenn man nur an den unbefruchteten Men­schenkeim in der menschlichen Frau denkt, so kann daraus niemals ein physischer Mensch werden. Der Keim muß befruchtet werden. Dann wird erst ein physischer Mensch. Wenn der Mensch bloß mit dem physi­schen Verstande nachdenkt, so kann in seinen Gedanken niemals das innere Wesen des Menschen aufleuchten, sondern nur dasjenige, was ein­seitig hervorgebracht werden kann und etwa sich vergleichen läßt mit dem, was einseitig die Frau hervorrufen kann. Dasjenige, was der physische Verstand vom Menschenwesen erfassen kann, muß befruchtet werden im Erkennen außerhalb des physischen Leibes. Die Hälfte des Menschenrätsels verbirgt sich für das bloße physische Erfassen. Das alte atavistische Hellsehen hat in einer der alten Zeit angemessenen Weise gerade mit dem Kabirengeheimnis auf dasjenige im geistigen Natur-zusammenhang hinweisen wollen, was die andere Hälfte des Men­schenwerdens ist, die dann hinweist auf des Menschen Unsterbliches. Deshalb meinte Goethe: Vielleicht läßt sich das Homo-Werden aus dem Homunkulus mit Hilfe des Kabiren-Impulses darstellen.

Aber Goethe war als Erkennender nicht nur ein im intensivsten Maße Ringender, sondern er war zu gleicher Zeit das, was auf dem Gebiete des Erkennens viel, viel seltener ist, als man eigentlich glaubt, eine intensiv ehrliche Seele. Er wollte gewissermaßen probieren, wie weit er kommt, wenn er solche Geheimnisse belebt, wie das Kabirengeheimnis

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eines ist. Weniger ehrliche Erkenner machen einige antiquarische Stu­dien, machen sich vielleicht auch einige Phantasien auf Grundlage ihrer antiquarischen Studien und wissen dann nach ihrer Meinung dasjenige, was etwa durch die Kabiren ausgedrückt ist. Der ehrliche Erkenner weiß immer weniger als diejenigen, die nicht ehrliche Erkenner sind. Der ehrliche Erkenner hält sich eigentlich immer für viel dümmer, als sich diejenigen halten, die leichten Herzens aus dem oder jenem sich eine sogenannte möglichst vollständige, den Menschen erreichbare Erkenntnis zusammenzimmern. Goethe war nicht von denen, die so leichten Her­zens das Erkennen nehmen. Goethe wußte, daß auch, wenn man als erkennender Mensch gestrebt hat vom Jahre 1749 bis zum Jahre 1829, in welchem er wohl die Szene, die jetzt vor unseren Augen sich abge­spielt hat, geschrieben hat - etwa zwei Jahre vor seinem Tode im streng­sten Falle ist diese Szene geschrieben -, er wußte, wenn man auch im Erkenntnisstreben alt geworden ist und niemals nachgelassen hat, dann bleibt immer gerade dem ehrlichen Erkenntnisstreber ein Stachel übrig: Vielleicht mußt du doch noch weiter gehen da oder dort! - Das ist ge­rade, was so intensiv aus Goethes Natur heraus wirkt, diese absolute Ehrlichkeit. Diese anerkennt zum Beispiel auch gegenüber dem Kabiren-rätsel: Ja, ich kann aber als moderner Mensch, dem nicht mehr das alte atavistische Helisehen zur Verfügung steht, nicht wissen, was die Grie­chen bei den Kabiren gedacht haben, ich kann es nicht ganz wissen! -Aber vielleicht ist das nicht einmal das Wichtigste, sondern Goethe hatte die Empfindung, in ihm lebe eine Art Wissen von dem Kabirengeheim­nis, aber er könne es selbst nicht erfassen, was in ihm lebt. Es ist wie ein Traum, der nicht nur gleich erlischt, sondern wie ein Traum, von dem man weiß, es huscht etwas vorüber, was ein Allertiefstes enthält, aber es huscht so schwach vorüber, daß der Verstand, der Intellekt nicht aus­reicht, daß die Seelenkräfte nicht ausreichen, um es zur Deutlichkeit, zu deutlichen Konturen zu bringen. Gerade in diesem intimen inneren Ent­wickeln liegt das Bedeutsame dieser Szene. Man versteht diese Szene nicht, wenn man alles letzten Endes erklären will. Denn Goethe hat geradezu Bilder aufgerufen, um an seinen Bildern zu zeigen: Da bin ich ganz nahe an dem Orte, zu dem ich hin will, aber es geht nun doch nicht.

Und so führt er die Kabiren vor, um zu zeigen, vielleicht nicht er,

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aber jemand, der das Kabirengeheimnis voll erfaßt, wird den Übergang des Homunkulus zum Homo durch das Kabjrengeheimnis ergründen. Für ihn geht es noch nicht Daher werden auch andere Wege in der imaginativen Welt gewählt daher läßt er den Naturphilosophen Thales, den Goethe sehr schätzte, de'm er aber doch nicht zumutete, daß er selber Auskunft darüber geben könne, wie aus dem Homunkulus der Homo wird, als Führer des Homunkulus vor den Nereus treten. Der Nereus hat eine scharfe, eine so scharfe menschliche Auffassungsgabe, das Gött­liche ins Dämonische umzusetzen und daher prophetisch die Zukunft vorauszusehen, daß man ihm viellicht zumuten könne, er wisse etwas darüber, wie aus dem Homunkulus der Homo wird. Aber da will Goethe wiederum zeigen: Nein, auf diesem Weg geht es auch nicht. -Denn wird es auf diesem Wege versucht, so kommt man zu einer einseitigen Ausbildung, zu einer ins Dämonische hinaufgehobenen Ausbildung des kritischen menschlichen Verstandes, der nicht nur ins stumpf Kritische ausläuft, sondern sogar ins prophetisch Kritische ausläuft also die gute Seite der menschlichen Kritik ins Auge faßt. Aber Nereus, der gewissermaßen unter den Dämonen der Priester ist, ist auch nicht im­stande, irgendwie an das Homunkulusproblem heranzutreten. Er will es auch gar nicht. Goethe hat die Empfindung, wenn man dasjenige, was nur Menschenverstand ist, bis ins Dämonische hinein ausbildet, wenn es sich sogar, ich möchte sagen dämonisiert, was der Mensch an kritischem, forschendem Verstande schon hat dann verliert man das Interesse an diesem tiefsten Menschheitsproble'm des Homunkulus zum Homo hin. Und so wird denn vom Nereus nichts gewonnen. Aber Nereus macht wenigstens darauf aufmerksam, daß er gerade in diesem Augenblicke erwarte das Herannahen seiner Töchter, der Doriden, die Schwestern der Nereiden sind, und ihrer ausgezeichnetsten, der Galatee. Ich habe schon gestern versucht, etwas darauf hinzuweisen, wovon nun diese Galatee das Bild ist.

Heute sieht der Mensch der forscht, alles so eingeschachtelt in ein­zelne Momente des Leber's. In der griechischen Weltanschauung, die durchaus nicht in dem enthalten ist, was man gewöhnlich innerhalb der klassischen Philologie lernt, war das, was im Menschen lebte, noch durchaus in einer verbindung mit dem, was in der ganzen Natur draußen

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lebt. Dasjenige, was den Menschen werden läßt, existiert in anderer Form als durchwellend und durchwebend alle Naturvorgänge. Aber man muß es auffinden können. Des Menschen gegenwärtiges Erkenntnis­vermögen ist zu grob, um in diejenigen Regionen einzudringen, durch die man draußen in der Natur dieselben Erlebnisse in der großen Welt mitmacht, die sich auch beim Menschen verbergen, wenn er aus dem Menschenkeim von der Konzeption, von der Befruchtung bis zu der Geburt hin sich entwickelt und dann als Mensch erscheint. Dieselben Vorgänge, die sich da in dem Menschen selbst verhüllt abspielen, spielen sich fortwährend um uns herum ab. Es war gerade das, was im Kabiren-geheimnis auch den Einzuweihenden enthüllt worden ist, wie in der Natur Empfängnis und Gebärung lebt. Der Mensch sieht den Mond aufgehen und untergehen, sieht die Sonne aufgehen und untergehen, fühlt die Wärme, die die Sonne verbreitet, nimmt das Licht wahr, das die Sonne verbreitet, er sieht die Wolken ziehen, er hört die Meereswelle brausen, sieht sie ihre Form annehmen. In alledem liegt darinnen der die Welt durchwallende und durchwogende Werdeimpuls. Aber nicht mehr nimmt ihn der moderne Mensch wahr. Er wird ihn wahrnehmen, wenn er sich geisteswissenschaftlich weiterentwickelt, und es hat ihn wahrgenommen der atavistische Erkenntnissinn, der atavistische Wahr­nehmungs und Anschauungssinn der alten Zeiten.

Da muß man sich schon einlassen auf jenes feinere Wahrnehmungs-vermögen, das in alten Zeiten noch vorhanden war. Heute ist es, man möchte sagen, höchstens noch ahnend erträumt, träumend geahnt, aber nicht ins volle Bewußtsein heraufgehoben, was geschieht, wenn statt des tätigen Sonnenlichtes das Mondenlicht das Meer bescheint, auf den Meereswogen sich das Mondenlicht spiegelt. Der Mensch schaut das heute an, wie sich in den Meereswogen das Mondenlicht spiegelt. Der Physiker sagt höchstens: Mondenlicht ist polarisiertes Licht. - Das ist eine Abstraktion, da ist nicht viel damit gesagt. Er erlebt nicht das­jenige, was da eigentlich geschieht. Wir erleben es heute, wenn man uns mit einer feurigen Zange brennt. Dazu reicht noch die Feinheit unseres Empfindungsvermögens aus. Daß aber etwas lebt in den Sonnenstrah­len, das geistig-seelisch ist, daß etwas Ähnliches lebt, aber doch wieder etwas anderes, in den Mondenstrahlen, daß etwas geschieht, wenn sich

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das Mondenlicht, dieses erborgte Sonnenlicht, mit dem Meere, mit dem Wogenmeere vermählt, das wußte die griechische Weltanschauung. Sie wußte, was heranwogt, wenn mit der Meereswoge zugleich das sich damit vermählende Mondenlicht heranwogt. Wenn es so herankam, mit der Woge sich vermählend, da nahm in dieser lichtdurchzauberten Welle der Grieche wahr den Impuls draußen wogend, wellend in der Welt, welcher im Menschen wellt und wogt von der Konzeption bis zu der Geburt. Draußen in der Natur in anderer Form dasselbe, was im Men­schen vorhanden ist, wenn sich das Mysterium des Menschwerdens im physischen Sinne vollzieht.

Goethe drückt deutlich aus, wie er nachempfindet und künstlerisch nachgestaltet diese feine, intime Empfindung, die der Grieche haben konnte. Goethe drückt es aus, indem er den Thales hinweisen läßt zu dem Mondenhof auf die Wölkchen, die heranziehen und den Muschel-wagen der Galatee begleiten. Der Muschelwagen der Galatee, der ist die durch das Meer wallende Gebärungskraft der äußeren Natur, die Goethe mit Luna, mit der Mondenkraft, mit dem Mond-Impuls zusam-menbringt. So wird wiederum eine bedeutungsvolle Imagination der griechischen Weltanschauung von Goethe aufgerufen, um nahezukom­men jenem Prozeß, durch den die abstrakte Homunkulus-Idee zur Homo-Idee in der menschlichen Anschauung werden kann. Nur dann, wenn man die Intimitäten gefühlsmäßig empfindet bei dem, was da wellt und wogt in Goethes wunderbaren Bildern dieser Szene, dann geht man mit dem mit, was wirklich in Goethes Seele gelebt hat bei dieser Szene. Sobald man versucht, in unsere groben, abstrakten Begriffe diese Szene zu fassen, so daß man nicht sich stimmt auf ein intimes Miterleben des­jenigen, was Goethe empfunden haben kann, bleibt man dem Eindrin­gen in diese Szene ferne.

So kann das Problem Homunkulus-Homo gewissermaßen, wenn ich mich trocken und theoretisch ausdrücken darf, seiner Lösung nahe­gebracht werden, indem diese Idee, die hinausgetragen ist in das leib-freie Anschauen, eingesenkt wird in den Gebärungsimpuls, der durch die Natur wallt und webt. Goethe hat schon vorher, bevor er den Homun­kulus zusammenbringt mit diesem Gebärungsimpuls, den Proteus her-anrufen lassen, Proteus, derjenige Dämon, dessen innerem Seelengefüge

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Goethe am nächsten gekommen zu sein glaubte in seiner Metamor­phosenlehre, in der er versucht hat, die Umgestaltung der lebendigen Form zu verfolgen von den untergeordneten Wesen bis hinauf zum Menschen, um dadurch dem Rätsel des Menschenwerdens, dem Rätsel Homunkulus-Homo näherzukommen. Wir wissen, Goethe hat das nur auf längeren Wegen sich lösen können. Er glaubte zu erkennen, wie das Laubblatt sich in das Blütenblatt und dieses wiederum sich in das Staub-gefäß und in den Stempel der Pflanze verwandelt; er glaubte auch zu erkennen, wie die Knochen des Rückgratskeletts sich verwandeln in die Knochen des Schädels. Er blieb dabei stehen, denn er konnte nicht durch­dringen zu der Krönung dieser Metamorphosen-Idee, die dadurch vor­handen ist, daß wir wissen, eine Metamorphose findet statt auch für die Kräfte, die den menschlichen Leib durchziehen von der einen Inkar-nation, von dem einen Erdenleben bis zum andern Erdenleben. Was heute mein Haupt ist, das ist der metamorphosierte übrige Leib aus der vorhergehenden Inkarnation, und was heute mein Leib außerhalb des Hauptes ist, wird sich umgestalten bis zur nächsten Inkarnation zu der Gestalt meines Hauptes in der nächsten Inkarnation. Das ist die Krö­nung der Metamorphose. Aber Goethe konnte erst die elementare Stufe dieser in anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft hineinmün­denden Metamorphosen-Idee geben. Sie trat ihm nahe, als er das Pro­blem Homunkulus-Homo zu erfassen versuchte und es dichterisch zu ge­stalten bestrebt war.

Auch da stellt er, ich möchte sagen ehrlich-skeptisch alles dasjenige hin, was der die Metamorphosen-Idee repräsentierende Proteus ver­mag. Proteus tritt auf in seinen verschiedenen Gestaltungen. Allein, sie stehen nebeneinander. Alles wird herbeigezogen, möchte ich sagen, von Goethe, was wirklich zu der Geburt, zu der übersinnlichen Geburt der Homunkulus-Jdee führen kann. Goethe verzagt dann wiederum. Da blitzt herein, möchte ich sagen, ein anderer Strahl. Gegenüber all den Dämonen, den geistigen Wesenheiten elementarer Art, Nereiden, Trito­nen und Doriden, dem Nereus. dem Proteus und so weiter, gegenüber all denen treten die Telchinen auf. Diese, gewissermaßen die ältesten Künstler der vierten nachatlantischen Erdenwelt, erinnern uns daran, daß Goethe nicht nur auf dem Wege über sinnliche Wissenschaft, sondern

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auf einem andern sinnlichen Wege sich dem Menschenrätsel zu nähern versuchte: auf dem Wege der Kunst. Goethe war in der Tat nicht einseitig erkennender Mensch oder einseitig künstlerischer Mensch, son­dern in ihm verband sich der Künstler bewußt mit dem Erkenner. Daher sagte er, als er vor den Kunstwerken in Italien stand, in ihnen vernehme er etwas, wie wenn er erkennen würde, daß die Griechen beim Schaffen ihrer Kunstwerke nach denselben Gesetzen verfahren seien, nach denen die Natur selbst verfährt und denen er auf der Spur ist. Und wenn man Goethes Buch über «Winckelmann» auf sich wirken läßt, so wird man sehen, wie Goethe auf dem Wege der Kunst versuchte, gewissermaßen das menschliche Erkenntnisrätsel sich nahezubringen, zu verfolgen den Wandel der Naturerscheinungen bis da herauf, wo die Natur im Men­schen ihrer selbst bewußt wird, wie er das im Buche über «Winckel­mann» so schön ausdrückt. Was da die Naturanschauung, die künst­lerische Naturanschauung vermag, angeschaut von der andern Seite, vom übersinnlichen Erkennen aus, das wird uns nahegebracht durch das Auftreten der Telchinen, die alte Künstler sind, die Götter zuerst mensch­lich gestaltet haben.

Goethe zeigt uns an, daß, während er sonst immer gewissermaßen hinüberleitet das menschliche Bewußtsein aus dem Sinnlichen ins Über­sinnliche, er da wiederum zurückschauen läßt aus dem Übersinnlichen ins Sinnliche. Die Telchinen sind im Übersinnlichen, aber ihr Sinn geht gewissermaßen wiederum ins Sinnliche herüber; sie sind im Gegensatze gezeichnet zu all den andern Gestalten, welche rein geweiht sind dem Monde, der Luna, sie sind diejenigen, welche von den Sirenen angespro­chen werden:

Euch, dem Helios Geweihten,

Heiteren Tags Gebenedeiten,

Gruß zur Stunde, die bewegt

Lunas Hochverehrung regt!

Sie gehören also eigentlich der Sonne. Sie haben auf Rhodus dem Gotte Apollon Statue über Statue errichtet. Es wird gewissermaßen gesucht, durch Hinüberschauen in die übersinnliche Welt dem Homo­Homunkulus-Problem nahezukommen. Aber auch das geht nicht. Und

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Proteus selbst weist energisch ab, daß etwas gewonnen ist für den Über­gang des Homunkulus zum Homo durch die Telchinen. Was geschieht?

Nun, die Psyllen und Marsen, eine Art Schlangendämonen kommen heran, und sie bringen den Muscheiwagen mit der Galatee, die wir vor­hin charakterisiert haben. Die Psyllen und Marsen sind Schlangen-dämonen, Dämonen, welche gewissermaßen das Seelische aus dem Men­schen herausführen ins Geistige hinein und zu gleicher Zeit Diener sind in derjenigen Welt, die dann der Mensch betritt, wenn er seinen phy­sischen Leib verläßt. Da ist keine Trennung zwischen reinem Tier und reinem Menschen; da geht die Tiergestalt in die menschliche über.

Nun wird, nachdem noch gezeigt worden ist, wie schwierig es wird, das Verhältnis der geistigen Welt zu der sinnlichen Welt dem Menschen vorzuführen an den Doriden und den Schifferknaben, die sie bringen, das Zerschellen des Homunkulus am Muschelwagen der Galatee gezeigt. Auch das ist eine Intimität in dieser Szene, daß die Doriden die Schiffer-knaben heranbringen. Die Doriden sind Dämonen, Meereswesen; die Schifferknaben Menschenwesen. Goethe will anzeigen, daß der Mensch nahekommen kann den geistigen Wesen von der andern Seite des Da­seins, daß das Schicksal - wir werden ja deutlich hingewiesen: gerettet worden sind durch die Doriden die Schifferknaben -, daß das Schicksal den Menschen mit den Göttern zusammenbringt. Allein hier im physi­schen Leben löst sich das Verhältnis alsbald wieder auf; es kann nicht festgehalten werden, wenn sich Übersinnliches mit Sinnlichem verbin­den will:

Die Götter wollen's nicht leiden.

Und dann tritt uns am Schlusse dieser Szene in einer ganz wunder­baren Weise entgegen, wie, nachdem all das versucht worden ist in grandiosen Imaginationen, was den Homunkulus zum Homo machen kann, gewissermaßen als höchste, als bedeutsamste, intensivste Annähe­rung an die Lösung dieses Menschenrätsels das eintritt, daß wirklich Homunkulus untertaucht in die Gebärungskraft der Natur, insoferne sie sich durch die mondbeglänzte und mondeslichtdurchzauberte Meeres-welle kundgibt. Da taucht Homunkulus ein. Was sehen wir am Schlusse der Szene? Ein Aufblitzen, Aufflammen. Alle Elemente machen sich geltend: Erde, Wasser, Feuer, Luft, alle Elemente - überwältigend gewissermaßen

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dasjenige, was da geschieht. Und es steht vor uns etwa so, wie wenn wir nun selbst uns eingesenkt hätten in den Erkenntnis-schlaf, uns mit den Imaginationen, die allein über das Menschenrätsel in der andern Seite des Daseins aufklären können, uns bekanntgemacht hätten, und dann durch das Fortrollen der Gebärungskraft wieder zu­rückgerufen werden in das Leben, das wir im Leibe vollbringen. Ich habe Ihnen schon gestern gesagt: Die Kraft, welche der Konzeption, der Empfängnis, dem Embryonalen, der Geburt zugrunde liegt, ist nur eine ausgebreitetere, intensivere Kraft, aber sie ist gleicher Art, ist ganz die­selbe Kraft eigentlich wie diejenige, die uns aus dem nächtlichen Schlafe oder auch aus dem Erkenntnisschlafe zurückzaubert in das körperliche Wachsein. Jeden Morgen, wenn wir aufwachen, wachen wir auf durch dieselbe Kraft, die nur in anderer Intensität da ist, durch die ein Mensch empfangen, getragen, geboren wird. Nur wird das eine hier, aber auch nur seiner Außenseite nach, nicht seiner tief geheimnisvollen Innenseite nach, auf der Erde geschaut; das andere geht ganz unvermerkt vorüber. Dieses heilige Mysterium des Aufwachens, es geht unvermerkt vor­über. - Wir sind eingesenkt in eine geistige Welt, wir sind untergetaucht in eine geistige Welt; wir wachen auf, beziehen unseren Leib, sind in der physisch-sinnlichen Welt.

Es gibt immerhin auch unter den nicht hellsehenden Menschen einige, welche ganz gut wissen, was eigentlich lebt, wenn sie drüben sind im schlafenden Zustande und durch den Schlaf mehr als Traumhaftes, traumhaft wogend die geistige Wirklichkeit empfinden und dann auf­wachen, aufwachen durch dieselbe Kraft, die im Muschelwagen der Galatee lebt: die Gebärungskraft der Natur, mit der sich der Homo­Homunkulus verbindet zur Menschwerdung. Einige Menschen wissen es, auch wenn sie nicht Hellseher sind. Die Wissenschaft des Hellsehens gibt es aber vollständig klar bei diesem Aufwachen: es ist ein Unter-tauchen aus der geistigen Welt heraus, die nur in Imaginationen zu erfassen ist, in die physisch-sinnliche Welt, die in den Elementen: Feuer, Wasser, Erde, Luft, lebt. Da zerschellt wiederum dasjenige, was wir glauben, schon gewonnen zu haben für das Homo-Werden des Homun­kulus drüben in der andern Welt, da zerschellt es, wenn er wiederum in die Wirklichkeit zurückgeht.

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Faust soll in die Wirklichkeit des alten Griechentums untertauchen, Faust soll die Helena persönlich in seine Nähe bekommen. Wenn Sie nur umblättern von jenem gewaltigen Schlusse dieser Szene, wo es heißt:

Heil dem Meere! Heil den Wogen!

Von dem heiligen Feuer umzogen;

Heil dem Wasser! Heil dem Feuer!

Heil dem selt'nen Abenteuer!

Heil den mildgewogenen Lüften!

Heil geheimnisreichen Grüften!

Hochgefeiert seid allhier,

Element' ihr alle vier!

- wenn Sie nur umblättern, so haben Sie den dritten Akt:

Bewundert viel und viel gescholten, Helena,

Vom Strande komm' ich, wo wir erst gelandet sind,

Noch immer trunken von des Gewoges regsamem

Geschaukel, das vom phrygischen Blachgefild uns her . . .

und so weiter.

Faust soll sein in der griechischen Wirklichkeit, Faust soll sein aufgewacht aus der Wahrnehmung höchster Geistigkeit für das Homun­kulus-Homo-Rätsel, in der griechischen Welt. Da soll er bewußt auf­wachen, wie Goethe es wollte. Da mußte sich der Moment des Auf­wachens so vollziehen, daß gewissermaßen gezeigt wird, wie das im Geistig-Übersinnlichen über das Menschenrätsel Wahrgenommene zer-schellt, indem man in die äußere physische Wirklichkeit, in seinen Leib, wieder untertaucht. Das ist ein Vorgang draußen in der Natur, wenn der Mond erlischt und die Morgenröte wird. Aber diesen Zusammen­hang empfindet der Mensch heute höchstens allegorisch, symbolisch oder dichterisch. Die Realität, die dem zugrunde liegt, ist wenig bekannt. Hier tritt sie auf in etwas, was zu gleicher Zeit Verkörperung des Er­kenntnisrätsels, aber wahre Dichtung ist. Es ist Goethe wirklich ge­lungen, in grandioser Weise Faust einzuführen in die übersinnliche Welt und aufwachen zu lassen für das Zusammenleben mit der griechischen Wirklichkeit.

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Man möchte sich sagen: Es war in den achtziger Jahren des 18. Jahr­hunderts, Goethe trat seine Flucht nach Italien an, denn eine Flucht war es. Er wollte kennenlernen, nachdem er sich in der nordischen Natur umgetan hatte, dasjenige, was er glaubte, für die Anschauung der Weltenrätsel nur durch die Anschauung der südlichen Kunst gewinnen zu können. - Er hatte viel gewonnen, denn wir wissen, was dann ge­worden ist aus Goethe in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Dann war er wieder älter geworden, das heißt, jünger in der Seele. Während der Mensch äußerlich alt wird, wird er jung in der Seele; wenn er stirbt, ist er in der Seele am allerjüngsten. Das seelische Leben ist rück­gängig. Nun war so etwas wie das Jahr 1829 herangerückt. Man spürt, man empfindet, wie Goethe da etwa in sich selber fühlte: Wie hätte ich erst, als ich die Möglichkeit hatte, unterzutauchen in die Welt der süd­lichen Kunstwerke, das Griechentum vor meiner Seele aufzuerwecken, wie hätte ich das alles erleben können viel reicher, viel intensiver, als ich es erlebt habe, wenn ich dazumal schon hätte so in die geistige Welt untertauchen können, wie ich es jetzt ahnend erlebe. - Das macht die eigentümliche Stimmung in diesem zweiten Teil von Goethes «Faust» aus, daß man die jung gewordene, aber in der Verjüngung reich gewor­dene Seele in einem erhöhten Maße noch einmal das sich künstlerisch vorführen sieht, was das Leben hindurch erfahren worden ist. Philister werden daher den zweiten Teil von Goethes «Faust» niemals irgendwie sich nahebringen können. Und ich kann es vollständig verstehen, wenn der in vieler Beziehung so geistreiche Schwaben -Vischer, der sogenannte V-Vischer, der manches recht Gute über Goethes «Faust» gesagt hat, gefunden hat, so etwas ist ledern, das ist zusammengeschustertes, zu­sammengeleimtes Machwerk des Alters. Aber Philisterei, wenn sie noch so gelehrt, noch so gescheit, noch so intelligent ist, wird auch in das Poetische, gerade in das höchst Poetische, das der zweite Teil von Goethes «Faust» hat, nicht eindringen können. Man wird nur eindrin­gen können, wenn man seinen poetischen Sinn durchglühen, befeuern läßt von demjenigen, was geistige Anschauung gibt.

Wir wollen dann noch morgen nach der Vorstellung dieser Szene einiges im Zusammenhange mit dieser Darstellung Goethescher Impulse sagen.

STATT HOMUNKULISMUS UND MEPHISTOPHELISMUS: GOETHEANISMUS Dornach, 19. Januar 1919

#G273-1967-SE232 Das Faust-Problem

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STATT HOMUNKULISMUS UND MEPHISTOPHELISMUS:

GOETHEANISMUS

Dornach, 19. Januar 1919

#TX

Durch die beiden Betrachtungen, die ich anknüpfte an die Darstellung der letzten Walpurgisnachtszene aus dem zweiten Teil von Goethes «Faust», wollte ich die Empfindung hervorrufen, daß Goethe in der Tat mit seinem ganzen inneren Leben auf dem Wege war, wenn man so sagen darf, in die übersinnliche Welt hinein, und daß es ihm, wie viel­leicht keinem andern Künstler, keinem andern Dichter, gelungen ist, künstlerisches Schaffen aus solchem spirituellem Leben heraus wirklich zu entfalten, so daß weder die Kunst noch die Weisheit in diesem Goetheschen Schaffen zu kurz kommt, sondern jedes dieser Weisheits­Strebensgebiete an seinem Platze voll zum harmonischen Ausdruck kommt.

Ich möchte nicht den Glauben erwecken, als ob ich mit alldem, was ich gesagt habe, eine Interpretation dieser Dichtung hätte geben wollen; das will ich überhaupt nie. Denn Interpretationen halte ich für das Unnützlichste, was es überhaupt auf diesem Gebiete geben kann. Alles das, was versucht wird durch solche Betrachtungen, wie die beiden vor­angegangenen, zu geben, das ist, die Möglichkeiten hervorzurufen, in demselben Elemente eine Dichtung oder ein Kunstwerk zu genießen, aufzunehmen, in dem es geschaffen ist. Gewissermaßen soll eine solche Betrachtung nur lehren die Sprache, die Geistessprache, in der so etwas geschrieben ist, nicht irgend etwas auslegen oder erklären, was ohnedies meistens nur ein Unterlegen und ein Mißerklären ist.

Wenn man diese Stimmung der Sache festhält, dann darf man auch vielleicht das Folgende geltend machen. Allem Erkenntnisstreben, allem nach geistigem Erleben überhaupt gerichteten Menschheitsstreben liegen zwei Grundempfindungen unter. Die eine Grundempfindung kommt daher, daß der Mensch, indem er sein Leben zwischen Geburt und Tod im physischen Leibe verbringt, denken muß, vorstellen muß. Nicht wahr, wir wären nicht voll Mensch, wenn wir nicht über die Dinge und

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über uns selbst denken würden. Dann aber müssen wir, wenn wir unser Leben vollenden wollen zwischen Geburt und Tod im physischen Leibe, nicht nur denken, sondern auch wollen. Das Fühlen liegt eigentlich zwischen dem Denken und Wollen in der Mitte darinnen. Es ist manch­mal mehr ein Denken und Vorstellen, manchmal mehr ein Wollen. Da­her kann man, wenn man diese Betrachtung, auf die wir jetzt hinsteuern wollen, anstellen will, von dem Fühlen absehen, nach dem einen Pol des Denkens und Vorstellens hinblicken und auch nach dem andern Pol der menschlichen Betätigung, nach dem Wollen. Der Mensch ist einmal ein denkendes und ein wollendes Wesen. Aber mit diesem Denken und Wollen hat es doch noch seine ganz besondere Bewandtnis. Der Trivial-mensch, der gewöhnliche Durchschnittsbürger, betrachtet schon das­jenige, zu dem man kommen kann, als etwas Erreichtes, wenn er auf der einen Seite - wenigstens nach seinen Vorstellungen - möglichst klar denkt, möglichst nach seinen Vorstellungen eindringlich denkt, und wenn er nach seinem Bedürfnisse entsprechend will. Dadurch unter­scheidet sich aber gerade der wirklich bis ins tiefe Innerste seiner eigenen Wesenheit hinein ehrliche Erkenntnismensch, daß er sich, wenn er ver­sucht, auf dem Wege des Denkens weiterzugehen, zuletzt gesteht: Ach, mit diesem Denken innerhalb des physischen Leibes komme ich doch nur bis zu einem gewissen Abstand an dasjenige heran, nach dem ich eigentlich hinstrebe.

Es ist mit dem Denken gerade so, wie wenn man nach einem Ziele hinstreben würde; die Richtung hat man, aber keine Anschauung vom Ziel. Man will bis zum Ziele hineilen, man weiß, in welcher Richtung das Ziel etwa liegen kann, aber es ist noch alles dunkel um das Ziel herum. Man hat genau die Vorstellung, hell kann es erst werden, wenn man hinkommt. Aber indem man noch lange nicht am Ziele sich fühlt, sondern in einem gehörigen Abstande vom Ziele ist, packt einen ge­wissermaßen ein Wesen dahinten und hält einen auf, läßt einen nicht weiter. Und man fühlt: Das Denken, das Vorstellen treiben einen in einer gewissen Richtung, aber man wird aufgehalten. Wenn man nur auf diesem Wege des Denkens bleiben will in dieser Richtung, kann man nicht an das Ziel gelangen, das einem das Denken selber, das Vorstellen, eigentlich vorzeichnet. - So gelangt der Mensch an die eine Grenze, die

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seinem Wesen gesetzt ist für das Leben zwischen Geburt und Tod. Und man kann sagen: Eigentlich hat derjenige kein tieferes Erkenntnisleben, der nicht alle Schmerzen und Schicksalsrückschläge empfunden hat, die sich aus einem solchen Zurückgehaltenwerden gegenüber dem Denkziele auf dem Denkwege selbst ergeben. - Man ist gewissermaßen verurteilt, oberflächlich zu bleiben, wenn man durch seine innere Seelenkonstitution die Meinung haben kann, man könne durch das Denken zum Ziele dieses Denkens selber kommen. Man bewahrt sich bloß vor der Oberflächlich­keit, wenn man gerade, indem man versucht, mit aller Klarheit, mit aller Eindringlichkeit zu denken, durch diese Klarheit, durch diese Ein­dringlichkeit des Denkens dahin gebracht wird, daß man fühlt, wie einem der Denkhinderer im Nacken sitzt. Dieses Im-Nacken-sitzen-Fühlen des Hinderers, das ist ein tiefes menschliches Erlebnis, und ohne das geht es eigentlich nicht aus der Oberflächlichkeit in die Tiefe der Lebensauffassung hinein.

Aber nun ist dies nicht die einzige Grenze, die dem Ausleben des menschlichen Wesens zwischen Geburt und Tod gezogen ist, sondern die andere Grenze ist aufgerichtet da, wo das Wollen sich entfaltet. Wo das Wollen sich entfaltet, da keimen erstens auch die Begierden des Menschen, die aus dem Triebleben heraus kommen. Der Mensch wird zum Wollen getrieben durch Hunger und Durst im gröbsten Sinne, durch andere Triebe; und es ist dann eine ganze Skala von den Trieben hinauf bis zu den reinsten geistigen Idealen. In all dem, von den gröb­sten Trieben bis hinauf zu dem reinsten geistigen Ideal entfaltet, liegen die Impulse des Wollens. Wenn man nun aber versucht, mit dem Wollen ins Leben sich hineinzustellen - das war im Grunde gerade Goethes Ziel in seinem «Faust», den Faust mit dem Wollen ins Leben hineinzustellen, damit er erfahren könne alles Lebenbeglückende, alles Lebenzerschmet­ternde, alles Befreiende und alles Sündhafte im Leben -, wenn man ver­sucht, mit dem Wollen, das ins Tun übergeht, in die Tat sich übersetzt, in das Leben sich hineinzustellen, so kommt man wiederum an eine Grenze. Aber es ist jetzt eine andere Empfindung, die auftritt. Nicht so sehr, daß einen wie beim Denken einer im Nacken faßt und hält vor dem Ziele, sondern indem man will, faßt einen einer und setzt eigentlich immer in einer Weise, wie man es nicht selber haben will, das Wollen

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fort. Man wird sich gewissermaßen selbst entrissen im Wollen. Da tritt ein anderer auf im Wollen und reißt einen mit sich fort.

Das ist die Empfindung, die, wenn sie der Mensch hat, wiederum aus dem Oberflächlichen ins Tiefe einer Lebensauffassung hineinführt. Philiströse Sattlinge, satte Menschen sind allerdings der Meinung, daß man, wenn man das Denken nur weit genug ausbildet, das Wollen nur weit genug entwickelt, am Ziele ankommt. Aber in diesem satten Sich-Fühlen auf erfüllbaren Wegen liegt des Lebens Oberflächlichkeit, liegt nicht das, was möglich macht in der Lebensprüfung - denn geprüft wird man, wenn man mit gehöriger Intensität die zwei angedeuteten Grenzen sich im Inneren der Seele ausmalt - nach gehöriger Prüfung, gewisser­maßen über einen Abgrund hinübersetzend, in eine andere Welt ein­zutreten, die nicht mit dem Bewußtsein durchlebt werden kann, das sich im Leben zwischen Geburt und Tod entfaltet. Es muß die Menschheit schon einmal gerade aus dem Goetheanismus heraus begreifen, daß wahrhaftig nicht bloße Beseligung des Strebens, die man sich oftmals nur einredet, die oftmals nur von Illusionen getragen ist, erlebt werden kann, sondern daß dasjenige, was den Menschen zu seinem Ziele führt, über Hindernisse, über Enttäuschungen, über Desillusionierungen führt, und wer sich sträubt, Entillusionierungen zu erleben, und sich dadurch sträubt, den ganzen Menschen in gewissen Zeitmomenten des Lebens umzugestalten, zu metamorphosieren, der kann nicht zur Menschheits­erkenntnis, nicht zur Menschheitserfassung vorwärtsdringen.

Man darf schon annehmen, daß in dieser Beziehung gerade die durch­christete Weltauffassung und Lebensanschauung gegen die nächste Zu­kunft hin einen bedeutsamen Umschwung erfahren muß. Das Christen­tum ist bisher durch die Entwickelung, die es in verschiedenen Kon­fessionen erlebt hat, eigentlich nur in seinem Anfangsstadium. Will man ausdrücken, was das Christentum bis jetzt ausgestaltet hat, so könnte man sagen, eigentlich nur die Empfindung in dem Menschen, daß ein Christus einmal da war. Und diese Empfindung ist eigentlich der mate­riellen Forschung im 19. Jahrhundert wieder verlorengegangen, daß ein Christus da war. Was der Christus in die Welt gebracht hat, wie der Christus im Zusammenhang steht mit dem menschlichen Seelenstreben, da hinein soll erst Licht kommen gegen die Zukunft hin durch geisteswissenschaftliche

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Untersuchungen und geistige Art der Weltempfindung, durch übersinnliches Erleben, wenn auch zunächst die Menschheit in diesem intellektualistischen Zeitalter dieses übersinnliche Erleben nur im Vorstellen, in den Bildern des Vorstellens wird in ihrer großen Masse haben können.

Aber diese zwei Grundempfindungen, die ich angedeutet habe, von den beiden Grenzen des menschlichen Seibsterkennens und Selbsterfas­sens, müssen den Übergang finden aus einem mehr passiven Christentum zu einem aktiven Christentum. Denken Sie nur einmal, bei wie vielen Menschen der Christus eigentlich nichts weiter war in der Vergangenheit als eine Art Helfer in der Not für dasjenige, was der Mensch nur ja nicht selber tun mag. Jene eigentümliche Art, wie die römisch-katho­lische Kirche von einem bestimmten Zeitpunkte an die Sünden vergeben hat - man konnte sündigen, was man wollte, wenn man dann nur auf­richtig Buße leistete, Reue hatte und so weiter, so war einem das ver­geben. Schließlich, der Christus war da zum Helfen in der Not, zum Gutmachen desjenigen, was man selber gar nicht beabsichtigte in er­heblichem Maße gutzumachen, von dieser Abirrung, wo man eigentlich auch passiv bleibt, das weltliche Leben, das weltliche Treiben für sich einrichtet, und dann womöglich nur dadurch, daß man an den Christus glaubt, daß man sich ganz in Passivität mit dem Christus verbunden fühlt, von dem Christus sich erlösen läßt - dieses zwiefache passive Ver­halten zu dem Christus gehört und muß angehören der Vergangenheit. Und dasjenige, was an die Stelle treten muß, das muß sein ein Verhältnis zu dem Christus als zu einer aktiven Macht, ein Entgegengehen dem Christus so, daß er nicht für sich das tut, was man selber nicht gerne tut, sondern so, daß er einem durch sein Dasein die Kraft gibt, selber etwas zu tun. Ein aktives, oder besser gesagt, ein zur Aktivität kommendes Christentum ist dasjenige, was an Stelle des Passivitäts-Christentums treten muß, wo man im Grunde genommen - nun, verzeihen Sie, daß ich es so trivial ausdrücke - selber auf dem physischen Plane tut, was man will, und dann Gott einen guten Mann sein läßt, der einem alles verzeiht, wenn man nur im rechten Momente zu ihm zurückkommt.

Das bezeichnet zu gleicher Zeit die Grenzscheide zwischen dem Zeit­alter, das vergangen sein muß, das in eine furchtbare Menschheitskatastrophe

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hineingeführt hat, und dem, das da kommen muß und nur, wenn es ein Passivitäts-Christentum in ein Aktivitäts-Christentum über­führt, geeignet sein kann, jede Schäden, die sich schon herausgestellt haben und die sich aus dem Vergangenheitsprinzip immer mehr heraus­stellen werden, zu heilen. Diese Schäden sitzen noch tief in den mensch­lichen Herzen und menschlichen Seelen. Und sie müssen geheilt werden, wenn die Erdenentwickelung weitergebracht werden soll.

Die beiden Grundempfindungen von den Grenzen im Denken und im Wollen kann man auch so bezeichnen, daß man sagt: Die eine Grenze macht einen aufmerksam darauf, wie man an sein eigenes Wesen nicht heran kann. - Ja, wir sind wirklich als Menschen so, daß wir auf der einen Seite an das eigene Menschenwesen nicht heran können, und wir kommen nicht bis zu uns selber mit unserem Denken. Im Wollen, da kommen wir bis zu uns selber, denn das Wollen geht wirklich von uns aus. Aber da erfaßt uns wiederum ein anderer, ein anderes Weltenwesen, da verlieren wir uns. Im Denken erreichen wir uns nicht, und im Wollen verlieren wir uns. Der Mensch ist einfach nach dem Prinzip dieses Dualismus als irdisches Wesen gestaltet, er ist ein duales Wesen, keine Monade, ein duales Wesen. Das eine Glied dieses dualistischen Wesens kann sich nicht erreichen, das andere Glied dieses dualistischen Wesens verliert sich.

Man stellt daher den Menschen niemals richtig dar, wenn man ihn bloß als Monon darstellt, sondern nur, wenn man versucht, ihn dar­zustellen als einen Mittelzustand zwischen dem Sich-nicht-erreichen-Können und dem Sich-Verlieren. Und wenn man womöglich beides gleichzeitig in aller Stärke fühlt, dann fühlt man sich so recht als Erden-mensch. Wenn man fühlt eine Art Hin- und Herpendeln zwischen Sich-nicht-erreichen-Können und Sich -Verlieren, dann fühlt man sich als Erdenmensch. Und dasjenige, was man erreichen muß, ist, trotzdem man in einem solchen Pendeln darinnensteht, die Ruhe des Daseins. Die Ruhe des Daseins erreicht auf dem physischen Gebiete der Pendel, er­reicht die Waage. Auf dem geistig-moralischen Gebiete muß dasselbe, was die Waage, was der Pendel erreicht in seiner Ruhelage, der Mensch erreichen können. Der Mensch soll nicht anstreben, die absolute Ruhe-lage zu haben, das macht ihn faul, verfault. Der Mensch soll anstreben

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die Ruhelage, die der Mittelzustand zwischen dem Ausschlagen ist zwischen dem Nicht-Erreichen und Sich -Verlieren.

Wenn man solche Empfindungen richtig entwickeln will, dann müssen andere Empfindungen über Leben und Wirklichkeit noch wesentlich dazukommen.

Ich habe Sie öfters aufmerksam gemacht, wie einseitig eigentlich heute das Entwickeln aufgefaßt wird. Denken Sie nur einmal, daß die ganze Entwickelung heute so aufgefaßt wird, wie wenn immer das Folgende aus dem Vorhergehenden so herausgezogen würde. Eigentlich denkt sich der heutige Mensch die aufeinanderfolgenden Entwickelungszustände ungefähr wie eine Folge von Pappschachteln, die so ineinandergeschach­telt sind. Und nun, wenn es sich entwickelt - eine Pappschachtel, der Mensch zwischen der Geburt und dem siebenten Jahre. Dann nimmt man die zweite heraus und man hat den Menschen vom siebenten bis vierzehnten Jahr. Dann die dritte, und man hat den Menschen vom vierzehnten bis einundzwanzigsten Jahr, und so eins aus dem andern heraus. Das geradlinige Fortschreiten in der Entwickelung ist das, was dem heutigen Menschen am angenehmsten ist.

Das liegt auch zugrunde all den grotesken Vorstellungen, die wir heute in der Schule lernen, und die in der Zukunft einmal als der wissen­schaftliche Wahnsinn der aufgeklärten Periode vom 19. und 20 .Jahr-hundert dargestellt sein werden. Sich so vorzustellen, daß einmal ein Nebelzustand dagewesen ist - Kant-Laplacesche Theorie -, dann nach und nach eins aus dem andern hervorgehend, Pappschachtel aus Papp­schachtel, eine aus der andern hervorgehend, der folgende Zustand immer aus dem früheren, das ist die krankhafte Wissenschaftsvorstellung der Gegenwart. Denn so sind die Dinge nicht. Denken Sie doch, wie die Entwickelung beim Einzelmenschen zwischen Geburt und Tod bei eini­germaßen unbefangener Beobachtung Ihnen entgegentritt.

Nicht wahr, die wirkliche Grenze der ersten Lebensperiode ist der Zahnwechsel, das Bekommen der zweiten Zähne. Ich habe öfters darauf aufmerksam gemacht. Was ist denn das eigentlich, dieses Bekommen der zweiten Zähne gegen das siebente Jahr hin, wo die erste Lebensperiode abschließt? Es ist das ein Konsolidieren, ein Verhärten des Menschen, respektive das Verhärten im Menschen gestaltet sich. Es ist wie ein Zusammenziehen

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aller Lebenskräfte, daß man Dichtestes, Mineralisiertestes zuletzt noch einmal hervorbringen kann, die zweiten Zähne. Es ist ein wirkliches Zusammenziehen aller Lebenskräfte ins Dichte.

Die zweite Lebensperiode schließt ab mit der Geschlechtsreife. Da ist gerade das Umgekehrte der Fall. Da ist nicht wiederum ein Zusammen­ziehen zur Verhärtung aller Lebenskräfte, sondern da ist im Gegenteil eine Verdünnung aller Lebenskräfte, ein Auseinandertreiben, ein Üppig-werden. Da ist ein entgegengesetzter Zustand, der in dem Organismus pulsiert.

Und nur etwas verfeinert, aber doch wiederum so, wenn um das ein­undzwanzigste Lebensjahr die dritte Lebensperiode abschließt. Da kon­solidiert sich der Mensch wiederum, zieht seine Kräfte zusammen. Mit dem achtundzwanzigsten Lebensjahr dehnt er sie wiederum aus. Ein­undzwanzigstes Jahr: Zusammenziehung, mehr auf das stellen, was in seinem Inneren lebt. Achtundzwanzigstes Jahr: Ausdehnung, mehr auf das stellen, das ihn zusammenbringt mit der ganzen weiten Welt. Mit dem fünfunddreißigsten Lebensjahr - approximativ zu nehmen -ist wiederum eine Art Zusammenziehung da. Das ist ja die Lebensmitte, das fünfunddreißigste Jahr.

Also die Entwickelung ist nicht so geradlinig, sondern so, daß sie sich in einer Wellenlinie bewegt: Zusammenziehung, Erhärtung; Er­weichung, Ausdehnung; Zusammenziehung, Erhärtung; Erweichung, Ausdehnung. Im Grunde genommen ist das auch das Leben des Men­schen im Großen. Indem wir hier in die physische Welt hineingeboren werden, ziehen wir uns zusammen, so daß wir innerhalb unserer Haut sind. Indem wir das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt durchmachen, dehnen wir uns immer mehr und mehr aus.

Was folgt aus alledem? Aus alledem folgt, daß der Entwickelungs­gedanke, der nur geradlinig die Entwickelung denkt, nichtsnutzig ist, daß er die Menschheit nasführt und abgestreift werden muß. Alle Ent­wickelung schreitet nämlich im Rhythmus voran. Alle Entwickelung geht: Wellental, Wellenberg, Zusammenziehung, Ausdehnung.

Wiederum auf elementaren Stufen hat das Goethe geahnt. Lesen Sie seine Metamorphose der Pflanzen, lesen Sie nur das Gedicht «Die Meta­morphose der Pflanzen», so werden Sie sehen, wie jene eigentümliche

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Gestaltung, die von Laubbiatt zu Laubbiatt geht, dann Blütenblatt, dann Staubgefäß, dann Stempel, wie das von Goethe dargestellt wird als ein fortwährendes Ausdehnen, Zusammenziehen, aber nicht in ganz äußerlichen Gebilden nur, sondern auch die Säfte dehnen sich in ihren Kräften aus, ziehen sich wieder zusammen, expandieren, konzentrieren sich. Ich habe versucht, in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als ich meine erste Einführung geschrieben habe zu Goethes naturwissen­schaftlichen Werken, nachzukonstruieren die Goethesche Urpflanze, wo ich versuchte, in das Bild hineinzubringen dieses Ausdehnen und Zu­sammenziehen, Ausdehnen, Zusammenziehen bis in die Blüte hinauf. Also niemand kann das Leben wirklich erfassen, der dieses Leben nicht rhythmisch, in rhythmischem Gange vorstellt. Die geradlinige Ent­wickelung - das muß immer wieder betont werden - ist eine Idee, die nichtsnutzig ist als eine wirkliche Lebenserfassung.

Und so ist es auch mit dem Begreifen des geschichtlichen Lebens der Menschheit. Ich habe in den letzten Heften der Zeitschrift «Das Reich», wo ich über Ahrimanisches und Luziferisches im Leben abgehandelt habe, darauf aufmerksam gemacht, wie luziferische Perioden und ahri­manische Perioden der geschichtlichen Entwickelung abwechseln im Rhythmus. Alles Leben geht nicht geradlinig vorwärts, sondern schreitet von Wellenberg zu Wellental. Aber das ist verknüpft mit einer auch äußeren Veränderung, indem von Wellenberg zu Wellental geschritten wird. Und nur, wenn man diese Verhältnisse durchschaut, kommt man zu einer tieferen Lebensauffassung. Wer geradlinig sich die Evolution denkt, der denkt: Erst waren unvollkommenste Tiere, dann immer voll­kommenere, dann so affenartige Tiere, dann hat sich daraus der Mensch entwickelt. - Und wenn man das dann aufs Moralische anwendet - ich habe Sie darauf schon öfter aufmerksam gemacht, auch in öffentlichen Vorträgen -, wenn man das dann weiter ausdehnt, ja, dann kommt so für den richtigen, für den waschechten Darwinisten heraus, daß er sagt:

Man sieht ja schon im Tierreiche moralische Triebe, Instinkte, Ver­anlagungen, die dann zu menschlichem Wohlwollen und so weiter hin­führen! - Wiederum eine nichtsnutzige Vorstellung, denn diese rechnet ganz und gar nicht mit dem Lebensrhythmus. Sie denkt die Entwicke­lung in einer geraden Linie, Pappschachtel aus Pappschachtel hervorgehend.

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In Wahrheit liegt die Sache so. Denken Sie sich die höchst-entwickelten Tiere mit ihren Eigentümlichkeiten weiterentwickelt, ge­radlinig weiterentwickelt, da kommt nicht der Mensch heraus, käme nie der Mensch heraus, sondern das höher entwickelte Tier, das würde gerade die Eigenschaften, die Ihnen sympathisch erscheinen im Tierreich, entwickeln in allerantipathischester Weise. Dasjenige, was Sie bei den Tieren bewundern als eine gewisse Geselligkeit, als den Anfang des Wohlwollens, eines sozialen Verhaltens, das weiter heraufentwickelt, schlägt ins Gegenteil rhythmisch um, wird zum Prinzip des Bösen. Hätte sich der Mensch so entwickelt, wie es Haeckel vorstellt, dann hätte sich entwickelt aus den menschenähnlichen Affen eine Menschengeselischaft, die von vornherein den Krieg aller gegen alle vollständig entwickelt haben würde. Denn in allen den Anlagen, die beim Tiere noch gut sind, liegt der weitere Entwickelungsimpuls zum Aufeinanderplatzen in heftigstem, blutigstem Kampfe. Das ist der Rhythmus! Wellenberg schlägt in Wellental um, und niemand sieht hinein in dasjenige, was die Natur birgt, der nicht auf die Entwickelungsmöglichkeiten im Rhyth­mus sieht. Nach außen anzuschauen das, was geschieht, das lehrt niemals erkennen dasjenige, was wirklich da ist. Nur dadurch, daß gar nicht her­auskamen die Entwickelungsmöglichkeiten, die in den höheren Tieren liegen, sondern daß ihnen entgegenkam eine andere Welle des Welten­werdens, welche abtötete das Bösewerden und gewissermaßen darüber-stülpte über das Bösewerden dasjenige, was die Menschen sein sollten vom Urbeginne aus, nur dadurch entwickelte sich die Menschheit. So daß man vorzustellen hat: Tierreich bis zu einer gewissen Höhe; ihm entgegenkommend die andere Welle, welche abstumpft das Bösewerden.

Die Reinkarnation läßt sich auch moralisch anschauen. Was glauben Sie, was wäre dann der Mensch geworden, wenn er nur immer geboren und geboren würde hier auf dem physischen Plane, wenn nicht dem, was geboren wird rein physisch auf dem physischen Plane, entgegenkäme dasjenige, was immer in die geistige Welt aufgenommen und wieder hinuntergetan wird? Wenn der Mensch nur geboren würde, wenn er nicht durchseelt würde von den Wesen, die immer wiederum in die geistige Welt aufgenommen werden und herunterkommen, dann würde der Mensch nur im Kriege auf der Erde leben, nur im Kampfe auf

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der Erde leben wollen, dann würden sich die furchtbarsten Kampfes-instinkte entwickeln. Diese Kampfesinstinkte ruhen auf dem Grunde der menschlichen Seele, sie ruhen im menschlichen Organismus. Und sie werden abgelähmt durch dasjenige, was, wenn ich mich jetzt so aus­drücken darf, von oben kommt, was aus der geistigen Welt heraus kommt von derjenigen Menschenwesenheit, die immer wiederum in die geistige Welt aufgenommen wird.

Das drückt sich auch aus in der äußeren Form. Es ist geradezu grotesk für den Einsichtigen, wenn das Menschenhaupt so dargestellt wird, als ob es sich aus dem Tierkopf entwickelt hätte nach und nach. Es ist näm­lich ein völliger Unsinn. In Wahrheit würde, wenn sich der Tierkopf weiterentwickelte, ein schreckliches Ungetüm herauskommen in dem, was Sie in der gegenwärtigen Inkarnation entwickeln aus Ihrem Unter-leibe. Wenn das allein den Kopf bilden würde, wenn es aus sich heraus den Kopf bilden würde, nun, das wäre eine richtige Mißgeburt als Kopf, das wäre ein schreckliches Tierungeheuer. Denn da sitzt die Möglichkeit zum Tierungeheuer. Nur dadurch, daß das Geistige von oben kommt und sich entgegenstülpt, entsteht dasjenige, was Menschenhaupt ist, das aus dem Zusammengehören von zwei Kräften entsteht, von dem, was aus dem Leibe hinaufstrebt, und dem, was aus dem Kosmos entgegen-strebt. Als eine Gleichgewichtslage wird dieses Menschenhaupt heraus­gebildet. Und in dieser Gleichgewichtslage des Menschenhauptes ruht es, daß wir mit dem, was wir mitbringen aus der geistigen Welt, nicht frei hantieren können. Wir schlüpfen in unseren physischen Kopf hin­ein, und da können wir nicht das ganz zum Ausdruck bringen, was wir eigentlich sind, wenn wir durch die Geburt ins Dasein eilen. Könnten wir so denken, wie wir gedacht haben vor unserer Geburt, beziehungs­weise vor unserer Konzeption, da würden wir nicht einen Homunkulus, da würden wir einen Menschen denken, einen Homo.

Sie erinnern sich, ich habe neulich einmal auf so etwas aufmerksam gemacht vorübergehend, als ich den Weihnachtsvortrag in Basel gehalten habe, wo ich darauf aufmerksam gemacht habe, daß Nikolaus von der Flüe vor seiner Geburt geschaut hat Szenen, die er nach seiner Geburt erlebt hat. Da hat er sich als Mensch geschaut vor der Geburt. Aber wenn man geboren ist und nicht den Erkenntnisschlaf überwindet, das

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heißt, das Erwachtsein außerhalb des Leibes entfalten kann, sondern nur mit dem Leibe denkt, denkt man nie einen Menschen, sondern nur einen Homunkulus. Man erreicht sich nicht, indem man auf dem Wege durch den Kopf in sich hineinzukommen sucht. (Es wird gezeichnet.) Es ist eigentlich so, daß man in sich hineinzukommen sucht, dann ge­halten wird, und - irgendwo in der Mitte des Menschen - da irgendwo ist eigentlich das, was man nicht erreicht. Es ist im Menschen selber dar­innen. Man bleibt beim Homunkulus und wird nicht kommen zum Menschen.

Und eigentlich, wenn man alle technischen Hilfsmittel hätte, so würde man in die Phiole, die über die Bühne geführt wird als der Homunkulus, hineintun - klein, daher auch niedlich - ein schreckliches kleines Ungetüm, das eigentlich dasjenige wäre, was entstehen würde, wenn es dem menschlichen Leibe allein übergeben wäre, daraus etwas zu entwickeln. Da käme so ein Tier, das doch kein Tier ist, sondern eine menschliche Mißgeburt, zustande, die auf dem Wege zum Menschwerden ist und doch nicht ganz Mensch wird. Daher erlangt man es nicht, wenn man nicht herankommt an dieses, was auf dem Wege zum Mensch-werden ist und doch nicht ganz Mensch wird. Man erlangt es nicht, man kommt nicht in sich hinein.

Und wiederum, wenn man mit dem Wollen sich erfaßt, dann faßt einen gleich ein anderer. Dann verliert man sich, dann treten alle mög­lichen fremdartigen Motive und Impulse in diesem Wollen auf. Nur wenn man versucht, ins Gleichgewicht hinein die inneren Kräfte zu bringen, dann gelangt man zum wahren Menschtum.

Nun, mit dem, was ich gesagt habe, vergleichen Sie drei Momente, die Ihnen jetzt vor Augen treten können im zweiten Teil des «Faust». Jenen erhebenden Moment, wo der Faust vor die Manto hintritt. Da versucht Goethe, auszugießen über diesen ganzen Moment jene innere Ruhe der menschlichen Seele, welche durch die Empfindungen des Gleichgewichts-zustandes hervorgerufen wird. Faust möchte weder auf der einen Seite hinein in das Schwärmerische einer abstrakten Mystik: «Könnt' ich» -das ist eine seiner letzten Reden - «Magie von meinem Pfad entfernen». Er möchte nicht äußere Magie, er möchte den inneren Weg in die über­sinnliche Welt hinauf. Er ist nahe daran und doch wiederum entfernt.

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Goethe ist, wie ich das gestern ausführte, durchaus ehrlich in dem Augen­blicke, wo Faust vor der Manto steht. Aber Faust wird auch nicht bloß in abstrakter Ruhe gehalten, sondern durch die Gegensätze hin- und hergeworfen. Daher wird er auf der einen Seite immerfort wiederum in den Gegensatz hineingeworfen, wo der Mensch sich verliert, indem er sich im Wollen zu erfassen versucht. Vergleichen sie alles das mitein­ander, was dem Faust passiert in den Szenen, in denen er selbst mit dem Mephisto zusammen sein Leben entfaltet. Da haben Sie immer den Willens-Faust, der aber sich immer verliert, indem eigentlich der Mephisto seine Impulse ergreift. Da haben Sie dasjenige, wo der Mensch abirrt in dem Willen, wo er sich verlieren will. Da haben Sie all die Ge­fahren, die den moralischen Impulsen des Menschen drohen. Und das ist eben in einer ungeheuren Tiefe im Goetheschen «Faust» zum Aus­druck gebracht.

Nehmen Sie den Moment, wo Mephisto sich vereinigt mit den Phor­kyaden, wo er selbst die Gestalt einer Phorkyade annimmt, wo er in seiner ganzen Häßlichkeit auch seine Häßlichkeit gesteht, denn vorher lügt er, nachher, als die Phorkyaden ihn umfassen, da muß er seine eigene Häßlichkeit gestehen. Die Phorkyaden gestehen ja - lesen Sie die Rede der Phorkyaden noch einmal nach - ihre Häßlichkeit, sind gewissermaßen ehrlich in ihrer Häßlichkeit. In diesem Moment haben Sie einen Gegensatzmoment zu jenem heilig-erhabenen Moment, da Faust vor der Manto steht. Dasjenige, was uns uns selbst verlieren läßt im Willensmotiv, das steht so recht da, als Mephisto in der «Klassischen Walpurgisnacht» zum letzten Male auftritt. Faust tritt zum letzten Male auf, sichtbarlich, äußerlich dramatisch, in der Manto-Szene, Mephisto in der Phorkyaden-Szene. Und Goethe wollte aus seiner tiefen Empfindung heraus andeuten, daß im Grunde genommen das­jenige, was uns uns selbst verlieren läßt im Willensmotiv, nur dann Heilung finden kann, wenn wir es nicht bloß moralisch verabscheuen, sondern wenn wir es gegen unseren Geschmack verstoßend als Häßliches erleben. Das war ja auch die Grundempfindung Schillers, als er das Moralische so nahe heranbrachte an das Ästhetische in den «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen».

Das ist gerade das Jammervolle, daß innerhalb der neueren Menschheitsentwickelung

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die Bildung es einmal bis zu einer solchen Höhe gebracht hat, wie sie zum Beispiel in Schillers Ästhetischen Briefen vor­handen ist, und daß das alles von der Menschheit vergessen worden ist. Man denke sich, daß Schiller eigentlich glaubte, eine politische Tat zu verrichten mit seinen zunächst an den Herzog von Augustenburg ge­schriebenen Ästhetischen Briefen. Der lernt viel über die Entwickelung der Menschheit, der die zwei Tatsachen in ihrer richtigen Tiefe auffaßt, daß einmal das da war, daß Schiller aus der Anschauung von Goethes Werdegang heraus seine Ästhetischen Briefe geschrieben hat, daß einmal das da war; daß das vergessen werden konnte. Und daß durch das Ver­gessen die heutige Menschheitskatastrophe mit herbeigeführt worden ist. Wer diese zwei Tatsachen ins Auge faßt, der lernt wirklich viel über die Entwickelung der Menschheit kennen.

Und dramatisch groß ist der Moment, wo wie eine ästhetisch-ekelhafte Empfindung das moralisch Unerlaubte im Menschen lebt, dargestellt in der eigentlich furchtbaren Szene, wo Mephistopheles unter den Phor­kyaden steht. Da wird charakterisiert in seiner ganzen Abscheulichkeit der Impuls, der wesenhafte Impuls, der den Menschen dazu treibt, sich selber im Willenspol zu verlieren. Lernt man ihn nicht erkennen, so wird man ihm verfallen. Denn nur das Erkennen befreit einen davon. Das finden Sie in der Schlußszene meines ersten Mysteriums «Die Pforte der Einweihung» ausgesprochen. Da ist ausgesprochen, wie nur die Er­kenntnis, die unmittelbare Anschauung desjenigen, was eigentlich unser Verführer, unser Versucher ist, uns auch erlösen kann von der Ver­führung, von der Versuchung. Im Zeitalter der Bewußtseinsseele, in das wir eingetreten sind, ist es daher notwendig, daß wir, um die Ver­suchung, die Verführung zu überwinden, nach Erkenntnis des Ver­suchers, des Verführers in rechtmäßiger Weise streben, nicht fortsumpfen in einem bloß äußerlichen Naturerkennen und in einer bloß abstrakten Mystik.

Schließlich ist ebenso schlimm die abstrakte Mystik, das bequeme «den göttlichen Menschen erfassen in seinem Inneren», wobei nichts anderes als eine furchtbare, egoistische Abstraktion herauskommt. Eben­so schlimm als der Materialismus ist dieses abstrakte Mystifizieren.

Drei Momente, sagte ich, nehmen Sie im Goetheschen «Faust».

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Nehmen Sie so recht künstlerisch empfindungsgemäß das, was Sie fühlen können, da Faust der Manto gegenübersteht; das, was Sie fühlen kön­nen, da Mephisto unter den Phorkyaden selber zu einer Phorkyas wird. Und jetzt den dritten Moment: da Homunkulus am Muschel-wagen der Galatee zerschellt, und fühlen Sie, was nun dieser Homun­kulus ist. Wir kommen aus der geistigen Welt, suchen durch die Emp­fängnis und die Geburt das physische Dasein. Im physischen Dasein treten wir entgegen demjenigen, was aus dem physischen Dasein uns als unser Leib gegeben wird. Jeden Abend kehren wir zurück in die Welt, aus der wir heraustreten durch die Geburt; jeden Morgen müssen wir die Geburt bildhaft erneuern, indem wir wiederum in den physischen Kör­per untertauchen. Da können wir fühlen, wie wir von außen herein­kommend nicht das erreichen, was der Mensch ist, sondern wie uns nur der Homunkulus, das Menschlein, das embryonale Menschentum ent­gegentritt, und wie schwierig es ist, zum wirklichen Menschen zu kom­men. Wir könnten zum wirklichen Menschen kommen, wenn es uns gelingen würde, knapp vor dem Aufwachen, wenn alle Entwickelungs-möglichkeiten der Nacht ausgeschöpft sind, eine ganz helle Vorstellung zu haben. Diese helle Vorstellung wäre eine Weltvorstellung; diese helle Vorstellung wäre so, daß wir uns nirgends begrenzt glaubten, daß wir uns ausgegossen fühlten über die Welt; daß wir uns ausgegossen fühlten über alles Weltenlicht, allen Weltenton, über alles Weltenleben. Vor uns etwas wie einen Abgrund; jenseits des Abgrundes die Fortsetzung desjenigen, was wir gerade noch fühlen, bevor wir den Abgrund be­treten beim Aufwachen: Wärme. Wärme, sie strömt über den Abgrund hinüber. Nun aber treten wir über den Abgrund ein durch das Auf­wachen in Luft, Wasser, Erde, die ja unseren eigenen Organismus zu­sammensetzen. Allerdings, wir treten dem Menschen nahe, wir haben uns vorbereitet, indem wir den Homunkulus befruchten ließen in der geistigen Welt, den Menschen zu erfassen. Aber im gewöhnlichen Ver­lauf des Lebens tun wir das nicht, was ich jetzt eben angedeutet habe. Die lebendige Vorstellung, die wir haben, die ein Sich-Erleben im Licht, im Weltenton, im Weltenleben wäre, die ein Sich-Zusammenfinden wäre mit den Wesenheiten der höheren Hierarchien, die ebensogut sich ver­bunden fühlen würde mit den Wesen der höheren Hierarchien, wie sich

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hier der physische Leib verbunden fühlt mit dem mineralischen, mit dem pflanzlichen, mit dem tierischen Reich, diese Vorstellung, die wir ent­wickeln würden, wenn der Schlaf knapp vor dem Aufwachen an uns sein Werk getan hätte, die müßten wir mitbringen ins Aufwachen hin­ein, müßten wir hineinversenken in unseren Leibesmenschen. Dann würden wir das verstehen können, was der Leibesmensch ist. Aber, ach:

Die Götter wollen's nicht leiden.

Wir tauchen unter. Es flammt auf, es blitzt - das bemerken wir kaum. Statt in uns selber hineinzuschauen, schauen wir aus dem Auge heraus, statt in uns selber hineinzuhorchen, hören wir aus dem Ohre heraus, statt in uns selber hineinzufühlen, fühlen wir mit den Tastnerven aus der Haut heraus. Homunkulus, der aufleben würde und zum Menschen werden, wenn wir nicht untertauchen würden in das, was durch die physischen Augen nur erreichbar liegt, durch die physischen Ohren, durch den physischen Ton, durch das physische Getaste nur erreichbar liegt, Homunkulus zerschellt in dem Augenblicke an dem Widerstand der Elemente. Das Augenlicht flammt auf statt des Weltenlichtes, der Ohrenton beginnt statt des Weltentones, das Körperleben beginnt statt des Weltenlebens: Homunkulus zerschellt. Und wenn man es bewußt erlebt, so ist der Schluß der «Klassischen Walpurgisnacht» erlebt. So ist dieser Schluß der «Klassischen Walpurgisnacht» aus dem wahren, wirk­lichen Leben genommen.

Diese Dinge sind nicht dazu da, daß nur in Sonntagnachmittags­predigten in der Anthroposophischen Gesellschaft über sie gesprochen werde, sondern diese Dinge sind wahrhaftig dazu da, daß sie von der Menschheit allmählich gewußt werden, und daß sie als Impulse wesen­haft durchdringen dasjenige, was in die Entwickelung der Menschheit gegen die Zukunft hin aufgenommen werden muß, wenn diese Mensch­heit dem Heil und nicht dem Unheil entgegengehen soll. Denn seinen richtigen Zusammenhang mit der Wirklichkeit findet der Mensch wirk­lich nur, wenn er sich von jetzt ab neue Begriffe aneignet. Wenn er anfängt zu durchschauen, daß dasjenige, was man gerade als die große Errungenschaft des 19. Jahrhunderts immer gepriesen hat, ein Ende ist.

Es ist nicht zu verwundern, daß von einem gewissen Gesichtspunkte

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aus diese Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, die ins 20. Jahrhundert hinüberreicht, als vollkommen empfunden wurde. Es ist gar nicht zu verwundern. Denn, nicht wahr, bevor der Baum im Herbste alles ab-wirft, ist er gerade in seiner vollkommensten Fruchtentfaltung. Diese Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, die noch hereinspukt in das 20. Jahrhundert, alle diese technischen Vollkommenheiten, die bis zu einer gewissen Höhe gekommen sind, sie sind der Baum, bevor er seine Früchte abwirft. Das, worauf das alles gewachsen ist, es ist ja zum Ver­dorren, und es genügt nicht, daß dieser Baum weiterwächst, sondern es muß in den Kulturboden der Menschheit ein neuer Same gelegt werden, und ein neuer Baum gepflanzt werden. Es genügt nicht, daß wir denken, wir haben die Entwickelung der Tiere erkannt, wir denken sie uns etwas weitergeführt, dann den Menschen. Es genügt nicht, daß immer mehr solche Geister auftreten, die zuerst in einer genialen Weise über Tiere Artikel schreiben und später ein Buch über die Entstehung des Menschen so wie eine Fortsetzung schreiben, sondern es ist notwendig, daß mit der Geradlinigkeit der Entwickelung gebrochen werde, und die Men­schen verstehenlernen den Rhythmus des Lebens, der in Wellenberg und Wellental verfließt; daß die Menschen lernen, wie in das Innere der Menschheit der Weg nicht geht in geradliniger Weise, sondern über zwei Grenzen. An der einen Grenze glaubt man schier ersticken zu müssen, weil einen jemand erfaßt, der einen nicht bis dahin kommen läßt, wo das Denken hinkommen will. Auf der andern Seite glaubt man schier, daß man zugrunde gehe mit dem Geschleiftwerden durch die mephi­stophelischen Gewalten. Das Gleichgewicht zu finden zwischen dem Homunkulismus und dem Mephistophelismus, zwischen dem im Ho­munkeltum -Aufgehen und Sich-nicht-erreichen-Können, und dem vom Mephistopheles Erfaßtwerden und Sich -Verlieren. Das Verständnis dieses Gleichgewichtes, das ist es, was über die moderne Menschheit kommen muß, und das ist es, in dem Goethe vorahnend als in der Emp­findung davon lebte, als er versuchte, ganz ehrlich zu sagen, was er über das Menschheitsrätsel zu sagen hatte in seinem «Faust».

Herauswachsen aus dem, was heute bildhaft die Vorstellung der platten Menge ist, das ist es gerade, wonach die Menschheit hinstreben soll. Nichts wird heute mehr angefeindet als dieses Herausstreben. Mit

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nichts schadet sich die Menschheit mehr als durch dieses Anfeinden des Herausstrebens aus der platten Alltäglichkeit. Aber solange dieses Be­kämpfen des Herausstrebens aus der platten Alltäglichkeit nicht auf der andern Seite wirklich bekämpft wird von denjenigen, welche die Not­wendigkeit des Eindringens in das Übersinnliche anerkennen, so lange kann nicht Heil kommen in die Entwickelung der Menschheit.

Hamerling versuchte am Ende des 19.Jahrhunderts in seinem «Ho­munkulus», man möchte sagen, einen noch aus der alten Zeit hervor­gehenden, letzten Ruf an die Menschheit zu richten, indem er wirklich all das, was an verfaultem Wesen in dieser neueren Menschheit ist, als Homunkeltum hinstellte.

Man könnte sich eines denken: jemand läse jetzt den Hamerlingschen «Homunkulus», der am Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts erschienen ist, diesen « Homunkulus », über den ich ja manchen Vortrag gehalten habe, wahrhaftig auch vor dem Kriege nicht ohne eine gewisse Bedeutung darüber gesprochen habe. Nehmen wir an, es läse jetzt jemand diesen Hamerlingschen «Homunkulus», er lasse auf sich wirken, was Hamerling sich denkt von dem Werdegang seines Homunkel. Das alles hat er gedacht am Ende der achtziger Jahre, als schon gebrochen war mit allem Goetheanismus, als schon die Menschen nichts mehr wissen wollten von allem Goetheanismus Hamerling hat dargestellt den Werdegang des Homunkel: wie er ganz von materialistischem Den­ken erfaßt wird, wie er lebt in einer Welt, in der man sich nicht be­reichert durch geistige Schätze, wohl aber Billionär wird - Homunkel wird Billionär -, in der man sich in der frivolsten Weise selbst mit der geistigen Welt zu schaffen macht, in der sich schon ausbildet, mit Respekt zu vermelden, jener Journalismus, der seither noch viel furchtbarere Versumpfung erfahren hat. Man nehme an: jetzt läse jemand diesen Hamerlingschen «Homunkulus». Nun würde er sich vielleicht sagen: Ja, Gott, dieser Hamerling - er ist 1889 gestorben - hat eigentlich doch nur mit physischen Augen, als er seinen «Homunkulus» schrieb, die Mensch­heit gesehen, wie sie damals war auf den Wegen, denen sie zueilte. Neh­men wir an - so könnte ein solcher sagen, der jetzt diesen «Homun­kulus» liest -, die Leute hätten damals so etwas, wie das ist, was Hamer­ling in seinem «Homunkulus» zeigt, ernst genommen, sie hätten es

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wirklich ein bißchen auf sich wirken lassen, nicht bloß als literarisches Produkt, sondern sie hätten es ernst genommen, dann hätten sie sich wahrhaftig nicht verwundert, wenn jemand gesagt hätte: Aus dieser Menschheit muß diese Weltkatastrophe entstehen ganz notwendiger-weise. - Das kann sich jemand sagen, der heute den «Homunkulus» liest. Was ist weiter verwunderlich daran, daß diese Weltenkatastrophe ent­standen ist, da ein Dichter der achtziger Jahre den Menschen Homunkel in dieser Weise darzustellen vermochte?

Aber der Ruf, der da liegt in dieser Darstellung des Menschen Ho­munkel, ist zu gleicher Zeit der, nicht stehenzubleiben bei dem Leben, das doch nur ein Homunkeltum gibt, sondern hinüberzusetzen über den Abgrund da, wo Geisteswissenschaft redet von den übersinnlichen Er­kenntnissen, die erst den Homunkulus in einen Homo verwandeln kön­nen. Und so könnte man sagen: In den Homunkulismus, der sich in einer Welt, in die sich der Mensch heute nicht so gern versetzen will, befindet in der Szene, die wir heute darstellen, zwischen den Homunkulismus und den Mephistophelismus, der aber in die Region der Phorkyaden führt, ist die Menschheit hineingestellt. - Goethe ahnte das und stellte es dar in seinem «Faust». Er ahnte schon, daß ein Weg gebahnt werden muß, der ebenso sehr die Klippe phantastisch-abstrakter Mystik ver­meidet wie die andere Klippe wirklichkeitsfremder gespensterhafter Naturanschauung, der aber hinführt ins übersinnliche Erkennen und aus dem übersinnlichen Erkennen heraus auch wiederum soziale Impulse findet.

Das ist nun gewissermaßen eine tiefere Bewußtseinsschicht. Dringen wir in sie ein, durchdringen wir unsere Empfindung mit ihr, lernen wir gewissermaßen die Sprache jener Bewußtseinsschicht verstehen, die aus den Regionen kommt, wo man fühlt, im Denken kann man sich nicht erreichen, im Wollen verliert man sich. Das Sich-nicht-erreichen-Können im Denken ist homunkelisch, das Sich-Verlieren im Wollen ist mephisto­phelisch. Empfindet man dies, dann steht man darinnen in so tiefen Szenen mit einer Sprache, die einem eben verständlich macht dasjenige, was in einer solchen Szene gegeben ist, wie die Szene ist vom Schluß der «Klassischen Walpurgisnacht».

Schließlich, jeder sieht die Welt so an, wie sie sich ihm darstellen kann

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nach seinen empfangenen Kräften. Aber die gegenwärtige Aufgabe der Menschheit besteht darinnen, diese empfangenen Kräfte zu steigern, damit manches von der Welt gesehen werde, was zum Unheil der Menschheit in den letzten Jahrzehnten nicht gesehen worden ist.

Und so ist auch eine wirkliche Vertiefung in solch eine tiefe Szene, wie diejenige ist, die wir jetzt vorführen, ein Weg für den Menschen, um gerade in der Richtung weiterzukommen, in der die Menschheit jetzt weiterkommen soll. Wie überhaupt Goetheanismus - nicht Professoren­Goetheanismus, nicht der Goetheanismus der Goethe-Gesellschaft, an deren Spitze kein Goethe-Mann, sondern ein ehemaliger Finanzminister mit dem symptomatischen Namen Kreuzwendedich steht, nicht all das, was man geglaubt hat, aus Goethe machen zu müssen am Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts, sondern was im Goetheanismus wirklicht liegt - gesucht werden muß. Das wird ein Gutes und ein guter Impuls sein, um die Menschheit in der Richtung weiterzubringen, in der sie weiterkommen muß, wenn ihr Heil und nicht Unheil werden soll in der nächsten Zeit.

HINWEISE

#G273-1967-SE253 Das Faust-Problem

#TI

HINWEISE

#TX

Die vorliegenden Vorträge der «Geisteswissenschaftliechen Erläuterungen zu Goethes vom geisteswissensechaftliechen Standpunkt> dient als Einführung für beide Bände. Es erfolgt kein besonderer Hinweis, wenn auf Szenen oder Ausführungen des ersten Bandes Bezug genommen wird. Nachdem der Vortrag vom 12. Januar 1923: Ge­samtausgabe Dornach 1966, Bibl.-Nr. 220, vorliegt, wurde der Auszug des Vortrages, der die erste Buchausgabe der Faust-Bände abschloß, nicht mehr mit aufgenommen. Ferner fehlen die Ansprachen zu eurythmisch-dramatischen Darbietungen, doch sei auf die 1953 erschienene Veröffentlichung von fünfzehn Ansprachen vor Eurythmie-aufführungen in den Jahren 1919 bis 1924 «Eurythmie als Impuls für künstlerisches Betätigen und Betrachten> aufmerksam gemacht. Im Rahmen der Rudolf Steiner Gesamtausgabe erscheinen die Eurythmie-Ansprachen gesammelt als «Eurythmie -Die Offenbarung der sprechenden Seele>, Bibl.-Nr. 277. Auch diese dritte Auflage wurde erneut an Hand der vorliegenden Vortragsnachschriften durchgesehen.

Auf das Vorwort von Marie Steiner in Band 1 sei besonders aufmerksam gemacht. Die Zitate der Faust-Dichtung wurden nach der durch K. J. Sechröer besorgten, mit Einleitung und fortlaufender Erklärung versehenen Ausgabe angeführt. Eine Chronik, welche die Entstehung der Dichtung zeigt, findet sich als Abschluß des Buches.

Da die künstlerische Arbeit in Dornach Veranlassung zu den hier veröffentlichten «Geisteswissenschaftliechen Erläuterungen zu Goethes Zu Seite

9 jenes abgelaufene Zeitalter: 747 v. Chr. - 1413, griech.-latein. Kulturperiode, vierter nachatlantisecher Zeitraum; 1413-3573 fünfter nachatlantischer Zeit­raum.

26 ein Buoh . . . , das gedruekt ist im Jahre 1740: Es könnte siech um eine Aus­gabe der Gesammelten Schriften des Basilius Valentinus, Hamburg 1740, dabei handeln, doch ist zu berücksichtigen, daß Rudolf Steiner (Dornach, 26. April 1924) darauf aufmerksam macht, daß es «eigentlich kaum echte Schriften von Basilius Valentinus gibt>. Dagegen

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29 man bat meistens gar nicht die Mittel zu erkennen: s. audi «Das Initiaten­Bewußtsein. Die wahren und die falschen Wege der geistigen Forschung» Vortragszyklus: Torquay, vom II bis 22. August 1924. Bibl.-Nr. 143, Ge­samtausgabe Dornach 1960.

33 Geisteswissenschafl wird eine soziale Ordnung begründen müssen: «Die Kern­punkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft>. Bibl.-Nr. 235, Gesamtausgabe Dornach 1961>

38 über die «Walpurgisnach>t>: s. Zeittafel.

in meinem letzten Buch>e «Vom Menschenrätsel»: «Vom Menschenrätsel. Aus­gesprochenes und Unausgesprochenes im Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten» Berlin 1916 Das Buch war damals gerade erschienen> Bibl.-Nr. 20, Gesamtausgabe Dornach 1957>

Karl Julius Schröer sagt über die : «Faust> von Goethe. Mit

Einleitung und fortlaufender Erklärung herausgegeben von Karl Julius

Schröer. Erster Teil> Walpurgisnacht

39 Nun möchte ich zunächst rein äußerlich dem aber entgegenstellen: s. Chronik>

«Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie>, das früher ge­schrieben ist: Goethe schrieb das Märchen im August/September 1795; es erschien in den «Horen> auf Verailassung von Schiller bereits im Oktober des gleichen Jahres>

42 wie van Helmont: Johann Baptist van Helmont, 1577-1644, holländischer Arzt und Naturforscher.

43 wie der Franz in Hermann Bahrs «Himmelfahrt>: Auf den Roman «Him­melfahrt> von Hermann Bahr hatte Rudolf Steiner am gleichen Tage in einem anderen Zusammenhang schon hingewiesen> S. «Weltwesen und Ich­heit», Vortragszyklus Berlin 6> Juni bis 18. Juli 1916> Dritter Vortrag> Bibl.-Nr. 169, Gesamtausgabe Dornach 1963.

52 ich habe das öfter erwähnt: s. «Mein Lehensgang> XXXVII. Kapitel, wo Rudolf Steiner über dieses geisteswissenschaftliche Forschungsergehnis schreibt> Bibl.-Nr. 28, Gesamtausgabe Dornach 1962.

56 eine kleine Skizze: Paralipomena zu Faust 1.

61 in jener Abhandlung: «Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände»

Schelling, «Über die Gottheiten von Samothrake>: s. auch Chronik>

62 Kotzebue, : s. «Gegenwär­tiges und Vergangenes im Menschengeiste» Vortragszyklus Berlin vom 8> Februar bis 30> Mai 1916> Zweiter Vortrag> Bibl.-Nr. 167, Gesamtausgabe Dornach 1962.

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62 Briefwechsel zwischen Goethe und Fichte: s. «Gesammelte Aufsätze zur Kul-tur- und Zeitgeschichte 1887-1901» Briefe von Fichte an Goethe und Schiller mit Erläutetaingen von Rudolf Steiner> Bibl.-Nr. 31, Gesamtausgabe Dornach

1966.

69 Johann Jakob Wagner: Johann Jakob Wagner, 1775-1841, deutscher Philo­soph>

78 ein anderer Historiker: Ottokar Lorenz, 1832-1904, Professor der Geschichte an der Wiener Universität> S. Rudolf Steiner «Briefe 1> Dornach 1955.

Note, die neulich Woodrow Wilson an den Senat der amerikanischen Staaten

gerichtet hat: Wilsons Senatsrede vom 22. Januar 1917> «Aufsätze über die

Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage, 1915-1921>. Bibl.-

Nr.24, Gesamtausgabe Dornach 1961.

81 was wir im Lauf der Jahre über die Sache zu sagen hatten: s. «Weltenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbarungen>. Vortragszyklus München vom 18. bis 27. August 1911. Bibl.-Nr. 529, Gesamtausgabe Dornach 1960.

86 aus der Lektüre des Plutarch: K. J. Schröer weist in der Einleitung zum II. Teil der Faust-Dichtung auch auf diese Lektüre des Plutarch hin. (Seite L ff.) S. Plutarch «Uber den Verfall der Orakel»

was Goethe im Plutarch gelesen hat: Goethe zu Edtermann am so. Januar 1830: «Ich kann Ihnen weiter nichts verraten, als daß ich beim Plutarch gefunden, daß im griechischen Altertume von Müttern als Gottheiten die Rede gewesen> Dies ist alles, was ich der Überlieferung verdanke, das übrige ist meine eigene Erfindung.»

92 was ich Ihnen einmal dargestellt habe: Vortrag vom 28. Oktober 1916, «Kosmische und menschliche Geschichte», Zweiter Band. Bibl.-Nr. 171, Ge­samtausgabe Dornach 1964.

98 wenn jetzt mein Buch erscheinen wird: «Von Seelenrätseln» Berlin 1917. In diesem Werke hat Rudolf Steiner zum ersten Male «den dreigliedrigen Men­schen» öffentlich dargestellt. (IV> Skizzenhafte Erweiterung des Inhaltes die­ser Schrift. 6. Die physischen und die geistigen Abhängigkeiten der Menschen­Wesenheit>) Bibl.-Nr. 21, Gesamtausgabe Dornach 1960.

100 Ricarda Huch in ihrem neuen Buch über : s. Vortrag vom

18. September 1917 in «Das Karma des Materialismus>. Berlin 1922, Bibl.-Nr> 176, Gesamtausgabe Dornach 1964, und Vortrag vom 6> Oktober 1917 in «Die spirituellen Hintergründe der a»ußeren Welt» Bibl.-Nr. 177, Ge­samtausgabe Dornach 1966.

103 an den Schluß meines letzten Mysteriendramas: Vier Mysteriendramen. «Der Seelen Erwachen>, fünfzehntes Bild. Bibl.-Nr. 14, Gesamtausgabe Dornach 1962.

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104 in dem Aufsatz über Christiani Rosenkreutz' Chymische Hochzeit 1459:

s. «Philosophie und Anthroposophie>, Gesammelte Aufsätze 1904-1918. Bibl.-Nr. 35, Gesamtausgabe Dornach 1965, und «Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz Anno 1459, aufgezeichnet durch Johann Valentin Andreae, ins Neudeutsche übertragen von Dr. Walter Weber>, Stuttgart

1957.

105 in der schönen Sachs'schen Darstellung: s. in der Ausgabe von K. J. Schröer zu Faust II Seite XXI ff> «Entstehung des zweiten Teils>.

108 747 mit der Begründung Roms: Mit dieser Zeitangabe folgt Rudolf Steiner der Berechnung, wonach die Geburt Christi in das Jahr 747 nach der Begrün­dung Roms fällt.

110 wir haben dargestellt: s. den Vortragszyklus «Der Sturz der Geister der Finsternis>. Dornach, vom 14> bis 28. Oktober 1917. Bibl.-Nr. 177, Gesamt­ausgabe Dornach 1966.

118 in einem meiner Vorträge: Kassel, am 4> Juli 1909, in «Das Johannes-Evan­gelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium» Bibl.-Nr. 112, Gesamtausgabe Dornach 1959, und Mün­chen, am 29> August 1909, in «Der Orient im Lichte des Okzidents> Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi.> Bibl.-Nr. 113, Gesamtausgabe Dornach 1960.

119 in meinem Aufsatze: s. Hinweis zu S. 104.

121 des schwedischen Politikers Branting: Hjalmar Branting, 1860-1925 schwe­discher Sozialistenführer. Finanz- und später Premierminister>

Sozialwissenschaft: s. Hinweis zu S. 33.

123 der Vortrag: Der Vortrag fand an einem Freitag statt. s. Zeittafel>

125 in dem zweiten Mysterien-Drama: «Die Prüfung der Seele>. Bibl.-Nr. 14, Gesamtausgabe Dornach 1962.

129 da schrieb er (Schiller) einen bedeutungsvollen Brief an Goethe: Jena, den

23> August 1794. Rudolf Steiner zitiert nicht wortwörtlich>

132 Johannes Volkelt: Johannes Volkelt, 1848-1930> «Die Traumphantasie>, Stuttgart 1875. s. «Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt>. Bibl.-Nr. 18, Gesamtausgabe Dornach 1968. Ferner: «Die Gei­steswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische Erkenntnistheorie> Persönlich-Unpersönliches.> in «Philosophie und Anthroposophie>, Gesam­melte Aufsätze 1904-1918. Bibl.-Nr. 35, Gesamtausgabe Dornach 1965.

134 aus meinen Mysterien: «Der Hüter der Schwelle>. Sechstes Bild: Das Märchen von der Phantasie. Bibl.-Nr. 14, Gesamtausgabe Dornach 1962.

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140 Wenn man Ameisen betrachtet, wenn man Bienen betrachtet: s. «Über die Bienen>. Vorträge aus dem Jahre 1923 in Dornach vor den Arbeitern am Goetheanum> Bibl.-Nr. 351, Gesamtausgabe Dornach 1965>

Forel: August Forel, 1848-1931. Schweizerischer Psychiater.

155 da will er gar nicht erst : Thales in der «Klassischen Walpurgisnacht> zu Anaxagoras: «Mit solchem Streit verliert man Zeit und Weile I Und führt doch nur geduldig Volk am Seile.>

Lyell, der moderne Geologe: s. «Methodische Grundlagen der Anthropo­sophie, Gesammelte Aufsätze 1884-1901>. Bibl.-Nr. 30, Gesamtausgabe Dornach 1961>

156 Goethe hat gesagt: Dieser und der folgende Spruch in «Sprüche in Prosa>,

1. Abteilung, Vierter Band, II. Abteilung> Stuttgart 1897.

Goethe sagt an einer anderen Stelle seiner Schriften: (ebenda) «Die Vernunft ist auf das Werdende, der Verstand auf das Gewordene angewiesen; jene bekümmert sich nicht: wozu? dieser fragt nicht: woher? - Sie erfreut sich am Entwickeln; er wünscht alles festzuhalten, damit er es nutzen könne.> An­merkung von Rudolf Steiner: «Der Verstand unterscheidet die Dinge von­einander; die Vernunft verbindet die von dem Verstande gewonnenen iso­lierten Begriffe zu einem einheitlichen Bilde> Das Werden, das Entstehen ist ein ewiger Fluß, in dem die Dinge, von denen der Verstand isolierte Begriffe entwirft, entstehen und vergehen> Der Verstand kann daher nur die gewor­denen Dinge erfassen; das Werden ist Gegenstand der Vernunft, deren Obliegenheit es ist, die Begriffe in den Fluß zu bringen, der dem Werden der Wirklichkeit entspricht»

162 Schlossers universal-historische Übersicht der Geschichte der alten Welt und ihrer Kultur: Friedrich Christoph Schlosser 1776-1861. Geschichtsschreiber. Das Werk erschien in neun Bänden von 1826-1834.

da schreibt er (Goethe): s. K. J. Schröer, Einleitung zum II. Teil der Faust-dichtung Seite LIX ff.

Die knapp gehaltene Besprechung, die wir in Goethes Werken in dem Kapitel «Ferneres über Kunst> finden, schließt mit den folgenden Worten:

«Der Verfasser gehört zu denjenigen, die aus dem Dunkeln ins Helle streben, ein Geschlecht, zu dem wir uns auch bekennen. Bleibt es doch unsere Pflicht, selbst die Idee, insofern es möglich ist, zu verwirklichen; warum sollten wir das erlangte Wirkliche einer auflösenden, vernichtenden Einbildungskraft dahingehen?>

165 was nur durch Geisteswissenschaft geschehen kann: s. «Die okkulte Bewegung sm neunzehnten Jahrhundert» Dornach, vom 10. bis 25. Oktober 1915. Bibl.-Nr.164, Gesamtausgabe Dornach 1968.

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168 daß ich vor kurzem gesagt habe: Dornach, am 15> September 1918> s. «Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit» Bibl.-Nr. 184, Gesamtausgabe Dornach 1967.

172 Ich bemühe mich jetzt seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts:

s. «Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften>, 1883-1897, Sonderausgabe aus «Goethes Werke> in Kürschners National-Literatur Dornach 1926. S. auch Hinweis zu S>142 in Band 1.

175 die Tonlehre: s. «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften>, 11. Band, erster Teil, in Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1893> Gleichfalls in «Goethes Werke, Naturwissen­schaftliche Schriften. Vierter Band, zweite Abteilung.> Stuttgart 1897> Rudolf Steiner bemerkt dort zur «Tonlehre>: Goethe wollte das ganze Gebiet der Physik übersichtlich skizzieren. Die Skizze sollte zeigen, in welchem Geiste alle physikalischen Erscheinungen behandelt werden müßten, wenn die Be­handlung Goethes Intentionen, wie sie in seiner Farbenlehre zum Ausdruck kommen, entsprechen sollen> Von der Skizze ist nur der hier zum Abdruck kommende Teil über die Tonlehre ausgeführt worden. Er ist hervorgegangen aus Goethes Gesprächen mit Zelter> Ferner: «Methodische Grundlagen der Anthroposophie>, Gesammelte Aufsätze 1884-1901. Bibl.-Nr. 30, Gesamt­ausgabe Dornach 1961.

183 daß ich immer wiederum hinweise auf jenen Prosa-Hymnus «Die Natur>:

s. «Methodische Grundlagen der Anthroposophie>, Gesammelte Aufsätze 1884-1901. Bibl.-Nr. 30, Gesamtausgabe Dornach 1961.

185 Ich habe ja in Prag einmal den Versuch gemacht: Die beiden öffentlichen Vorträge vom 19> und 25. März 1911 wurden bisher noch nicht gedruckt> S. die Vorträge mit gleichem Thema in «Ergebnisse der Geistesforschung>:

Berlin, am 31. Oktober und 7> November 1912 «Wie widerlegt man Geistes-forschung?> «Wie begründet man Geistesforschung?» Bibl.-Nr. 62, Gesamt­ausgabe Dornach 1960.

186 in Zürich: «Anthroposophie und Seelenwissenschaft>. Vortrag vom s. No­vember 1917 in «Anthroposophie und akademische Wissenschaften» Zürich

1950.

188 du Bois-Reymond: Emil du Bois-Reymond, 18s8-1896. Über die Grenzen des Naturerkennens> Leipzig 1872.

Zeitschrift «Wissen und Leben>: Die Zeitschrift erschien in Zürich. Verant­wortlicher Redaktor Prof. Dr. E. Bovet> Verlag Art> Institut Orell Füssli.

191 Professor Harnack: Adolf von Harnack, 1851-1930. Rudolf Steiner setzte sich mit ihm in den Jahren 1916 und 1917 besonders auseinander: Berlin, am

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16. Mai 1916 in «Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste»

Bibl.-Nr. 167, Gesamtausgabe Dornach 1962. Berlin, am 14. August 1917, in

«Das Katma des Materialismus» Bibl.-Nr. 176, Gesamtausgabe Dornach

1964.

196 in das Geistige des Weltenalls und in das Menschengeheimnis: Im Jahre 1924 beginnt Rudolf Steiner seine Darstellung anthroposophischer Leitsätze in folgender Weise: «Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte.> Anthropo­sophische Leitsätze> Bibl.-Nr. 26, Gesamtausgabe Dornach 1962.

auf der Bühne dargestellt: Am 29. Januar 1827 äußerte sich Goethe zu Ecker­mann: «Aber doch ist alles sinnlich, und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen, wie es ja auch bei der und andern Dingen der Fall ist.»

201 Mysterien von Samothrake: s. Vortrag vom 21. Dezember 1923 in Dornach «Über die Kabiren-Mysterien in Samothrake> in «Mysteriengestaltungen» Bibl.-Nr. 232, Gesamtausgabe Dornach 1958.

203 die drei ersten Kabiren: s. die Wiedergabe der Zeichnung von Rudolf Steiner «Die Kabiren» nach S. 208.

205 wir stellen dar: s. «Der Baugedanke des Goetheanum>, Bibl.-Nr. 290, Stutt­gart 195 8. «Das Gesamtbild der Holzgruppe, wie sie nun im zweiten Goethe­anum aufgestellt ist. Das Werk war beinahe, aber nicht ganz vollendet, als Rudolf Steiner den Meißel niederlegte! Man hat es in jenem Stadium ge­lassen, wie es war, als er zuletzt Hand anlegte» (M. St.)

209 die zusammenfassenden Darstellungen: s. «Luziferisches und Ahrimanisches in ihrem Verhältnis zum Menschen> in «Philosophie und Anthroposophie>, Gesammelte Aufsätze 1904-1918. Bibl.-Nr. 35, Gesamtausgabe Dornach 1965.

211 wenn man sich vergegenwärtigt: s. Chronik.

213 Wie . . . Goethe sich sagte: Rom, den 28. Januar 1787. «> . . Die zweite Betrachtung beschäftigt sich ausschließlich mit der Kunst der Griechen und sucht zu erforschen, wie jene unvergleichlichen Künstler verfuhren, um aus der menschlichen Gestalt den Kreis göttlicher Bildung zu entwickeln, welcher vollkommen abgeschlossen ist, und worin kein Hauptcharakter, so wenig als die Übergänge und Vermittlungen fehlen. Ich habe eine Vermutung, daß sie nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfährt, und denen ich auf der Spur bin. Nur ist noch etwas anderes dabei, das ich nicht auszusprechen wüßte.>

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227 Goethes Buch über Winckelmann: «Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt: dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eignen Werdens und Wesens bewundern. Denn wozu dient all der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelfiecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut?> (Antikes).

231 der ja in vieler Beziehung so geistreiche Schwaben- Vischer: Friedrich Theodor Vischer, 1807-1887, Asthetiker und Dichter, verfaßte eine Parodie: «Faust. Der Tragödie dritter Teil>, unter dem Decknamen Deutobold Symbolizetti Mystifizinsky, die 1862 erschienen ist>

240 Ich habe versucht: s. Hinweis zu S. 172.

wo ich über Ahrimanisches und Luziferisches im Leben abgehandelt habe:

s. Hinweis zu S. 209.

242 den Weihnachts-Vortrag in Basel: 22. Dezember 1918 «Die Geburt des Chri­stus in der menschlichen Seele>. In «Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden>. Bibl.-Nr. 187, Gesamtausgabe Dornach 1967.

245 Das finden Sie in der Schlußszene meines ersten Mysteriums: «Die Pforte der Einweihung> ausgesprochen: Elftes Bild> Der Sonnen-Tempel.

Luzifer: Ahriman:

Ich muß die Seelen wohl verlassen> Ich muß auf ihren Geist verzichten>

Die Weisheit, welche sie errungen, Sie werden sich zum Lichte wenden;

Sie gibt die Kräfte, mich zu schauen. Doch bleibt mir's unbenommen,

Ich habe über Seelen nur Gewalt, Die Seelen mit dem Scheine zu

Solang sie mich nicht schauen können. beglücken.

Doch bleibt die Macht bestehn, Sie werden nicht mehr glauben,

Die mir im Weltenwerden zugeteilt. Daß er die Wahrheit sei,

Und kann ich ihre Seelen nicht Doch schauen können,

versuchen, Wie er sie offenbart>

Wird meine Kraft im Geiste ihnen erst

Die schönsten Früchte reifen lassen.

249 Hamerling> . . in seinem «Homunkulus>: Epos 1888. s. den Vortrag von Rudolf Steiner: Berlin, am 26> März 1914> «Geisteswissenschaft als Lebens-gut». Bibl.-Nr. 63, Gesamtausgabe Dornach 1959. 251 «Kreuzwendedich>: Georg Kreuzwendedich, Freiherr von Rheinbaben, 1855 bis 1921.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.